Die Straßen und Gassen Amorits bildeten in ihrem Verlauf gerade Linien, die sich freudig kreuzten oder einfach nur still nebeneinander her liefen. Sie waren mitunter so schmal, dass kaum ein Hund zwischen ihnen hindurch gelangen konnte. Dann wieder breiteten sie sich so weit aus, dass Händler sie als Marktplatz benutzten und ihre Waren neben den Läden verkauften.
Die meisten Häuser einer Straße waren in etwa gleich groß und ähnelten einander sehr stark. Sie waren entweder dicht an dicht gebaut oder ließen so viel Platz zwischen sich, dass ganze Schiffe hätten hindurchsegeln können, wären die Straßen Wasser des Grünen Meeres gewesen. Die einfachen Leute hatten auf Hofmauern verzichtet, aber hier und dort fanden sich Spuren von kleinen Markierungen, die eine Grenze anzeigen sollten.
Die Dächer in den hafennahen Vierteln waren eben und schienen ab und an darauf zu warten, in naher Zukunft ein weiteres Stockwerk zu bilden. Weiter in der Stadtmitte liefen die meisten Dächer nach oben hin spitz zu und wenige von ihnen zogen sich bis hinunter auf den Boden.
Mit der Sauberkeit ihrer Straßen nahmen es die Bewohner Amorits außer vor den Verkaufständen und Läden nicht sehr genau. Vor allem die Gassen zwischen den großen Lagerhäusern unten im Hafen starrten vor Dreck und Schmutz und nicht nur die Menschen vermieden es, sich dort aufzuhalten.
In dieser, der Schattennacht, war kein Mensch und nur sehr selten ein Tier auf den Straßen zu sehen. Das war eher ungewöhnlich, lachten und tanzten die meisten Bewohner doch gern. Und die Seeleute waren nach oft monatelangen Fahrten froh, wenn sie für kurze Zeit ihre Arbeit vergessen und eines der Tavernenmädchen auf ihren Knien schaukeln konnten.
Eryth war es nur recht, dass niemand sie sah. Es hätte viel zu viele Fragen aufgeworfen, woher sie diesen geschundenen Mann hatte und wieso sie selbst so kraftlos und erschöpft wirkte. Andererseits hätte ihr vielleicht auch jemand seine Hilfe angeboten und sie und Drachenkind wären jetzt bereits bei Yaa.
Tief im Schatten lehnte sie ihren Begleiter gegen die hohe Mauer und holte tief Luft. Ihre Sinne verrieten ihr wenig darüber, ob ihre Verfolger nicht vielleicht schon hinter ihr standen. Das war sehr ungewöhnlich. Und beängstigend.
Den sonstigen Lärm und die Musik gewöhnt erschien ihr die Schattennacht sehr still und leise und das, obwohl der Wind sturmartig an ihrer Kleidung riss.
Er schien erbost darüber, dass die Nacht schon weit vorangeschritten war und er nur noch wenige Stunden zu leben hatte. So ließ er seine ganze Wut an den Häusern und den Festvorbereitungen aus. Die Mühe der Menschen schien ihn dabei nicht zu stören und er genoss seinen Auftritt geradezu.
Sie wandte sich wieder um und ging zurück zu Drachenkind. Trotz der geringen Entfernung zwischen ihnen, konnte sie ihn in der Dunkelheit kaum ausmachen.
Seine Augen waren geschlossen und er atmete nur stoßweise und unregelmäßig. Lange, das erkannte sie nicht nur mit den geübten Augen einer Heilerin, würde er das nicht mehr durchhalten. Gern hätte sie ihm etwas mehr von ihrer Kraft gegeben, doch auch diese ging zur Neige und sie fühlte, wie sie unkonzentriert und müde wurde. Doch genau das konnte und durfte sie sich nicht leisten.
Ein Blick hinauf sagte ihr, dass die Dächer der Häuser ebener wurden und die Abstände zwischen ihnen geringer. Sie mussten beide hinauf. Egal wie.
Sie berührte ihn an der Hand und war wieder erschrocken und erstaunt zugleich, als sie in seine wachen und stolzen Augen blickte. Den rechten Zeigefinger ausgestreckt deutete sie nach oben und musste über seinen ungläubigen Blick beinahe lächeln. Er hatte tatsächlich geglaubt, sie würde fliegen. Dann begriff er und sein Gesicht wurde ausdruckslos.
