Though nothing, nothing will keep us together
We can beat them, forever and ever
Oh we can be heroes, just for one day
Heores, David Bowie
Es ist Unsinn
sagt die Vernunft
Es ist was es ist
sagt die Liebe
Es ist Unglück
sagt die Berechnung
Es ist nichts als Schmerz
sagt die Angst
Es ist aussichtslos
sagt die Einsicht
Es ist was es ist
sagt die Liebe
Es ist lächerlich
sagt der Stolz
Es ist leichtsinnig
sagt die Vorsicht
Es ist unmöglich
sagt die Erfahrung
Es ist was es ist
sagt die Liebe
Erich Fried
I'm sick and I'm tired
Of reasoning;
Just want to break out,
Shake off this skin.
- The Sound
Ich stieg den vom Gras bewachsenen Hügel hinauf, auf dem die alten Bahnschienen verliefen. Die Natur hatte es fast geschafft, alles zu überwuchern, sich dass zurückzuholen, was ihr genommen wurde. Nur wenn man oben war und genauer hinschaute, erkannte man die rostigen Schienen.
Dieser Ort hatte viele Geschichten zu erzählen, doch niemand hörte ihm mehr zu. Beinahe vergessen lag er da, wild und ruhig zugleich. Nur einsame oder verstoßene Seelen schien er anzuziehen, Seelen, so wie mich.
Ich schlug den Mantelkragen hoch und zog meinen Kopf ein wenig ein -eine Geste, die mir in den letzten Wochen schon ins Blut übergegangen war- als die Kälte in meine Wangen biss. Der goldene Oktober war fast vorbei und der November kam und er schien keine gute Laune zu haben. Meine linke Hand, den Whisky fest umklammernd, war schon bläulich angelaufen, während meine rechte Hand, neben einer kleinen Verpackung ruhend, in meiner Manteltasche schwitzte. Das ich meine Handschuhe zu Hause vergessen hatte, war nicht wichtig. Vieles war nicht mehr wichtig. Eigentlich gar nichts mehr. Sie hatten mir alles genommen. Am schlimmsten war, dass sie mir meinen Lebenswillen genommen hatten, wo ich doch das Leben geliebt habe. Aber ich machte ihnen keinen Vorwurf, denn ich hatte erkannt, dass ich hier nicht her gehörte. Vielleicht in einem anderen Leben, in diesem jedenfalls nicht.
Als ich oben angekommen war, erfasste mich plötzlich eine Ruhe, wie ich sie schon lange nicht mehr gespürt hatte. Meine Augen schließend stand ich reglos da, lauschte dem Flüstern des Grases und atmete tief ein und aus. Ich hob den Kopf, öffnete meine Augen und betrachtete wehmütig lächelnd den Sternenhimmel. Auch wenn ich es besser wusste, wünschte ich mir, dass ich einer von ihnen wurde. Alles sehend, aber kein aktiver Part mehr. Seufzend senkte ich den Kopf, sah kurz die Flasche in meiner Hand an, auch im schwachen Schein des Mondlichts erkannte ich den Hirschkopf, der im oberen Drittel des Bauches prangte. The Dalmore 12 bekam man nicht im üblichen Handel, jedenfalls nicht in Gardelegen...
Bevor wieder die Gedanken in meinen Kopf zu laut wurden, schraubte ich den Deckel ab und setzte an. Sanft brennend lief die Flüssigkeit meine Kehle hinab und ließ Wärme in meinem Inneren entstehen. Der Geschmack nach Sherry und Orange machte sich in meinem Mund breit. Mit der rechten Hand griff ich um die Verpackung und holte sie aus meiner Tasche. Stilnox war in großen Lettern drauf gedruckt. Als ich sie bekommen hatte, war ich unglaublich enttäuscht gewesen, hatte ich mich doch wegen der Demütigungen und Schikanierungen der anderen geöffnet und Hilfe erhofft. Nun war ich ganz froh, sie nicht weggeschmissen zu haben. Ich öffnete die Verpackung und holte die Palette mit den Tabletten heraus. Von Zehn waren es nur noch acht, nachdem ich zwei herausbrach. Plötzlich schlug mein Herz schneller, als ich sie zu meinem Mund führte. Doch bevor ich es mir anders überlegen konnte, schob ich sie hinein und setzte die Flasche an, um sie hinunter zu spülen...
14. 7. 2007
Hallo mein schöner Unbekannter,
Als ich Dich heute zum ersten Mal erblickte, war es sofort um mich geschehen. Meine Hände wurden ganz klamm und mein Herz schlug mir bis zu den Ohren. Auch wurde mein Mund völlig trocken, dafür füllten sich meine Augen mit Tränen. Du bist so schön, dass mich das zum weinen brachte. Deine Augen erstrahlten, wie zwei frisch erblühte, blauviolette Veilchen und Dein zartrosa Mund lud zum Küssen ein. Meine Lippen kribbeln allein bei dem Gedanken so stark, dass ich es kaum aushalten kann. Wie Du wohl schmeckst?
Schon lange hat mich niemand mehr so sehr verzaubert wie Du. Zwar habe ich Dich heute zum ersten Mal gesehen, doch schon jetzt kann ich an nichts anderes mehr denken, als an Dich.
Leider weiß ich Deinen Namen noch nicht, was mir ein wenig schmerzt. Und um dich anszusprechen fehlt mir der Mut...
Ich freue mich schon sehr, dich wiederzusehen - kann es kaum erwarten, mein schöner Unbekannter.
♥
♪Noah♪
Einige Sekunden starrte ich den, nach Kokosnuss riechenden, Brief an. Verwirrt folgten meine Augen die Buchstaben, immer und immer wieder, als ob sie sich dadurch änderten. Taten sie aber nicht. Sie blieben gleich, trieften vor Kitsch und Schmalz. Unromantisch war ich nun nicht, aber dieser Brief … ließ mich ehrlich schütteln. Ich wusste auch nicht, was ich davon halten sollte, erst recht nicht von wem er stammte. Zugegeben, er gefiel mir, ein wenig. Wer freute sich nicht, wenn er begehrt wurde? Aber, konnte ich ihn auch ernst nehmen? Er klang ziemlich … abgedroschen … ein anderes Wort fiel mir dafür echt nicht ein. Und in meiner Clique gab es genug Scherzkekse, denen ich zutraute, dass sie so einen Brief nur aus Spaß schrieben und irgendeine arme Sau zu ihrem Opfer auswählten – tja und diesmal war ich die arme Sau.
„He Noah!“ Leicht erschrocken sah ich auf und bemerkte, dass ich ja gar nicht allein im Zimmer war. Chris saß auf meinem Drehstuhl und seine grünblauen Augen musterten mich amüsiert. Von meinem Bett vernahm ich ein belustigtes Schnauben. Kurz wandte ich mich dahin und sah Adrián,der bäuchlings darauf lag.
„Hat Lucie versucht dir ein Gedicht zu schreiben, oder warum guckst du, als ob dir'n Furz quer hängt?“, fragte er.
