Autor Branko Perc
In einem Leben, das lang genug dauert, gibt es seltsame Symmetrien, die man erst im Nachhinein erkennt - wenn überhaupt. Momente, in denen ein Erlebnis oder eine Wahrnehmung auf einen ähnlichen Moment in einer anderen Zeit hindeutet und eine Verbindung zur Zukunft oder auch zur Vergangenheit herstellt, Momente, in denen es sich anfühlt, als schließe sich ein Kreis, der etwas unendlich Wertvolles umfasst und vollendet.
Oftmals beginnt oder endet dieser Kreis mit einer kleiner Veränderung in der Welt der Sinne: einem Laut, einem Geruch, einem flüchtigen Blick, einem instinktiven Gefühl. Die Welt scheint in ihrem Lauf kaum merklich innezuhalten – und alles ist anders. Das sind Momente, die mit dem Verstand nicht zufassen sind, sondern nur mit den Sinnen.
Für Emily Walker begann dieser Kreis folgendermaßen: Eines Samstag – abends zu Beginn des Frühlings sah Emily, die im Moment gerade an ihrer Küchenspüle stand, aus den Augenwinkeln unten auf der Hauptstrasse, am Tor zu dem langen, gewundenen Weg, der sich den Hügel zur Tany-Gadair– Farm hinaufschlängelte, einen blauen Farbtupfer aufblitzen. Die Farm war vor Jahrhunderten nach dem Berg benannt geworden, dessen Felsen hintern der rückwärtigen Weide emporragten: nach dem Cadair Idris – dem ‚‚Stuhl des Idris“ eines Riesen aus der walisischen Sage. Das Fenster über der Spüle bot allerdings keine Sicht auf den Berg, sondern einen Panoramablick auf das idyllische Tal weit unterhalb der Farm. Da die untergehende Sonne am jenen Aprilabend schon tief im westen stand, leuchteten die Wiesen beinahen neongrün, um die uralten Steinmauern, die Emilys Auffahrt säumten, glänzten wie mit Gold überzogen. Dies war ihre liebste Jahreszeit, das lang erwartete Ende der traurigen, nassen Wintertage, eine Zeit des Aufbruchs.
Ah, sagte zu sich selbst, das werden endlich die Bryce-Wetheralls sein. Die Bryce-Wetheralls, ein Ehepaar aus Manchester, hatten vor einiger Zeit angerufen, um zu sagen, dass sie sich vielleicht etwas verspäten würden. Die anderen Gäste waren bereits angetroffen und nach dem Tee zum Abendessen in die Stadt gefahren.
Emily ging durch das alte Haus zur Vordertür. Im Spiegel über der Anrichte im Esszimmer überprüfte sie ihr Aussehen und runzelte die Stirn. Sie war zierlich und sah mit ihren 43 Jahren noch recht gut aus, doch mittlerweile hatten sie unübersehbare Falten- insbesondere seit Tom Krankheit: zwei Sorgenfalten auf der Stirn sowie Krähenfüße um die Augen. Und in ihrem naturblonden Haar, das ihr gerade bis auf die Schulter reichte, verbargen sich da und dort schon einzelne graue Strähnen. An diesen speziellen Abend trug sie eine einfache Baumwollbluse, die sie in die eng anliegende Jeans gesteckt hatte, zu deren Kauf sie ihre Tochter überredet hatte.
Im Eingangsbereich angekommen, fischte sie eine Gartenschere aus dem Korb neben den Schirmständer und trat hinaus in das schwindende Abendlicht, um im Garten Narzissen und Traubenhyazinthen zu schneiden, während sie auf die verspäteten Gäste wartete. Der Garten war ihr ganzer Stolz. Das Haus stand auf leicht abschüssigen Grund und zeigte nach Westen. Weit entfernt, zwischen zwei Felsausläufern, konnte man einen Blick auf die Irische See erhaschen. Sie hatte den Vorhof aufschütten lassen, um eine ebene Fläche zu bekommen, damit ihre Gäste nah an Haus parken konnten. Der Hof wurde von einer niedrigen Steinmauer umrahmt, von der drei Stufen zu den großen Rasen und den Betten führten, die sie auf einer ehemaligen Schafweide angelegt hatte.