Sie legte seinen Arm über ihre Schulter und sie stolperten mehr als dass sie liefen auf die Straße hinaus. Sie war gerade breit genug, um kleineren Handkarren Platz zu bieten. Obwohl sie sich eng an die Hausmauern pressten, konnte Eryth das Gefühl nicht loswerden, beobachtet zu werden.
Sie spürte, wie sich der Herzschlag ihres Begleiters beschleunigte und gern hätte sie ihm zu verstehen gegeben, dass es nun nicht mehr weit war. Auch wenn es gelogen gewesen wäre.
In der Straße der Näher fand sie dann endlich, was sie gesucht hatte. Jemand war vom Einbruch der Dunkelheit offenbar überrascht worden und hatte seine Festvorbereitungen nicht zu ende führen können. An der Hausvorderseite lehnte eine kleine Leiter und Eryth spürte deutlich, wie sich Drachenkinds Körper bei diesem Anblick versteifte. Sie mussten hinauf.
Eryth wartete einige Herzschläge lang ab, bevor sie Drachenkind die erste Sprosse nach oben schob. Er wehrte sich ein wenig, aber auch ihm musste die Ausweglosigkeit klar sein.
Es war ein zweistöckiges Haus mit einer drei Fuß hohen Ummauerung auf dem Dach, das voller Kisten und Gerümpel stand.
Sie ließ ihn auf eine Kiste sinken und zog die Leiter hinter sich hinauf. Die meisten Gebäude bildeten nun einen geraden Weg und die Abstände zwischen ihnen schienen begehbar zu sein. Erleichtert richtete sie sich auf, um den Rücken zu dehnen, ließ sich dann aber schnell und mühsam zu Boden fallen, als der Wind sie vom Dach reißen wollte.
Drachenkind sah sie merkwürdig an und es war ihr, als sehe er in ihre Seele hinein, um alles zu ergründen, was sie ihm bisher nicht gesagt hatte. Nicht dass dazu Zeit gewesen wäre, aber sie verstand ihn. Schließlich wusste er nicht, gegen was er seine Gefangenschaft eingetauscht hatte oder wohin sie ihn bringen würde. Dann wurde ihr mit Erschrecken klar, dass sie außer Yaas Haus kein wirkliches Ziel hatten und dort konnte er unmöglich bleiben. Yaa wird sicher wissen, was zu tun ist. Das tut sie immer.
Nach drei weiteren Atemzügen drückte sie die Muskeln durch und ignorierte absichtlich seinen Blick. Sie mussten weiter.
Das nächste Haus lag so dicht an diesem, dass nur ein großer Schritt sie auf die nur zwei Schritt breite Dachkuppe brachte. Ihr Gleichgewichtssinn war glücklicherweise zu ihr zurückgekehrt und so tastete sie sich seitlich zum nächsten Haus vor, stützte derweilen Drachenkind und suchte das nächste und wieder das nächste Haus.
Die meisten Dächer waren nun beinahe flach und irgendwie musste ihr der Übergang entgangen sein, obwohl sehr vereinzelt noch spitz zulaufende Dächer auftauchen mochten. Sie war so in ihrem Tun versunken gewesen, dass es ihr vorkam, als erwache sie aus einem Traum, als Drachenkind sie kurz rüttelte, um sie auf etwas aufmerksam zu machen.
Unten auf der Straße zogen dichte Nebelschwaden auf, die sich vom immer noch recht stark wehenden Wind nicht im geringsten beeindrucken ließen. Im Gegenteil, sie setzten ihren Weg unbekümmert fort, teilten sich allenfalls um Hindernisse herum und fanden sich hinter diesen wieder zusammen. Eryth dachte einige Stunden zurück und glaubte zu erkennen, wo dieses merkwürdige Tun seinen Anfang genommen hatte.
Sie schluckte angestrengt, obwohl ihr Mund mittlerweile so ausgedörrt war wie die Sandmassen in der Wüste es sein mussten und versuchte vergeblich die Angst loszuwerden, die sich in ihr auszubreiten suchte.