Einen flüchtigen Augenblick sah ich noch mal zum vermeintlichen Liebesbrief, dabei überlegte ich ob vielleicht Chris oder Adrián ihn geschrieben haben könnten. Doch Erstere war nicht in der Clique und Letztere war nicht der Typ dafür. „Nö. Entweder sie oder jemand anderes hat mir einen Liebesbrief geschrieben.“
Er zog eine dunkle Braue nach oben, woraufhin ich nur mit den Schultern zuckte.
„Zeig mal her.“ Chris rollte mit dem Stuhl zu mir und nahm mir den Brief aus der Hand. „Junge, Junge, der riecht ja ganz schön penetrant nach Kokosnuss! Ist es das Herz, was so riecht?“ Stirn runzelnd hielt er sich den Brief unter die Nase und verzog daraufhin das Gesicht – offensichtlich ja. Dann begann er zu lesen. Adrián rollte sich vom Bett und kam auf uns zu. Neben Chris stehend las er mit. Ein schwarzes, kleines Fellknäuel nutzte derweil die Gelegenheit mein Bett ganz für sich alleine zu haben und sprang darauf. Schmunzelnd sah ich Hitchcock, meinem englisibechen Bulldoggen- Welpen zu, wie er es sich auf meinem Kissen bequem machte. Kurz sah er mich mit seinen großen, dunklen Augen an, bevor er sie schloss, um weiter zu schlafen.
„Dios mio, da tropft der Schmalz ja von jeder Zeile“, meinte Adrián Kopf schüttelnd und zog dabei eine Grimasse. „Zu Lucie würde er passen, aber ich denke nicht, dass er von ihr ist. Zu unpersönlich.“
Ich nickte zustimmend. Bevor Lucie und ich vor vier Monaten zusammengekommen waren, hatte sie mir auch immer Liebesbriefe geschrieben – aber mit der Hand. Dieser war maschinell, bestimmt am Computer getippt. „Außerdem mag sie keine Kokosnüsse.“ Und warum sollte sie mich Unbekannter nennen? Hatte sie ihre Vorliebe für Rollenspiele entdeckt? Konnte ich mir irgendwie nicht so wirklich vorstellen.
Chris, mein blonder bester Freund, legte mir breit grinsend eine Hand auf die Schulter. „Tja, Abgebrochener, dann hast du wohl 'ne heimliche Verehrerin.“ Bei 'Abgebrochener' warf ich ihm einen grimmigen Blick zu. So klein waren 1. 68 Meter nun auch nicht, aber für jemanden mit 1. 95 Meter Körpergröße war alles klein.
Adrián, mein schwarzhaariger bester Freund, musterte mich erst und setzte dann sein typisches Grinsen auf, welches nur er konnte - ich bekam beim Versuch es nach zu machen Gesichtskrämpfe. Es hatte etwas fieses, lauerndes, provozierendes und auch spottendes an sich, zugleich wirkte es aber auch faszinierend, einnehmend und unwiderstehlich – kein Wunder warum die Mädels so auf ihn abfuhren, selbst wenn er ein Riesenarsch bei ihnen war. Ich runzelte die Stirn. Irgendetwas hatte er doch schon wieder vor. Seine verschiedenfarbigen Katzenaugen blitzten hinterhältig auf, wie bei einer Katze, die mit einer Maus spielte.
„Wirst du jetzt zum Don Juan, Noah?“ Er schnalzte mit der Zunge. „Sonst immer so freundlich und unschuldig sein, dabei fährt unser angelito eiskalt zweigleisig. Schämst du dich nicht?“ Mit geschmeidigen Schritten kam er auf mich zu, wodurch er einer Katze noch ähnlicher sah, umkreiste mich einmal und beugte sich zu mir runter. „Aber keine Sorge, ich verrate dich nicht. Damit Lucie gleich nichts merkt, solltest du allerdings noch das Fenster aufmachen“, raunte er mir ins Ohr, sein warmer Atem kitzelte meine Haut und ich glaubte, seine Lippen kurz zu spüren. Ohne etwas dagegen tun zu können, bekam ich eine Gänsehaut und die feinen Nackenhärchen stellten sich auf. Einen Moment wusste ich nicht, was ich tun, wie ich reagieren sollte. Daraufhin lachte er, garstig wie der Teufel selbst und setzte sich auf die Schreibtischkante.
Ich drehte mich in seine Richtung. „Aha! Wusst ich's doch!“ Durchdringend sah ich Adrián in die Augen und näherte mich ihm. „Du hast diesen Schmalzbrief geschrieben.“
Er zog eine Augenbraue hoch. „Hast du zu viel an dem stinkenden Herz geschnüffelt? Ich schreib nicht mal Linda so'n Blödsinn. Da schreib ich dir ganz sicher keinen, nicht mal aus Spaß.“
„Beweise, Fotos, Dokumente“, forderte ich, obwohl mir bereits schon vorher klar war, dass er es nicht sein konnte.
Chris grinste und kam dabei wieder zum Schreibtisch zurück gerollt. „Was sich liebt, dass neckt sich, was?“
Wir sahen ihn beide fast zeitgleich an – Adrián immer noch mit hochgezogener Augenbraue, aber mit leicht spöttischem Zug um die Mundwinkel und ich verwirrt – weswegen er zu lachen begann. „Ihr seid echt süß, Jungs. Bedauerlicherweise war Dreier- Dienstag erst und leider stehe ich nicht auf Jüngere.“ Daraufhin schüttelte ich schmunzelnd den Kopf, Adrián ebenfalls, nur dass er dazu die Augen verdrehte.
„Wie sind denn der Brief und du zu einander gekommen?“, fragte er dann.
Ich zuckte erneut mit den Schultern. „Keine Ahnung. Der war auf einmal in meiner Jackentasche. Hab ich auch erst eben entdeckt.“
„In der Bikerjacke von D?“, fragte Adrián.
Ich nickte. Meine geliebte schwarze Kunstlederjacke, die ich von Onkel D vor letztes Jahr zum Geburtstag bekommen hatte, war gestern plötzlich verschwunden gewesen. Einfach so, am helllichten Tag. Und für kurze Zeit war sie auch nirgends auffindbar. Überall hatten wir gesucht. Auf dem Habicht Sportplatz, auf dem angrenzenden Wall, sogar im Lindhofgarten und beim Schützenhaus hatten wir nachgefragt. Ich war auch zum Parkplatz vom Jugendamt, im Jugendamt und hab bei der Avacon geschaut. Nichts. Sie war wie vom, sprichwörtlichen, Erdboden verschluckt. Als ich fast verzweifelte, weil mir die Jacke viel bedeutete, tauchte sie überraschenderweise wieder auf. Sie lag nicht weit von der Grasfläche, neben dem Fußballplatz, auf der wir im Sommer überwiegend waren. Und es war, als ob sie da die ganze Zeit über gelegen hätte. Was ja nicht sein konnte, da wir alles abgesucht hatten. Zum Glück war sie unversehrt und es fehlte auch nichts, Handy, Portemonnaie, Haus- und Mopedschlüssel, alles da. Wobei ich letzteres eh immer in meine Hosentasche verstaute.
Den Brief entdeckte ich durch Zufall vor ein paar Minuten, aber nur, weil die Jacke nie an ihrem Harken hängen konnte. Keine Ahnung warum, war wohl zu schwer. Vielleicht steuerte Onkel D sie auch von Schottland aus, um mich zu ärgern – zuzutrauen wäre es ihm. Jedenfalls war sie mal wieder runter gefallen und als ich sie aufhängen wollte, entdeckte ich erst den Brief, der in der Innentasche gesteckt worden war.
