Eryth fröstelte es plötzlich und sie zog die Schultern enger zusammen. Sie wusste nicht, wie lange sie schon in dieser Position verharrte, doch ihre Muskeln hatten noch nicht begonnen zu protestieren. Dennoch, der Stoff ihres Hemdes war klamm geworden und die Nacht musste bereits weit fortgeschritten sein.
Sie sah hinunter auf die Straße. In diesem Teil Amorits waren sie eher schmal als breit, doch die, die links schräg unter ihr verlief, war breit genug für eine Kutsche gemacht. Und nicht nur das, so war das Haus der Paz auch das höchste Gebäude des ganzen Viertels. Vier Stockwerke umfasste es und nahm mit seinem riesigen Innenhof den Platz von drei weiteren Gebäuden ein.
Eryth war mehrmals um den gesamten Komplex herumgegangen und hatte die Lage genau erkundet. Auf der Rückseite hatten die Paz keine Türen und nur wenige Fenster eingeplant und an je einer Seite davon begannen die Hofmauern in einer Linie mit dem Haus ihren Anfang zu nehmen. Sie winkelten sich nach wenigen Metern und folgten einer unsichtbaren aufbauenden Linie weiter aufsteigend.
Es gab nur einen einzigen Zugang zum Hof, der von einem riesigen hölzernen Tor verschlossen werden konnte. Die neuen Besitzer hatten offenbar weder Kosten noch Mühe gescheut, dieses als erstes ausbessern und reparieren zu lassen.
Was sie aber am meisten verwunderte, war, dass sie bisher nur zwei Gestalten der Fremden gesehen hatte, wo Yaa doch so unglaublich viele von ihnen gesehen haben wollte. Aber diese Mauern und die zahlreichen Stockwerke mochten Hunderte von ihnen beherbergen.
Von ihrem Platz auf dem Dach des Nebengebäudes aus hatte Eryth freie Sicht in die Fenster. Nur wenige von ihnen waren unverhangen und nicht zugenagelt worden. Sie fragte sich, wieso jemand so etwas tun sollte, es sei denn natürlich, er wollte nicht gesehen werden. Nur ein mal hatte sie ein schwaches flackerndes Licht hinter den Fenstern gesehen. Es bewegte sich durch die oberen Stockwerke und verhielt dann im letzten äußersten Raum. Bevor sie jedoch etwas genaues erkennen konnte, verlosch das ferne Licht und die Dunkelheit breitete sich wieder aus.
Sie zögerte noch, das Unvermeidliche zu tun, ohne selbst den Grund dafür zu kennen. Am Anfang hatte sie sich eingeredet, sie müsse die Wachablösung abwarten. Aber niemand näherte sich den zwei Gestalten vor dem Tor auf der Straße.
Es war nicht so, als hätte sie Angst. Doch vor dem Ungewissen schreckte so mancher Mensch zurück und sie bildete da keine Ausnahme.
Abermals sah sie hinunter. Diesmal zu der engen Gasse, die direkt unter ihr lag. Alte Holzstapel und unregelmäßig geformte Schutt- und Müllberge bildeten vereinzelte Hürden auf dem Weg zur nächsten angrenzenden Strasse. Leise hohe Töne verrieten ihr, dass sie nicht unbewohnt waren.
Lautlose wabernde Nebelschwaden zogen zwischen all dem entlang. Fast schien es, als wären sie auf einer geheimen Suche nach etwas, was nur sie sehen und erkennen konnten. Aber wenn sie etwas gefunden hatten, teilten sie sich lediglich darum und setzten ihren Weg auf der anderen Seite unberührt fort.
Das einzige Licht in dieser Nacht kam von einer brennenden Fackel, die sich die Fremden mit hinaus genommen hatten. Eryth konnte darüber nur lächeln. Offenbar wussten sie nicht, was für eine Nacht diese Nacht war, sonst wären auch sie im Haus geblieben. Obwohl sie nicht glaubte, dass Mauern wirklich den Schutz boten, den sich die Bewohner Amorits gewünscht hätten.
Der Nebel machte auch vor dem hellen Feuer nicht halt und hüllte alles in seinem Licht ein. Die Wachen schienen sich davon jedoch nicht beeindrucken zu lassen. Seit Stunden hockten sie regungslos mit ihren seltsam geformten Speeren über den Knien vor den Mauern. Fast schien es, als schliefen sie bereits. Doch Eryth wusste, dass es nicht so war. Es wäre ein tödlicher Irrtum, das zu glauben.