Emily brauchte nur wenige Augenblicke, um einen Strauß für den Tisch zu schneiden. Während sie im Garten auf die Bryce-Wetheralls wartete, drehte sie sich zum Haus um. Das ursprüngliche Farmhaus aus dem 16. Jahrhundert war mit massivem Eichenholz gebaut worden. Die Balken, die die Decke des Erdgeschoßes trugen, waren mehr als dreißig Zentimeter dick und schwarz vor Alter. Die Außenmauern bestanden aus riesigen Blöcken des harten Vulkangesteins, das aus den Hängen des Cadair Idris gebrochen wurde. Das Obergeschoss schmiegte sich unter ein spitz zulaufendes, von drei Giebeln geziertes Schieferdach. An der Süd- und an der Nordseite des ursprünglichen Gebäudes befanden sich zwei niedrige Schornsteine aus Stein, die wie Buchstützen wirkten. Der Kamin vor der Sitzecke im Esszimmer war so groß, dass man darin stehen konnte. Durch die großen Flügelfenster, die in dicken Steinmauern eingelassen waren, flutete die Nachmittagssonne in die vorderen Räume.
Eine Bed-and-Breakfast-Pension zu eröffnen, war ihre Idee gewesen. Zunächst hat Tom sich gewehrt, doch mit einer Schaffarm in den Hügeln bewegte man sich am Rande des Existenzminimums, und Emilys Geschäft warf von Anfang an Gewinn ab. Zuallererst hatte sie die Badezimmer renoviert, wobei es ihr gelungen war, das obere Stockwerk so aufzuteilen, dass die zwei Gästezimmer jeweils ein eigenes Bad erhielten. Vor einigen Jahren hatte sie an der Nordseite des Hauses einen zweistöckigen Anbau errichtet, mit dem sie Platz schufen für ein luxuriöses mit Bad im ersten Stock und ein neues Wohnzimmer für die Gäste im Erdgeschoss. Und schließlich hatte Emily sich in einem einstöckigen kleinen Anbau, von dem aus man das Tal und die Auffahrt zum Haus überblickte, eine neue Küche bauen lassen.
Emily hatte nun schon einige Minuten dagestanden und mit einigem Stolz ihr Haus betrachtet, doch war noch kein Wagen gekommen. Seltsam, dachte sie, wahrscheinlich hat nur jemand am Tor gewendet. Fremde, die aus Dolgellau kamen, dem kleinen Marktflecken einige Kilometer weiter unten im Tal, verfuhren sich häufig.
Der Name Dolgellau, ein typisch walisischer Zungenbrecher, verwirrte englischsprachige Menschen. ‚‚Wie spricht man das aus?“, fragte sie sich stets. Die Antwort lautete ‚‚Dol-geth-lie“, obwohl nicht einmal das ganz richtig war. Walisisch ist eine kleine keltische Sprache voller Konsonantenpaare und Kombinationen, die vollkommen anders ausgesprochen werden, als sie sich schreiben. Während es geschrieben seltsam aussieht, ist Walisisch gesprochen sehr melodisch; es klingt ein wenig wie Wasser, das hurtig über Steine plätschert. Emily die aus England stammte, hatte nach der Hochzeit mit Tom der im diesem Tal geboren und aufgewachsen war, Jahre gebraucht, ehe sie die Sprache beherrschte.
Beinahe genau so verworren wie der Name der Stadt waren die engen Einbahnstraßen und Gassen zwischen ihren alten Buchsteinhäusern, Geschäften und Hotels die lange vor der Erfindung von Autos und Bussen gebaut worden waren. Fremde stellten oft fest, dass sie westwärts über die Cadair Road auf Emilys Farm zufuhren, während sie eigentlich ostwärts nach England wollten.
Emily nahm die Blumen und kehrte an die Küchespüle zurück, um sie in eine Vase zu stellen … da tauchte der blaue Farbtupfer vor dem Fenster wieder auf, nicht als Auto, sondern in Form eines riesigen königsblauen Rucksacks auf den Schultern eines hoch aufgeschossenen Mannes mittleren Alters, der gerade den Weg zur Farm heraufkam. Emily war daran gewöhnt, Wanderer zu sehen; einer der Pfade, die auf den Berggipfel führten, ging direkt an ihrer Farm vorbei. Doch die britischen Wanderer trugen meist nicht so große Rucksäcke bei sich. Sie fragte sich, was den Mann hergetrieben hatte – insbesondere als er den Wegweiser zum Berggipfel ignorierte und direkt auf ihren Hof zusteuerte.