Krampfhaft und leicht zitternd zog sie Drachenkind noch einige Dächer weiter, bis sie ein geeignetes gefunden hatte und drückte ihn dort zu Boden.
Sie erkannte nun die Straße unter ihr und wusste, dass es nun nicht mehr weit war, doch noch immer nicht so nah, als dass sie das Dach hätten verlassen können.
Er wartete irritiert neben ihr, aber sie wusste genau, was sie tat. Und richtig, lange musste sie nicht warten, ehe sie die ersten verräterischen Geräusche hörte.
Es klang erst leise und wie ein Klappern, wurde dann aber im Näherkommen lauter und veränderte sich leicht in der Tonlage. Hufe trabten gleichmäßig näher, trafen auf die gepflasterten Steine der Straßen und suchten genau wie der Nebel nach etwas Lebendem.
Eryth spannte alle Muskeln an, schloss nur kurz für ein Stossgebet die Augen und sah dann zu Drachenkind. Er hatte seine Augen ängstlich geweitet, obwohl er unmöglich wissen konnte, was das Klappern der Hufe bedeutete. Sie wog blitzschnell in Gedanken ab, ob sie mit ihm noch entkommen konnte, doch das lag eher im Bereich des Unmöglichen. Dabei waren sie so kurz vor dem Ziel.
Plötzlich erklangen kurz unter ihnen Stimmen, die sich triumphierend in einer ihr fremden Sprache etwas mitteilten. Drachenkind zuckte zusammen und auch Eryth erkannte die Fremdländischen.
Fluchend sprang sie auf und holte Drachenkind zu sich. Es gab nur noch eine einzige Möglichkeit. Er wollte sich wehren, aber sie packte ihn so fest, dass er sich nicht losmachen konnte und sprang mit einem Satz hinunter auf die Straße.
Der Nebel umfing sie wie ein weiches federgefülltes Kissen und bremste ihren Fall stark ab. Die Schwaden waberten um sie herum, zogen kleine Kreise und holten immer mehr ihrer Kumpane hinzu, bis sie vollständig von milchiger, kaum zu durchdringender Luft umgeben waren. Sie hielt ihn so fest sie nur konnte, denn wenn sie ihn jetzt verlor, dann würde sie ihn womöglich nie mehr wieder finden.
Die Stimmen kamen links von ihnen stetig näher und das Klappern der Hufe aus genau der gegenüberliegenden rechten. Drachenkind musste glauben, sie sei komplett verrückt geworden, aber sie wusste, was sie tat.
Als sie ein kleines Mädchen gewesen war, hatte sie es geliebt, sich von den Seeleuten Geschichten aus fernen Ländern erzählen zu lassen und ganz besonders liebte sie die von Jamon Dal. Einmal hatte er ihr von einem Land berichtet, in dem es so heiß sein sollte, dass die Haut der Menschen, die dort lebten, schwarz geworden war. Es gab dort weite Grasflächen, die aber nicht grün sondern gelb sein sollten und die durch das Brennen der heißen Sonne schnell in Brand gerieten. Einmal hatte Jamon gesehen, wie eine Fläche so groß wie Amorit verbrannt war und das einzige, das das Dorf noch retten konnte, war ein Gegenfeuer. Das bedeutete, dass ein neues Feuer entzündet werden musste, welches dann kontrolliert auf das andere gehetzt wurde. Sie hatte ihm damals kein Wort geglaubt und auch heute noch zweifelte sie daran. Das wäre ja so, als bekämpfe man eine Krankheit mit einer anderen, aber es würde sich ja nun zeigen, ob es tatsächlich funktionieren konnte.
Allerdings, fiel ihr nun noch ein, hatte Jamon Dal nicht gesagt, er hätte sich genau zwischen den Feuern befunden.
Sie schluckte abermals und fluchte still in sich hinein. Im Grunde spielte es keine Rolle, in welche Richtung sie gingen, das Problem blieb das gleiche. Etwas ratlos drückte sie sich an eine der Häuserwände und zuckte dann überrascht zusammen, als ihr der rettende Gedanke kam. Der alte Verkaufsstand der Schuster! Er musste ganz in der Nähe sein. Im Prinzip war er nicht mehr als ein alter Bretterverschlag, aber er würde sie vor unliebsamen Blicken schützen.