Das Licht der Fackel flackerte im ersten Aufbegehren des Windes, der innerhalb der restlichen verbleibenden Stunden der Nacht zu einem kleinen Sturm heranwachsen würde. Die Schatten an den Mauern begannen unter seiner Melodie zu tanzen und ihrem eigenen Rhythmus zu folgen. Bald trieben sie sich gegenseitig zu so wilden und feurigen Bewegungen an, die kein Lebender je zustande bringen würde.
Die zwei unbeweglichen Gestalten der Fremden blieben seltsam unberührt von dieser Sinfonie der Unheiligkeit. Sie fielen nun direkt ins Auge, eben weil sie sich nicht bewegten und so einen deutlichen und scharfen Kontrast zu ihrer Umgebung bildeten.
Eryth fühlte, wie sich ihre Haut zusammenzog, als der Wind abermals ein wenig an Stärke zunahm. Jetzt oder nie.
Ohne zu überlegen spannte sie die Muskeln in ihren Beinen an und sprang mit einer einzigen, federnden Bewegung hinunter in den inneren Hof. Nur ein leises Scharren erklang, als ihre Füße auf dem Boden aufsetzten.
Augenblicklich presste sie sich an den kalten Stein und versuchte mit dem Schatten zu verschmelzen. Mit allen Sinnen wachend, zählte sie bis einhundert und als es still blieb im Hof, lief sie an der Mauer entlang in gebückter Haltung auf das Haus zu.
Schon vom Dach aus hatte sie erkannt, dass der Hof selbst leer stand und sich so keine Möglichkeit zum verbergen bot.
Eryth kauerte sich an die kahlen Zweimann hohen Mauern und sah hinüber zum geöffneten Tor. Noch konnte sie von dort aus nicht gesehen werden, ebenso wenig, wie sie die Wachen sehen konnte. Um zur Tür zu gelangen aber musste sie quer über den Hof.
Sie fragte sich, ob diese Nacht dunkel genug sein könnte, um ihre schlanke Gestalt vor Blicken zu verbergen. Aber selbst wenn es so sein sollte, würde das Öffnen der Tür nicht zu übersehen sein.
Sie legte sich flach auf den Bauch und kroch vorsichtig vorwärts.
Es würde zu dunkel sein. Es musste einfach. Sicher, sie selbst hatte Einzelheiten erkennen können, doch dies war eine völlig andere Sache. Die Fremden hatten ganz sicher nicht ihre Augen und erwarteten bestimmt auch keinen Angriff von dieser Seite der Mauer aus.
Der Boden roch würzig, so als wäre er erst vor kurzem bewegt worden. Angesichts der Tatsache, das nirgendwo Unkraut oder Büsche wuchsen, schien das auch sehr wahrscheinlich zu sein.
Durch den dünnen Stoff ihres Hemdes und selbst durch das Leder der Weste hindurch fühlte sie jede kleine Unebenheit, zwickte sie jedes noch so kleine Steinchen. Als sie in die Sichtbahn des Tores geriet, glaubte sie, sich bereits durch das laute Schlagen ihres Herzens verraten zu haben. Aber noch blieb alles still.
Die Tür, die sie ins Innere des Hauses führen würde, lag nun nur noch wenige Schritte von ihr entfernt. Ein Blick zurück verriet ihr, dass die Männer nach wie vor unbewegt vor den Mauern hockten. Eryth wagte es dennoch nicht sich aufzusetzen und verharrte endlose Minuten in ihrer Position auf dem kalten Boden.
Plötzlich erklang von jenseits der Mauer ein Fauchen, das von einem lauten Scheppern begleitet wurde.
Wieder bewegte sich ihr Körper schier ohne ihr Zutun und sie glaubte sich später nicht mehr erinnern zu können, wie genau sie zur Tür gelangt war. Natürlich spielte das auch nicht mehr die geringste Rolle, als der Hebel zum Öffnen in ihrer Hand lag.
Schnell und doch vorsichtig drückte sie ihn nach unten und schob die Tür einen winzigen Spalt weit auf.
Hinter ihr erklangen keine Schritte oder Rufe, aber sich durch einen Blick genau zu vergewissern, das wagte sie sich dann dennoch nicht.
