♠Madita♠
Vor mir ging die Wurzel allen Übels.
Blondes Haar, wippender Pferdeschwanz. Jacky. Meine beste Freundin.
Mit ihren Verkupplungsversuchen ging sie mir auf die Nerven - und das war noch milde ausgedrückt.
Ich liebte sie, wirklich. Sie war beste Freundin, Schwester und Seelenverwandte in einem. Sie war mein Will und ich ihr Hannibal. Wir waren Partners in crime. Und ich wusste, dass sie es nur gut meinte. Dennoch wollte ich sie gerade fressen. Mit Haut und Haaren. Teuflisch grinsend dachte ich: Komm her kleines Rotkäppchen, der böse, böse Wolf hat Hunger.
Spaß beiseite; sie musste endlich begreifen, dass sie mir keinen Typen suchen brauchte, das würde ich schon selbst schaffen, wenn ich es wollte. Hatte ich ihr auch eben in der großen Pause verklickern wollen. Aber die Mimose war beleidigt und zum Schluss auch noch abgehauen. Gut, vielleicht war ich nicht sonderlich nett gewesen. Wie auch, wenn sie einfach nicht begreifen wollte, dass ich diesen Date- Quatsch nicht mochte und auch nicht sonderlich an Jungs interessiert war. Mädchen ebenso wenig. Ich gehörte eben nicht zur feiernden und fickenden Mehrheit. War das so schlimm?
Die Wut entfachte erneut, als ich den Geschichtsraum betrat, ich ging bewusst an unserem Stammtisch vorbei und setzte mich nach hinten. Das da meisten die Idioten saßen, zudem auch noch meine unfreiwillige Verabredung, dessen schleimiges Grinsen bei meinem Todesblick starb, war mir egal. So lange ich nicht neben Rotkäppchen sitzen musste, die ich dann vielleicht doch noch fressen würde, war mir alles recht.
Ich setzte mich an den Fensterplatz, um nebenbei Leute zu beobachten. Denn Herr Fischer hatte die Angewohnheit, abzuschweifen und oft und viel von seiner Schul- und Studienzeit zu erzählen.
Während ich meine Federtasche und meinen Block heraus holte, hielt ich inne und runzelte die Stirn, als mir etwas ins Auge stach. »Verkorkst«, war in Druckbuchstaben und mittelgroßer Schrift in den Tisch geritzt worden. Über so viel Dämlichkeit schüttelte ich den Kopf. Wer tat so etwas Grenzdebiles? Gut, die Antwort stand auf dem Tisch. Ein verkorkster Vollidiot. Aber was brachte ihm (vielleicht war es auch eine sie, wusste man ja nie) das? Fühlte er sich cool dabei? Mutprobe? Menschen, wie dämlich sie doch waren! Wo war mein verdammter Heimatplanet und wieso holte mich niemand zurück? Leise seufzend rieb ich mir die Stirn.
Um mich abzulenken und mich nicht von der grenzenlosen Dummheit anstecken zu lassen, sah ich aus dem Fenster. Leider gab es nichts Interessantes zu sehen. Außer ein paar Grundschüler die in bunten Gummistiefeln in Pfützen herumsprangen. Würde ich jetzt auch gern machen. Die Knirpse hatten auf jeden Fall mehr Spaß, als ich.
Ich wandte den Blick ab, der sofort wieder auf den Schriftzug glitt. Nur mit Mühe konnte ich ein weiteres Kopfschütteln verhindern. Dennoch erlaubte ich mir den Spaß, aus meiner Federtasche einen Bleistift herauszuholen und »Wer?«, darunter zu schreiben. Ich erwartete keine Antwort und wusste, dass ich es wieder vergessen hatte, sobald ich den Raum verließ.
♠Madita♠
»Können wir nachher nochmal reden?«
In der Sekunde, als ich die Nachricht abschickte, traf Jackys ein mit genau derselben Frage. Ich sah auf, direkt in ihre grünen Augen und auf unseren Gesichtern bildete sich ein breites Grinsen. Wir wussten beide, dass der Streit damit beendet war. Dennoch musste ich ihr noch einmal verdeutlichen, dass ihre Verkupplungsversuche vergebens sein würden. Mein Date (verflucht wie hieß er bloß?), welches ich noch loswerden musste, sah recht attraktiv aus, sein Grinsen war eigentlich süß und nicht schleimig, dennoch wollte ich mich nicht mit ihm treffen. Ich wollte selbst entscheiden, ob und mit wem ich mich traf. Zudem wusste Jacky das ich eine Katastrophe in solchen Dingen war - wohl eher allgemein. Viel zu sarkastisch und ironisch. Ich war ein Trampeltier und Gefühlskamel. Mein Humor war seltsam, nicht viele verstanden ihn und wenn ich lachte, dann laut, mit Pipi in den Augen und den Bauch haltend. Auch war ich eine Niete in Konversation, besonders in solch Situationen verkrampfte ich eher und wünschte mich lieber nach Hogwarts gegen Voldemort kämpfend. Kurzum; Dates und ich das passte nicht. Mein Blick glitt erneut zum eingeritzten Wort im Tisch. »Verkorkst.« Du mich auch, dachte ich und fühlte mich ironischerweise ein wenig mit dem Wort verbunden.
Ich legte die Arme verschränkend auf den Tisch, bettete meinen Kopf darauf und schloss die Augen. Durch Herr Fischers Gequatsche wurde ich müde und ich sehnte mich nach meinem Bett, dass kuschelig weich Zuhause auf mich wartete. Er war eigentlich ein sehr freundlicher und gutmütiger Mann, drückte ab und an mal ein Auge zu, auch wenn er eine schlechtere Note geben sollte. Leider war er kein guter Redner, ihm beim Geschichtenerzählen zuzuhören, war ehrlich eine Tortur. Für meine Augen. Und mein Hirn. Hoffentlich klingelte es bald. Wieso zog sich die letzte Stunde immer so quälend lange hin?
Um nicht doch noch einzuschlafen holte ich mein Handy heraus und spielte Tetris. Ja, ich weiß, ich sollte mich zusammenreißen und dem Unterricht folgen, besonders wenn mein Ehrgeiz mich zwang die drohende Zwei auf dem Halbjahres-Zeugnis nicht hinzunehmen, aber es klappte einfach nicht. Also gab ich der Zockerin in mit den Vortritt.
♠Madita♠
Als ob die Dementoren hinter mir her waren stürmte ich aus dem Raum. Meine Blase hatte sich in den letzten zehn Minuten gemeldet, dass sie dringend geleert werden wollte - und sie würde mich zum Gespött des ganzen Gymnasiums machen, wenn ich ihr ihren Willen nicht ließ. Außerdem kam ich so endlich von meinem ungewollten Date weg. Noch immer fiel mir sein Name nicht ein und es war mir auch egal. Ich hatte nicht vor, mich mit ihm zu treffen, also musste ich auch seinen Namen nicht kennen. Zudem war er eine ziemliche Nervensäge und schuld daran, dass ich mir einen Vortrag von Herr Fischer antun musste.
Sein Rufen ignoriernd rannte ich durch die Schulflur und wich, für meine Verhältnisse, geschickt meine Mitschüler aus, um auf die Mädchentoilette zu kommen. Als sich aber auch noch Jackys Stimme dazu mischte sah ich reflexartig nach hinten, konnte sie aber in den Menschwirrwarr nicht entdecken und schaute deshalb wieder nach vorn - zu spät. Ich hatte keine Zeit mehr, abzubremsen und knallte mit voller Wucht gegen einen Jungen. Er war darauf natürlich nicht vorbereitet, sodass wir fielen, ich sanfter als er.
»Ent-« Mir blieb meine Entschuldigung im Hals stecken, als ich seine anthrazitfarbenen Augen sah und wie intensiv sie sich in meine bohrten. Hypnotisiert und mit offenen Mund starrte ich hinein, konnte mich nicht mehr bewegen, nicht mal mehr atmen.
Auf seinem Gesicht bildete sich ein schiefes, leicht anzügliches Grinsen. »Auf mir liegt's sich gut, ich weiß.«
Ich sah, wie sich seine Lippen bewegten, wusste somit dass er sprach, trotzdem drangen seine Worte erst spät zu mir durch. Meine Wangen glühten und ich spürte, dass mein Gesicht die Farbe einer Tomate annahm. Ich wollte etwas sagen, bekam aber kein Wort heraus und starrte ihn weiter an, noch immer mit offenem Mund.
Wieso benahm ich mich auf einmal so grenzdebil? Was war verdammt nochmal los mit mir? Es musste an dem Platz liegen an dem ich bis eben gesessen hatte. Die hinteren Tische waren verflucht, anders konnte ich mir mein Verhalten nicht erklären.
»Der Boden ist recht hart, würde es dir etwas ausmachen aufzustehen?« Seine dunkle Stimme ließ Gänsehaut auf meinen gesamten Körper entstehen, trotz das er leicht genervt klang.
»Oh Gott... I-i-ich...« Mund, ist das gerade dein Ernst? Mein Hirn schaltete sich aus, während mein Herz Samba tanzte. Und ich? Wünschte mir Harry Potters verfluchten Tarnumhang.
»Nee, so heiß ich nicht.« Belustigung mischte sich in seine Stimme.
»Sucht euch ein Zimmer«, rief ein Mädchen von irgendwoher, einige fingen an zu lachen, andere jubelten. Ihre Stimme kam mir bekannt vor... Leah. Sie war in meiner Klasse. Und ihrer Stimme nach zu urteilen schien sie ziemlich sauer zu sein. Warum? Ich musterte das Gesicht des Jungen und mein Herz rutschte mir in die Shorts. Benedykt Jabłoński. Von all den Jungs, die hier herum schwirrten, musste ich ausgerechnet ihn über den Haufen rennen. Es war ihr Ex, sie hatten sich vor einem halben Jahr getrennt, doch es war ein offenes Geheimnis das sie ihn noch immer liebte. Nach zwei Jahren Beziehung sicherlich normal. Sie war eigentlich immer freundlich, allerdings bezweifelte ich, dass sie es jetzt noch zu mir sein würde - obwohl es nur ein Versehen war. Aber Expartner, besonders des weiblichen Geschlechts, hatten ja eine blühende Phantasie. Für sie hatte ich gerade ihren Ex angemacht. Ich, die in solchen Dingen unfähig ist. Nur schwer unterdrückte ich ein Seufzen.
Bevor sie mich jedoch fressen konnte, sprang ich auf die Beine und rannte los, wollte nur noch aufs Klo, schließlich musste ich immer noch pinkeln, außerdem konnte ich mich dort verstecken. Vielleicht kam ja ein Basilisk vorbei, warf mir ein Todesblick zu und ich verwandelte mich in die maulende Myrte -eher in murrende Maddie- und würde von nun an als Geistermädchen mein Unwesen treiben. Klang ja überaus verlockend...