Emily arrangierte die Blumen, stellte die Vase auf den Tisch im Frühstückszimmer und ging zur Haustür, die sie in dem Moment erreichte, wo der Wanderer klopfte. Als sie die Tür öffnete, erblickte sie einen Mann, der kaum unter dem Türrahmen durchgepasst hätte, ohne sich zu bücken. Er war weit über eins achtzig groß, schlank und sehr durchtrainiert. Das konnte sie sehen, weil er wegen des warmen Wetters nur spärlich bekleidet war; ausgetretene robuste Wanderstiefel, eine kurze kakifarbene Wanderhose und ein schwarzes T-Shirt. Das relativ lange braune Haar war von der Sonne ausgebleicht, und der Mann war sehr braungebrannt. Er sah aus, als habe er sich seit Tagen nicht rasiert. Trotzdem wirkte er äußerst anziehend.
Er beugte sich leicht vor, stützte sich auf seinen Wanderstock, lächelte scheu und sagte: ‚‚Hi. Sind Sie Mrs Walker?“
‚‚Ja die bin ich …“
‚‚Im Fenster der Touristeninformationen von Dolgellau war ein Bild von Ihrer Pension, und ich habe mich gefragt, ob Sie vielleicht für heute Nacht ein Einzelzimmer frei hätten? Na ja, genau genommen für zwei Nächte.“
‚‚Nein tut mir leid“, erwiderte Emily. Sie versuchte, den Akzent des Mannes einzuordnen. Offensichtlich war er kein Britte. Ein Nordamerikaner vermutlich, aber woher genau? ‚‚Sind Sie Kanadier?“ fragte sie.
‚‚US-Amerikaner.“
‚‚Na so was! Hie draußen bekommt man nicht viele Amerikaner zu Gesicht.“
‚‚Ich war schon mal hier. Da habe ich auf der anderen Seite des Flusses gewohnt, in Ty Isaf.“
Bei Jeremy und Neele? „die sind weggezogen.’’
‚‚Das habe ich bemerkt.“
‚‚Hören Sie, ich würde Sie gern aufnehmen, aber ich bin völlig ausgebucht. Für morgen Nacht hätte ich ein Zimmer frei, doch heute nicht.“
‚‚Ich verstehe“, sagte der Wanderer. ‚‚Entschuldigen Sie bitte die Störung.“
‚‚Aber Sie haben mich nicht gestört“, erwiderte Emily. ‚‚Sagen Sie kann ich Ihnen wenigstens eine Tasse Tee anbieten?“ Ihr wurde bewusst, dass sie die Unterhaltung in die Länge zog.
‚‚Nein danke. Es wird spät. Ich sollte besser einen Platz für die Nacht finden.“ Er wandte sich ab, hielt kurz inne, drehte sich noch einmal zu ihr um und sagte mit dem gleichen scheuen Lächeln wie zuvor: ‚‚Aber es war sehr schön, Sie kennen zu lernen.“ Und dann war er fort.
Emily ging zurück in die Küche und sah ihm nach, wie er den Weg hinunter ging. Obwohl er ein fröhlicher Mensch zu sein schien, hatte Fiona doch gespürt dass er hinter seien Lächeln etwas verbarg. Traurigkeit – das war es. Eine flüchtige traurige Aura, die kaum wahrzunehmen war, ihn jedoch einhüllte wie ein Duft.
Robin Davies war müde. Müde bis auf die Knochen. Er war den ganzen Tag gewandert. Genau genommen wanderte er sogar schon seit fast drei Wochen, den langen Weg vom Londoner Flughafen Heathrow bis in dieses abgelegene Tal in Nordwales.
Er betrachtete das Wandern als eine Pilgerreise; jeder Tag war ein Gebet, jeder Schritt eine Art Beschwörung. Es war, als wäre der Horizont auf den er zuging, ein Ideal, das er zu erreichen strebte, allerdings nicht erreichen konnte. Vielleicht tat er auch Buße.