Mit dem Rücken zuerst betrat sie das Innere des Hauses und verschloss die leise knarrende Tür sorgfältig vor sich. Die Fackeln an den Wänden, die nur ein sehr spärliches Licht absonderten, tanzten zu ihrer Begrüßung mit dem jaulenden Wind. Ein Herzschlag und alles war still.
Lauschend drehte sie sich um. Winzige Geräusche hatten ihr verraten, dass sich Lebewesen hinter ihr befinden mussten und niemand war erstaunter darüber, dass sie noch lebte, als sie selbst.
Auf ihrer Haut begann es zu prickeln, als sie die schlafenden Männer sah. Es waren tatsächlich unglaublich viele und sie lagen alle so dicht beieinander, dass ein Durchkommen schier unmöglich zu sein schien. Niemand von ihnen war erwacht, soweit sie das auf den ersten Blick sagen konnte, und sie musste erst mehrere Male hintereinander schlucken und tief einatmen, um ihr Bewusstsein nicht völlig zu verlieren.
Sie ließ den Blick schweifen, ehe sie den ersten Schritt ins tiefe Innere des Hauses tat. Buchstäblich an jedem freien Plätzchen lagen schlafende Gestalten. Manche von ihnen waren kaum zu erkennen, denn sie hatten sich ihre Decken bis weit hinein ins Gesicht gezogen, so als frören sie hier entsetzlich. Andere hatten nicht einmal ihre seltsamen Kopfbedeckungen abgenommen und sich zudem noch den eigentlich lose herabfallenden Schleier über Mund und Nase gezogen. Vorsichtig bewegte sie sich durch die Masse von Körpern und verhielt etliche Male, als sich jemand im Schlaf bewegte.
Von diesem großen und hohen Vorraum aus, der sicher fast die gesamte Größe des Hauses einnahm, zweigten mehrere kleinere Räume ab und auch in diesen schien sich das gleiche Geschehen abzuspielen wie hier. Schlafende Männer so weit wie sie sehen konnte und ihr wurde sehr unbehaglich zumute, als sie sich daran erinnerte, wie viele Stockwerke dieses Haus besaß. Sie konnte die Treppe hinauf nicht entdecken, obwohl sie sicher war, dass es hier einst eine gegeben hatte, doch sie wusste, irgendwie musste jemand hinauf gekommen sein. Und wenn es einer geschafft hatte, dann auch ein zweiter.
Zielbewusst arbeitete sie sich in den hinteren Teil des Vorraumes vor. Sie wusste selbst nicht so genau, warum genau dieser Weg ihr als der richtige erschien, doch sie ahnte bereits, dass sie diesem Gefühl vertrauen konnte.
Plötzlich trat sie auf Stoff, der neben einer schlaffen Hand lag. Als ihr bewusst wurde, das er zu dem Ärmel eines Kleidungsstückes gehörte, verharrte sie erschrocken in ihrer Position. Glücklicherweise schien dieser Mann einen gesunden Schlaf und gute Träume zu besitzen, denn er bewegte sich nicht ein einziges Mal, als sie an ihm vorbei weiter vorwärts strebte.
Der letzte angrenzende Raum war völlig leer und etwas sagte ihr, dass sie ihrem Ziel sehr nahe gekommen war. Sie hatte keine Zeit sich zu fragen, wieso hier niemand Zuflucht gesucht hatte und trat ein. Leise knarrten die Dielen unter den alten Teppichen unter ihrem Gewicht und sie glaubte herauszuhören, dass der Boden darunter hohl war. Ganz sicher war sie sich aber nicht.
Am Ende dieses länglichen Raumes war ein seltsames Symbol an die Wand gemalt worden, das von zwei brennenden Fackeln beleuchtet wurde. Unbekannte Schriftzeichen waren rings darum angeordnet worden und Eryth begriff, dass dies ein heiliger Raum sein musste, in dem die Fremden beteten.
Zwei kleine Fenster auf der rechten Seite waren lückenlos verbarrikadiert worden und den einzigen Zugang bildete der Durchgang, durch den sie eben eingetreten war. Es gab keine Möbel hier, nur die alten abgenutzten Teppiche. Und doch fühlte sie etwas.
