Rote Augen sind böse
Jessica ist dreizehn und auf der Beliebtheitsskala von der Schule an letzter Stelle. Dabei ist sie nicht einmal so speziell anders. Sie ist nicht superklug, sie ist nicht superdumm, sie ist nicht sportbesessen aber sie ist auch nicht die schlechteste im Sportunterricht. Warum sie so unbeliebt ist, hängt damit zusammen, dass sie etwas verträumt ist. Im Prinzip ist es Jessica egal, dass sie nicht beliebt ist, würde man sie in Ruhe lassen.
Jessica interessiert sich nicht für die Jungs in ihrer Schule, auch wenn sie ab und zu mal mit ihnen Fussball gespielt hat, früher als das alles noch nicht so schlimm gewesen war. Die Jungs waren im Prinzip genau so gemein wie die Mädchen. Jessica will gar nicht mit ihnen befreundet sein, sie will nur Ruhe. Ruhe von allem. Im Moment sitzt sie gerade auf dem Dach des Schulgebäudes. Ihr Vater hat Selbstmord begannen, war höchst Schizophren, und öfters mal in der Psychiatrie gelandet, bevor er sich dann getötet hat. Jessica hat angeblich ähnliche Symptome. Aber darum würde sie sich nicht umbringen. Sie weiss, dass irgendjemand immer in ihrer Nähe ist. Eine Gestalt, ein Mann. Ein Mann, den scheinbar nur sie sehen konnte. Darum hat sie nie jemandem davon erzählt, und der Mann hat ihr nie etwas getan. Jetzt ist er auch da. Steht auf der anderen Seite auf dem Dach eines Hochhauses. Das erste mal, das Jessica ihn so sieht. So ganz. Ganz unversteckt. Unter ihr sehen ein paar Schüler zu ihr hoch. Jessica sitzt auf der kleinen Mauer, die Stürze vom Dach verhindern sollte und die Schüler sehen nach oben. Jessica lässt sich nach vorne fallen. Landet auf der Feuertreppe. Sie ist noch nie so schnell eine Treppe hinunter gerannt. Sie muss herausfinden, ob der Mann nur eine Einbildung ist. Die Türe vom anderen Gebäude ist zum Glück nicht verschlossen. Jessica nimmt die Treppe nach oben. Es sind sieben Stockwerke, das bringt sie etwas aus der Puste, aber es gibt Schlimmeres. Sie versucht die Türe zum Dach zu öffnen. Aber die Türe ist verschlossen. „Kann man helfen?“, fragt ein älterer Mann. Er kommt aus einem Raum. „Ich muss ganz dringend auf das Dach, ich muss unbedingt etwas überprüfen“, erklärt sie hektisch. Der Mann nimmt einen Schlüssel hervor und schliesst die Türe auf. Jessica bedankt sich kurz. Dann läuft sie auf das Dach. Natürlich ist der Mann nirgends mehr zu sehen. Bestimmt hat sich Jessica den Mann nur eingebildet. Wie schon so oft. War sie jetzt auch verrückt? Drehte sie durch? Jessica weint fast. „Alles in Ordnung?“, fragt der Mann mit dem Schlüssel zum Dach. „Ich habe hier jemanden gesehen, eine Gestalt“, erzählt Jessica. Sie sieht sich um. „Nun das ist eher unwahrscheinlich, man kann die Feuertreppe nur von oben her benutzen und die Türe ist die ganze Zeit verschlossen gewesen“, erklärt der Mann ruhig. Jessica schlägt mit ihren Fäusten gegen ihren Kopf. „Ich will nicht verrückt sein“, murmelt sie verzweifelt. In dem Moment geht der Mann zu einem der Lüftungsschächte. Hebt dort etwas vom Boden auf. Reicht es Jessica. „Vielleicht war tatsächlich jemand da gewesen“, meint er. Jessica berührt die Kette. „Ich bin verrückt“, flüstert sie. „Verrückt“, wiederholt sie. Sie starrt die Kette in ihren Händen an. Sie sieht hoch. Dann sagt sie aber doch lieber nichts. Nicht, dass der Mann sie tatsächlich noch für verrückt halten würde. „Vielen Dank noch einmal, und entschuldigen Sie die Störung“, meint sie. Der Mann nickt ruhig. „Keine Ursache“, meint er. Jessica verabschiedet sich und geht wieder zur Schule zurück. In der Hand hält sie die Kette fest, die der Mann aufgehoben hat. Die Kette die ihr Vater immer getragen hat. Auch am Tag seines Todes. Aber als die Notärzte kamen, da hat die Kette gefehlt. Jessica weiss noch wie sie fast durchgedreht war, weil ihr Vater die Kette nicht getragen hat. Die anderen Ketten hat Jessica alle bekommen und auch sie trägt die Ketten immer. Im Sport wickelt sie sich diese um das Fussgelenk, damit niemand sie ihr wegnehmen kann, wenn jemand ihre Ketten wollte, dann dreht Jessica jedes Mal durch. Das einzige was sie von ihrem Vater hat, und das muss sie um jeden Preis beschützen. Und jetzt also hat sie eine weitere Kette bekommen. Vielleicht war der Mann der sich in ihrer Umgebung aufhielt ja ein Freund ihres Vaters gewesen, und da ihr Vater ja wusste, dass er sich umbringen wollte, vielleicht hat er dem Mann aufgetragen, die Kette aufzubewahren.