Er wunderte sich darüber, wie viele Landschaften man durchqueren konnte, indem man einfach einen Fuß nach dem anderen setzte, Kilometer um Kilometer, Tag um Tag. Meist stand er bei Sonnenaufgang auf und brachte vor dem Mittagessen 12 bis 16 Kilometer hinter sich, und dann noch einmal 12 bis 16, manchmal auch mehr, bevor er das Nachtquartier aufschlug. Er hatte Glück gehabt; abgesehen von einigen wenigen nebligen Vormittagen war das Wetter die ganze Zeit klar und ungewöhnlich warm gewesen. Wenn der Abend nahte, mietete Robin sich entweder in einer Pension ein oder er zeltete. Oftmals hatte er gar keine Wahl. Nach zehn oder mehr Stunden wandern hielt er einfach dort an, wo ihn die Kraft verließ. Manchmal war das im Dorf, manchmal jedoch war weit und breit kein Dorf zu sehen.
Die Menschen, die er traf, fragten ihn nach seinem Ziel. Das war einfach: Nordwales. Sie wollten auch wissen, warum er zu Fuß gehe, und diese Frage war schwer zu beantworten. ‚‚Es schien unter den gegebenen Umständen das Richtige zu ein“, sagte er gewöhnlich, und wenn er seine Geschichte erzählte, schienen die Leute zu verstehen.
‚‚Ich habe hier etwas, was du lesen musst“, hatte Robins Exfrau gesagt, als er vor einem Jahr an ihr Krankenhausbett getreten war.
Er und Lana waren schon seit Jahren geschieden und jeder lebte an einer anderen Küste des Landes– er in Seattle, sie in Boston-, doch es war ihnen nie richtig gelungen, sich zu entlieben. Robin hatte es versucht, aber es hatte nicht geklappt: Lana Davies gehörte zu der Sorte Frau, die mit ihrem Eintreten einen Raum zum strahlen brachte. Sie verströmte fast eine kindliche Lebensfreude. Lana war nicht nur lebhaft, sie sprudelte geradezu über vor Temperament.
Sie hatten sich Mitte der Siebzigerjahre kennen gelernt, in New York- der Stadt, in der er geboren und aufgewachsen war. Seine Freundin Karen, die er seit der Highschool kannte, war zu dem Schluss gekommen, dass er zu viel Zeit damit verbrachte, allein an seinem Schreibtisch zu sitzen und Bücher zu schreiben. Daher verkündete sie eines Tages, sie habe für ihn eine Verabredung organisiert. Karen hatte Lana kennen gelernt, als sie auf der Fifth Avenue bei Bergdorf’s einkaufte, wo sie Miss Clarke, wie sie dort genannt wurde, in der Damenmodeabteilung arbeitete. Na ja hatte Robin düster gedacht, dann wird sie wenigstens gut angezogen sein.
Dann war der Tag gekommen, und Robin wartete, etwas verlegen, in der Abteilung für Designerunterwäsche, gleich vor der Modeabteilung. Karen hatte ihn dort stehen lassen, während sie sich auf die Suche nach seiner Verabredung machte. Robin sah gerade gelangweilt die Dessous an einem Ständer durch, als eine etwas raue weibliche Stimme hinter ihm sagte. ‚‚Glauben sie nicht, die sind einwenig zu klein für sie?’’
Robin drehte sich um, um etwas zu erwidern, wobei er den Blick auf die Höhe senkte, auf der sich die Gesichter von Frauen normalerweise befanden, und musste feststellen, dass er dieser Frau direkt auf den Busen starrte. Wehrend sein Kinn nach unten klappte hob er langsam den Kopf, bis er in die haselnussbraunen Augen der Frau schauten. Er befand sich in der für ihn untypischen Situation, sprachlos zu sein.
‚‚ Robin“, hörte er Karen sagen, ‚‚das ist Lana.“
Die wiederum stützte, der üblichen Frage zuvorkommend, die Hände in Hüften und erklärte: ‚‚Die Antwort lautet, eins achtzig barfuss. Eins siebenundachtzig in Stöckelschuhen.“ Dann schenkte sie ihm ein strahlendes Lächeln.
Robin versuchte immer noch, sich zu fangen, und stammelte: ‚‚Es ist bloß dass ich nie zuvor …“ ‚‚Ja das glaube ich Ihnen“, sagte sie. Dann gewährte sie einen kleinen Blick in ihr Inneres, indem sie sich verbeugte- er konnte ihr Parfüm riechen, irgendetwas Erdiges- und ihm zuflüsterte: ‚‚Entspannen sie sich. Es ist wirklich schön, zur Abwechslung mal einen größeren Mann zu treffen auch wenn er sprachlos ist.“
Robin verliebte sich auf der Stelle in sie. Was ihn an Lana faszinierte was fast alle Menschen begeisterte, die sie kennen lernten, war die Energie die sie ausstrahlte. Sie leuchtete von innen heraus.