♠Madita♠
»Ich freu mich schon auf Samstag.«
Ich erschrak so sehr, plötzlich von einer männlichen Stimme auf dem Mädchenklo angesprochen zu werden, dass ich leicht zusammenzuckte - hatte eher mit Leah gerechnet. In mir hallte noch immer der Zusammenstoß mit ihrem Ex nach, der so einen intensiven Blick hatte, der mich auch jetzt noch nicht ganz los ließ. Ebenso ihre Stimme mit der sie Diamanten zerschneiden konnte und mich bestimmt zerschneiden wollte. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sich mein Leben gerade in eine dieser bescheuerten Soaps verwandelte. Oder klischeehaften Jugendromanen. Karma, du blöde Kuh, was habe ich dir getan?
Noch immer wollte ich mich verstecken, aber jetzt lieber Zuhause, als auf dem Schulklo. Unterricht von Zuhause aus, war schließlich nichts ungewöhnliches mehr.
»Das war es, was auf meinen Zetteln stand.«
Ich erschrak erneut und mein Herz begann wie ein Flummi in meiner Brust umher zu springen. Mit einem knappen Blick in den Spiegel vor mir, sah ich ihn stehen; mein Date dessen Name mir immer noch nicht eingefallen war. Zumindest war mir aber eingefallen, dass er erst seit einer Woche auf dem Immanuel Kant - Gymnasium ging. Mitten im Schuljahr die Schule zu wechseln, kam selten vor, war aber auch nicht ungewöhnlich. Woher er kam und warum er gewechselt war, wusste ich nicht. Nur, dass er eine ziemliche Nervensäge war. Im letzten Drittel des Unterrichts hatte er mich mit Papierkügelchen beschmissen, um meine Aufmerksamkeit zu bekommen. Da ich auch nett sein konnte, gab ich sie ihm. In den Papierkügelchen standen kurze Nachrichten, die ich wegen seiner Sauklaue nicht lesen konnte. Ehrlich, ein Schwein konnte leserlicher schreiben, als dieser Bengel. Ich schrieb ihm, dass ich seine Schrift nicht lesen konnte. Just in dem Moment, als ich ihm das Kügelchen entgegen warf, wurde ich von Herr Fischer erwischt und durfte mir ein Vortrag über Unaufmerksamkeit im Unterricht anhören und welche Folgen das haben konnte. Ich mochte ihn eigentlich, wirklich. Aber mit seinem Gelaber ging er mir dermaßen auf die Nerven, dass ich ihn am liebsten gefressen hätte. Ebenso die Kichererbse, die Schuld an der ganzen Misere war. Gerne hätte ich ihm seine Papierkrümel in den Rachen geschmissen, ließ es aber bleiben, weil es zu viele Zeugen gab.
Als der Unterricht vorbei war, wollte ich wie immer mit Jacky los, wegen Lehrerausfall hatten wir glücklicherweise nur sechs Stunden und ihre Mutter machte Penne mit Spinat und Grogonzola - so lecker, dass ich mich immer am liebsten reinsetzen wollte. Leider musste sich ja meine Blase vorgedrängeln, die Schuld daran war, dass sich mein Leben in eine Soap zu verwandeln drohte. Denn ich war mir sicher, dass für Leah die Sache noch nicht vom Tisch war. Sie war eher vom Typ: Finger weg von meinem Ex, sonst verfüttere ich deine Überreste an Schweine. Jedenfalls hielt sich dieses Gerücht sehr hartnäckig. Sie war zwar freundlich, soll aber krankhaft eifersüchtig sein. So wie ihre Stimme geklungen hatte, war da wohl viel Wahres dran...
Kaum merklich schüttelte ich den Kopf, bevor ich mir darüber Gedanken machte, musste ich erst mal den Lachsack hinter mir los werden.
»Und deshalb verfolgst du mich bis aufs Klo?«, fragte ich, drehte den Wasserhahn auf, um mir die Hände zu waschen.
»Ich hatte gerufen, aber du hast nicht gehört.«
Nur schwer widerstand ich dem Drang meine Augen zu verdrehen. »Weil ich dringend pinkeln musste?!« Ich drehte den Hahn wieder zu und zupfte mir einige Papiertaschentücher aus dem Spender, um meine Hände zu trocknen.
»Ich wollte eigentlich auch draußen warten. Aber Jacky hat gemeint, ich soll ruhig rein gehen, sonst würdest du flüchten.«
Miststück, dachte ich finster, als ich die benutzten Tücher wegschmiß. Genau das war mein Plan gewesen. Es war nicht immer ein Segen, dass die beste Freundin einen so gut kannte.
»Du, hör zu, dass mit dem Date«, ich drehte mich zu ihm, weil ich es höflicher fand, ihn anzusehen, auch wenn ich ihm gleich eine Abfuhr erteilte. Allerdings bekam ich prompt ein schlechtes Gewissen, als ich sein lächelndes Gesicht sah. Er schien sich wirklich aufrichtig zu freuen mit mir auszugehen. Wie sollte ich ihm da absagen? War ich wirklich so herzlos diesen strahlend blauen Augen das Strahlen zu nehmen? Und die niedlichen Grübchen bei seinem Lächeln aus dem Gesicht zu wischen? Mit viel Mühe unterdrückte ich ein Seufzen. Nein, war ich nicht. Vielleicht würde das Date kein Disaster werden, jedenfalls nicht völlig. Zumindest konnte ich mir aber so Leah vom Leib halten. Dann würde sie mir glauben, dass ich ihren Ex wirklich nur aus versehen umgerannt hatte und nichts von ihm wollte. Wieso machte ich da eigentlich gerade so ein riesen Brimborium daraus? Ich machte seit meinem fünften Lebensjahr Kickboxen, wusste genau wie ich mich im Ernstfall wehren konnte. Zudem glaubte ich nicht, dass Leah so krass drauf war. Bisschen zicken, fertig. Am liebsten hätte ich mir gerade selbst einen Hieb verpasst. Langsam wurde ich echt paranoid. Vielleicht sollte ich mal zum Arzt gehen.
Ich konzentrierte mich wieder auf den blonden Jungen vor mir, dessen Blick langsam verwirrt wurde. »...Wäre sicher eine bessere Idee, wenn ich deinen Namen wüsste«, beendete ich endlich meinen begonnen Satz und lächelte.
»Oh, ähem«, verlegen kratzte er sich am Kinn. »Xaver.« Wie unsicher er plötzlich wirkte, ganz anders als im Geschichtsraum.
»Xaver«, wiederholte ich und mein Lächeln wurde breiter.
Sein Mund verzog sich ebenfalls zu einem Lächeln. »Madita.« War klar, dass er meinen Namen kannte. Typisch für Jacky. Jeder meiner Dates kannte meinen Namen, ich erfuhr sie manchmal erst am Tag der Verabredung.
Damit keine unangenehme Pause entstand, die bei mir Standard war, außerdem wollte mein Hirn schon wieder an den Zusammenstoß denken und Benedykt Jabłońskis intensiven Blick, überlegte ich fieberhaft was ich sagen konnte. »Hast du Lust mit Pizza essen zu kommen?« Super klasse. Das einzige, was mein Hirn ausspuckte, war eine Einladung zum Pizza essen. Aus der Traum vom Penne mit Spinat und Grogonzola. Ernsthaft Hirn? Nur schwer widerstand ich den Drang auf die Knie zu fallen und meinen Kopf auf die elfenbeinfarbenen Fliesen zu hauen.
Seine Augen strahlten noch mehr, falls das überhaupt möglich war und er nickte. »Klar, gerne.«
Weil er sich so niedlich freute, trauerte ich meinen Lieblingsessen nicht mehr ganz so sehr nach.
»Na dann los.« Ich ging zur Tür die er mir gentlemenlike aufhielt. Es wirkte bei ihm nicht mal affektiert, wie bei den meisten anderen mit denen ich ausgegangen war und die mich im Grunde nur ins Bett kriegen wollten. Es lag einfach in seinem Wesen.
Ja, eventuell würde dieses Date tatsächlich keine Katastrophe werden - erst recht nicht, weil wir ein Vor-Date hatten. Das ließ mein Lächeln noch breiter werden, besonders wenn ich daran dachte, Jacky gleich die frohe Botschaft vom Pizza essen zu überbringen. Sie liebte Penne mit Spinat genauso sehr, wie ich. Ja, es war meine kleine Rache an sie, weil sie mich ständig verkuppeln wollte, nur weil ihre Beziehung mit Sascha so gut lief - einen anderen Grund konnte ich mir sonst nicht vorstellen, weswegen sie so erpicht darauf war mich mit jemandem zusammen zu bringen.
»Na, ihr zwei Hübschen«, begrüßte sie uns schelmisch grinsend.
»Na, du eine Hübsche«, äffte ich sie nach. »Kannst schon mal Sascha und deiner Ma Bescheid geben, wir gehen Pizza essen.«
Beinahe musste ich lachen, als ihr Grinsen starb und sie mich wie ein nasser Hund ansah.
»Rache ist süß, Baby«, sagte ich und warf ihr einen Luftkuss zu.
Sie verdrehte nur die Augen und wir gingen, mit einem deutlich verwirrten Xaver los. Ich versprach ihm, dass Cupido Jacky ihn aufklären würde.
Ich hatte das starke Gefühl, dass er gut zu unserer kleinen, merkwürdigen Truppe passte.
♣Ben♣
Müde und missmutig betrat ich den Geschichtsraum und ging wie gewohnt ganz nachhinten zum Fensterplatz. Selten saß ich in der Mitte und auch nur, wenn es nicht anders ging. Aber noch nie in meiner gesamten Schullaufbahn hatte ich vorn gesessen. Nicht, dass ich es als uncool empfand, wie die meisten anderen, die sich in die letzte Reihe setzten. Ich mochte das Wort nicht einmal, genauso wie die positive Entsprechung dazu. Sondern weil ich einfach keine Lust auf meine Mitschüler hatte. Meine Fähigkeiten der verbalen Kommunikation waren nicht sehr ausgeprägt, ebenso so das Bedürfnis sozialer Kontakte und die regelmäßige Pflege. Mir reichte mein bester Freund Vito, mein Vater und meine jüngere Schwester Mila. Was sollte ich also mit noch mehr Menschen in meinem Leben?