Luisa stellt sich Jessica in den Weg. „Lesbe, gib mir die Kette“, verlangt sie. Jessica faucht sie an. Würden die anderen sie halt eben auslachen. „Dich will sowieso keiner, Bekloppte, also brauchst du die Kette auch nicht“, stellt Luisa fest. Sie will nach der Kette greifen. Instinktiv zieht Jessica die Hand zurück. Dann, Ritsch-ratsch. Verpasst sie Luisa ein par Kratzer. „Es sind meine Ketten, und du bekommst sie nicht einmal wenn ich tot bin“, erklärt Jessica. In Kampfstellung steht sie Luisa gegenüber. Sie ist sich selber nicht ganz im Klaren, wie sie das gemacht hat, aber das ist eigentlich auch egal. Für einen Moment sieht sie rote Augen aufblitzen. „Rote Augen sind böse“, hat ihr Vater einst gesagt. Jessica sieht in die Richtung. Irgendein Schüler steht dort. Aber keine roten Augen. Jessica atmet ein paar Mal tief durch. Dann huscht sie schnell in ihr Klassenzimmer. Sie sieht aus dem Fenster. Bald würde die Stunde beginnen. Draussen steht der Schüler und scheint auf etwas zu warten. Eine andere Gestalt läuft auf sie zu. Der Aufprall schleudert den Schüler zu Boden. Und dann ist er verschwunden. Etwas schwarzer Staub liegt noch am Boden. Die andere Gestalt zerstreut den Staub etwas mit dem Fuss. Dann schlendert er, als wäre nichts gewesen, weg.
Tanz in den Wahnsinn
Ich muss vielleicht zu einem Augenarzt. Wohl eher zu einem Psychiater. Gehe ich natürlich nicht. Nach der Schule gehe ich zum Markt. Ich schaue mir die Stände durch. Manchmal gab es Sachen die ich einfach haben musste. Einfach so ein Wissen, dass ich das unbedingt brauchte. Auch dieses Mal ist es so. irgendein Schalähnliches Gebilde. Ich frage die Verkäuferin, ob ich das mal kurz vom Ständer nehmen darf. Sie zuckt mit den Schultern. Die Bändel wickeln sich fast von alleine um meine Arme. Leichte Schlenker bringen die Bändel in Schwingung. Im Spiegel sehe ich einen Schatten. Und etwas zischt an meinem Kopf vorbei. Ich blinzle automatisch. Als ich wieder sehe, ist die Gestalt im Spiegel verschwunden. Habe ich mich wieder nur geirrt? Ich drehe mich um. Am Boden ist feiner schwarzer Staub. Und ein kleines Metallding. Ich gehe hin und hebe das silberne Sternchen auf. Fädle es auf einer meiner eigenen Lederketten auf. „Darf ich kurz etwas fragen?“, erkundige ich mich. Die Asiatische Frau sieht mich mit einem ewigen Lächeln an. „War da gerade eine Gestalt gewesen?“, frage ich. Deute auf den Staubfleck. Die Frau hebt erstaunt die Augenbrauen. „Nix da gewesen“, erklärt sie. Aber der Stern habe ich mir doch nicht eingebildet. Ich seufze. Nehme meine Brieftasche hervor. Lege das Geld für das Band auf ihre Hand. „Oh, ich haben Geschenk“, meint die Asiatin. Sie berührt mein Handgelenk, das satt von einem Band umschnürt ist. Auch etwas, was ich schon ewig habe. Sie holt ein kleines Päckchen hervor. Reicht es mir. Ich bedanke mich. Etwas irritiert. In der kleinen Schachtel ist eine Maske. So eine Tuchmaske. Nicht teuer, aber irgendwie sehr schön.