Langsam ging sie auf das Symbol zu, das mit einer blutroten Farbe, die sie nicht erkannte, auf den nackten Stein gemalt worden war. Fast zärtlich strich sie vorsichtig mit den Fingern darüber und erschrak, als sich ein Stein bewegte. Kräftig schob sie ihn weiter nach hinten und hörte augenblicklich das sanfte Scharren.
Einer der Teppiche verschob sich und Eryth verstand sofort, dass es sich um einen alten unterirdischen Fluchtweg der Paz handeln musste.
Langsam zählte sie bis zehn und lauschte angestrengt nach draußen. Aber außer einem gelegentlichen Knarren und den Atemgeräuschen der schlafenden Männer war nichts zu hören.
Sie zog den Teppich, der sich mehr als nur seltsam anfühlte mit seinen uralten Fäden, gänzlich beiseite und betrat die kleine hölzerne Treppe, die nach unten führte. Noch schwärzere Dunkelheit, als es die Schattennacht jemals zustande bringen könnte, umfing sie nach den ersten Stufen. Sie setzte ihre Füße zwölfmal auf Holz, bevor sie unebenen Boden fühlte.
Aufdringliche kalte und abgestandene Luft wehte um ihr Gesicht und sie konnte dem Drang nach oben zu gehen und tief einzuatmen kaum widerstehen.
Das einzige, was sie erkannte, war nach vielen Metern ein Licht. Es flackerte kaum, aber es stammte eindeutig von einer einzigen Fackel.
Nach einem letzten Blick nach oben ging sie auf das Licht in der Dunkelheit zu.
Die Luft arbeitete sich um ihren Körper herum und sie begriff schnell, dass von dem langen Gang, den sie gerade durchschritt, noch mehrere kleinere Kammern abzweigen mussten. Doch wirklich sehen konnte sie sie nicht.
Yaa hatte recht behalten und Eryth wagte kaum sich auszumalen, welchem Zweck diese vielen Kammern dienen sollten. Der Verdacht, der damals in ihr aufgekommen war, war schrecklich genug gewesen, doch ihn nun bestätigt zu sehen, schnürte ihr buchstäblich die Luft ab.
Die einsame Fackel warf einen sanften halbrunden Lichtkegel auf den Boden und so war deutlich zu erkennen, dass die Wände des Ganges erst vor kurzem bearbeitet worden waren. Die Paz hätten sicher auch keine Verwendung für dieses unterirdische Verließ finden können, außer dem ihres kurzen Fluchtweges, den es vielleicht gar nicht mehr gab.
Der letzte Zugang zu einer der Kammern war durch eine stabile Eichentür verschlossen. Ein großes eisernes Schloss hinderte Eryth daran, einfach einzutreten. Sie hatte bisher nur wenige verschlossene Türen gesehen, zwei um genau zu sein, und jede einzelne davon hatte nur einem Zweck gedient. Jemandem den Zutritt zu verwehren. Oder den Austritt.
Als sie noch etwas ratlos das Metall betrachtete, legte sich urplötzlich eine Hand auf ihren Mund. Instinktiv wollte sie hinauf greifen, um sie wieder fortzuziehen und musste feststellen, dass, wer immer auch hinter ihr stand, ihre Hände fest gepackt hielt.
Panik breitete sich leise sickernd in ihrem ganzen Körper aus und sie konnte sich nicht zwischen lähmendem Entsetzen und fluchtartigen Bewegungen entscheiden.
Ohne zu wissen, was sie da eigentlich tat, trat sie nach hinten und traf mit dem Fuß auf einen Widerstand. Der Griff um ihre Hände lockerte sich unmerklich, aber doch so, dass sie die rechte Hand freibekam. Sie packte blitzschnell den Arm, der um ihre Schulter herumreichte, und wirbelte mit ihm gänzlich herum. Anschließend presste sie die Gestalt, die sie noch immer nicht genau mustern konnte, fest gegen die Wand. Eryth hatte ihr den Arm fest in den Rücken gedreht und wusste nicht nur durch ihre Zeit bei Yaa, dass nur wenige Zentimeter reichten, um ihn zu brechen.
Die Gestalt war etwa genauso groß wie sie und selbst wenn er andere Kleidung getragen hätte, so hätte sie doch den Fremdländischen in ihm erkannt. Er wankte stark und sie musste nicht hinsehen, um zu wissen, dass sie sein Knie erheblich verletzt haben musste.