Da ich zu müde war, um dem Unterricht und der eintönigen Stimme Herr Fischers zu folgen, blendete ich zu Beginn schon alles aus und sah aus dem Fenster. Irgendwie musste ich mich wach halten, also suchte ich nach etwas, auf das ich meine Konzentration legen konnte. Fand aber nichts. Die Straße war wie leergefegt, praktisch ausgestorben - und das an einem Freitag. Hatte eine Zombieapokalypse stattgefunden und wir waren die einzigen Überlebenen? Ein kleines Lächeln umspielte meine Mundwinkel. The Walking Dead in Echtzeit. Schienen aber ziemlich saubere Zombies zu sein, nirgendwo Blut, Körperteile, Gedärme und Leichen. Und wo schlichen sich die Untoten herum? Oder machten sie ein Mittagsschläfchen? Könnte ich auch gebrauchen. Prompt gähnte ich.
So eine Zombieapokalypse wäre aber echt nicht schlecht, gar nicht mal so abwegig und die gerechte Strafe an den Menschen und seine Misshandlung an der Natur. Irgendwann, da war ich mir sicher, würde sie sich für alles rächen was ihr angetan wurde und so eine Genmutation hervorbringen. Ob ich lange überleben würde? Keine Ahnung. Ob überhaupt jemand überleben würde? Nein, zumindest hoffte ich das. War ich deshalb ein Schwarzseher? Vielleicht. Interessierte mich das? Kein Stück. Der Mensch lernte nicht, wenn er Scheiße fraß. Dazu musste man sich nur die Geschichte ansehen. Darum hatte er es verdient, für seine Gräueltaten mit einer grässlichen Mutation bestraft zu werden. Ich selbst sah zwar auch aus, wie ein Mensch, fühlte mich aber nicht so und war dazu verdammt auf einer Erde zu leben in der ich mich nie heimisch fühlen würde. Ja, ich war definitiv ein Schwarzseher. Ein mürrischer und zynischer noch dazu.
Um Herr Fischers Predigt über Unachtsamkeit im Unterricht zu entgehen, sah ich für einige Sekunden nach vorne, dabei stach mir etwas ins Auge. Jemand hatte unter mein »Verkorkst« ein »Wer« gekritzelt. Die Schrift wirkte weiblich, musste es aber nicht zwingend sein. Kurzerhand nahm ich einen Stift in die Hand und schrieb »Gesellschaft« darunter. Ich schrieb es nur darunter, weil ich den Schein wahren wollte, dass ich mit schrieb. Normalerweise tat ich das auch, aber ich war einfach zu müde. Die letzte Nacht war mal wieder eine Tortur gewesen. Ich rieb mir über die Augen, als könnte ich die Erinnerung daran fort wischen. Zudem hatte mich die Auseinandersetzung mit Leah eben noch müder gemacht. Nur weil ich von einem Mädchen aus ihrer Stufe über den Haufen gerannt wurde, machte sie so einen Aufstand. Dabei waren wir gar nicht mehr zusammen. Diese Frau würde noch der Nagel zu meinem Sarg werden.
Ich würde Vito später nach seinen Aufzeichnungen fragen.
♠Madita♠
Als wir bei di Angelos unserer Stammpizzeria an kamen, standen wir vor verschlossener Tür. Von innen war ein Zettel an die Scheibe geklebt: Wegen Krankheit geschlossen. Bestimmt seine Mutter, einer der liebenswertesten Menschen auf der Welt. Wir nannten sie alle Nonna - besonders für mich war sie wie eine Oma, da ich keine leibliche mehr hatte. Leider litt sie an starken Herzproblemen. Beim letzten Infarkt dachte Marco schon, dass sie den nicht mehr überleben würde, doch sie hatte sich noch einmal erholt. Hoffentlich war es diesmal nicht so schlimm und sie würde bald wieder fröhlich summend hinter dem Tresen stehen und aufpassen das ihr Sohn weniger mit den Kundinnen flirtete und sich mehr um die Pizza im Steinofen kümmerte.
Meine Lust auf Pizza war vergangenen, ebenso auf Penne mit Spinat und ganz besonders auf Gesellschaft anderer Menschen. Das Brennen hinter meinen Augen blinzelte ich weg, wollte nicht heulen, erst recht nicht vor anderen. Ich mochte es nicht zu weinen, danach hatte ich immer Kopfschmerzen und ein Knautschgesicht - auch wenn Jacky behauptete, ich würde süß aussehen. Sie fand aber auch Schlangen, Krokodile und andere Reptilien niedlich, weswegen ihre Definition davon wohl eher sonderbar war. Ihre Arme waren es, die sich um meine Taille schlangen und dessen Kopf sich in meine Haare kuschelten. Ich war froh, dass sie nichts sagte, denn dann hätte ich den drohenden Wasserfall nicht zurückhalten können. Es fiel mir ja schon zunehmend schwerer, als Sascha mir den Kopf tätschelte und sich neben uns stellte. Beide wussten, wie sehr mir Nonna Julietta etwas bedeutete.
♠♠♠
Keine Ahnung, wie lange wir da gestanden hatten, reglos vor der im Dunkeln liegenden Pizzeria, doch ein leises Räuspern ließ uns drei gleichzeitig zusammenzucken.
Xaver.
Den hatte ich völlig vergessen.
»'Tschuldigung«, murmelte er. »Ich weiß nicht, ob das gerade passend ist...und so... Aber in meiner Straße, nicht weit von meinem Block gibt's 'ne Trattoria, die macht echt leckeres Essen und... Ich hab echt ziemlichen Hunger«, fügte er ein wenig zaghaft hinzu.
Wir drehten uns um und ich konnte nicht anders, ich musste lachen. Wie er da so stand, mit den blonden, zerzausten Haaren, dem Leid geplagten Gesicht und den Bauch haltend, erinnerte er mich stark an Naruto aus dem gleichnamigen Anime und Manga. Auch Jacky und Sascha fingen an zu lachen.
»Was denn?«, fragte er sichtlich verwirrt.
Sascha ging auf ihn zu und wuschelte ihm durchs Haar. »Ja, Naruto gleich bekommst du deine Ramen.«
»Hä?«
Daraufhin gackerten Jacky und ich nur noch mehr, gingen ebenfalls zu ihm, hakten uns bei ihm unter und schlenderten zu Saschas schwarzen Mercedes zurück.
»Bei Corleones gibt's leider keine Ramen«, sagte er.
»Die Trattoria heißt echt Corleones?«, fragte Sascha und schloss sein Auto auf.
Xaver nickte.
»Gefällt mir.«
Wir stiegen ein, Jacky neben Sascha, Xaver und ich hinten.
»Beim Paten Mittagessen? Wollte ich schon immer mal«, sagte Jacky breit grinsend.
»So lang er seine Mafiosi, die nicht nach seine Pfeife tanzen, durch den Haus eigenen Fleischwolf dreht, klingt es echt verlockend«, meinte ich.
Jacky warf mir einen warnenden Blick zu. »Versau mir das nicht.«
Sascha sah sie unbekümmert an. »Wieso? Bisschen Menschenfleisch hat noch niemanden geschadet. Soll doch angeblich nach Hühnchen schmecken.« Sascha interessierte sich nicht nur für Horrorfilme und Bücher, sondern auch für den menschlichen Horror, der ja weitaus gruseliger war, als der Fiktive.
Jacky verzog das Gesicht. »Du Ekel.« Sie liebte auch Horrorfilme und Bücher, trat aber sofort die Flucht an, wenn etwas mit Kannibalismus drin vor kam - selbst Zombies konnte sie nichts abgewinnen. Die einzige Ausnahme bildete Hannibal, da mutierte sie stets zum Fangirl. Aber auch nur bei der Serie, sie fand die Chemie zwischen Will und Hannibal so toll. Mich hatte sie ebenfalls angesteckt, wir schrieben sogar Fanfictions.
Na ja und wenn man in der Nachbarschaft eine freundliche Nachbarin gehabt hatte, bei der man oft zu Besuch war, wenn die Eltern arbeiteten, dort auch zu Mittag aß und die sich dann als Kannibalin entpuppte, würde ich Witze darüber auch nicht ganz so gut finden - und alles was mit Fleisch zu tun hatte verabscheuen. Allerdings wussten Sascha und ich, wie weit wir bei ihr gehen konnten.
»Ich hätte dann aber lieber Affenhirn auf Eis«, mischte sich Xaver mit ein.
Erneut fingen wir an zu lachen und Xaver diesmal mit. Ja, er passte zu uns, recht gut sogar.
♠♠♠
Um zur Trattoria zu kommen, mussten wir in ein anderes Viertel fahren. Hier war ich selten. Eigentlich durfte ich hier nicht her, denn die Kriminalitätsrate war höher, als in den anderen Stadtteilen - aber auch die Armut und die Perspektivlosigkeit.
Ich sah zu Xaver rüber. Er wirkte nicht so, als würde er hier leben. War viel zu fröhlich, ausgelassen und zufrieden.
Sascha folgte Xavers Anweisungen und bog in eine Straße ein, fuhr bis zum Ende und hielt dann vor einem in roten Backstein gebauten Haus. Über den Panoramafenstern war in großen geschwungenen Lettern Corleones geschrieben. Es wirkte sauber und einladend. Darüber waren kleinere Fenster, die wohl zu einer Wohnung gehörten. Bis jetzt empfand ich das Viertel, jedenfalls das was ich bisher sehen konnte, gar nicht heruntergekommen und zerfallen. Ja, ich wusste, dass man nicht immer alles glauben sollte, was die Leute erzählten. Dennoch; auch in jedem Märchen lag ein Fünkchen Wahrheit.
»Na dann lasst uns mal beim Paten essen gehen«, meinte Sascha grinsend. Er freute sich, wie ein kleines Kind zu seinem Geburtstag.
Nachdem er den Motor ausschaltete, sowie das Radio, schnallten wir uns ab und stiegen aus. Xaver ging voran und führte uns ins Innere der Trattoria. Drinnen wirkte es noch eine Spur einladender und sehr gemütlich. Es war in warmen Farben gehalten, Zinnoberrot kombiniert mit dunklem Holz und goldgelben Akzenten. Überall waren Blumen, mit roten und gelben Blüten, verteilt. Erst als ich den Raum objektiver betrachtete, erkannte ich, dass die Farben die sizilianische Flagge ergab.
An den Wänden waren eingerahmte vergrößerte Fotografien. Sie zeigten allerdings verschiedene Orte Venedigs. Mal eine schmale, verwinkelte Gasse wo ein küssendes Pärchen auf dem Balkon stand, mal eine Gondel mit einem verliebten Pärchen, oder schrill und bunt bei dem berühmten Karneval, auch wieder mit einem Pärchen - es war immer das gleiche. Ob es die Besitzer waren?