Ich verabschiede mich. Drehe mich um. Die Bändel um meine Arme schlenkern. Sie sind an den Enden etwas schwerer. Wenn man geübt darin wäre, könnte man damit bestimmt gut tanzen. Ich tanze eigentlich gerne. Alleine natürlich. Auf dem Heimweg komme ich noch einmal am Stand der Asiatin vorbei. Sie ist dabei am zusammenräumen. Ich helfe ihr etwas. Schliesslich hat sie mir ja auch etwas geschenkt. Ein asiatischer Mann kommt näher. Spricht mit der Frau in einer unverständlichen Sprache. Die Asiatin antwortet genau so unverständlich. Schliesslich verabschiedet sie sich von mir, und die beiden fahren los. Ich mache mich auf den Weg nach Hause. Ich wähle den Weg durch den Wald. Vorbei am Teich. Ich bleibe natürlich am Teich hängen. Wie jedes Mal. Hier im Wasser habe ich einmal eine Leiche entdeckt. Eine ganz echte. Und die war auch noch da, als die Polizei sie aus dem Wasser geholt hat. Mutter hat mich an sich gedrückt. Und gesagt, dass alles gut sei. Ich weiss nicht, ich war nicht einmal geschockt gewesen, es hat mir keine angst gemacht, die Leiche da im Wasser. Ich habe sie angesehen, und sie hat nicht zurück geschaut. Das fand ich gut. Sie hat auch nicht zurückschauen können, weil sie keine Augen mehr hatte, die haben Fische gefressen, vielleicht oder der Mörder hat sie herausgenommen, ich weiss es nicht, mehr Angst haben mir damals Figuren Gemacht. Solche die zurückgeschaut haben. Die haben mir Angst gemacht, und noch heute habe ich es nicht gern, an Figuren vorbei zu gehen. Ich habe mich mit einigen wenigen angefreundet. Der dunkle Engel auf dem Friedhof wo Dad beerdigt wurde. Den habe ich gemocht. Auch wenn er ganz fest zurückgesehen hat. Ich meine, klar kam mir das nur so vor, aber ich war damals knapp zehn, und mein Vater war gerade gestorben, da war so etwas wohl noch entschuldbar. Jedenfalls, ich liebe den Teich noch immer, trotz der Leiche die ich mal darin gefunden habe. Und ich liebe es, auf der kleinen Plattform mitten auf dem Teich zu tanzen. Da waren so halbversunkene Stiege, und die Plattform war vollständig unter Wasser. Bis zu meinen Knöcheln reicht das Wasser. Ich beginne sanft hin und her zu schaukeln. Dann werde ich schneller. Die Bändel peitschen das Wasser auf, als sie über das Wasser zischen. Und ich weiss, ich habe mein Element gefunden. So sollte es immer sein. Ich höre sofort auf, als ich ein knurren höre. Ich öffne meine Augen und sehe in ein Loch. Nur einen Augenblick ist es da, dann ist es verschwunden. Na super, jetzt sehe ich schon Löcher. Wo das endet weiss ich, in der Irrenanstalt.
der gefallene Engel
Zuhause erzähle ich nichts. Am Nächsten Tag taucht meine Mutter trotzdem in der Schule auf. Ich treffe sie beim Direktor an. Zusammen mit Luisa und deren Mutter. „Jessica hat meiner Tochter eine Kette gestohlen, und sie verletzt“, erklärt Luisas Mutter. „Es war nicht ihre Kette, und ich habe sie nicht gestohlen, sie hat versucht sie mir zu stehlen, ich habe nur dafür gesorgt, dass sie sie nicht bekommt“, erkläre ich. „Sie hat mich beschimpft, erst als Schlampe und dann als Bekloppte, und dass mich ja sowieso niemand wolle, und dass ich keine Ketten bräuchte“, füge ich hinzu. Der Direktor sieht mich nachdenklich an. „Frau Klari hat es gehört“, füge ich hinzu. Frau Klari bestätigt meine Aussage, erwähnt aber auch, dass ich sehr emotional reagiert habe, und vielleicht mal zu der Schulpsychologin gehen sollte, wenn die Mitschüler mich derart fertig machen würden. Und meine Mutter und der Direktor finden, ich soll die Ketten doch zuhause lassen. Ich sehe meine Mutter vermutlich wirklich wie eine Bekloppte an. „Ich soll also dafür bezahlen, dass ich nicht beliebt bin, und mich alle fertig machen?“, frage ich. Ich tippe mir an die Stirn. „Schmiert euch das hinter die Kappe, die Ketten sind meine, und ich trage sie“, bestimme ich. „Jetzt reicht es endlich, du bist ja richtig besessen von diesen Ketten, die kommen weg, gib sie…“, bestimmt meine Mutter. Mehr höre ich gar nicht mehr. Ich bin auf dem direkten Weg aus dem Gebäude heraus. Der nächste Bus. Einfach mal weg. Bevor ich meine Ketten abgeben würde, würden die mich erschiessen müssen.