Adrián sah noch einmal auf den Brief, den Chris zuvor auf den Schreibtisch gelegt hatte und schüttelte dann erneut mit dem Kopf. „Da hat jemand bei uns aber Langeweile.“
„Also glaubst du auch, dass es jemand aus der Clique war?“
Adrián nickte. „Claro. 'N Fremder wäre aufgefallen.“
Auf Chris' Gesicht bildete sich ein verschwörerisches Grinsen. „Vielleicht ist ja auch jemand aus eurer Clique in dich verliebt.“
Meine Mundwinkel zuckten belustigt. „Glaub ich nicht.“
„Warum? Du bist doch ein schmuckes Kerlchen.“ Leicht kniff er mir in die Wange.
Lachend schüttelte ich den Kopf. Sowohl das Wort 'schmuck', als auch seine Geste erinnerten mich so stark an meine Nachbarin Frau Hoffmann, dass kurzzeitig ihr runzliges, freundliches Mondgesicht durch seines ersetzt wurde. „Mag sein, aber ich bin mir ziemlich sicher das keine von den Mädels so einen Brief schreiben würde. Selbst zu Lucie und Maria, die wohl die Romantik mit der Muttermilch aufgesogen haben, passt er nicht. Das kann nur irgendein idiotischer Scherz sein.“ Und ich werde noch herausfinden von wem, fügte ich gedanklich hinzu. Ja, ich wollte es herausfinden, um zu antworten und um die Person dazu zu bringen, sich selbst zu verraten. Ein angelito, wie Adrián mich, wenn auch ironisch, nannte, war ich sicher nicht. Rache war nicht umsonst süß. Auch wenn ich mir nicht ganz sicher war, ob man das als Rache bezeichnen konnte.
Ich nahm Chris den Brief aus der Hand und legte ihn auf meinem Schreibtisch, später würde ich ihn wegschmeißen oder eher verstecken, sonst würde ich die Sache nicht aufklären können. Lucie musste ihn nicht unbedingt in die Finger bekommen, auf eine Eifersuchtsszene hatte ich ehrlich keine Lust, sie reagierte immer etwas über.
Der Detektiv, der niemals schlief
rund um die Uhr auf heißer Spur
sein Leben war Risiko und Gefahr
doch er mußte immer wissen
was Sache war
– Udo Lindenberg
♦Adrián♦
Von wem stammst du ekelhaft nach Kokosnuss stinkendes Ding?
Ich starrte das DIN A 4 große Blatt Papier in Chris' Hand an, als ob es mir antworten würde. Tat es selbstverständlich nicht.
Dem Gespräch zwischen Noah und Chris folgte ich nur halbwegs, musste ich schon wegen des Briefes bestimmte Gefühle unterdrücken die längst der Vergangenheit angehören sollten. Chris Bemerkung, dass jemand aus der Clique heimlich in Noah verliebt sein könnte, machte die Sache auch nicht besser. Wie ein Lauffeuer drohten die Gefüle sich wieder in mir auszubreiten und mich erneut völlig einzunehmen. Dabei hatte ich sie erfolgreich eingesperrt. Aber ich würde nicht aufgeben. Ich war mit Linda zusammen und sie war ein nettes Mädchen.
Außerdem, ich kniff meine Augen zusammen und entließ den Brief noch immer nicht meinem stummen Verhör, stimmte irgendetwas nicht mit ihm. Mit dem reinen Weiß wirkte er so unschuldig, wie alle anderen Blätter. Trotzdem war er es nicht. Und das lag nicht daran, dass er maschinell gefertigt worden war. An ihm haftete etwas Bitteres, wie Gallensaft, der bei Übersäuerung hochkam und dann ganz langsam wieder die Kehle hinab lief. Um ihn aber richtig untersuchen zu können, musste ich warten bis Noah ihn weggeschmissen hatte. Bis dahin tat ich weiter so, als würde es sich bei diesem Liebesbrief um einen dummen Streich handeln.
Wer auch immer dich geschrieben hat, ich werde es herausfinden.
Deine Freundin ist in der Tat alles andere als
Pflegeleicht - sie ist saurer als Essig
Pflegeleicht - immer streng, niemals lässig
Pflegeleicht - sie wär mir viel zu stressig
- Die Ärzte
♪Noah♪
Spöttisch grinsend sah mich Adrián an. „Schmeiß ihn lieber gleich weg, bevor Lucie -“
„Bevor ich was?“ Erschrocken sah ich zur Tür, als die Stimme meiner Freundin von dort erklang. Mit zusammengekniffenen Augen und Hände in die Hüften gestemmt stand sie da und funkelte erst Adrián, dann Chris und dann mich an. Ihr Blick erinnerte mich an Supermanns Röntgenblick. Da dieser offensichtlich nicht funktionierte, verschränkte sie wütend die Arme vor ihrer Brust. Wie kam sie überhaupt hier rein? Oder besser gesagt; seit wann stand sie schon in meinem Türrahmen? Als ich kurz zu Chris und Adrián sah, bemerkte ich, dass auch sie ziemlich überrascht waren sie dort zu sehen. Lange konnte sie da aber noch nicht stehen, sonst wäre sie schon längst auf mich zu gestürmt und hätte sich den Brief unter den Nagel gerissen und gefressen – und ganz ehrlich? Ich konnte nicht sagen, ob sie es nicht auch wortwörtlich tun würde.
„Bevor du den Schmaltzbrief siehst“, antwortete ich wahrheitsgemäß. Ehrlichkeit war für mich sehr wichtig. Aber in manchen Momenten, wünschte ich mir das ich lügen konnte, aber darin war ich grottenschlecht, konnte nie ernst bleiben, grinste immer dümmlich und verhaspelte mich.
„Was für einen Schmaltzbrief?“, fragte sie, kam aber schon auf mich zu marschiert, offensichtlich hatte sie ihn schon entdeckt. Sie nahm ihn vom Tisch und begann sofort zu lesen. Noch ehe sie die erste Zeile beendet hatte, waren ihre blau- grauen Augen zu Schlitzen geformt, ihre Wangen färbten sich rot und das ganz sicher nicht vor Scham. Mit seltsamer Faszination beobachtete ich meine Freundin, wie sie den Liebesbrief zu Ende las und wartete darauf, dass sie ihn zusammenknüllen und essen würde. Leider tat sie es nicht, vor Frust hätte ich beinahe geknurrt. Ihr schien eher der Sinn danach zu sein, mich mit ihrem Blick zu erdolchen, erwürgen, erschlagen oder sonst was zu machen, Hauptsache ich würde dabei sterben – am besten noch langsam und qualvoll. Und das wegen eines Briefs. Für den ich nicht mal etwas konnte. Ja, Lucielle Falkenberg konnte manchmal ganz schön übertreiben, so wie jetzt gerade. Da ich ihr den Gefallen, tot umzufallen, nicht tat, änderte sie ihre Taktik.
„Was soll das?“, fragte sie und wedelte dabei mit dem Brief vor meiner Nase herum.