Es roch herrlich nach mediterranem Essen, dass Stimmengewirr der Gäste klang fast als Gesang zur sanften Gitarrenmusik im Hintergrund. Sofort fühlte ich mich wohl und das mochte schon etwas heißen, denn neben Jackys und meinem Zuhause, fühlte ich mich nur bei di Angelos heimisch.
Da es noch Mittagszeit war, war es ziemlich voll, auf dem ersten Blick sah ich keinen freien Platz.
»Xaver, bist du sicher, dass wir hier zu Mittag essen können? Ist ziemlich voll hier. Vielleicht hätten wir anrufen sollen?«, fragte ich ihn.
Grinsend drehte er sich zu mir um. »Hab uns schon längst einen Tisch reserviert.«
Ich hob die Augenbrauen. »Wann...«, ich unterbrach mich selbst, als mir einfiel, dass er während der Fahrt viel auf seinem Smartphone herum getippt hatte. Praktisch, wenn man hier sogar per SMS einen Tisch reservieren konnte.
»Ich kenne den Sohn der Besitzer und er hat mir versichert, uns einen Tisch frei zu halten.« Den Sohn zu kennen, war sogar noch praktischer.
Gerade als ich etwas erwidern wollte, kam ein recht groß gewachsener junger Mann mit hinreißendem Lächeln auf uns zu, die Augen fast so dunkel wie seine schwarzen Haare, die Haut Sonnen gebräunt und ein leichter Bartschatten im Gesicht. Er sah aus, wie Johnny Depp in Cry Baby, die Haare nachhinten gekämmt, Lederjacke, weißes Shirt und Bluejeans. Und irgendwie kam er mir bekannt vor. Nur woher?
»Bomminutu«, begrüßte er uns und reichte uns nacheinander die Hand. »Ich bin Vito und ihr seid also Xavers neue Freunde.«
Wir nickten und stellten uns nacheinander vor.
»Jetzt fällt's mir ein. Na klar! Du bist Vittorio Corleone aus der Elften«, sagte Jacky plötzlich und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Und Benedykts bester Freund. Nun fiel auch mir ein, woher er mir bekannt vorkam. Immerhin war nicht nur mein Hirn so langsam. »Ich hab dich immer aus der Ferne angehimmelt. Du bist echt mega heiß.«
Vitos Lächeln wurde breiter. »Warum hast du nie etwas gesagt?«
Sie wurde rot - Jacqueline Winterfeld wurde tatsächlich rot. Dieses Mädchen gehörte zu den direktesten, unverblümtesten Menschen, die ich kannte. Ihr war nichts peinlich und sie konnte über Themen reden, die anderen die Schamesröte ins Gesicht trieb. Nie, wirklich noch nie, hatte ich sie eröten gesehen. Auch für Sascha war es Neuland.
Er räusperte sich. »Ich glaube, ich sollte mit dem Studium pausieren...«
Lachend gab Jacky ihm ein Kuss an die linke Schulter, bis dahin reichte gerade mal ihr Kopf und schlang die Arme um seine Taille. »Ach Quatsch.«
Schlagartig verschwand das Lächeln aus Vitos attraktivem Gesicht und er zog die dunklen Brauen zusammen, sein Blick war auf Sascha geheftet. »Lange nicht mehr gesehen, Aleksander Jabłoński.«
Sogar ich sah, wie sich Sascha versteifte und ich stand am weitesten von ihm entfernt. Bis heute wusste ich nicht mal, dass er einen Bruder hatte. Jacky offensichtlich ebenso wenig.
»Ist er hier?«, fragte er nach kurzem Zögern, seine Stimme war nur noch ein Flüstern. »Ist Ben hier?« Sascha unsicher zu sehen kam auch ziemlich selten vor. Und so erschrocken ebenfalls. Seine dunkelgrauen Augen waren so groß, dass er Bambi Konkurrenz machte und er war so grau wie Asche. Mir lag schon auf der Zunge, ob er sich nicht setzen wollte, bevor er noch umkippte.
Vito nickte. »Er hilft in der Küche.«
Auch Sascha nickte und holte so tief Luft, dass sich sein Oberkörper deutlich hob. Die Stimmung war merklich angespannt. Ich sah, dass Jacky unbedingt etwas sagen wollte, aber sie hielt untypischerweise den Mund. Wieso hatte Sascha nie erwähnt, dass er einen Bruder hatte? Und warum hatte Vito ihn Jabłoński genannt? Er hieß doch mit Nachnamen Maibach ... oder? Mein Blick glitt erneut zu Sascha. So offen, wie er mir immer vorkam, so geheimnisvoll erschien er mir nun.
Xaver blickte mit leicht geöffnetem Mund in die Runde. Bei jedem anderen hätte es dümmlich ausgesehen, doch er wirkte nur unglaublich niedlich, beinahe hätte ich ihn in die Arme genommen. Jacky wirkte irritiert und ärgerlich zu gleich - in ihr begann es langsam zu stürmen. Nicht mehr bald und der Tornado wütete los...
»Dann folgt mir mal«, meinte Vito und ich zuckte erschrocken zusammen, als ich seine Stimme hörte, die diese drückende Stille, die sich wie ein schwerer Umhang um uns gelegt hatte, zerschnitt. Durch sein Lächeln konnte ich nicht sehen, wie es in ihm vorging, selbst seine Augen verrieten nichts. Erstaunlich, wie gut jemand seine Emotionen verbergen konnte. Ich sollte mich von ihm unterrichten lassen. Meine Mimik zeigte leider immer, wie ich mich fühlte.
Wir folgten ihm zu einem schönen, vom Blumen umgebenen Fensterplatz.
♣Ben♣
»Ben!«
Vito kam in die Küche gestürmt, als wären eine Horde Zombies hinter ihm her. Das gesamte Küchenpersonal, ich inklusive, zuckten zusammen. Beinahe hätte ich den Topf mit den Spaghetti fallen gelassen, den ich abgießen wollte. Irritiert hielt ich inne und wartete bis er bei mir angekommen war. Normalerweise durfte er nicht in die Küche, wegen der Hygienevorschriften und er hielt sich auch daran, wenn er im Servicebereich half. Irgendetwas musste geschehen sein, dass er gerade diese Regel brach. Wir brachen ständig irgendwelche Regeln, so gesehen nichts Neues, allerdings gehörte diese Trattoria seinen Eltern, deshalb rissen wir uns zusammen. Außerdem arbeiteten wir gerne hier.
»Du wirst nicht glauben, wer gerade in diesem Moment hier an einem Tisch sitzt«, sagte er, kaum stand er neben mir. Er war ganz außer Atem und sah mich mit riesigen Augen an. Entweder hatte er sich gegen seinen Prinzipien etwas eingeschmissen, oder der Traum seiner schlaflosen Nächte saß drüben am Tisch.
»Lana del Rey?«, fragte ich ihn, goss die Nudeln ab und übergab sie Vincenzo, einem der Köche, der sie mit der Bolognese vermengte.
»Vito! Was du macene hier drin? Raus mit dir«, wies er ihn an.
»Nur kurz, bitte Vin, es ist wichtig.« Er hätte ihm auch auf italienisch antworten können, was ich auch verstanden hätte. Doch Vincenzo, der alte Faulpelz, sollte deutsch lernen, also zwang Vitos Vater ihn dazu und wir sollten ihn verbessern, wenn er etwas falsch aussprach. »Und es heißt: Was machst du hier drin.«
Vincenzo nickte verstehend. »Trotzdem; raus mit dir.«
»Es ist wirklich wichtig", protestierte Vito. »Ich muss kurz mit Ben reden.«
Vin seufzte. »Dann macene du kurz pause«, sagte er an mich gewandt.
»Es heißt: Dann machst du kurz pause«, berichtigte Vito ihn und betonte das Wort 'machst' extra.
»Sí, sí«, winkte er ab. »Fuori ora!«
Schmunzelnd band ich meine Schürze ab und nahm das Haarnetz vom Kopf, als wir zur Tür gingen. Ich war mir sicher, dass Vincenzo Vito nur ärgern wollte. Das Schlitzohr wusste genau, wie es hieß und wie man es aussprach.
♣♣♣
Wie Diebe schlichen wir uns durch die Trattoria und ich fragte mich, was dieser Affentanz sollte. Pedantisch achtete er darauf nicht aufzufallen -schwierig bei seinem Aussehen- und führte mich bis in die hinterste Ecke.
»Scusa, dass ich dir gleich den Schock deines Lebens verpassen muss«, sagte er leise.
Irritiert hob ich eine Augenbraue, die nächste folgte sogleich, als er seine Hände auf meine Schultern legte und mich umdrehte.
»Schau zum dritten Fensterplatz links«, wies er mich an.
Meine Augen wanderten zum besagten Platz. Für ein paar Sekunden setzte mein Herzschlag aus und ich taumelte rückwärts, stieß dabei gegen Vitos Brustkorb. Aleksander. Hier. An einem Tisch. Wenige Meter entfernt.
»Atme!« Dumpf nahm ich Vitos Befehl wahr, wusste gar nicht dass ich aufgehört hatte zu atmen. Doch in den letzten Sekunden schien ich vergessen zu haben, wie es ging.
»Du musst atmen!« Er packte mich erneut an den Schultern drehte mich zu sich um und schüttelte mich. »Atme, bitte«, fügte er sanfter und ein wenig verzweifelt hinzu.
Dann, endlich, fing mein Körper an den lebenswichtigen Sauerstoff wieder aufzunehmen.
»Scusa«, flüsterte Vito und drückte mich an sich. Nicht mal in meinen dunkelsten Träumen hätte ich gedacht, dass mich dass so aus der Fassung bringen würde, wenn ich Aleksander wiedersah. Inzwischen waren es zehn Jahre her, seit er und Judith gegangen waren. Zehn Jahre in denen ich aufgehört hatte meine Mutter als Mutter zu betrachten und meinen Bruder als Bruder. Zehn Jahre in denen ich aufgehört hatte, sie zu lieben. Zehn Jahre in denen ich es geschafft hatte, sie aus meinem Leben zu verbannen, bis sie für mich nicht mehr existent waren.
»Was will der hier?«, presste ich hervor, meine Zähne kaum auseinander bekommend. Mir war klar, was er wollte. Aber warum ausgerechnet hier? Gab es in seiner Bonzengegend nicht genügend Restaurant wo er hingehen konnte?
»Du zitterst«, bemerkte Vito besorgt und drückte mich enger an sich. Auch jenes spürte ich erst, als er mich darauf hinwies. Mir war plötzlich so kalt, obwohl es um mich herum warm war. Jetzt erst wurde mir die Bedeutung der Redensart 'kalt erwischt werden' richtig bewusst.