Wohin nur soll ich gehen? Ich begebe mich auf den Friedhof wo mein Vater beerdigt wurde. Es ist dunkel als ich ankomme. Aber ich habe eigentlich keine Angst. Nur die Statuen die überall kauern, die finde ich beängstigend. Ich begebe mich zum Grab meines Vaters. „Dad heute habe ich dir keine Blume mitgebracht“, entschuldige ich mich. „Aber wenn du magst, dann tanze ich für dich“, füge ich hinzu. Ich warte keine Antwort ab. Ich ziehe meine Maske an, richte die Bändel. Dann tanze ich. Dieses Mal höre ich nicht auf, als es anfängt zu knurren. Ich tanze einfach weiter. Bis ich spüre, dass mich jemand anstarrt. Ich öffne die Augen, sehe in ein paar leuchtendrote Augen. Feuerrote Augen. Die Gestalt zu der die Augen gehören kauert wie ein Monster auf einem Sockel und starrt mich an. „Du hast ich befreit, kleines Wesen, darum werde ich heute dein Leben verschonen, und weil ich eine lange Zeit hier war, kleines Wesen, eine Warnung: tanze nie vor anderen, es wäre dein Tod“, zischelt das Wesen. Eine raue dunkle Stimme hat es. Ich nicke. „Danke“, murmle ich. Das Wesen kommt vom Sockel herunter. Die roten Augen sind nicht mehr derart leuchtend, scheinen etwas von ihrer Bedrohlichkeit verloren zu haben. Jetzt wo das Wesen zu seiner ganzen Grösse aufgerichtet ist, ist es fast einen Meter grösser als ich, irgendetwas um 2 1/2 Meter. Seine dunkeln Flügel heben sich trotz der Dunkelheit um uns herum deutlich von der Umgebung ab.
Kurz richtet sich das Wesen zu seiner ganzen Grösse aufhebt seine Hände gegen den Himmel und zischt so etwas was ich beinahe als Spottfluch verstehen könnte. So als wolle er irgendjemandem ausserhalb meines Sichtfeldes seine Rückkehr und seine Rache verkünden. Hatte ich den Teufel aus seiner Verbannung befreit? Mir kommt er mehr wie ein gefallener Engel vor, nicht wie der Teufel. Jetzt macht er sich wieder etwas kleiner. „Ich werde in meine Welt zurückkehren, Wächter, ich werde zurückkehren, und dann Gnade Euch“, droht er leise. Aber seine Augen flackern beinahe traurig. „Dunkler Engel, was bedrückt Euch?“, frage ich. Der Dunkle Engel zeigt mir seine Kette. „Mein Talisman hat keine Kraft um ein Durchgang zu öffnen“, erklärt er. „Ein Durchgang?“, frage ich. Der dunkle Engel nickt. „Es sieht aus wie ein Loch in der Luft“, erklärt er. Ich blinzle ungläubig. „Mein Talisman hat keine Kraft mehr, diese wurde ihm geraubt, und da der letzte Wächter hier getötet wurde, ist es mir nicht möglich heimzukehren“, erklärt der dunkle Engel. Es stimmt mich auch traurig. „Ich habe schon einmal ein Loch in der Luft gesehen“, fällt mir dann aber ein. Der dunkle Engel starrt mich an. „Gestern, da habe ich getanzt, und dann war da plötzlich ein kleines Loch in der Luft“, erzähle ich. „Soll ich es versuchen?“, frage ich. Der Engel nickt. „Nicht hier, kleines Wesen, ich bin nicht der einzige hier, du würdest sie alle wecken“, meint er dann. Ich nicke. Wir suchen einen Platz auf, wo wir ungestört wären.