„Woher soll ich das wissen? Hab den Brief nicht geschrieben, ist eben ein Scherz“, sagte ich und wich ein paar Schritte nach hinten aus, so dass ich mit dem Rücken gegen Adriáns Knie stieß.
„Von wem?“
Ich zuckte mit den Schultern und kam mir, wie bei einem Verhör vor – okay, ich war in einem Verhör. Sie würde wohl, wie ihr Dad, mal eine gute Polizistin abgeben, mich nervte es ehrlich gesagt, besonders weil es dazu keinen Grund gab.
„Warum wolltest du ihn vor mir verstecken?“ Ihre Augen musterten mich eingehend, suchten nach einem Anzeichen, dass ich log. Tja, nur würde sie keins finden. Dieses mangelnde Vertrauen und das sie mir zutraute, sie zu belügen, tat weh und ärgerte mich maßlos. Trotzdem blieb ich ruhig, versuchte es zumindest. Durch herumbrüllen würde es nicht besser werden.
„Genau aus diesem Grund“, antwortete ich und unterdrückte nur schwer ein tiefes Seufzen.
Sie runzelte die Stirn. „Aus welchem Grund?“
„Das du wieder eine Szene machst.“
„Ich mache eine Szene?“ Ihre Stimme wurde schrill, sie kam näher auf mich zu und bohrte mir ihren spitzen, in Lila lackierten Fingernagel in die Brust. Hitchcock begann zu knurren. Ob wegen Lucies hoher und lauter Stimme oder weil sie mit ihrem Fingernagel versuchte, mich zu erstechen konnte ich nicht sagen, tippte aber auf beides. So jung und klein er auch noch war, aufpassen tat er auf mich, wie eine dänische Dogge. Ich warf einen kurzen Blick auf mein Bett und sah, dass der kleine Kerl schon aufgestanden war und Lucie mit bösen Blick fixierte. Sein Biss würde nicht weh tun, zwicken aber schon. Nur mit Mühe schaffte ich es, nicht laut los zu lachen, als ich mir vorstellte, wie Lucie quieken würde, wenn Hitchcock ihr in die Wade biss. Bekam aber sofort ein schlechtes Gewissen. Normalerweise passte der Spruch, Hunde die bellen, beißen nicht‘ ziemlich gut auf ihn, doch war ich mir gerade nicht so sicher, ob er nicht eine Ausnahme machen würde. Er konnte Lucie im Allgemeinen auch nicht wirklich leiden, weil sie immer mit viel zu hoher Stimme und in Babysprache mit ihm redete. Obwohl ich schon tausendmal gesagt hatte, dass sie es lassen sollte. Das Mädel war echt stur.
Weil der Schmerz ihres Fingernagels mir auf die Nerven ging und ich das Gefühl hatte, dass sie es nicht vielleicht doch noch schaffte zu meinem Herz durchzudringen, schob ich ihn weg. „Ja, tust du. Es gibt nicht mal einen Grund und du flippst schon wieder aus. Es ist nur ein verdammter Brief, der nicht mal ernst gemeint ist. Er ist nur ein dummer Scherz. Aber du tust gleich wieder so, als ob ich fremdgehen würde. Und genau deshalb wollte ich es dir nicht sagen, weil du aus Flöhe Elefanten machst. Mit dir kann man einfach nicht reden.“
Ich sah ihr an, wie es in ihr tobte. Sie machte den Mund auf, um etwas zu sagen, schloss ihn aber gleich wieder, weil nichts heraus kam. Einige Sekunden ging das so, bis sie mich wütend, beinahe hasserfüllt an funkelte und dabei den Brief auf den Boden fallen ließ. „So etwas muss ich mir nicht geben. Ich gehe!“ Ihre Stimme dröhnte mir in den Ohren, so laut und hoch war sie. Lucie drehte sich schwungvoll - beinahe zu schwungvoll, denn sie wäre fast gegen Chris gestoßen-, stürmte zur Tür und knallte sie zu.
„Tschüss. Und hör auf mit Türen zu knallen, danke“, antwortete ich und wurde dabei auch etwas lauter. Zum einen, damit sie mich auch verstand und zum anderen mochte ich es nicht, wenn jemand mit Türen knallte. Hitchcock bellte zweimal, als ob er mir Recht geben würde, sah einen kurzen Moment zur Tür, sprang anschließend vom Bett und kam auf mich zu. Ich hockte mich hin und kraulte ihm das linke Ohr - die einzige Körperstelle, die bei ihm weiß war.
„Wie hältst du das bloß mit dem Weib aus?“, fragte Adrián. Ich sah auf und direkt auf schwarz. Blinzelnd bemerkte ich dann, dass es der Stoff von Adriáns Jeans war und sich mein Kopf in einer recht befremdlichen Position befand; zwischen seinen Beinen. So diskret wie möglich, rückte ich weiter weg, sodass ich ihn besser sehen konnte. Lässig hatte er sich nach hinten gelehnt und die Arme hinter den Kopf verschränkt - mit einer Popcorntüte auf dem Bauch hätte er auch gut in einem Kino gepasst.
„Wir haben eine gut gefüllte Hausbar“, murmelte ich dann sarkastisch.
„Mach dir da nichts draus, auch unter Männer gibt es solche Exemplare“, versicherte Chris mir und wuschelte mir durchs Haar. Danach hob er den Brief auf und legte ihn auf meinem Schreibtisch zurück.
Ich lächelte ihn, wenn auch ziemlich ungläubig, an, wohl wissend, dass er es nur gut meinte. „Lasst uns mit Alex' Geschenk weiter machen“, wechselte ich daraufhin bewusst das Thema, da ich gerade keine Lust hatte darüber zu reden. Lucie war eigentlich ein tolles Mädchen und ich hatte sie echt gern, aber mit solchem Blödsinn ging sie mir tierisch auf den Sack.
♪♪♪
Da ich nicht mehr ganz bei der Sache war, verschoben wir das Weiterarbeiten an Alex‘ Geschenk auf morgen Nachmittag. Meine Gedanken schweiften sowieso ständig ab und kreisten um den Streit mit Lucie, weswegen ich mich nur noch mehr ärgerte. Eigentlich dauerte es lange, bis man mir meine gute Laune nehmen konnte, aber meine Freundin schaffte es, besonders mit solchen Aktionen, ziemlich schnell. Es war doch nur ein verdammter Brief und sie tickte gleich so aus!
Seufzend leinte ich Hitchcock an. Er musste mal und ich hoffte, durch einen kleinen Spaziergang meinen Kopf wieder freizubekommen. Adrián und Chris mussten ebenfalls los. Erstere hatte einen Anruf von seinem Dad bekommen, irgendeine Katastrophe in der Küche und Chris‘ musste zum Krankenhaus, wo er seinen Zivildienst verrichtete.