»Ich hätte es dir verschweigen sollen«, sagte er entschuldigend.
Nur leicht schüttelte ich den Kopf, die Kälte nahm mich gefangen, wodurch ich nur noch mehr zitterte.
»Willst du dich oben ein wenig hinlegen?« Will ich? Wäre die Arbeit in der Küche nicht die bessere Ablenkung? Oder sollte ich nicht besser nachhause? Lieber nicht, dort waren Mila und Papa und ich glaubte nicht meine Maske lange beibehalten zu können, zu stark waren die Emotionen und zu gut kannten sie mich. Wie sollte ich es den zweien überhaupt erzählen? Mila war zu jung, um sich an Aleksander zu erinnern. Aber bei Papa würde es alte Wunden aufreißen, Wunden die lieber verschlossen blieben. Es reichte, wenn meine wieder offen waren.
»Ich bring dich hoch«, sagte er, als ich nicht reagierte. Vito löste sich von mir, drehte mich wieder um und schob mich sanft, aber bestimmt vor sich er. Normalerweise konnte ich es nicht ausstehen, so behandelt zu werden und ließ es nicht zu, allerdings glaubte ich nicht, ohne Hilfe laufen zu können. Ich hatte das Gefühl, im Treibsand zu stecken, nur mühsam und ungelenk kam ich voran.
♠Madita♠
»Die Menükarten, pi favuri«, sagte Vito und reichte uns ein DIN A vier großes, in zinnoberrotem Samt geschlagenes, schmales Buch auf dem in goldgelb 'Menü' geschrieben stand. Es passte zu den Tischdecken und den Vorhängen.
»Wir haben auch eine Spalte speziell für jüdische Besucher, falls sich das nicht auch geändert hat.« Er bedachte Sascha mit einem durchdringenen Blick. Dieser schien immer kleiner in seinem Stuhl zu werden. Wo war plötzlich all sein Selbstbewusstsein hin? Er war doch sonst nicht auf den Mund gefallen. Das er Jude war wusste ich, zumindest das hatte er nicht verschwiegen. Zudem ließ seine Mutter es Jacky bei sich jeder bietenden Gelegenheit spüren, besonders dass sie ihn niemals heiraten dürfte, weil sie keine Jüdin war. Sie war eine sehr strenge und herrische Person. Und garstig. Weshalb mir immer schleierhaft war, wie sie so einen freundlichen, aufgeschlossen und hilfsbereiten Sohn hervorbringen konnte. Erst recht weil Herr Maibach ebenso war wie sie.
»Ich lass euch dann mal alleine, damit ihr euch in Ruhe etwas aussuchen könnt.« Lächelnd verschwand er, ließ uns mit einer unangenehmen Stille alleine. Niemand sagte etwas. Die Luft war so aufgeladen, als würden wir neben einem Strommast sitzen, ich hatte das Gefühl es sogar summen zu hören.
Ich ließ mein Blick über die kleine Gruppe gleiten. Xaver rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum, sah abwechselnd aus dem Fenster und zur Speisekarte. Sascha saß zusammengesunken da, er sah aus, wie ein Luftballon aus dem die Luft entwichen war - er wollte definitiv von hier weg. Jacky sah ständig zu ihm herüber, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn aber ohne ein Wort wieder und kratzte den türkisen Nagellack von ihrem linken Daumen. Und ich? Wollte auch am liebsten von hier weg und würde sogar freiwillig eine Doppelstunde bei Herr Fischer vorziehen, nur um dieser erdrückenden Stimmung zu entkommen.
Unerwartet begann es in meinem Nacken zu kribbeln und die kleinen Härchen stellten sich auf. Von irgendwoher wurden wir beobachtet, das spürte ich deutlich. Ich drehte mich um, sah aber nichts Verdächtiges, das Gefühl wollte trotzdem nicht verschwinden. Um mich abzulenken, nahm ich die Karte in die Hand und blätterte durch die Gerichte, konnte mich aber nicht konzentrieren. Erneut sah ich nach hinten, erkannte aber noch immer nichts.
»Was ist los?«, fragte Jacky.
Ich wandte mich ihr zu. »Hab das dumpfe Gefühl, dass wir beobachtet werden.«
Erleichtert seufzte sie aus. »Dachte schon, ich würde jetzt völlig irre werden, wollte schon sagen, ihr müsst mich einliefern lassen.«
Lächelnd nahm ich ihre Hände in meine. »Die würden dich nach fünf Minuten schon wieder rauswerfen.«
Teuflisch grinsend nickte sie.
»Vito hat Ben gesagt, dass ich hier bin«, sagte Sascha, seine Stimme hatte einen merkwürdigen Klang, so dünn und zerbrechlich, auch hörte er sich seltsam fern an und ein bisschen, wie in Trance. »Er zeigt ihm gerade unseren Tisch.«
Sechs Augenpaare waren nun auf Sascha gerichtet. Noch immer wirkte er grau und kurz vor einer Ohnmacht. Er sah auf seine Hände, die an der Stoffserviette zupften. Das Schokobraune Haar stand wirr von seinem Kopf ab, mir juckte es in den Fingern, es glatt zu streichen - Jacky würde mich dafür lynchen. Doch sie hatte den gleichen Gedanken. Sie löste ihre Hände aus meine und fuhr ihm liebevoll durchs Haar. Ihre Wut war verflogen. Bei seinem verlorenen Anblick auch verständlich.
»Warum hast du mir nie gesagt, dass du einen Bruder hast?«
Sascha schmiegte sein Gesicht an ihre linke Hand, schaute aber nicht auf. »Das ist eine lange Geschichte.« Unter der er offensichtlich sehr litt.
»Erzähl sie uns, wir haben Zeit.«
»Nicht hier.«
»Und die grobe Fassung?«
Er schüttelte den Kopf.
»Aber später dann, okay?«
Er nickte und sie gab ihm einen Kuss. Sascha vertiefte ihn und krallte sich wie ein Ertrinkender an ihr fest.
So diskret, wie möglich wandten Xaver und ich unsere Blicke ab und beschäftigten uns anderweitig.
Auch hier hingen vergrößerte Fotografien an den Wänden. Das Pärchen war dasselbe, aber der Ort ein anderer. Leider konnte ich nicht sagen welcher es war. Weiter als Venedig und Rom waren meine Eltern und ich im Urlaub in Italien noch nicht gekommen.
♠♠♠
»Ihr könnt ruhig wieder gucken«, meinte Sascha nach einer Weile und ich spürte ein Grinsen in seiner Stimme. Jacky kicherte leise.
Meine Augen wanderten wieder zu ihnen und ich musste lächeln. Die zwei passten so gut zusammen, optisch, wie charakterlich. Ich konnte mir nicht vorstellen, sie jemals getrennt zu sehen.
»Jabłoński...«, murmelte Xaver. Sascha spannte sich erneut an. »Dann ist dein Bruder das Wunderkind am Klavier, oder?«
Die Anspannung fiel abermals von ihm ab und ein kleines Lächeln umspielte seine Mundwinkel. »Ja, das ist er.« Der Stolz in seiner Stimme war nicht zu überhören.
Jabłoński... Ich hatte diesen Namen bewusst verdrängt... Benedykt Jabłoński hatte schon im zarten Alter von fünf Jahren Konzerthallen gefüllt, mit Stücken von Beethoven, Chopin, Debussy und Co. Sogar zwei selbst komponierte Stücke hatte er gespielt. Seine Beliebtheit war noch immer nicht abgeebbt, doch nun spielte er überwiegend seine eigenen Kompositionen. In den Medien wurde er stets als Klaviervirtuose bezeichnet, allerdings war sonst nichts über ihn bekannt. Außer halt, dass er auf dem gleichen Gymnasium ging wie ich, eher distanziert war und jeden mit finsterem Blick in die Flucht schlug. Nun, wenn ich Sascha so betrachtete, fielen mir die Ähnlichkeiten schon auf. Die gleichen Schokobraunen Haare, wobei Benedykts viel wuscheliger und wilder waren, bisschen wie Beethoven, nur lockiger. Die gleichen hohen Wangenknochen, ziemlich küssenswerte Lippen, die gleichen anthrazitfarbenen Augen. Aber sein Blick... sein verdammter Blick war viel eindringlicher, als von Sascha.
»Was los, Kleine? Brauchst du ein Passbild?« Saschas Stimme ließ mich erschrocken zusammen zucken. Ertappt nahm ich eine Strähne meiner goldbraunen Locken in die Hand.
»Glaub mir, mein Bruder sieht genauso heiß aus, wie ich«, meinte er und zwinkerte mir zu.
Ich verdrehte die Augen und hoffte, er würde mir die Röte nicht ansehen. Und auf ihm liegt es sich tatsächlich gut, schoss es mir unpassenderweise durch den Kopf. Hirn, lass das! Zur Ablenkung nahm ich die Menükarte in die Hand. »Ich sollte mir langsam mal etwas aussuchen, bevor Vito wieder kommt.«
Sascha lachte, nahm das schmale Buch ebenfalls in die Hand, Jacky eben so. Xaver schien schon zu wissen, was er wollte.
Es freute mich, dass sich Sascha von dem Schock zu erholen schien, er hatte wieder deutlich mehr Farbe im Gesicht.
♠♠♠
»Na, wisst ihr schon, was ihr möchtet?« Wie aus dem Nichts stand Vito neben mir, ich erschrak so sehr, dass ich sogar vom Stuhl hoch hüpfte, Sascha erging es nicht anders. Xaver zeigte derweil Jacky wo sich die Toiletten befanden. »Ganz schön schreckhaft, was?«
»Wenn du dich so anschleichst«, antwortete ich und gab ihm die Sepisekarten. »Nächstes Mal bringe ich eine Kuhglocke mit und hänge sie dir um.«
Er grinste mich an und erinnerte mich dabei stark an die Grinsekatze von Alice im Wunderland. »Wenn du's schaffst, bekommst du ein Essen deiner Wahl umsonst.«
Ich lachte. »Wenn's mir schmeckt, hab ich schon so gut, wie gewonnen.«
»Dir wird's schmecken«, sagte er ohne jeden Zweifel.
»Na dann: Deal?« Ich reichte ihm die Hand.