Aber was sie jetzt mit ihm tun sollte, das wusste sie nicht. Sie schluckte kurz und hob zum Sprechen an, besann sich dann aber schnell und blieb stumm. Vorsichtig griff sie mit der linken Hand um seinen Hals herum, ohne den Druck auf seinen Arm zu verringern. Er knurrte und versuchte sie zu beißen, doch sie presste ihn noch stärker an die Wand und er verhielt.
Vorsichtig suchte sie die Druckpunkte an seinem Hals, die Yaa ihr vor einiger Zeit gezeigt hatte und drückte zu, nachdem sie sie gefunden hatte. Yaa wäre stolz auf sie gewesen, so einfach schien es zu sein, ihn in den tiefen traumlosen Schlaf fallen zu lassen.
Als sie ihn langsam auf den Boden gleiten ließ, schalt sie sich ihrer eigenen Dummheit. Sicher war der obere Raum leer gewesen, aber ein Geschöpf wie Drachenkind würde nicht unbewacht der Dinge harren. Vielleicht hatte niemand damit gerechnet, dass jemand von seiner Existenz erfuhr und ganz sicher nicht damit, dass jemand so weit kommen würde. Angestrengt lauschte sie in die Dunkelheit, denn sie konnte kaum glauben, dass ein einzelner Mann zur Nachtwache abkommandiert sein sollte. Aber es war nichts zu hören.
Allerdings blieb nun immer noch das Problem mit dem Schloss. Eine Suche bei dem Mann zu ihren Füßen blieb ergebnislos. Außer seiner Kleidung, dem Schleier und einem seltsam geformten Dolch besaß er nichts an sich, was ihr irgendeinen Hinweis liefern konnte.
Verzweifelt rüttelte sie an der Tür, aber sie bewegte sich kein bisschen. Dann sah sie sich ihre Umgebung näher an und hockte sich dann vor das Schloss. Sollte sie nun so weit gekommen sein, um schließlich unverrichteter Dinge wieder abziehen zu müssen? Es war seltsam geformt, aber in anbedacht ihrer fehlenden Kenntnisse konnte sie sich darüber kein Urteil erlauben. Sie fragte sich plötzlich, ob es nicht leichtsinnig wäre, eine Wache vor eine Tür zu stellen und dieser dann keinen Schlüssel zu geben.
Ihr Blick huschte abermals über den am Boden liegenden Mann. Und seinen Dolch.
Blitzartig packte sie ihn und hob den Griff dicht vor ihre Augen. Er war in der Form eines feuerspeienden Drachen gefertigt, der mit ausgebreiteten Flügeln zu schweben schien. Feuer.
Unsicher atmend schob sie den Dolch mit dem Griff voran in das metallene Schloss und drehte. Das unerwartete geschah und ein leises Klacken verkündete ihr, dass sie nun eintreten konnte.
Den Dolch stecken lassend, öffnete sie das Hindernis, das zwischen ihr und Drachenkind lag. Das erste, was sie bemerkte, war der stechende pestilenzartige Geruch, der ihr wie eine undurchdringliche Wand entgegenschlug.
Sie ging drei Schritte zurück und nahm die Fackel von der Wand, um sie in einer Halterung im Inneren der Kammer zu befestigen. Erst dann sah sie sich um. Ihre Augen hatten sich hervorragend an das schwache Licht gewöhnt und sie musste nicht blinzeln, als sie eine zusammengekrümmte Gestalt auf dem Boden liegen sah.
Sofort war sie bei ihm und ein triumphartiges Gefühl machte sich in ihr breit. Sie hatte es geschafft.
Dann bemerkte sie seine unregelmäßige Atmung und seine zahlreichen Verletzungen. Vorsichtig ging sie in die Knie und berührte den Arm, auf dem sein Kopf mit dem ihr abgewandten Gesicht lag. Sein Haar mochte gewaschen ein kräftiges Rot ergeben. Seine Haut fühlte sich kalt, schmutzig und doch kräftig und sehnig an. Und behaart. Vor ihr lag sicher kein Junge. Das hier war ein Mann.
Mit einem stirnrunzelndem Lächeln musste sie plötzlich an Yaa denken und daran, wie oft sie sie Kind genannt hatte.