„Kopf hoch, Kleiner“, sagte Chris und wuschelte mir durchs Haar. „Sie wird bald wieder angekrochen kommen.“
Ich nickte und wollte gerade etwas erwidern, als Adrián mir zuvor kam: „Der Zicke solltest du mal kräftig den Arsch versohlen, dann lässt sie solchen Schwachsinn. Ich hab 'ne hübsche Neunschwänzige zuhause, die eignet sich dafür Bestens. Zur Not kannst du auch die flache Hand nehmen“, fügte er Augen zwinkernd hinzu. Nicht die Tatsache, dass er mir diesen Tipp gab, ließen meine Augen größer werden, sondern das ich es ihm ohne zu zögern glaubte. Auch, dass er eine Peitsche zuhause hatte. Bilder von ihm und seiner Freundin tauchten vor meinem geistigen Auge auf. Er, wie er ihr mit den Lederstriemen erst sanft, über ihren schon leicht geröteten Hintern fuhr und dann kurz darauf zu einem harten Schlag ausholte. Sie, wie sie dadurch den Rücken durchbog, die Hände fest in das Bettlaken krallt und den Kopf mit einem lustvollen Stöhnen nach hinten warf.
„Glaub mir, es ist noch viel heißer, als in deiner Vorstellung“, versicherte mir Adrián mit angerauter Stimme. Ich konnte weder verhindern rot zu werden, noch eine Gänsehaut zu bekommen.
Ertappt sah ich ihn dann an. „Ouhm ... okay.“ Sehr intelligent, ich weiß. Aber was sollte ich sonst sagen, wenn der beste Freund mal ebenso erläutert, dass er auf SM stand, es mit seiner Freundin sogar machte und mich dann auch noch bei der Vorstellung der beiden erwischte?
Chris sah Adrián kurzzeitig mit einem seltsamen Blick an, bevor sich ein Schmunzeln auf seine Lippen bildete und zum Glück meine peinliche Antwort beiseite schob. „Sind wir nicht noch ein wenig jung für SM?“
Adrián setzte sein typisches Grinsen auf. „Ist Alter nicht relativ?“ Bei ihm vielleicht. Ich war nicht prüde, aber SM- Praktiken mit 15? Gut, er wurde im November 16 und er wirkte äußerlich, wie innerlich älter, aber ... hm ... eigentlich wusste ich gar nicht wie ich darauf reagieren sollte. Etwas dagegen hatte ich nicht, jeder sollte das im Schlafzimmer tun, was er mochte und auch ruhig experimentierfreudig sein, trotzdem musste ich das erst mal verdauen.
„... verantwortungsbewusst“, sagte Adrián. Ups! Mist. Ich war mal wieder so weit in meinem Gedanken abgedriftet, dass ich meine Umwelt völlig ausgeblendet hatte. Dabei schien das Gespräch interessant zu sein und Chris schien wohl ebenfalls in Kontakt mit SM zu stehen. Damn! Das passierte mir oft. Ließ mich zu sehr von meinen Gedanken ablenken und vergaß die Welt um mich herum.
Ich setzte eine unbewegte Miene auf und tat einfach so, als ob ich mich bewusst zurückhielt, weil ich keine Ahnung von dem ganzen hatte. Was zum größten Teil auch stimmte. Nur durch Zufall hatte ich einen Blick auf eine Webseite werfen können, als ich meine Exfreundin dabei ertappte, wie sie sich gerade einen Beitrag über Schlaginstrumente durch las - sie war drei Jahre älter als ich.
„Na, angelito, waren wir mal wieder völlig weg gedriftet?“, fragte mich Adrián schief grinsend. Chris‘ Schmunzeln wurde breiter. Damn! Die zwei kannten mich einfach zu gut.
Um abzulenken, hockte ich mich hin und streichelte Hitchcock übertrieben enthusiastisch durchs Fell. „Ja, Hitchi, mein Kleiner, gleich kannst du die Büsche düngen.“ Aber auch er sah mich mit wissendem Blick an. Ich seufzte gräuschlos und schwor mir an meinem Pokerface zu arbeiten.
Und er lächelt, denn er weiß: Das Böse siegt immer!
Ja, so muss ein Cowboy sein:
dreckig, feige und gemein,
hejaho, hejaho, ouhouhouwou.
- Die Ärzte
♦Adrián♦
Grinsend fuhr ich die kurze Strecke von Noah zu mir nachhause. Provozieren war wie ein innerer Zwang. Wann immer sich mir eine Gelegenheit bot, nutzte ich sie. Nur um die Reaktionen dabei zu beobachten und in den Gesichtern abzulesen, was in ihren Köpfen vor ging. Natürlich entsprach nicht alles der Wahrheit. Linda und ich betrieben kein SM. Ich kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie für solche Praktiken nie bereit sein würde. Sie mochte es, wenn ich sie fester an den Haaren zog, mehr aber auch nicht. Das konnte man nun nicht unbedingt mit Sadomasochismus vergleichen. Und ich... Ich wusste nicht, ob ich auf so etwas stand. Hatte mich damit noch gar nicht auseinander gesetzt. Jemanden den Hintern zu versohlen, oder dergleichen, hatte sicher seinen Reiz. Aber ehrlich gesagt, empfand selbst ich mich dafür noch viel zu jung. Ja, auch ich verkorkster Kerl fand, dass ich für bestimmte Dinge noch nicht bereit war – vielleicht auch nie.
Genau darüber, hatte ich auch eben mit Chris gesprochen. Bei ihm wusste ich, dass er solche Vorlieben hatte, wenn auch nur durch Zufall. Es interessierte mich aber auch nicht weiter. Mein Hauptaugenmerk lag auf Noah. Mein kleines Gerücht erziehlte bei ihm genau die gewünschte Wirkung. Ich konnte in seinem Gesicht zwar nicht lesen, das konnte ich bei ihm nie, aber ich konnte sehen, wie es in seinem hübschen Köpfchen zu arbeiten begann. Und dass er sich vorstellte, wie ich Lindas Arsch mit einer Peitsche bearbeitete. Das hatte mich ehrlich gesagt angemacht. Nicht, wie ich Lindas Hintern malträtierte, sondern das er sich mich dabei vorstellte. Dieser ganze Bengel machte mich … Ich schloss kurz die Augen und rieb über sie. Mein verdammtes Herz begann wieder in einem völlig bekloppten Tempo zu schlagen. Als ich die Beziehung mit Linda vor einem halben Jahr einging, hatte ich gehofft, dass sich das mit Noah legen würde. Das ich mich nicht mehr so stark zu ihm hingezogen fühlte. Das diese verschissene Sehnsucht nach ihm endlich aufhörte. Und ich nicht ständig von ihm träumte. Träume in denen ich Dinge tat, die ich mich in der Wirklichkeit niemals traute. Weil ich ein verdammter Feigling war. Zugleich wusste ich, dass er mich dann wegstoßen würde … vielleicht nicht unbedingt von sich stoßen, schließlich war er aufgeschlossen. Aber er würde sich von mir distanzieren, weil er eben nicht diese Gefühle hatte. Und um mich nicht noch mehr zu verletzen, würde er sich von mir fern halten. Aber genau das würde mich zerreissen. Noah bedeutete mir einfach zu viel, um dieses Risiko eingehen zu können und das, obwohl ich eigentlich ziemlich risikobereit war.
Was sollte ich also tun? Weiter von Noah träumen und mich von der Sehnsucht quälen lassen? Mich mehr auf Linda konzentrieren und hoffen, dass die Gefühle auf sie gelenkt wurden? Wann sollte das sein? Ich hatte keinen blassen Schimmer.