»Deal.« Er schlug ein - seine Hand war wunderbar warm. »Dann erzählt mal, was darf die Küche Schönes für euch zaubern?«
»Xaver möchte gerne Falsomagro alla siciliana, Sascha Blintsches und Jacky und ich vegetarische Bolognese, aber mit Wein.« Falsomagro alla siciliana war ein Rinderrollbraten nach sizilianischer Art und Blintsches waren jüdische Crêpes - Sascha hatte kein großen Hunger. Konnte ich verstehen, mir wäre es auch auf den Magen geschlagen. Zwar wusste ich nicht, was in seiner Familie vorgefallen war. Doch so wie Sascha vorhin ausgesehen hatte, musste es ziemlich schlimm gewesen sein. Warum sonst verschwieg er seinen Bruder?
»Mit Wein... Seid ihr denn schon alt genug?«, fragte er schelmisch grinsend.
Schmunzelnd verdrehte ich die Augen. Vito notierte dann unsere Bestellungen. Sascha zupfte nervös an seiner Serviette herum, er schien etwas sagen zu wollen, traute sich aber nicht so richtig. Ich kannte ihn nun schon seit zweieinhalb Jahren, nie hatte ich ihn so unsicher erlebt. Seine dunkelgrauen Augen sahen erst mich an, dann Vito, tief Luft holend öffnete er den Mund. »Vito...«
Dieser sah ihn für ein paar Sekunden nur an und schüttelte dann den Kopf. Er schien in Saschas Augen bereits gelesen zu haben, was er fragen wollte. Ich auch.
»Bitte.«
»Nein. Er würde dich sowieso nicht sehen wollen.«
»Und woher willst du das wissen?«, mischte ich mich mit ein.
»Weil ich ihn kenne, manchmal sogar besser als er sich selbst«, antwortete er, ohne mich anzusehen.
»Könntest du mir wenigstens seine Handynummer geben?«, fragte Sascha, klammerte sich an das winzige Bisschen Hoffnung, doch noch irgendwie mit seinem Bruder in Kontakt treten zu können.
»Nein«, antwortete er entschieden. Sascha senkte den Blick, sah so traurig aus, dass es mir das Herz brach.
»Du bist echt ein Arsch, Vito«, sagte ich und sah ihn wütend an. »Er will doch nur mit seinem Bruder reden, verdammt nochmal.«
»Nach zehn Jahren? Auf einmal? Bisschen spät, oder?«
»Besser spät, als nie«, fauchte ich. Die Arroganz in seiner Stimme machte mich wütend. Und das er so stur war und offenbar kein Herz besaß, sonst würde er doch sehen, dass es Sascha schlecht ging.
»Du solltest dich nicht in Angelegenheiten mischen, die dich nichts angehen.«
»Sie gehen mich sehr wohl etwas an, Sascha gehört zu meinen Freunden.«
»Nicht. Ist schon okay«, schaltete sich dieser mit ein, »er beschützt ihn nur.«
»Und ich dich. Außerdem muss er doch sehen, wie du leidest. Da kann er doch ruhig mal Herz zeigen und den Klaviervirtuosen her holen. Was ist daran so schwer? Bist du seiner nicht würdig, dürfen nur Leute mit Rang und Namen mit ihm sprechen, oder was? Musst du erst um eine Audienz bei seiner Majä-«
»Maddie, hör auf«, unterbrach mich Sascha, seine Stimme war ruhig, dennoch wusste ich, dass er verärgert war, trotz das er mich mit meinem Spitznamen ansprach. Ich hatte mich so in Rage geredet, dass ich erst jetzt bemerkte, was ich gesagt hatte. Tja, deshalb war Trampeltier mein dritter Vorname. Betreten sah ich auf meine Hände. Vito ging ohne ein Wort.
Es war das letzte Mal, dass wir ihn sahen, dass Essen brachte uns eine Kellnerin.
♣Ben♣
Viel Zeit zum Nachdenken und mein Gefühlschaos zu ordnen hatte ich nicht. Kaum saß ich auf Vitos Couch, war ich eingeschlafen. Und wenn mich nicht das dumpfe Gefühl, beobachtet zu werden, geweckt hätte, hätte ich sicher bis morgen früh durchgeschlafen.
»Du weißt nicht wie unglaublich attraktiv du bist... oder? Und wenn du schläfst, wirkst du so zufrieden, so ausgeglichen, so selig, so... Ich weiß nicht... ich kann es nicht beschreiben... Eigentlich...«, er ließ eine kurze Pause entstehen, als überlegte er, ob er wirklich weiter sprechen sollte. Untypisch für ihn, war er doch sonst nicht so zurückhaltend. »...Eigentlich wollte ich dich fotografieren, aber ich wusste, dass ich es niemals so festhalten konnte... meine Kamera gehört zu den Besten auf dem Markt... aber dieses Bild... diesen berührenden und intimen Moment... kann selbst sie nicht festhalten.«
»Und du weißt nicht, wie bizarr es ist, im Schlaf beobachtet zu werden«, murmelte ich und öffnete meine Augen, bewusst nicht auf seine anderen Worte eingehend. Ich hatte auch gar keine Ahnung, was ich darauf hätte erwidern sollen. Mein Hirn arbeitete noch nicht richtig, zudem wusste ich nicht, wie ich mit Komplimenten umgehen sollte.
»Es fiel mir verdammt schwer, dir nicht ein paar Locken aus der Stirn zu streichen«, sagte er. Vito machte sich nichts aus Geschlechtern, er war weder Frauen noch Männern abgeneigt. Die Frage ob er Bisexuel wäre, beantwortete er stets mit: »Das Herz will, was das Herz will.« Er mochte es nicht, sich festzulegen, nur weil es der Norm entsprach und er dann in eine Schublade gesteckt werden konnte. Wenn er sich in eine Frau verliebt hatte, liebte er eine Frau, wenn er sich in einen Mann verliebt hatte, liebte er einen Mann, so einfach war das für ihn. Und so einfach sollte es im Grunde auch sein. Warum sich so viele an die Sexualität anderer störte, würde mir ewig schleierhaft sein.
»Wie spät ist es?«, fragte ich gähnend und streckte mich, musste mich dabei aber aufsetzen. Meine Knochen in den Beinen, Armen und im oberen Rücken knackten dabei schmerzhaft. Meine Schlafposition war nicht gerade optimal gewesen, trotz das ich mich ausgeruhter fühlte. Erst jetzt bemerkte ich, den warmen, gelben Schein seiner Leselampe, die er angeschaltet und gedimmt hatte und das aufgeschlagene Buch in seinem Schoß.
»Zehn nach neun«, antwortete er. »Hab deinen Vater bereits angerufen und gesagt, dass du hier schläfst.«
Ich nickte, große Lust nach Hause zu gehen hatte ich nicht.
»Hast du Hunger?«, fragte er und schloss das Buch, ohne die Seite zu markieren - eine Angewohnheit die bei uns gleich war, wir wussten immer bei welcher Seite wir stehen geblieben waren. »Ich hol uns was zu essen, bevor ich noch etwas tue wofür du mir eine reinhaust.« Schelmisch grinsend stand er auf, ließ sein Blick bewusst einige Sekunden auf meine Lippen ruhen. Dann legte er das Buch, Die Freundschaft von Connie Palmen, auf seinem Bett und verließ das Zimmer. Ich würde ihn nicht schlagen, verabscheute Gewalt jeglicher Art, dass wusste er. Und so scherzhaft, wie er es sagte, so wusste ich, dass da auch immer ein Fünkchen Ernst mit schwang. Klar war ihm aber auch, dass ich ihn abblocken würde, nicht weil ich etwas dagegen hatte -obwohl mir auch noch nicht in den Sinn gekommen war, mal das andere Geschlecht auszuprobieren-, sondern weil er mein bester Freund war und ich nicht wollte, dass sich unsere Freundschaft änderte, oder sie dadurch zerstört wurde.
Ich stand auf, streckte mich erneut, machte kurz ein paar Dehnungsübungen, damit sich alles in meinem Körper wieder an den richtigen Platz zurück schob und ging auf die Toilette.
♣♣♣
»Wann wirst du es Tadeusz erzählen?«
Allein diese simple Frage brachte mein Herz dazu unkontrolliert gegen meine Brust zu trommeln. Während er uns unten in der Küche Latkes, die jüdische Variante von Reibekuchen, zubereiten ließ, hatte ich es vermieden darüber zu grübeln, geschweige denn überhaupt daran zu denken. Ich hatte Aleksander wiedergesehen und wollte es am liebsten gleich wieder vergessen. Er gehörte nicht mehr zu meiner Familie, zu mir, also hatte er auch nichts in meinem Kopf zu suchen. Natürlich war das nicht so einfach. Und Vitos Frage nach dem Wann und nicht nach dem Ob, verdeutlichte mir, dass ich es nicht verdrängen konnte, durfte. Doch das zu wissen, machte es mir noch lange nicht leichter damit umzugehen und erst recht nicht, wie ich es meinem Vater erzählen sollte.
Ich schob mir das letzte Stückchen in den Mund, kaute etwas länger als nötig und trank einen Schluck warme Ziegenmilch mit Feigenhonig. »Keine Ahnung.«
Er nickte, nahm sein Glas in die Hand, ohne etwas zu trinken. So wie er mich musterte, die Augen leicht zusammengekniffen, die Augenbrauen zusammengezogen, sah er aus, als ob er plötzlich unter mäßigen Magenkrämpfen litt, allerdings kannte ich diesen Blick allzu gut. So schaute er immer, wenn er etwas sagen wollte, aber nicht wusste ob er es sollte, weil die Reaktionen zu unvorhersehbar waren.
»Sag schon«, forderte ich ihn auf.
»Er wollte dich sehen, als ich verneinte, wollte er deine Handynummer haben.«
Mein Herz trommelte heftiger gegen meine Brust. Es tat weh. Die Kälte drohte wieder meinen Körper hinauf zu kriechen. Wieso wollte er mich sehen? Nach all den Jahren?
»Ben!«
Kaum merklich schüttelte ich den Kopf, hatte alles um mich herum vergessen. Das musste aufhören. Es sollte mich nicht kümmern, dass Aleksander mich sehen wollte.
»Alles gut? Du siehst wieder so geistlich aus«, sagte er und musterte mich besorgt.
Ich nickte und zuckte gleichzeitig mit den Schultern. Tatsächlich wusste ich selbst nicht, ob alles in Ordnung war. Was sollte ich davon halten, dass nach zehn Jahren Funkstille Aleksander mich sehen wollte? Seit er und Judith ausgezogen waren, hatten wir nie wieder etwas von ihnen gehört oder gesehen, ich dachte sogar, dass sie weggezogen waren. Und nun wollte er mich sehen? Auf einmal? Interesse oder Sehnsucht und aufkeimende Liebe für mich kann es jedenfalls nicht sein. Ebenso wenig für Papa und Mila. Er hatte uns im Stich gelassen, nur um mit Judith bei einem reichen Kerl einzuziehen, er war für mich gestorben.