Drachenkind sah es in ihren Augen aufleuchten und für einen Moment war es ihr, als wüsste er ganz genau, was sie dachte. Hätte sie mehr Zeit gehabt, wäre sie diesem Gedanken intensiv nachgegangen, denn viele Geschichten rankten sich um die Person des Drachenkinds. Geschichten, die unglaublich klangen, aber durchaus auch wahr sein konnten. Und so wäre es durchaus möglich gewesen.
Aber sie hatten beide keine Zeit, im Gegenteil, genau die fehlte ihnen gerade in diesem Augenblick. Eryth packte Drachenkind fest am Handgelenk und zog ihn hinter sich her.
Die Schustermeister hatten sich vor Jahren schon dazu entschlossen, fortan nicht mehr gegeneinander zu arbeiten und bildeten nun einen Bund, den sie als Gilde bezeichneten. Im Prinzip hatte sich nicht viel geändert, außer dass erst im Gildenrat verkündet und beschlossen werden musste, wenn der Preis der Schuhe verändert werden sollte. Der alte Verkaufsstand wurde dann schnell nicht mehr benötigt, als die Schuster eine alte Lagerhalle am Hafen zu ihrem neuen Verkaufshaus erklärten.
Das sollte also nun ihre Rettung sein. Jedenfalls hoffte Eryth das, denn das Klappern der Hufe konnte in dieser Nacht nur eines bedeuten. Und wenn sie recht behielt, waren sie womöglich schon verloren. Aber man sollte die Hoffnung ja bekanntlich nie aufgeben, jedenfalls behauptete Yaa das ständig. Am liebsten dann, wenn Eryth wieder ein Trank misslungen war.
Drachenkind schien mittlerweile viel zu müde und erschöpft zu sein, um Widerspruch gegen ihren Plan einzulegen, auch wenn sie sich nicht die Zeit nahm, ihn darüber aufzuklären. Also zog oder vielmehr trug sie ihn wenige Schritte nach rechts, bis sie in dem Nebel Umrisse eines hüfthohen Gegenstandes zu erkennen glaubte. Der alte Verkaufsstand war unglaublich breit gewesen, aber da er nicht mehr benötigt worden war und ziemlich viel Platz durch ihn verloren ging, hatte man den größten Teil beseitigt. Wie durch einen Zufall war auch noch Winter gewesen, so dass niemand einem Träger etwas bezahlen musste, damit der das alte Holz beiseite schaffen konnte.
Der Wind durchdrang das alte Holz, das zahlreiche große oder kleine Ritzen gebildet hatte, aber sie waren sicher. Für den Augenblick jedenfalls.
Eryth glaubte nicht, dass Drachenkind sich später erinnern würde können, wie er in diesen Bretterverschlag gelangt war. Dabei hatte sie beinahe ihre letzten Kraftreserven für ihn geopfert, nur um ihn hinter sich hinein zu ziehen. Aber vielleicht spielte das alles auch keine Rolle, denn immerhin waren sie nun vor den unerwünschten Blicken geschützt.
Sie beruhigte ihren Atem und verlangsamte ihren Herzschlag, so wie Yaa es sie gelehrt hatte, und lauschte in die Finsternis.
Das erste was ihr auffiel, war der Wind, der nachgelassen zu haben schien. Und dann das Klappern der Hufe auf den Pflastersteinen der Straße. Es war nahe, sehr nahe. Stimmen konnte sie keine mehr ausmachen, aber sie war sich sicher, dass die Fremdländischen noch immer auf sie und Drachenkind irgendwo dort draußen warteten.
Sie lauschte so angestrengt, dass sie das Pferd bald zu spüren glaubte. Das konnte natürlich nicht sein, denn es atmete nicht wie sie. Doch sie fühlte sich eins mit den kräftigen Flanken, dem glänzenden Fell und dem standhaften Schnauben des Tieres. Seine Hufe klangen gleichmäßig und stark und Eryth zählte bald die Schritte. Vier. Fünf. Sechs. Dann plötzlich stand es still und nichts außer dem Jaulen des Windes war zu hören.