Und nun fast zwanzig Jahre später, lag sie im Sterben und Robin war an ihrer Seite. Die Ärzte hatten geglaubt, sie hätten ihren Brustkrebs besiegt, doch das bösartige Geschwür hatte gestreut. Robin war an die Ostküste gekommen, um sich um Lana zu kümmern. Sie lag zwar im Sterben, doch schien ihre Lebenslust ungebrochen, selbst als ihr Körper dahinsichte. Jeden Morgen, wenn sie aufwachte, sah sie Robin mit ihrem strahlenden Lächeln an und sagte: ‚‚ Tja, ich schätze, ich bin noch nicht tot!“
‚‚Ach“ sagte Robin leicht hin, so wie sie in der Situation stets den Ernst nahmen, ‚‚Anweisungen, wie dein riesigen Vermögen zu verteilen ist.“
‚‚Sieh es dir gut an Liebling“, entgegnete sie. ‚‚Du bist mein Testamentsvollstrecker.“
Robin las ihren letzten Willen. Ihre bescheidenen Vermögenswerte sollten zu gleichen Teilen zwischen den Mitgliedern ihrer und seiner Familie aufgeteilt werden. Aber es gab einen Hacken: Der begünstigte durfte das Geld nur für etwas ausgeben, von dem er immer gedacht hatte, er könne es sich nicht leisten. Und es musste Spaß machen.
Robin beugte sich über das Krankenhausbett und küsste sie. ‚‚Das ist perfekt“, sagte er ‚‚Genau wie du.“
‚‚Lies weiter!“, befahl sie lächelnd, als hütete sie ein Geheimnis. Einige Absätze später stand: Ich verfüge, dass mein Exmann und Testamentsvollstrecker meine Asche auf den Cadair Idris in Wales verstreut.
Verblüfft schaute Robin auf. Richtig, Lana hatte walisische Vorfahren, und vor Jahren waren sie gemeinsam auf diesen Berg gestiegen und trotzdem war er erstaunt. ‚‚Warum gerade dort?“ fragte er.
‚‚Weil“ erklärte sie, ‚‚diese Gipfelbesteigung das körperlich Anstrengendste war was ich je getan habe, und es nichts gibt, worauf ich stolzer bin.“
Am nächsten Tag, als die Ärzte zugaben, dass sie nichts mehr für sie tun konnten, bat Lana Robin, sie nach Hause zu bringen, in ihr eigenes Bett. Eine Woche später starb sie friedlich in seinen Armen.
Robin hatte ein ganzes Jahr gebraucht, bis er sich dazu durchringen konnte, einen Flug nach England zu buchen, um ihren letzen Wunsch zu erfüllen. Lana hatte ihm nicht aufgetragen, zu Fuß zu gehen; das war seine Idee gewesen. Es schien ihm einfach angemessen: Als sie noch verheiratet gewesen waren, hatten sie bei ihren Wanderungen durch England viele traumhafte Tage erlebt; in englischen Landschaften waren sie stets am glücklichsten. Doch Robin wusste auch, dass er diese lange Wanderung unternehmen musste, um sich selbst zu retten.
Die Scheidung war schon schwer genug gewesen – das hätten sie sich, wie sie beide später übereinkamen, besser erspart. Die Endgültigkeit von Lanas Tod hatte ihn fassungslos und benommen zurückgelassen. In dem Jahr seit ihrem Tod war er sich wie ein Getriebener vorgekommen. Erst durch ihre Abwesenheit erkannte er, wie sehr sie ihm im Leben Halt gegeben hatte, obwohl ihre Scheidung, schon ein Jahrzehnt zurücklag. Und dann, eines Tages, wurde es ihm klar: Er musste Lana an ihre letzte Ruhestätte bringen wie ein Sargträger. Er musste zu Fuß nach Wales gehen. Die Anstrengung, der Schmerz, die Wochen, die er damit verbringen würde, sich den Berg Schritt für Schritt nähern, würde ihn heilen. Wenn er schließlich den Gipfel erreichte, würde er in der Lage sein, sie gehen zu lassen.