Ich trank mein Glas aus und stand auf. »Lass uns raus gehen, ich brauch frische Luft.« Auch wenn ich wusste, dass mein Kopf davon nicht leerer und mein Herz leichter wurde.
♠Madita♠
»Schweigt er immer noch?«
Nervös auf meiner Zunge kauend schickte ich die SMS ab.
Nachdem ich mal wieder mit voll Karacho ins Fettnäpfchen gesprungen bin, war die Stimmung natürlich im Eimer. Sascha hatte eisern geschwiegen und den Blickkontakt mit mir vermieden. Selbst als er und Jacky mich nach Hause fuhren, ignorierte er mich.
Jacky hatte ich per SMS aufgeklärt, auch mit ihr schien er nicht zu reden, dabei konnte sie nicht mal etwas dafür.
»Geht. Er ist wortkarg. Spricht man ihn aber auf seinen Bruder an, blockt er sofort ab und igelt sich ein. Nicht mal kuscheln will er oder einfach nur neben mir liegen.«
Ich seufzte und fuhr mir durch die langen, welligen Haare, dabei entwirrte ich sie etwas. Das leichte Ziepen nahm ich kaum wahr.
»Das tut mir sehr leid, Will. Das er dich auch so behandelt, hast du nicht verdient.« Wieso behandelte er Jacky auch so? Sie hatte ihm doch gar nichts getan. Am liebsten würde ich ihn schütteln. Hoffentlich waren sie nicht bei ihm zu Hause, das wäre ein gefundenes Fressen für seine Mutter.
»Alles gut, Hannibal. Das wird schon wieder. :)«
Ich lächelte leicht. Meine kleine unerschütterliche Optimistin. »Seit ihr bei dir oder bei ihm?«
»Bei mir. Er wird aber gleich nach Hause fahren.«
Das war meine Chance! Wenn ich mich beeilte nach Saschas Haus zu kommen, konnte ich ihn abpassen bevor er rein ging. Zwar wollte ich mich entschuldigen, aber mein Gerechtigkeitssinn wollte ihm unbedingt klar machen, dass Jacky es nicht verdient hatte, dass er sie genauso behandelte, wie mich. Ich hatte mich in Rage geredet, ich hatte nicht sehr nett über seinen Bruder (dessen Blick immer noch in meinem Kopf herumspukte) gesprochen, obwohl ich ihn nicht kannte. Nicht Jacky. Sie hatte überhaupt nichts gemacht, hatte im Auto nur zwischen uns vermitteln wollen, ohne dabei zu wissen warum. Wenn er auf mich sauer war, war es sein gutes Recht, aber sie da mit rein zu ziehen war unfair. In diesem Punkt ähnelte er gerade seiner Mutter, die Jacky als ihren persönlichen Sündenbock auserkoren hatte.
Ich schnappte mir eine Strickjacke, meinen Schlüssel und verließ mein Zimmer.
♠♠♠
»Maddie, was machst du so spät noch hier?« Sascha sah müde aus und abgekämpft, als ob er gegen einen Dementoren gekämpft hätte. Ganz abwegig war das ja nicht. Was auch immer in seiner Familie geschehen war, weswegen er seinen Bruder verschwieg, es zerrte an seinen Nerven, schlimmer noch, an seiner Seele.
»Auf dich warten, um dir zu sagen das Jacky es nicht verdient hat von dir auch noch ignoriert zu werden.«
Während ich zum Haus der Maibachs gelaufen war, das von unserem zum Glück nur zehn Minuten entfernt lag, hatte ich mir überlegt, wie ich ihm begegnen sollte, damit er mir auch zu hörte. Mir kamen viele Sätze in den Sinn, viele mit Vorwürfen, die die Situation nicht unbedingt entschärften. Genauso wie dieser Satz, bei dem der Vorwurf wie eine Abrisskugel auf ihn niederschlug. »Tut mir leid, ich wollte nicht vorwurfsvoll klingen«, sagte ich und kam mit vorsichtigen Schritten auf ihn zu.
Er nickte, schüttelte kurz darauf den Kopf und zuckte gleichzeitig mit den Schultern, dadurch wirkte er noch verlorener als in der Trattoria heute Nachmittag. Und zerbrochen. Ohne weiter darüber nachzudenken nahm ich ihn in die Arme.
»Ich vermisse ihn so sehr«, sagte er mit erstickter Stimme. Er drückte mich so fest, dass ich kaum Luft bekam, doch ich unternahm nichts dagegen, hielt ihn einfach, weil ich spürte, dass er das dringend brauchte.
♠♠♠
»Ich hasse es vor anderen zu weinen«, sagte er, zündete sich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug.
Verwundert wanderten meine Augenbrauen nach oben. Sascha rauchte? Seit wann das? Ich kannte ihn nun schon zweieinhalb Jahre und hatte ihn nicht einmal rauchen gesehen.
Zigaretten waren es also, die er noch aus seinem Auto geholt hatte, bevor wir in den Garten der Maibachs gegangen waren.
Dieser Mann hatte doch mehr Geheimnisse, als ich dachte. Natürlich hatte jeder Geheimnisse, doch er hatte ziemlich ungeahnte.
Er zuckte mit den Schultern, als er meinen Blick bemerkte. »Gelegenheitsraucher. Die Schachtel liegt auch schon eine Weile im Auto.«
Ich sah zum schwarzen Himmel hinauf, betrachtete die unzähligen Sterne. »Manchmal tut es aber gut zu weinen, reinigt die Seele, auch wenn es vor anderen ist.«
Sascha seufzte. »Ich weiß, haben sie mir in der Therapie auch gesagt. Ich mags trotzdem nicht.«
Sofort senkte ich den Kopf und starrte ihn an. »Therapie?«
Er zuckte erneut mit den Schultern. »Die Scheidung meiner Eltern... Die Trennung von Ben... Mamas neuer Mann... das alles hat mich in ein großes, schwarzes Loch geworfen, aus dem ich ohne Hilfe nicht wieder herausgekommen bin.« Er schnipste die Kippe weg, die gerade mal zur Hälfte aufgeraucht war und sah nun selbst in den Himmel. »Das schlimmste ist, dass ich noch eine kleine Schwester habe. Sie ist elf. Ich kenne sie nur noch im Strampler auf meinem Arm, aber sie wird sich nicht mehr an mich erinnern.«
»Das... tut mir leid.« Wie hohl das klang. Aber ich wusste ehrlich nicht, wie ich sonst darauf reagieren sollte, ich sah ihm an, dass er eine erneute Umarmung nicht zulassen würde.
Er schaute zu mir und der Schmerz in seinen Augen traf mich so hart, dass ich etwas zurück zuckte. »Das alles frisst mich auf. Da hilft kein heulen, kein reden, keine verdammte Therapie. Nichts hilft da, rein gar nichts! Erst recht nicht, wenn die eigene Mutter alles schön redet und dabei so tut, als gäbe es die andere Familie nicht die sie in Stich gelassen hat. Als hätte sie mich nicht zum Mitschuldigen gemacht. Zu allem Überfluss ist sie auch noch schwanger. Mit dreiundvierzig verfluchten Jahren! Und weißt du was ich mir wünsche?« Er war mit jedem Wort lauter geworden, dass er zum Ende hin schon fast schrie. Das Licht an der Terrassentür schaltete sich ein.
»Sascha bist du das? Was ist hier los?« Herr Maibach, sein Stiefvater. Zum Glück stand die Hollywoodschaukel gut versteckt im Garten, sodass das Licht nicht bis zu uns reichte und er uns somit nicht sehen konnte.
Gefangen von seinem intensiven Blick voller Schmerz, Wut, Trauer, Verzweiflung und Schuld, sah ich ihn nur im Augenwinkel. Er trug einen Morgenmantel und ließ seinen Blick umherschweifen, als wäre er eine Überwachungskamera. Sascha selbst ignorierte ihn, vielleicht hatte er ihn gar nicht bemerkt, so sehr war er in diesen Gefühlsstrudel gefangen.
»Ich wünsche mir, dass sie das Kind verliert«, er flüsterte als er weiter sprach, »sie hat ihre anderen Kinder verloren, dieses darf nicht jetzt schon eine so große Last tragen. Es wird das große Loch nicht füllen können, welches Ben und Mila hinterlassen haben.« Seine Knöchel traten weiß hervor, als er seine Hände zu Fäuste ballte. »Diese Gedanken erschrecken mich und ich hasse mich dafür, ab-«
»Sascha, ich weiß das du da draußen bist, antworte mir gefälligst.«
Sascha schloss tief Luft holend die Augen, blies sie langsam wieder aus und als er seine Augen wieder öffnete, war von dem Gefühlsstrudel in ihnen nichts mehr zu sehen. Momentan war gar keine Emotion in ihnen zu erkennen.
»Ich komm gleich rein«, antwortete er ihm mit erstaunlich fester Stimme, die keinerlei Widerspruch duldete.
Herr Maibach blieb noch einige Sekunden stehen, bevor er dann die Tür schloss.
»Komm, ich fahr dich schnell nachhause«, sagte er und stand auf. Ich ebenfalls, nahm ihn aber erneut in die Arme. All das hatte schon lange unter seiner Oberfläche gebrodelt und ich denke, dass es ihm gut getan hatte, es raus zu lassen - zumindest ein wenig. Jegliche Worte von mir wären unpassend und eine Phrase, also umarmte ich ihn erneut stumm.
♣Ben♣
»Hallo Jude.«
Eine vertraute Stimme drang an meine Ohren. Ich schob Vitos Sonnenbrille in meine Haare, stützte mich auf die Ellenbogen und sah ein schwarzhaariges Mädchen auf mich zu rollen, leicht spürte ich auch die Vibrationen unter mir. »Du siehst so blass aus, warst du heute noch nicht kacken?« Sie stieg ab, während ihr rot-grünes Skateboard gegen meine Schuhspitzen rollte.
Ich zog es ein Stückchen näher zu mir, stellte meinen linken Fuß drauf und rollte vor und zurück. Dabei wurde ich von zwei dunkelbraunen Augen gemustert in denen es frech aufblitzte.
»Muslima, jetzt wo ich dich sehe, weiß ich, was ich heute noch vor hatte.« Ein letztes Mal zog ich das Board zu mir, um es mit einem etwas stärkeren Schubs zu ihr zurück zu befördern. Sie hielt es grinsend auf und setzte sich. Ihre eh schon viel zu kurzen Shorts rutschten nach oben und gaben noch mehr goldbraune Haut zum Vorschein. Sie hielt ihr Beine schamlos geöffnet, wodurch ich ihren weißen Slip sehen konnte. Weiß, wie die Unschuld - was sie sicher nicht war. Wenn ihre Eltern wüssten, was für ein durchtriebenes und obszönes Miststück sie war, hätten sie sie strenger erzogen, vielleicht sogar eingesperrt.