Sie ließ ihren Blick über die undeutlichen Konturen der Person vor sich gleiten. Die Kleidung war stark zerrissen und verschmutzt, seine Füße ohne Schuhe. Ein wenig Stroh lugte vereinzelt unter seiner Gestalt hervor und die Pfützen ein wenig seitlich von ihm sprachen für sich. Es machte Eryth wütend, dass sie ihm nicht einmal dafür gestattet hatten, nach draußen zu gehen. Oder wenigstens einen Eimer hingestellt.
Er zuckte unter ihrem Griff zusammen und sie erschrak, als sie erkannte, dass er nicht bewusstlos war, wie sie geglaubt hatte.
"Still! Ich komme um dich zu befreien," wisperte sie ihm zu.
Er versuchte sich aufzusetzen, was ihm aber ohne ihre Hilfe nicht recht gelingen wollte. Als er saß, den Rücken gegen die Wand gelehnt, trafen seine Augen auf ihre. Wieder sollte Yaa recht behalten haben. Seine Augen waren stechend grün, das konnte Eryth selbst unter diesen Lichtverhältnissen erkennen. Vielleicht lag es aber auch vor allem daran, dass seine Augen das einzig saubere und glänzenste an ihm waren. Die Pupillen waren fast krankhaft verzerrt und es brauchte einige Sekunden, ehe sie begriff, dass die Natur dies so beabsichtigt hatte. Und sie standen nicht still, sondern glitten über ihre schlanke Gestalt.
Als sie zu ihrem Haar wanderten, griff sie nach oben und fuhr sich durch das kurze wollene Haar und dachte daran, wie gut es eigentlich nachgewachsen war. Dennoch war ihr sein Blick darauf unangenehm, da sie doch nicht wie üblich ein Tuch darüber trug.
"Kannst du gehen?"
Sie musste ihn erst wieder ansehen, um sein schwaches Nicken zu bemerken.
Mit ihrer Hilfe richtete er sich auf, wobei er sich mehr auf sie stützte, als dass er es aus eigener Kraft schaffte. Eryth bekam plötzlich Zweifel daran, ob ihre Flucht aus dem Haus genauso leicht ablaufen würde, wie die hinein ins Haus.
Aber darum wollte sie sich lieber keine großen Gedanken machen und so legte sie nur Drachenkinds Arm um ihre Schultern und nahm ihn so stützend auf ihre linke Seite. Er stöhnte, als sie die ersten Schritte gingen, machte aber keine Anstalten, stehen zu bleiben. Als sie aus der Kammer kamen, würdigte er den Fremden keines Blickes, suchte ihn aber mit Blicken ab. Schließlich deutete er auf die Tür.
Eryth runzelte die Stirn und verstand dann aber, dass er den Dolch haben wollte.
Sie ließ ihn nicht los und balancierte sich an der Tür entlang, griff den Dolch und steckte ihn sich in den Hosenbund. Bei ihm hatte sie Zweifel, ob das Stück Stoff, das er trug, das Gewicht irgendetwas Metallenem aushalten würde.
Dann schlug sie mit ihm die Richtung ein, in der sie die Treppen nach oben vermutete. Er drehte seinen Kopf mehrmals nach rechts und links, als könne er etwas genaues in der Schwärze des Verließes erkennen, sagte aber nichts.
Als sie beinahe an den Ausläufern der Treppe standen, fiel ein leichter Lichtkegel auf sie und er starrte nach oben. Sie fragte sich, ob er zweifelte, es die Stufen hinauf zu schaffen und da sein Gewicht sie sehr drückte, zweifelte auch sie.
Plötzlich lugte ein Gesicht von oben hinein und trat die ersten beiden Stufen nach unten, um dann eine Hand vorbei zu lassen, die eine brennende Fackel trug und leuchtete.
Blitzschnell lehnte sie Drachenkind unsanft gegen die Wand und ergriff das Handgelenk, um es nach unten zu ziehen. Die Fackel ging zu Boden, verlosch jedoch nicht.
Ein kleiner Schrei kam aus dem Mund dieses Mannes und sie trat ihm schnell auf die Kehle, was ihn nicht nur verstummen ließ, sondern ihm auch das Bewusstsein raubte. Schnell überzeugte sie sich davon, das er noch lebte und selbstständig atmen konnte und dann war sie auch schon wieder bei Drachenkind.
Er hielt eine Hand fest an seine linke Seite gepresst und stöhnte verhalten, als sie ihn berührte. Der unsanfte Ruck an die Wand und der anschließende zu Boden, mussten alte Verletzungen mit neuem brennendem Feuer versorgt haben.