Schlussendlich sind wir im Wald. Ich spüre, dass es richtig ist. Hier sollte ich sein. Hier sollte ich tanzen. Erst ganz leicht. Hin und her, bis ich mich selber gefunden habe, bis der Körper mich lenkt und nicht anders herum. Schneller werde ich. Die Bändel wirbeln herum, streifen über den Waldboden. „Danke“, höre ich den Engel sagen. Ich bleibe stehen. Das Loch in der Luft berührt den Boden, ist gross genug um durchzugehen. „Kleines Wesen, niemand, niemand darf es wissen“, erklärt er. Seine Hand berührt meine Schulter. „Kleines Wesen, wenn ich durch dieses Loch gehe, werde ich meine Erinnerungen an dich vergessen, denn du hast mich gerettet und mich nach hause kehren lassen. Und solltest du mir jemals begegnen, werde ich die nicht erkennen, solltest du mich erkennen, so schweige, denn dass ich dich verschont habe, das war eine einmalige Sache“, erklärt der Engel. Ich nicke. „Viel Glück“, wünsche ich. Der Engel nickt. Dann verschwindet er in dem Loch. Kurz überlege ich, auch durchzugehen, aber dann entscheide ich mich dagegen. Ich wollte leider glücklich mit der Illusion leben, dass ich jemandem geholfen habe, als feststellen zu müssen, dass es nur eine Schizophrene Wahnvorstellung gewesen war. Das Loch verschwindet langsam wieder. Übrig bleibt ein kleiner Stein der auf der Erde liegt und glitzert. Ich nehme den Stein an mich und gehe zurück zu meinem Vater. Lehne mich dort an seinen Grabstein und weiss nicht was machen. Ich ziehe meine Maske ab, und versorge sie in meiner Tasche. Und die Bändel wickle ich mir wie meine Armbänder um die Arme.
Langsam dämmere ich etwas ein.
Da wurde die Statue geklaut
Ich werde wach, weil mich jemand leicht schüttelt. Ein junger Mann. „Junges Fräulein dies hier ist ein Friedhof und keine Schlafunterkunft“, bemerkt er. Ich blinzle. „Na ja, Dad hat mich mal eingeladen bei ihm zu übernachten, dachte ich hole das mal nach“, murmle ich. Der junge Mann, vermutlich der Gärtner des Friedhofes, wirkt sofort verständnisvoll. „Möchtest du einen Schluck Kaffe?“, fragt er. Ich willige ein. In Ruhe trinken wir auf einer der Parkbanken einen Kaffe. Dann helfe ich ihm etwas auf dem Friedhof. „Und du hast die ganze Nacht hier verbracht?“, fragt er. Ich schüttle den Kopf. „Bin so gegen elf gekommen, habe um zwölf noch eine Stunde einen Spaziergang durch den Wald gemacht und bin dann zurück gekommen“, erkläre ich wahrheitsgetreu. Der Gärtner deutet zu einem Sockel. „Da hat jemand eine Statue geklaut!“, bemerkt er. Ich blinzle. „Ich habe dort gar keine Statue gesehen, heute Nacht, auf jeden Fall nicht als ich zurückgekommen bin, also um eins war da sicher keine mehr“, meine ich. Der Gärtner informiert die Friedhofverwaltung, und macht dann mit mir einen kleinen Spaziergang. Nun ja, eigentlich kein richtiger Spaziergang, er wechselt nur seinen Arbeitsstandort, vom Friedhof zu dem Garten der Klapsmühle, wo er scheinbar auch zu tun hat.