Als ich in unsere Auffahrt fuhr, war mein Grinsen gestorben und ich wusste, dass mein Padre den ganzen Frust abbekommen würde, obwohl er nichts dafür konnte. Es tat mir jetzt schon leid, dennoch würde ich nichts dagegen tun können. Viel schlimmer noch, ich würde mich nicht mal entschuldigen. Und warum? Weil ich ein verkorkster Drecksack war. Ich schob mein BMX in die Garage und ging rein.
Da wollte ich nur den besten Freund ablenken, weil er eine Funzel als Freundin hatte, merkte dabei, dass ich ihm immer noch verfallen war und er hatte kein verdammten Schimmer.
Meine Freunde stehen auf S&M.
Meine Freunde sind nicht gerade verklemmt.
Sie bleiben tagelang zuhaus',
peitschen sich gegenseitig aus,
und sie zerschneiden sich mit Glas.
Dürfen die das?
Ja, dürfen die das?
- Die Ärzte
♪Noah♪
Ich machte eine große Wallrunde mit Hitchcock, doch meinen Kopf bekam ich nicht wirklich frei. Eher im Gegenteil, er wurde noch voller. Zu dem unsinnigen Streit mit Lucie, schwirrten jetzt auch Gedanken um Adrián und seine sexuellen Vorlieben. Sie gingen mich nichts an, dass wusste ich, dennoch dachte ich darüber nach und ganz besonders über meinen besten Freund selbst. Das Dunkle, Verborgene, Verbotene, Bizarre und manchmal auch Abnormale zog ihn an, schon immer. Aus Regeln machte er sich wenig. Er war ein Gefühlskamel, Besserwisser und nervtötender Analyst der oftmals alles bis ins kleinste Detail analysieren musste. Ergab es für ihn keinen Sinn, dann war es Schwachsinn und er beschäftigte sich nicht weiter damit. Langweilte er sich, konnte er richtig ungemütlich werden, das galt besonders in der Schule. Er fluchte viel, sehr viel sogar, vergab manchmal nicht sonderlich nette Spitznamen und stichelte gern - besonders ich war sein Lieblingsobjekt. Alles im Allem eine ziemlich anstrengende, nicht immer sympathische, öfter auch verletzende, sehr ehrliche und direkte Person und trotzdem mochte ich ihn sehr und wollte ihn als besten Freund nicht missen. Denn er war auch sehr loyal, verlässlich, humorvoll und ließ niemanden spüren, dass er mit seinem IQ von circa 190 um so viel intelligenter war, als andere und sich mit Voltaire, Sir Isaac Newton und einigen anderen die Hand reichen konnte. Er hasste es, als Genie bezeichnet zu werden und sein eidetisches Gedächtnis bezeichnete er auch oftmals als Fluch. Auch sagte er oft, besonders wenn wir uns gestritten hatten, dass er ohne mich niemals so einen großen Freundeskreis haben würde, weil er ein viel zu fieser Drecksack war. Das stimmte nicht, da war ich mir sicher, schließlich hatte er seine beste Freundin Püppie auch alleine kennengelernt. Außerdem fand ich gar nicht, dass ein fieser Drecksack war. Er war halt er, ich mochte ihn so, wie er war. Sein Interessenspektrum war auch ziemlich groß. Besonders interessierte er sich für die Psychologie und Biologie, speziell beim Menschen, in allen ihren Facetten und Abgründen. Er las Bücher über Parapsychologie, Kriminologie, Verhaltensbiologie, Kognitionswissenschaft, Soziologie, Neurobiologie und sogar Neurowissenschaft. In ein paar davon hatte auch ich geblättert, weil es schon ziemlich interessant war, manches verstand ich, aber es war auch verstörend und besonders Neurowissenschaft machte mir ein Knoten ins Hirn. Tja und nun kam noch SM hinzu. Ob er es wirklich schon tat? Mit 16 war er echt noch ziemlich jung. Zwar wusste ich jetzt nicht ob und wie die Altersbegrenzung war, aber irgendwie glaubte ich nicht, dass so junge Menschen schon reif dazu waren. Anderseits, es ging hier um Adrián. Als ich noch Zeichentrickfilme schaute, beschäftigte er sich mit dem Verhalten des Menschen, fragte sich warum eine Person in einer bestimmten Situation so reagierte oder wie jemand auf etwas reagierte, was nicht seiner Norm entsprach und er war frühreif. Es konnte aber auch sein, dass er es nur gesagt hatte, weil er sehen wollte, wie wir darauf reagierten. Das passte auch zu ihm - wo wir wieder bei der Verhaltensforschung waren. Unwillkürlich zogen sich meine Mundwinkel nach oben. Adrián war schon eine Klasse für sich.
'Cause we lost it all
Nothing lasts forever
I'm sorry, I can't be perfect
Now it's just too late
And we can't go back
I'm sorry, I can't be perfect
– Simple Plan
♦Adrián♦
Die Küche sah aus, wie ich mich fühlte, das reinste Chaos.
Wie nicht anders zu erwarten, war ich kaum im Haus angekommen, da stritt ich mich mit meinem Padre. Der Streit war kurz, aber heftig, wie ein Tornado. All den Frust, den ich wegen den Gefühlen zu Noah hatte, ließ ich an ihm aus. Als Strafe durfte ich nun sein Schlachtfeld aufräumen und ich wünschte mir bei jedem verdammten Trümmer welches ich beseitigte, dass auch bei mir innerlich endlich Ordnung herrschte. Reines Wunschdenken.
Ja, es war scheiße alles an Padre auszulassen. Natürlich bereute ich es, immer. Trotzdem würde ich mich nicht entschuldigen. Nicht, weil ich mich zu fein dazu fühlte. Sondern, weil ich unfähig war. Was nutzte mir ein überdurchschnittlicher IQ, wenn ich dann doch zu blöd war mich zu entschuldigen?
Padre hatte versucht Pfannkuchen zu machen. Der Teig war kurioserweise überall in der Küche verteilt, sogar an der Deckenlampe. Und völlig versalzen. Die ungenießbaren, schwarzen, halb rohen Pfannkuchen lagen zerstückelt auf einem großen Teller. So etwas konnte man nicht mal Schweinen zu fressen geben und die waren bekanntlich Allesfresser. Padre mochte ja viele Talente haben, kochen gehörte definitiv nicht dazu.
Kurz überlegte ich, ob ich die ganze Rotze nicht ins Klo schütten und somit durch die Kanalisation jagen sollte, vielleicht freuten sich die Ratten darüber - eher kamen sie hoch, um mich zu Tode zu quälen- also entschieden ich mich doch für den Abfalleimer. Da dieser aber auch schon fast kotzte, nahm ich ihn und ging damit zum Komposthaufen im Garten.