Sie schluckte und drehte sich in ihrer Position, damit sie durch irgendeine Ritze hinaus sehen konnte. Hätte sie sich dabei selber sehen können, sie hätte nicht geglaubt, dass sie so wendig war.
Das rechte Auge geschlossen spähte sie durch den fingernagelgroßen Spalt, der sich im Holz gebildet hatte und vergaß für wenige Augenblicke, die ihr unendlich lang vorkamen, das Atmen.
Das Pferd stand direkt vor ihr. Seine mächtigen und schweren Hufe schlugen hart auf das Pflaster ein als es hin und her tänzelte.
Eryth glaubte nicht, dass der Reiter die Kontrolle über das gigantische und weltfremde Tier verloren hatte, und plötzlich stiegen Erinnerungen in ihr auf, die sie längst vergessen glaubte.
Dann stieg es ein letztes Mal empor und der Verkaufsstand bebte, als es die Hufe wieder auf den Boden setzte. Nichts geschah danach und Eryth lauschte so angestrengt in die Nacht, dass es sie fast schmerzte. Gleichzeitig betete sie zu allen ihr bekannten Göttern, dass sich Drachenkind nicht ausgerechnet jetzt regen möge.
Es war still, aber sie spürte, wie sich der Nebel zusammenzog und sich um etwas dort draußen schloss. Dichter und immer dichter schmiegte er sich um das Pferd und seinen Reiter, so als riefe ein General seine Truppen zusammen.
Und dann krochen die ersten Ranken durch die untersten Ritzen im Holz des alten Verkaufsstandes. Eryth wurde von einem Gefühl der Panik überschwemmt und sie merkte, wie ihr die Einfälle entschwanden, wie sie keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte.
Die ersten Nebelschwaden zogen sich an ihren Beinen hoch zu ihrer Hüfte, kletterten auch diese schnell hinauf und wanden sich um ihre Arme. Aber dennoch, sie würde niemals hinausgehen! Dann fiel ihr Drachenkind plötzlich wieder ein und sie drehte langsam den Kopf, um einen Blick auf ihn zu erhaschen. Er hatte die Augen geschlossen und schien nichts um sich herum wahrzunehmen, auch wenn er sehr holprig und keuchend atmete.
Die milchigen Luftausläufer krochen behände auf ihn zu, betasteten seine bloßen Füße und wichen zurück. Ein einzelner kleiner Tentakel wagte es, ihn nochmals zu berühren, schreckte aber beinahe genauso rasch wieder fort.
Eryth traute ihren Augen nicht, aber der Nebel zog sich auch von ihr zurück und floh hinaus zu seinem Meister. Sie schluckte angestrengt und berührte Drachenkind vorsichtig mit der einen Hand, die sie bewegen konnte. Er atmete.
Das Pferd stieß einige schreiende Töne aus und setzte sich dann in Bewegung. Eryth war sofort wieder an der kleinen Ritze und sah hinaus. Diesmal erhaschte sie einen Blick auf den Reiter, der sich im Nebel deutlich abzeichnete. Schattenmann. Wie hatte sie sich immer vor ihm gefürchtet, jedes Jahr unter dem Bett gehockt und gebetet, er möge sie nicht auffordern hinauszukommen. Ein Wort von ihm hätte genügt und sie wären ihm beide schutzlos und willenlos gefolgt, ohne zu wissen, was überhaupt geschehen war. Aber Drachenkind war nun einmal, wer er war, und anscheinend respektierten dies sogar die Toten.
Die dunkle Gestalt dort draußen war schwer einzuschätzen. Eryth konnte nicht sagen, ob er groß oder klein war, da aber das Pferd um ein vielfaches größer war als seine lebenden Artgenossen, musste er riesig sein. Doch der Umhang, der ihm, würde er stehen, sicher bis an die Knöchel reichen würde, bedeckte den Körper wie ein schwarzes Leichentuch und man konnte nichts genaues sagen.
Kurz bevor er ihren Blicken entschwinden konnte, hielt er plötzlich an und schien auf etwas zu warten. Und richtig, die Stimmen waren wieder zu hören und sie strebten in ihre Richtung. Eryth sah hinüber zu Drachenkind, der sich nicht einmal mehr gerührt hatte und entschied in einem Atemzug, dass er sicher war, auch ohne sie.