Robin erreichte den Endpunkt des langen Weges, der von Tan y Gadair ins Tal führte, und blieb bei der Einmündung zur asphaltierten Straße stehen. Er stützte sich auf seinen Wanderstock und dachte an den mühsamen Marsch zurück nach Dolgellau. Dann dämmerte es ihm: Es ging nicht darum, dass der Weg zurück in die Stadt lang war, sondern darum, dass es falsch war zurückzugehen. Er war am Ende seiner Pilgerreise angelangt und hatte es in dem Augeblick gewusst, als er am Touristeninformationszentrum das Foto von Tan y Gadair mit dem Berg dahinter gesehen hatte. Das war der Ort, zu dem seine Wanderung ihn führen sollte.
Robin drehte um und begann den Aufstieg zurück zum Farmhaus am Fuße des Berges. Er musste Mrs Emily Walker einen Vorschlag unterbreiten.
Emily stand an ihrem Küchenfensterund starrte unverwandt auf die Stelle, an der die Auffahrt aus dem Blickfeld verschwand, als könnte sie damit den amerikanischen Wanderer wieder auftauchen lassen. In dem Moment, in dem sie dem Fremden die Tür geöffnet hatte, hatte sie ein seltsames Gefühl der Vertrautheit empfunden, so als kenne sie ihn bereits ein ganzes Leben.
Es war töricht. Und außerdem war sie eine verheirate Frau in mittleren Alter. Um Himmels willen, sie sah nie nach andern Männern um. Schon allein deswegen, weil sie einfach zuviel zu tun hatte. Die Pension zu führen – sich um die Gäste zu kümmern, zu kochen, zu backen, zu waschen, die Zimmer herzurichten, sie sauber zu halten und all dem Papierkram zu erledigen – nahm einen Großteil ihres Tages in Anspruch. Was sie an Zeit und Kraft übrig hatte, nutzte sie, um Tom bei der Farmarbeit zu helfen.
Die Arbeit störte sie nicht; sie füllte sie aus. Seit Tom vor Jahren erkrankt war, wurde das Leben mit ihm immer schwieriger. Tom war nie ein besonders aufmerksamer oder romantischer Mann gewesen – allein die Vorstellung brachte Emily zum lachen. Trotzdem hatten sie, nachdem er krank geworden war und von Haupthaus in ein allein stehendes Gebäude auf einem abgelegenen Tei der Farm ziehen musste. Doch mit dem fortschreiten der Krankheit war er zunächst distanziert, dann launisch und unberechenbar geworden. Schon beim geringsten Anlass konnte er in Luft gehen. Mittlerweile gab es Zeiten, in dem sie sich vor Tom fürchtete.
Im Grunde war Tom ein guter Mensch, das wusste sie. Außerdem war er ein guter Vater. Er stand ihrer Tochter so nahe, dass sie ihn oft beneidete. Er überraschte sie auch, denn Tom behauptete immer, er ‚‚verstehe die Frauen nicht“, schließlich war er ohne Mutter oder Schwester aufgewachsen. Seine Mutter war bei der Geburt seines Bruders Levin gestorben, und die beiden Jungen waren auf dieser Farm in den Hügeln von ihrem Vater großgezogen worden. Während die Brüder heranwuchsen, machte Tom Senior ihnen unmissverständlich klar, dass einer von ihnen die Farm übernehmen sollte. Levin zeigte eindeutig, dass er nichts damit zutun haben wollte. Er war ein ausgezeichneter Schüler und ging auf die Universität. Mittlerweile lebte er als Architekt in London und entwarf Bürogebäude.
Tom hatte dagegen Probleme in der Schule. Es dauerte Jahre, bis das Schulamt feststellte, dass er eine Leseschwäche hatte, aber da war er an seiner Einstellung schon nichts mehr zu ändern: er hasste das Leben. Doch je älter er wurde, desto deutlicher stellte sich heraus, dass er eine besondere Beziehung zu Tieren hatte. Die Milchkuh seines Vaters lief ihm nach wie ein Schoßhündchen. Er schien instinktiv zu wissen, wo in den riesigen Hügelgebiet die Schafe zu finden waren, wann es Zeit wurde, sie auf die Winterweiden zu treiben. Nahte die Ablammzeit, konnte er vorhersagen, welches Schaf bei der Geburt Schwierigkeiten bekommen würde.