Als nächstes räumte ich die Milch, das Mehl, Eier und Salz weg, damit ich dann die Arbeitsplatten sauber machen und abwaschen konnte. Da mir mit 1. 78 Meter noch ein gutes Stück zur Deckenlampe fehlte, stieg ich auf einen Stuhl, um auch dort das Geschmadder wegzuwischen. Nachdem ich mit dem Bodenwischen fertig war, beschloss ich, dass Padre Küchenverbot hatte. Nie wieder würde ich ihn hier drinnen je wieder etwas kochen oder braten lassen. Essen war das einzige was er hier noch durfte. Zwar würden wir uns dann wieder streiten, aber lieber das, als wenn er die arme Küche nochmal so missbrauchen würde - ihr Wehklagen hörte ich immer noch. Dilettant war für ihn noch kein Ausdruck. In dieser Sache konnte er sich mit Noah die Hände reichen. Nur das dieser immerhin wusste, dass er in der Küche eine Katastrophe war und sie deshalb mied.
Noah... Ich schloss die Augen, während mein Herz wieder ausflippte.
Nach diesem Streit brauchte ich ihn. Ja, richtig. Ihn. Und nicht meine Freundin. Nicht Linda die mich mit küssen, Massage oder Matratzenmambo ablenken konnte. Nein. Einfach nur Noah. Mi angelito. Mit einem Mal war mir klar, was ich zu tun hatte.
Selbst wenn ich bis zu meinem Tod allein sein würde, so lang Noah in meinem Kopf, in meinem Herzen, in mir, herumspukte, konnte ich mit niemand anderem eine Beziehung eingehen - ich mochte ja ein fieser Arsch sein, verkorkst, garstig und schadenfroh, aber ich besaß dann doch so viel Herz, um nicht mit Lindas Gefühlen zu spielen und sie nicht nur als leichten Fick zu betrachten.
Jetzt musste ich nur noch wissen, wie ich es ihr bei brachte, aber erst mal brauchte ich Noah.
♪Noah♪
Als ich am Haus meiner besten Freundin vorbei kam, beschloss ich spontan zu ihr zu gehen. Eigentlich würden wir uns auch nachher auf dem Habicht Sportplatz sehen, doch ich wollte vorher noch mit ihr reden ... ja, ich geb es zu, ich wollte mich bei ihr wegen Lucie aus heulen. Hey, sie war ein Mädchen und wer konnte mir besser erklären, warum sie wegen nichts so ausgeflippt war und ob ich vielleicht falsch reagiert hatte? Konnte ja auch sein, oder? Obwohl Mizie nicht ganz objektiv war und fand, dass Lucie und ich nicht zusammenpassten. Das aber auch nur, weil meine Ex Hannah zu ihren besten Freundinnen gehörte.
Ich hob meine Hand, mit ausgestreckten Zeigefinger und drückte den Klingelknopf. Ein Glocken ähnliches Ding Dong erklang. Wenige Sekunden später öffnete sich die Tür, ein junger, hochgewachsener Mann mit tiefbraunen Augen, goldbrauner Haut, ausgeprägten indianischen Zügen (er und seine Familie gehörten zu den Stamm der Mohawks) und türkies - schwarzem Iro auf dem Kopf, grinste mich an. Zippo. Mizies zwei Jahre älterer Bruder und der Alpha unserer Clique.
„Noah, kleine Flitzpiepe, alles klar?“, begrüßte er mich und ging in die Knie, als Hitchcock ihn Schwanz wedelnd ansprang - etwas, was ich versuchte, ihm abzugewöhnen. Aber bevor ich ihn ermahnen konnte, nahm Zippo ihn auch schon auf den Arm.
Ich unterdrückte ein Seufzen. „Jep und bei dir?“
Sein Grinsen wurde breiter. „Ach komm, Flitzpiepe, du wirst es ihm schon noch abgewöhnen. Stimmt‘s Hitch?“ Er kraulte dem schwarzen Fellknäuel den Kopf. Dieser ließ es nur zu gerne geschehen und sah mit wissendem Blick zu mir. Jaja, Schlitzohr, du weißt genau, was du gemacht hast. Das Wort Flitzpiepe hatte Zippo echt gepachtet, es verging kein Tag, an dem er es nicht bei mindestens einem aus der Clique benutzte. Er meinte es aber nicht böse, bei ihm war es einfach nur ein Spitzname für jeden.
Ich nickte grinsend und fragte dann: „Ist Mizie in ihrem Zimmer?“
Zippo schüttelte daraufhin den Kopf. „Der Backjunkie hat wieder seiner Sucht nachgegeben.“ Mit einem Kopfnicken bedeutete er mir mit ihm zukommen. Ich folgte ihm durch den in hellgrün gehaltenen Flur, durch das große sonnengelbe Wohn- und Esszimmer, welches man durch eine Schiebetür abtrennen konnte, in die weiß- rote Küche. Das ganze Haus glich einer Farbexplosion, denn jedes Zimmer war in einer anderen Farbe gestrichen. Ich nannte es immer das Regenbogenhaus, weil es genauso viele Farben beinhaltete wie er.
Erst in der Küche drang ungewöhnlich leise Die Ärzte mit Unrockbar an meine Ohren. Diese Band war mit der Zeit zu unserer 'Cliquenband' mutiert, weil jeder sie hörte. Zippo war auch schon auf etlichen Konzerten von ihnen.
„Schwesterherz bist du krank?“, fragte Zippo sie, während er Hitch auf den Boden absetzte.
Sie zuckte zusammen und sah erschrocken auf, weil sie offensichtlich ganz im Teig kneten versunken war. Etwas Mehl hing ihr im schwarzen Pony, an der rechten Augenbraue und an der Nasenspitze. Auch ihr grünes Top hatte eine Menge abbekommen. „Wieso?“, fragte sie verwirrt. Mich hatte sie noch gar nicht entdeckt. Wenn Mizie backte, war sie in einer anderen Welt, vielleicht auch anderen Universum. Es gab nur sie, den Teig und was daraus mal werden würde.
„Ärzte im Flüsterton? Und dann auch noch Unrockbar?“ Er sah sie an, als zweifelte er ernsthaft an ihrem Geisteszustand.
Sie zog die dunklen Augenbrauen zusammen und giftete den CD- Player an. „Dann sag das diesem Ding da!“ Zur Bekräftigung deutete sie noch mit einem Zeigefinger auf ihn.
„Man zeigt nicht mit dem nackten Finger auf angezogene Leute oder wehrlose Geräte“, kam es prompt von meinen Lippen.
Erst jetzt entdeckte sie mich. „Noah!“ Ihre Stimme war beinahe ein Quietschen und sie stürmte auf mich zu, um mich zu umarmen, dabei stieg eine kleine weiße Wolke zwischen uns nach oben und ich wusste, dass mein dunkelblaues T- Shirt ebenfalls weiß war. Zippo ging derweil zu einem Schrank, holte ein Schälchen heraus, füllte Wasser hinein und stellte es Hitchcock vor die Pfoten, welcher sofort zu trinken begann. Danach widmete er sich dem CD- Player.
„Hey Cokenosegirl“, begrüßte ich sie grinsend und mein Grinsen wurde gleich noch eine Spur breiter, als mir durch den Kopf schoss, dass dies ein Songtitel sein könnte. Ohne es zu wollen, begann mein Hirn einen Text zu basteln. Hey Cokenosegirl,
Your life likes your curly hair,
You know that it's wrong what you're doing
But you do it anyway, without regard to losing ...