Er sah sie böse an, ließ sich aber bedingungslos von ihr stützen.
Sie trat mit dem Fuß den Körper des Mannes beiseite und betrat mit Drachenkind die ersten Stufen. Er hielt sich besser, als sie gedacht hatte, auch wenn er seinen Atem durch die zusammengepressten Zähne ausstieß.
Oben angekommen deutete sie ihm schnell an, dass er für einen kurzen Moment allein stehen müsste und zog den alten Teppich wieder an seinen rechten Platz. Nach einem letzten Blick, der ihr sagte, dass alles relativ normal aussah, nahm sie ihre alte Position wieder ein.
"Kein Laut mehr ab jetzt," flüsterte sie ihm zu und er nickte.
Trotz der starken Schmerzen, die er haben musste, atmete er gleichmäßig durch Mund und Nase.
Das Geräusch der knarrenden Dielen schien ihr plötzlich um ein Vielfaches lauter und sie biss die Zähne zusammen, als sie am Durchgang ankamen.
Ein Blick zu den Fenstern hatte ihr gesagt, dass es keinen Zweck hätte, auch nur zu versuchen, sie freizulegen. Sie wären schneller umringt gewesen, als dass sie hätte 'Drachenkind' sagen können.
Im Durchgang selbst lag ein schlafender Mann.
Erschrocken verhielt sie, weil sie dachte, er verstelle sich nur und würde jeden Moment aufspringen und ihr die Kehle durchschneiden. Aber er lag still und seine Augen verrieten ihr, dass er lebhaft träumte. Vorsichtig stieg sie über ihn hinweg und half Drachenkind dabei, das gleiche zu tun. Eine Hand des Schlafenden bewegte sich, als er sich auf die andere Seite drehte und berührte dabei Drachenkinds Hosenbein.
Eryth schluckte und stellte sich vor, was sie in ihrem Leben noch alles hatte sehen und erleben wollen.
Drachenkind humpelte ungerührt weiter und zog sie mit sich. Mit aufgerissenen Augen hinter sich starrend folgte ihm Eryth. Der Mann bewegte sich nun nicht mehr und lag still da.
Zu zweit war es denkbar schwieriger, sich durch die stillen Wellen von schlafenden Körpern zu arbeiten und sie benötigten auch denkbar mehr Zeit. Eryth schluckte nicht nur der Anstrengung wegen, sondern auch, weil sie das Heulen des Windes hören konnte, der bereits fast seine gesamte Kraft zu besitzen schien.
Und dann war da wieder das Problem mit der Tür, die sie ja öffnen mussten um hinaus zu gelangen.
Drachenkind hielt sich gut, auch wenn sie das Gefühl bekam, er sauge seine Kraft aus ihr heraus. Sie wusste plötzlich ganz sicher, dass sie sich am nächsten Tag kaum würde bewegen können, selbst wenn ihr Yaa sofort nach ihrer Rückkehr einen Breiumschlag für ihre Schulter anfertigen würde.
Sie lächelte still. Die meisten der abzweigenden Räume lagen hinter ihnen, doch draußen waren sie noch lange nicht und der Umschlag würde warten müssen.
Einer der Schlafenden begann plötzlich unkontrolliert zu zucken. Sollte er jemanden in seiner Umgebung berühren oder anfangen zu schreien, würden Eryth und Drachenkind mitten unter unausgeschlafenen und wütenden Männern stehen.
Sie wagte kaum zu atmen, wusste sie doch auch nicht, was sie tun sollte. Der Mann hatte einen Anfall, das konnte sie erkennen, aber sie würde ihn nicht erreichen können, bevor es zu spät war. Und sie wollte in Drachenkinds Nähe bleiben, sollte es zum Unvermeidlichen kommen.
Plötzlich begann er zu röcheln und dann lag er schlagartig still.
Sie schluckte und fragte sich, ob sie als gelernte Heilerin sich nun über ihr Glück freuen oder den Tod dieses Mannes betrauern sollte. Das Gewicht auf ihren Schultern nahm ihr die Entscheidung ab.
Als sie vor der Tür, die ins Freie führen würde, standen, hätte sie am liebsten geweint.
Langsam zählte sie bis fünf, Drachenkinds Blicke ignorierend und öffnete dann die Tür, um ihren Begleiter hinaus zu stoßen und ihm selbst zu folgen.