Obwohl Emily wusste, dass Tom klug war, hatten die jahrelangen Probleme in der Schule tiefe Narben hinterlassen. Er neigte dazu, Emily wegen ihrer Liebe zu Büchern aufzuziehen. Auch von Gesprächen hielt er nicht viel. Vor seiner Krankheit war er abends von den Hügeln in Haus gekommen hatte sich in ihrer großen Badewanne gewaschen, sein Abendessen achtlos heruntergeschlungen und war meist vor dem Fernseher zusammengeklappt, während sie in der Küche ihre Bücher las. Sie wusste, wie anstrengend es war, eine Farm in den Hügeln zu betreiben, trotzdem hatte sie sich etwas mehr erhofft. Und obwohl Tom sie nach dem Kennenlernen heftig umworben hatte, war sein Interesse am Liebesspiel nach der Hochzeit schneller erlahmt als ihres. Seit seiner Erkrankung war es vollkommen erloschen.
Emily riss sich aus ihren Träumereien, wandte sich von Fenster ab und ging nach oben, um die Bettdecken ihrer Gäste aufzuschlagen. Gerade war sie mit dem letzten Bett fertig geworden, da klopfte es an der Tür.
Endlich, dachte sie.
Aber es waren nicht die Bryce-Wetheralls. Es war wieder der Amerikaner. Sie sah, dass sich hinter ihm, über dem Meer, Wolken zusammen bauten.
‚‚Och Sie sind zurück!“, sagte sie. Sie war insgeheim hocherfreut.
‚‚Ich habe eine Idee“, sagte er, als wäre ihre vorherige Unterhaltung nie zu ende gegangen. ‚‚Sie haben eine Menge Weideland, und ich habe ein Zelt. Wie wäre es, wenn wir eine neue Art der Unterbringung erfinden? Wir könnten es ‚Zelt-mit-Frühstück’ nennen anstatt ‚Bett mit Frühstück’. Sie bekommen einen weiteren Zahlenden Gast, und ich kann eine Rast einlegen.“
Nur einem Amerikaner, dachte sie, konnte etwas so Unkonventionelles einfallen. Einen Moment lang sah sie ihn sprachlos an, dann fing sie an zu lachen, und zwar so laut und schalend, wie es bei ihrer zierlichen Figur nie für möglich gehalten hätte.
‚‚Großartig“, sagte sie schließlich.
‚‚Sie ahnen nicht, wie wunderbar sich das anhört!“, gestand Robin leise.
‚‚Aber hören sie“, sagte Emily, wehrend sie ihn in den Garten führte, ‚‚Sie brauchen sich nicht auf eine Weide zurückzuziehen; warum suchen Sie sich nicht einen schönen, ebenen Platz hier auf den Rasen… vielleicht da unten am Apfelbaum? Sie sind dort ganz für sich; vom Haus aus kann Sie niemand sehen. Was halten Sie davon?“
‚‚Prima“, sagte er. ‚‚Danke“
Emily plapperte weiter: ‚‚Gut ich mache Tee. Wenn sie ihr Zelt aufgestellt haben, kommen Sie ins Haus. Es würde mich nicht wundern, wenn Sie ein Band nehmen möchten.“
‚‚Das wäre fabelhaft“, sagte Robin leise aufstöhnend, als er seine schwere Last zu Boden sinken ließ.
Emily wandte sich zum Gehen, hielt aber noch einmal inne. ‚‚Ich weiß gar nicht wie Sie heißen“, sagte sie und blickte sich um.
‚‚ Robin Davis.“
‚‚Emily“, sagte sie. ‚‚Meine Freunde nennen mich Emi“
Und dann war sie fort. Robin schaute über den Rasen zu Tür des Farmhauses. Nach all den Wochen, in denen er einsame Entscheidungen hatte fällen müssen, fühlte er sich angenehm umsorgt.
Er zog das Zelt aus seinem Rucksack und steckte die beiden ultraleichten ausziehbaren Stangen in ihre Halterungen und Befestigungen, was aus der platten Nylondecke nahezu augenblicklich eine feste runde Kuppel werden ließ. Er hatte das schon oft gemacht, dass es nur wenige Sekunden dauerte. Dann legte er das wasserfeste Überzelt darüber und befestigte es. Anschließend warf den Rucksack in das Zelt und krabbelte hinterher. Er zog einige saubere Kleidungsstücke aus seinem Rucksack, kroch aus dem Zelt und ging zum Haus. Nach dem er seine Wunderstiefel an der Tür ausgezogen hatte, betrat er die Flur.