„Arbeiten Sie schon lange hier?“, frage ich. Er zuckt mit den Schultern. „Sechs Jahre“, erklärt er. „Also drei Jahre Ausbildung und jetzt drei Jahre angestellt“, vervollständigt er. „Mein Vater hat ab und zu hier gelebt, bevor er gestorben ist“, erkläre ich. Deute zu dem grossen Hauptgebäude. Der Gärtner nickt. Fragt aber netterweise nicht nach. „Manchmal glaube ich, dass er nicht gestorben wäre, wenn er nicht immer eingeliefert worden wäre. Ich glaube er hatte Angst gehabt, dass Mutter ihn wieder einliefern würde, er war nicht gerne hier“, erzähle ich ihm trotzdem. Ich seufze. „Hast du deinen Vater denn hier besucht?“, fragt der Gärtner. Ich nicke. „Immer wenn niemand aufgepasst hat“, erzähle ich. „Warum? Durfte er denn keinen Besuch empfangen?“, fragt der Gärtner. Er beginnt Unkraut zu jäten. Ich helfe ihm. „Doch, aber ich durfte nicht weg. Mum hat gefunden es sei nicht gut, wenn ich Kontakt zu meinem Vater habe, als wäre Schizophrenie ansteckend“, ärgere ich mich. „Nun ansteckend vielleicht nicht, aber vererbbar“, wendet der Gärtner ein. „Ja, aber dann spielt es keine grosse Rolle, ob ich Kontakt zu ihm habe oder nicht, oder?“, frage ich. Der Gärtner nickt. „Stimmt“, gibt er zu. „Höchstens wenn er ständig davon reden würde, dann eventuell, könnte ich mir vorstellen“, meint er dann aber doch. Ich nicke. „Hat Dad nicht, er hat kaum über seine Krankheit oder seine Gedanken gesprochen. Wir haben nur ab und zu „krank“ gespielt, das war unser eigenes Spiel, er hat mir gesagt was er sieht, und ich habe ihm gesagt, ob ich das auch sehe, und wenn wir es beide sahen, dann war es für uns real, und wenn nicht, dann war es Einbildung“, erkläre ich. „Und das hat deine Mutter nicht gut gefunden?“, fragt der Gärtner. „Nein, sie hat sich immer ganz fest aufgeregt, wenn wir das gespielt haben. Dabei hat es Dad und mir doch geholfen, geholfen zu sehen was da war und was nicht“, erzähle ich. Ich seufze. „Und du musst heute nicht zur Schule?“, fragt der Gärtner nach einer Weile. Ich seufze noch einmal. „Ich ticke manchmal aus, wenn mir die anderen meine Sachen klauen wollen, und vorgestern wollte eine meine Kette. Sie hat mich beschimpft, und dann wollte sie meine Kette wegreissen, und ich habe ihr mit der Kette eine geknallt, und es hat etwas geblutet. Darum ist ihre Mutter mit ihr zum Direktor gelaufen, und wollte mir unterstellen es wäre ihre Kette gewesen, und ich hätte sie gestohlen. Jedenfalls, das war nicht so schlimm, eine Lehrerin hat gesehen, dass es umgekehrt war, aber die wollen, dass ich meine Ketten nicht mehr in der Schule tragen darf. Mutter will sie sogar ganz wegnehmen, aber es sind meine Ketten, und ich werde sie nicht abziehen. Darum habe ich Dad besucht, um Zeit zu haben in Ruhe zu überlegen“, erzähle ich. Der Gärtner nickt. Nach einigem überlegen sieht er mich prüfend an. „Ich nehme an, du hältst nicht sehr viel von Psychologen“, beginnt er. Ich schüttle den Kopf. „Überhaupt nicht“, gestehe ich. „Ich würde trotzdem vorschlagen, dass wir kurz zu einem gehen, denn wenn du Probleme mit der Schule und deiner Mutter hast, dann brauchst du irgendjemand der dir zuhört und vor allem der dir helfen kann, ein Psychologe kann wesentlich mehr als dich einweisen, er kann dir auch helfen“, erklärt der Gärtner. Ich bin mir nicht sicher ob das eine gute Idee ist, aber schliesslich willige ich doch ein. Denn etwas habe ich von der Psychiatrie gelernt, wenn man in etwas nicht einwilligt wird es zwangsveranlasst, und dann ist man geliefert.
Der Gärtner legt also eine Pause ein. Begleitet mich zu dem grossen Gebäude. Bei der Empfangsdame erkundigt er sich, ob es wohl möglich wäre einen Termin mit einem Psychologen zu bekommen. Diese ist erst überhaupt nicht bereit, aber der Gärtner quatscht schliesslich irgendeiner der Männer an, der mit Dr. Psych irgendetwas angeschrieben ist, fragt, ob der vielleicht kurz Zeit hätte. Und Leider hat der Mann dann auch tatsächlich Zeit. Und so sitzen wir zehn Minuten später in einem Raum und ich fühle mich absolut unwohl.
Tag der Veröffentlichung: 23.06.2011
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mama20008
ich hoffe ich habe ein paar Kritikpunkte verbessern