Vorsichtig kämpfte sie sich durch die schmale Öffnung nach draußen und erschrak, wie still es plötzlich wirklich war. Sie musste sehr behutsam vorgehen.
Sie huschte zur nächstgelegenen Häuserecke und verbarg sich dahinter. Von diesem Blickwinkel aus konnte sie die ganze Szenerie besser beobachten und richtig, lange warten musste sie nicht. Die Fremdländischen näherten sich gleichmäßig schnell und sie mussten den Mann auf dem Pferd bereits gesichtet haben, auch wenn sie nicht wissen konnten, wer das war. Vielleicht hatte Drachenkind doch noch eine Chance.
Eryth zuckte kurz zusammen als es hinter ihr ein fast nicht hörbares Rascheln gab. Sie sah sich vorsichtig um und erstarrte zu Stein. In zwei Schritt Entfernung stand ein Mann mit leuchtenden Augen. Seine Kleidung wies ihn als Bäcker aus, wirkte aber ein wenig altmodisch. Er schien auf dem Boden zu stehen, doch aus dem gleichen Grund, wieso sein Gesicht diese blasse ungesunde Farbe hatte und seine Brust sich nicht hob und senkte, aus dem gleichen Grund berührte er nichts wirklich in dieser Welt.
Eryth schluckte hörbar und wich anfangs zurück, um dann aber wieder still dort hocken zu bleiben, wo sie war. Lieber dieser Tote, als den Schattenmann. Aber der Bäcker sah sie nur stumm an und ging dann ruhig an ihr vorbei und stellte sich neben seinen Herrn.
Sie schloss die Augen und zählte bis fünf, ehe sie sie wieder öffnete. Es waren noch mehr Menschen hinzugekommen, Männer wie Frauen und sie alle besaßen die gleichen leuchtenden Augen, wie der Bäcker. Eryth sah Näher wie Schuster, Lehrende und Viehtreiber, Reiche und Bettler, sie alle mussten ein Leben geführt haben, das sie nicht dazu berechtigte, ins Ewige Reich einzugehen.
Eryth sah nach oben und stellte fest, dass das Haus nicht zu hoch war. Außerdem hatte eine fleißige Hausfrau Leinen zwischen diesem und dem nächsten Haus gespannt und Eryth schnellte hoch. Sie landete zwar etwas unsanft auf dem ebenen Dach, doch nun hatte sie eine noch viel bessere Sicht über das Geschehen, als von der Straße aus.
Die Fremdländischen, fast unüberschaubar in ihrer Anzahl, hatten sich in geraden Reihen vor dem Mann auf dem Pferd aufgestellt. Dieser letztere hatte im Gegenzug die Schar seiner Untertanen um sich herum versammelt und schien fast amüsiert auf das Kommende zu warten. Eryth glaubte nicht, dass so etwas schon jemals zuvor geschehen war.
Der Anführer der Fremdländischen zog einen kurzen Moment an seiner Kopfbedeckung und die herunterhängenden Tücher bildeten augenblicklich einen Schleier vor seinem Gesicht. All die anderen taten es ihm sofort nach und dann knurrten sie Schattenmann tatsächlich an. Und dieser lachte!
Eryth glaubte nicht, dass jemand zuvor dieses gehört hatte oder auch nur jemals wieder hören würde und sie wünschte, sie hätte es auch niemals vernommen.
Dann stieß das Pferd diese schreienden Töne aus und Schattenmann brüllte etwas mit einer Stimme, die wie raschelndes Laub auf einem Waschbrett klang. Die Toten setzten sich in Bewegung und zum erstem Mal sah Eryth, wie sie die lebende Welt berührten.
Die Fremdländischen fielen so schnell, dass es unmöglich war, sie zu zählen, doch Eryth glaubte auch nicht nur einen Moment daran, dass sie gegen Tote je eine Chance gehabt hatten. Denn wie wollte man etwas töten, das bereits tot war?
Fast sah es so aus, als würde nur eine Berührung der Menschen mit den leuchtenden Augen ausreichen, um die Fremden wie Bäume einfach zu fällen. Doch sie wichen nicht zurück, sie schlugen nicht den Weg der Flucht ein, obwohl sie erkannt haben mussten, dass sie dort nicht mehr lebend herauskommen würden.