Sie schloss die Tür wieder und fing Drachenkind auf, ehe er stürzen konnte.
Der Wind pfiff mit unglaublicher Kraft an ihnen vorüber und sie sah schnell zum großen Tor. Dann hörte sie ein hölzernes Schlagen und leises Klirren.
Die Nacht war nicht mehr still. Nicht richtig befestigte Fensterläden schlugen gegen Häuserwände und das Glas hinter ihnen beschwerte sich darüber.
Seinen Blick nicht beachtend, griff sie ihn und zerrte ihn aus der Sichtweite des Tores.
Das war mehr Glück, als eigentlich statthaft sein sollte. Andererseits hatten die Wachen draußen auch keinen Grund, sich umzudrehen und zu ihrem eigenen Haus zu sehen.
An der Mauer angekommen, lehnte sie ihn dagegen und atmete selbst tief ein. Bis hierher war keiner ihrer Pläne gekommen und in ihrem Kopf arbeitete es fieberhaft. Es gab nur eine einzige Möglichkeit, die sie aber liebend gern vermieden hätte.
Da sie nicht schreien wollte, um nicht auf sich aufmerksam zu machen – und etwas anderes war bei diesem Sturm gar nicht möglich –, deutete sie Drachenkind an, was sie vor hatte. Er sah sie zweifelnd an und schüttelte den Kopf.
Abermals deutete sie auf ihn und sich und beschrieb dann einen kleinen Bogen über die Mauer hinweg.
Ohne seine Antwort abzuwarten, packte sie ihn fester als zuvor und trat drei Schritte von dem schwarzen Stein weg. Er klammerte sich an sie, als er merkte, dass es ihr vollkommen ernst war und sie sah ihm nur so lange in die Augen, bis sie sicher war, dass er wusste, dass sie bis drei zählen würde.
Die letzten Kraftreserven aus sich herausholend zog sie ihre Muskeln in den Beinen an und sprang nach oben. Allein, da war sie sich sicher, hätte sie diesen Sprung auch unter diesen Umständen mit Bravour geleistet. Aber nun hatte sie nicht nur ihr eigenes Gewicht zu tragen.
Drachenkind ließ die Hälfte ihrer Kraft gegen Null sinken und sie fühlte, wie er sie beide wieder nach unten zog. Als ihre Füße wieder auf etwas unter sich trafen, glaubte sie zuerst, es sei der Erdboden. Dann verlor sie das Gleichgewicht und wäre fast mit dem Rücken voran von der Mauerkuppe gefallen.
Drachenkind legte seine Hand in ihren Rücken und stieß sie nach vorn. So fiel sie nur mit dem Bauch zuerst nach unten. Mitten im Fallen drehte sie sich blitzschnell und kam mit den Beinen zuerst auf einem Holzstapel auf. Sie verwendete die Kraft, die noch in den Beinen steckte und sprang gleich noch einmal, diesmal aber nur weniger kräftiger als davor. Als sie etwas schief auf dem Boden aufkam, floss alles, was sie jemals gestützt hatte, aus ihr heraus und sie blieb so, wie sie aufgekommen war liegen.
Mit dem Rücken gegen Holz und Müll gelehnt, wünschte sie sich nichts sehnlicher als nur einen kurzen Moment der Ruhe. Und Schlaf.
Als sie die Augen schloss, ertönte hinter der Mauer ein seltsamer musikalischer Laut. Stimmen riefen sich etwas in einer ihr unbekannten Sprache zu. Schlaf.
Noch halb benommen öffnete sie ihre Augen und drehte den Kopf, um zu sehen, wo Drachenkind gelandet war.
"Du hättest ihn töten sollen," sagte eine brüchige Stimme neben ihr und sie musste sich unbewusst fragen, wie lange man ihm schon kein Wasser mehr gegeben hatte.
Es war das erste, was er zu ihr sagte und sie wünschte beinahe, er hätte es nicht getan.
Mit dem stärksten Willen, den sie jemals hatte beweisen müssen, stand sie langsam und bewusst auf und holte dann auch Drachenkind auf die Füße.
"Es ist weit," war alles, was sie zu ihm sagte, als sie sich mit ihm auf den Weg zurück zu Yaa machte.
Tag der Veröffentlichung: 17.04.2011
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