Allerdings war ich mir sicher, dass über die Hälfte ihrer sexuellen Abenteuer nicht stimmte. Damit nahm sie den Lästerschwestern ihre Lieblingsbeschäftigung. Seit sie vor zwei Jahren bei einer dieser berüchtigten Hauspartys halbnackt und betrunken auf dem Couchtisch eingeschlafen war und davon ein Foto gemacht und an jeden geschickt wurde, war sie Gesprächsthema Nummer eins bei den Bonzenkindern und ihren Mitläufern. Zu ihren Leidwesen war sie viel cleverer, sodass sie ihnen immer ein Schritt voraus war und sie mit ihren Lästerattacken kaum treffen konnten. Aaliyah machte sich eher darüber lustig, ihre Brüder fanden es weniger amüsant und ihre Eltern hatten keine Ahnung. Wohl auch besser so.
»Das war echt lahm. Was ist los, Lieblingsfreind? Schlechten Sex gehabt?«
Ich verdrehte die Augen, sie wusste genau das ich das Wort, oder eher Zusammensetzung, nicht leiden konnte. Freind. Selbst in Gedanken klang es bescheuert. Und doch beschrieb es unsere Beziehung recht gut.
»Es dreht sich nicht alles um Sex«, antwortete ich und legte mich zurück ins Gras.
»Schade. Sollte es aber, dann würden viel weniger Kriege auf der Welt sein.«
»Wenn das mal so einfach wäre«, murmelte ich und beobachtete die orange-rote Kugel wie sie hinter einer Hochhäuserwand verschwand. Der Skaterpark gehörte zu den wenigen grünen Flecken in der sonst so grau-braunen Stadt.
Obwohl sie gar nicht mal so Unrecht hatte. Natürlich war Sex kein Allheilmittel gegen Krieg, jedenfalls nicht auf Dauer, aber eine Weile wären die Menschen wenigstens anderweitig beschäftigt. Allerdings war das Hauptproblem bei Krieg der Mensch an sich.
»Ach Jude, du wirst der einzige Junge sein den ich kenne, der schon mit neunzehn Stirnfalten haben wird.« Ihr schönes Gesicht tauchte über mir auf, die Spitzen ihrer Haare kitzelten mich an der Stirn und meinen Wangen. Sie war eines der wenigen mir bekannten Mädchen die sich nur wenig bis gar nicht schminkten.
»Dann beglückwünsche ich dich jetzt schon herzlichst dazu.« Ich streckte ihr eine Hand entgegen, doch sie schob sie beiseite und setzte sich auf meinem Bauch. »Muslima, ich hab vor einer halben Stunde erst gegessen«, sagte ich stöhnend und schob sie runter zu meinen Oberschenkeln.
»Mmmmhhh, sexy Stöhnen«, sagte sie anzüglich grinsend und rutschte höher, direkt auf meine Kronjuwelen. »Bei vollem Magen hilft Verdauungssex.«
Ich hob eine Augenbraue. »War das nicht ein Verdauungsspaziergang?«
»Neeneenee, Sex«, widersprach sie.
Schmunzelnd verdrehte ich die Augen. »Sex ist wirklich dein Allheilmittel, was?«
»Na klar.« Sie begann sich in rhythmischen Kreisbewegungen auf mir zu bewegen - und sie machte es verdammt gut. Sanft, aber bestimmt legte ich meine Hände an ihre Hüften, um sie daran zu hindern.
»Ich dachte ich wäre zu attraktiv für Sex?«
Mit einer fast schon selbstverständlichen Leichtigkeit nahm sie meine Hände in ihre, kam näher zu mir runter und verschränkte sie über meinem Kopf. »Für eine Beziehung«, korrigierte sie mich. »Einen schönen Mann hat man nie für sich allein. Deshalb such ich ja auch nach einem Glöckner.«
»Dann solltest du es mal in Notre-Dame versuchen«, erwiderte ich mit zusammengebissenen Zähnen, hob meine Hüften so weit an, damit sie auf mein Bauch rutschte, doch sie klammerte ihre Beine um mich, also ließ ich meine Hüften zurück ins Gras sinken.
Sie kicherte garstig, wie Hexe Babajaga höchstpersönlich. »Untervögelt, hm?« Ja, es war sechs Monate her, seit ich das letzte Mal Sex hatte. Sechs Monate bevor Leah sich von mir trennte, weil ich ihr nicht geben konnte, was sie brauchte. »Lass es uns tun«, raunte sie mir ins Ohr und nahm mein Ohrläppchen zwischen ihre Zähne.
»Verdammt Muslima«, brummte ich und setzte mich mit ihr auf.
Teuflisch grinsend sah sie mich an. »Ich weiß, dass du es auch willst.«
»Deine Brüder werden mich umbringen und ich hänge an mein bisschen Leben was ich hab.«
»Werden sie nicht. Sie finden dich sogar ganz in Ordnung.«
»Trotzdem. Ich bin heute nicht in der Stimmung Grenzen auszuweiten.« Ich schob sie behutsam, aber mit Nachdruck, von meinem Schoß. Widerwillig stand sie auf und setzte sich mit vorgeschobener Unterlippe neben mich - solch ein Blick kannte ich allzu gut. Mila wandte ihn an, wenn sie noch mehr Süßes haben wollte, aber schon genug hatte. Oder wenn ich mit ihr und ihren Puppen spielen sollte und ich mir spannendere Dinge vorstellen konnte. Ich kümmerte mich gern um Mila, aber ihre ständig grinsenden Puppen fand ich gruselig - hatte auch stets das Gefühl, als beobachteten sie mich. Chucky war ein Witz gegen dieser Dinger.
»Du solltest bei meiner Schwester in die Lehre gehen, sie beherrscht den Blick besser«, sagte ich schief grinsend.
»Blödmann«, murrte sie, rupfte Gras und beschmiss mich mit einem kleinen Büschel.
»Ziemlich lahme Konter, Blödfrau. Und hör auf dem Boden die Haare rauszureißen«, fügte ich hinzu und legte mich zurück ins Gras.
Eigentlich nahm ich an, dass sie nun wieder zum Rest fahren würde, doch sie legte sich neben mich, sagte aber kein Wort und sah mich nur an.
»Willst du mich jetzt hypnotisieren? Auch daran solltest du noch arbeiten.«
»Brauche ich nicht. Ich werde dich noch flachen legen.«
Ich schnaubte belustigt. »Woher kommt der plötzliche Sinneswandel? Wieso willst du plötzlich mit mir schlafen? Wir sind doch Freinde«, auch wenn ich es nicht wollte, aus meinen Mund triefte dieses Wort nur so vor Sarkasmus.
»Deswegen ja. Wir würden eine neuen Trend kreieren. Es gab schon Sex mit Feinden. Und Sex mit Freunden. Aber noch keiner hatte Sex mit seinem Freind.«
Ich hob eine Augenbraue.
»Und bevor ich nach Notre-Dame reise, um Quasimodo zu suchen, wollte ich vorher wissen wie Phoebus im Bett ist.«
Meine Mundwinkel zuckten kurz. »Bisschen diskriminierend, findest du nicht? Und beleidigend.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Hab nie behauptet ein netter Mensch zu sein. Aber wenn's deinem angeknaxten Ego gut tut: Du bist Phoebus aus der Disneyverfilmung.«
»Zu gütig, Esmeralda, meinem Ego geht's gleich besser.«
»Schön. Und jetzt sag was mit dir los ist.«
»Was soll schon sein?«
»Ich bin deine Lieblingsfreindin, meinst du nicht ich würde nicht merken, wenn mit dir etwas nicht stimmt?«
»Woher willst du wissen, dass du meine Lieblingsfreindin bist?«
»Wie viel Lieblingsfreindinnen hast du denn?«
»Tausend.«
»Aber ich bin deine Liebste. Und nun hör auf abzulenken.«
Ich seufzte. Diese Frau würde wohl nie aufgeben. »Hab heute Aleksander gesehen. Er saß an einem Tisch bei Corleones.« Aaliyah wusste über meine Familienverhältnisse fast so gut Bescheid, wie Vito. Wir gingen zwar auf demselben Gymnasium, hatten uns aber auf den Flur einer psychiatrischen Einrichtung vor drei Jahren kennengelernt. Sie hatte ihre an Schizophrenie erkrankte Mutter von einer Gruppentherapie abgeholt und ich meinen Vater von den anonymen Alkoholikern. Auch wenn die Erkrankungen unsere Eltern nicht unbedingt viel gemeinsam hatten, haben wir uns trotzdem verbunden gefühlt - auch wenn wir die meiste Zeit nicht sonderlich nett zueinander waren.
Sie murmelte irgendein Fluch auf algerisch und nahm dann meine Hand in ihre. Genau, deshalb war sie wohl meine Lieblingsfreindin. Sie stellte keine sinnbefreiten Fragen, weil ihr klar war, dass ich keine Antworten darauf hatte. Und weil schweigen gelegentlich besser war, als reden. Manchmal konnte ich das mit ihr besser, als mit Vito. Natürlich meinte er es nur gut, wenn er mich nach meinem Wohlbefinden fragte und sich auch nicht scheute, die unbequemen Fragen zu stellen, selbst, wenn er es nur mit den Augen tat, damit ich mich mit diversen Themen auseinandersetzte, die ich am liebsten vergessen würde. Dennoch war es ab und an einfach gut, es nicht zu tun, zu schweigen, nicht zu denken, trotzdem jemanden neben sich zu haben und zu wissen, nicht allein zu sein.
Noch immer hatte ich keine Ahnung, wie ich mich fühlte. Was ich eigentlich fühlen sollte. Ob ich überhaupt etwas fühlen wollte. Aleksander gehörte nicht mehr zu meinem Leben und dennoch beherrschte er gerade mein Denken, drängte sich mit aller Macht zurück. Und dann war da noch mein Vater... Ich fürchtete mich davor, ihm davon zu erzählen, fürchtete, dass die Wunden ihn zerreißen würden. Wusste aber, dass ich es tun musste.
Texte: Nala A. Addams
Bildmaterialien: Tumblr
Cover: Nala A. Addams
Lektorat: Nala A. Addams
Tag der Veröffentlichung: 23.04.2018
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Diese Geschichte ist für euch, Kathe und Luna, weil es Freunde, wie ihr es seid, sind die einem helfen leichter in der Gesellschaft Platz zu finden. Ihr seid mein Watson und mein Will. ♥