‚‚Hallo“, rief er.
‚‚Hier hinten!“
Er tappte durch das Zimmer der Gäste, bemerkte, dass der Tisch bereits für das Frühstück gedeckt war, und blieb an der Tür zur Küche stehen.
‚‚Ah, kommen Sie doch herein“, sagte Emily. ‚‚Ich habe gerade den Wasserkocher aufgestellt.“
‚‚Ich wollte fragen, ob ich vorher duschen dürfe“, bat Robin.
‚‚Aber natürlich“, antwortete sie, ‚‚allerdings werden Sie mit einem Bad vorlieb nehmen müssen. Die Gästezimmer haben wunderschöne neue Bäder, doch die sind alle vergeben, daher müssen Sie leider die alten Wanne in meinem Badezimmer benutzen.“
Sie führte ihn durch das Esszimmer zurück in die Flur und zu einer niedrigen Eichentür mit einem kleinen Schild, auf dem PRIVAT stand.
‚‚Achten Sie von jetzt an bitte auf Ihren Kopf. Wir kommen in den ältesten Teil des Hauses. Damals wurden die Leute noch nicht so groß wie Sie.“ Sie betraten ein kleines, aber gemütliches Wohnzimmer mit eigenem Kamin. Rechts und links der Feuerstelle standen zwei hochlehnige Ohrensesseln, und die gegenüberliegende Wand war gesäumt von Büchern. Auf dem aus breiten Eichendielen gezimmerten Boden lag ein sehr schöner Perserteppich, und ein cremfarbener Schaffellvorleger zierte den Platz vor dem Feuerrost. Auf dem kuscheligen Schaffell hatte sich ein schwarzer Kater zusammengerollt. Beim ihrem Eintritt sah das Tier kurz auf.
‚‚Das ist Sooty“, stellte ihn Emily kurz vor. ’’Er glaubt die Farm gehöre ihm. Nicht gerade der freundlichste Kater der Welt, aber man hat Gesellschaft.“
Als wollte er ihre Worte Lügen strafen, hievte sich Sooty hoch, streckte sich, gähnte, schlich zu Robin und fing an, ihm um die Beine zu streichen und sich an seinen Knöcheln zu reiben.
‚‚Na so was!“, staunte Emily. ‚‚Das hat er noch nie gemacht.“
‚‚Ich weiß nicht woher das kommt“, sagte Robin, während er sich bückte, und das Tier streichelte. Katzen scheinen mich zu mögen.
Als er sich wieder aufrichtete, hatte Emily einen nachdenklichen Ausdruck im Gesicht.
‚‚Das Bad“? fragte er.
„Ach ja. Hier entlang.“ Sie führte ihn durch ein Schlafzimmer mit einem riesigen, reich geschnitzten Himmelbett, das an allen vier Ecken olivgrüne Samtvorhänge hatte, in ein kleines Badezimmer, in dem eine antike Badewanne mit Klauenfüßen stand. „Ich hoffe es macht Ihnen nichts aus; ich bin noch nicht dazu gekommen, dieses Bad zu renovieren. Es ist wohl ein bisschen so wie beim dem Schumacher, der die schlechtesten Schuhe hat.“
Robin lächelte „Ich komme schon zurecht.“
„Also gut. Ich bin kurz weg, um Tom sein Essen zu bringen, also kommen Sie einfach in die Küche, wenn Sie fertig sind.“
„Tom?“
„Mein Mann und ich sind schon späht dran. Lassen Sie sich Zeit“
„Danke“, rief er ihr nach, als er die Tür schloss.
In den beiden vorherigen Nächten hatte Robin gezeltet, und als er sich nun in dampfende Wanne gleiten ließ, dachte er darüber nach, wie heilsam heißes Wasser war. Als er einige Zeit später wieder aus der Wanne stieg, fühlte er sich wie neu geboren. Er nahm den alten Messingrasierer mit dem Holzgriff, den
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Branko Perc
Bildmaterialien: Branko Perc
Tag der Veröffentlichung: 04.03.2014
ISBN: 978-3-7309-8916-6
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