Und dann erhoben sich einige der Gefallenen und öffneten ihre Augen, die in der Dunkelheit wie Signalfeuer brannten. Davor nun wieder wichen die Lebenden zurück und Eryth spürte ihre nackte Panik davor, von einem ihrer eigenen Leute ins Reich der lebenden Toten geholt zu werden.
Sie bewegte vorsichtig die Glieder und übersah ein letztes Mal das Geschehen. Es war nicht nötig zu verweilen, der Ausgang war abzusehen. Halt! Ihr Blick schweifte von links nach rechts und stockte urplötzlich. Wo war der Schattenmann?
Angst überflutete sie, als sie ihn einfach nicht finden konnte. Aber er musste dort unten sein. Irgendwo.
Sie sprang hinunter von dem Dach und kroch erneut zu der Hausecke. Niemand war mehr in ihrer Nähe, die Toten fraßen sich so sehr in die Lebenden hinein, dass sie bereits weit in ihre Richtung gelangt waren.
Eryth sah hinüber zum alten Verkaufsstand der Schuster. Er war immer noch kaum zu sehen und doch wirkte das, was sie sah, nicht anders, als sie es verlassen hatte.
Und dann klangen Huftritte hinter ihr. Weder schnell noch langsam näherte sich ein Pferd und sie wusste, wer das war. Erst als das Klappern auf den Pflastersteinen abbrach, drehte sie sich langsam um.
Schattenmann stand hinter ihr. Er war eine unglaubliche mächtige Erscheinung. Eryth fühlte gar nichts. Sie wagte nicht, irgendetwas zu fühlen, denn das hätte sie nur als Lebende ausgewiesen, noch viel mehr und deutlicher, als ihr schlagendes Herz.
Schattenmann sah zu ihr hinunter und sie blickte ihm in die Augen. Ihre eigenen weiteten sich im Erkennen und sie musste ungläubige und auch ängstliche Tränen hinunterschlucken.
Seine Augen waren wie ihre. Genau wie ihre. Mit dieser Farbe konnte er ein naher Verwandter von ihr sein oder zumindest im gleichen, ihr noch immer unbekannten, Land geboren.
Schattenmann griff mit der rechten Hand nach oben, zog die Kapuze auf seine Schultern herunter und schüttelte den Kopf, als wüsste er genau, was sie dachte. Sein dichtes, wollenes Haar umrahmte das blasse Gesicht in einer einzigartigen Art und Weise, so dass die braunen wie Gold glänzenden Augen das beherrschendste in diesem kantigen Oval wurden.
Und dann sah sie Drachenkind. Er lag bewusstlos über den Sattel gelegt und rührte sich nicht. Eryths Augenbrauen zogen sich nach unten und sie sprang fauchend auf Schattenmann zu ohne daran zu denken, wer er war.
Der Schattenmann griff nur einmal behände zu und betrachtete lange, was er da am Hals gepackt gefangen hielt. Dann sah er hinunter auf die reglose Gestalt, die er zu sich geholt hatte, und setzte das strampelnde Geschöpf wieder auf den Boden.
Ruhig. Ganz ruhig. Eryth versuchte ihren Atem zu verlangsamen und das Dröhnen in ihren Ohren zu ignorieren, während sie vorsichtig ihren Hals betastete. Offenbar wollte er sie nicht und sie konnte nicht sagen, dass sie etwas dagegen gehabt hätte. Aber Drachenkind gehörte ihr!
Schattenmann wendete sein Pferd und führte es zum Ende der kleinen Gasse hinter ihr. Und zum ersten Mal gehorchten ihr ihre Muskeln nicht auf Anhieb.
Das Geräusch der Hufe, wenn sie auf Stein trafen, war beinahe lauter als das Geschrei der Fremdländischen und der scheppernde Klang wurde von den Wänden der hohen Häuser zurückgeworfen. Dann blieb es wieder stehen. Schattenmann sah sich um und betrachtete ihr Innerstes.
"Komm", sagte er mit dieser rauen und unmöglich menschlichen Stimme.
Eryth stand langsam auf und würgte, als sich die Muskeln in ihrem Hals zusammenzogen. Yaa würde mehr heilen müssen als bloße Verspannungen und blaue Flecken.
Einen Blick auf die dunkle Gestalt werfend, die auf diesem riesigen Pferd thronte, folgte sie dem Gang der Gasse, ohne sich dessen so recht bewusst zu sein. Schattenmann sah wieder nach vorn und bewegte sich weiter in die Richtung, aus der er gekommen zu sein schien.
Irgendwann verblasste das Geschrei der sterbenden fremden Menschen und Eryth fragte sich, ob sie sich einfach nur zu weit entfernt oder ob der Kampf ein Ende gefunden hatte. Sie interessierte sich bald nicht mehr dafür und folgte nur stolpernd dem Herrn der Toten.
Irgendwann standen sie dann plötzlich vor Yaas Haus und Eryth war nur noch unendlich erleichtert. Aus einem Grund, den sie nicht genau benennen konnte, wollte sie nur noch in ihr Bett und dann am nächsten Morgen, der schon am fernen Horizont graute, aufwachen und feststellen, dass alles nur ein böser Traum gewesen war. Aber gleichzeitig wurde ihr bewusst, dass sich das niemals so herausstellen würde und das machte sie unendlich traurig.
Schattenmann ließ Drachenkind langsam auf den Boden gleiten und kam dann auf sie zu. Er sah ihr wieder tief in die Augen und wieder hatte sie das Gefühl, ihn kennen zu müssen, und sie wollte ihm so viele Fragen stellen. Aber er ließ es nicht zu und fasste sie nur hart unters Kinn, was die alten Schmerzen aufleben ließ.
"Ich sehe es", sprach er flüsternd, als teile er ihr eine wichtige Nachricht mit.
"Behüte ihn wohl!"
Ihr Blick zuckte hinauf zu ihm und sie wandte sich nicht wie zuvor ab. Aber er sagte nichts mehr und ließ sie nur los, um ohne jedes Geräusch den Weg zurück einzuschlagen. Nach nur wenigen Schritten verblasste seine Gestalt und er verschwand bis er im nächsten Jahr wieder erscheinen würde. Eryth fragte sich beiläufig, wo sie dann wohl wäre, aber sie war zu erschöpft und müde, um diesem Gedanken nachzugehen.
Also bückte sie sich nur, umfasste Drachenkind von hinten und zog ihn hinein in die schützenden Mauern von Yaas Haus. Als sich die Tür hinter ihr schloss, starb der Wind mit den ersten Sonnenstrahlen.
***
Die Bürger Amorits waren am Morgen wenig erfreut, als sie sahen, wie jemand ihre Vorbereitungen für das Fest der Schattenwende teilweise komplett zerstört hatte.
Doch sie hatten die Rufe und Schreie der Nacht noch in den Ohren und sie ahnten bereits, was geschehen sein musste. Als sie die ersten Toten fanden, wussten sie, dass die Armee des Schattenmannes reichen Einzug im nächsten Jahr halten würde und sie fürchteten es schon jetzt. Aber die Zeit bis dahin erschien ihnen noch endlos lang und sie waren maßlos erleichtert, als sie feststellten, dass es niemand von ihnen gewesen war, der den Herrn der Toten hatte begleiten müssen.
Und so beschwerten sie sich lediglich, schimpften lautstark und bauten wieder auf.
Aber keiner von ihnen ahnte, dass sich in dieser Nacht die erste Prophezeiung erfüllt hatte.
.
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Und es steht geschrieben,
dass kommen wird eine
dunkle Zeit.
Brennen wird die ganze Welt
getränkt der Samen
in Furcht und Hass.
Sonnenstrahlen in der Hand
erhellen die Finsternis
der Verderbten.
Das Eis der Herzen
ist nicht zerbrochen.
Die Zukunft steht jenseits aller Zeiten
im Ewigen Buch
der grauen Schicksalsfäden.
Schatten werden sich erheben
und schreien den
einen Namen nur:
Drachenkind.
Was einst gewesen kehrt
nun zurück und der Sand
in der Uhr der Menschheit
verrinnt.
Die Schleier der Vergangenheit
heben sich und bringen
zutage die Scherben des
Ruhmes und der Bande.
Und was war wird ewig sein.
Tag der Veröffentlichung: 18.04.2011
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