„He!“ Sie wollte empört klingen, fing aber an zu lachen, löste sich von mir und wischte sich das Mehl von der Nasenspitze. „Alles gut, Hübschi?“
Ich nickte. „Jepp. Und bei dir, Beauty?“
Gerade als sie etwas erwidern wollte, wurden ihre dunkelbraunen Augen plötzlich seltsam riesig und ihr Kopf wanderte in Zeitlupe nach unten. Kurz darauf folgte ein Quietschen. „Hitchiiiiii! Komm her du knuddeliges, knuffiges, schwarzes Fellknäuel.“ Dieser ließ sich mehr als gern, fiepsend hochnehmen und knuddeln.
Schmunzelnd ging ich zu Zippo, um zu fragen, ob er schon herausgefunden hatte, was mit dem Player los war. Die Knuddelattacke von Mizie konnte eine Weile dauern.
Wie ein Chirurg bei einer OP musterte er den CD- Player - die Musik war inzwischen ganz aus.
„Und Doc, ist es was Ernstes? Wird er durchkommen?“
Seine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. „Ja, wird er, aber ich hab ihn vorsichtshalber trotzdem unter Narkose gesetzt.“ Er kniff die Augen etwas zusammen und besah sich die Knöpfe für die Lautstärkeeinstellung genauer. „Eigentlich ist alles im Grünen, aber die Taste für‘s lauter machen klemmt, sie lässt sich nicht runter drücken.“
Meine Augen glitten zum besagten Knopf, an dem oberflächlich betrachtet nichts Verdächtiges dran war. Ohne es zu wollen hob ich meine Hand mit ausgestreckten Zeigefinger und drückte drauf. Noch im gleichen Moment fragte ich mich, warum ich das tat. Nur schwer widerstand ich den Drang, mir mit der flachen Hand gegen die Stirn zu schlagen. Zippo hatte mir gerade erklärt, das der Knopf nicht funktionierte und ich musste trotzdem drauf tatschen. So dämlich, echt.
Zippo schnaubte belustigt. „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, was?“
„Jep“, meinte ich schmunzelnd. „Ich glaube aber, da steckt irgendetwas im Zwischenraum fest. Vielleicht Krümel, oder so.“
Mit einem kurzen Blick zu seiner jüngeren Schwester, die noch immer meinen Hund knuddelte, nickte er zustimmend. „Sie würde es sogar noch schaffen, Krümel in einer Vakuumverpackung zu streuen, wenn sie gar nicht anwesend ist. Ich geh mal 'ne Nadel suchen.“
„Ich zeig dir gleich, was ich alles mit Krümeln machen kann“, rief Mizie ihm hinterher, als er aus der Küche ging. Sie setzte Hitchcock wieder auf den Boden, der sich erneut dem Wasser widmete.
„Irgendwann klau ich-“ Sie wurde durch das Klingeln meines Handys unterbrochen. Ich holte es heraus, sah aber auf dem Display, wer mich anrief, bevor ich ran ging. Augen rollend steckte ich mein Handy wieder ein. Mit Lucie zu telefonieren hatte ich gerade Bock, wie meine Finger in einer Kreissäge zu halten.
„Was hat die nun schon wieder zu zicken gehabt?“, fragte sie und stemmte ihre Hände in den Hüften. Sie ging grundsätzlich davon aus, dass Lucie die Schuldige an unseren Streitereien war. Ganz unrecht hatte sie da nicht, dennoch musste ich Partei für meine Freundin ergreifen.
„Warum die? Kann ja diesmal auch ich gewesen sein.“
Mizie sah mich mit einem Blick an, als ob ich ihr gerade weismachen wollte, dass ich heute morgen mit einem Alien gefrühstückt hatte.
Ich seufzte. „Wir haben uns wegen einem Liebesbrief gestritten.“
Sie hob eine feine Augenbraue. „Was für ein Liebesbrief denn?“
„Den hatte ich vorhin in der Innentasche meiner Lederjacke gefunden. Keine Ahnung von wem der ist. Ich wollte ihn verschwinden lassen, bevor Lucie ihn entdeckt, aber sie stand plötzlich in meinem Zimmer, las den Brief und flippte aus“, erzählte ich ihr die Kurzform des kleinen Spektakels.
Sie schüttelte mit dem Kopf. „Du solltest die Tussie endlich abschießen. Sie hat dich nicht verdient.“
„Mizie“, sagte ich tief seufzend, weil sie diese Leier jedes Mal brachte und es langsam echt nervte.
„Was denn? Isso!“ Ihr Fauchen glich dem einer wütenden Löwin, genau wie ihr Gesicht.
Nach kurzem Blickduell kam sie auf mich zu, legte ihre Stirn gegen meine und ihre Hände um meine Taille. „Mein Nono ist eben viel zu gut für diese Tusse“, sagte sie und ihre Stimme, wie ihr Gesicht wurde wieder sanft.
Statt das Gesicht zu verziehen, weil sie mich Nono nannte, was ich nicht leiden konnte, lächelte ich. „Die 'olle Tusse' hat aber auch sehr viele gute Seiten.“
Mizie presste beide Lippen zusammen, wohl um sich daran zu hindern, etwas zusagen, was wieder gegen Lucie sein könnte. Da ich sie aber kannte, wusste ich, dass sie es nicht schaffen würde. Sie musste ihre Meinung immer sagen, sonst würde sie daran ersticken. „Hör auf mit dem Schwanz zu denken, Nono.“ Respekt, sie hatte es 15 Sekunden durchgehalten.
„Dann hör du auf, mich Nono zu nennen“, konterte ich.
„Nö, dass ist niedlich. Früher hat‘s dich auch nicht gestört.“
„Da war ich auch sechs und ein Kind. Jetzt bin ich sechzehn und ein Mann. Männer wollen nicht niedlich genannt werden.“
Kichernd löste sie sich von mir. „Das willst du erst noch werden.“
Ich rollte mit den Augen. „Doofnuss.“
„Hast du den Liebesbrief mit?“
Nickend holte ich ihn aus meiner Hosentasche und gab ihn ihr. Da ich mir sicher war, dass er auch nicht von ihr war, konnte sie mir dabei helfen, herauszufinden von wem er stammte.
„Da ist jemand aber sehr ... romantisch veranlagt“, meinte sie, während sie las.
„Interessant formuliert.“
Sie zuckte mit den Schultern. „Hab heut meinen Sozialen. Aber ganz ehrlich? Wenn er nicht am PC getippt worden wäre, könnte er glatt von Lucie stammen.“
Ich schnaubte belustigt. „Das Gleiche hat Adrián auch gesagt.“
„Anscheinend langweilen sich aber einige Kerle bei uns. Kein Weib, nicht mal unsere hoffnungslose Romantikerin Maria, würde so was Schnulziges verzapfen. Und ein Fremder wäre auch aufgefallen.“
„Auch das hat el Temperamente gesagt.“
Sie gab mir den Brief schelmisch grinsend zurück. „Rián und ich haben 'ne Kopfverbindung, you know?“
Schmunzelnd schüttelte ich mit dem Kopf. „Ich konnte mir das aber auch schon denken.“
„Und jetzt willst du herausfinden wer den Brief geschrieben hat?“
Ich nickte und mein Grinsen wurde breiter und hinterlistiger. „Rache ist eben süß, you know?“
Mizie lachte. „Da haben Sie Recht, Doc Watson.“
♪♪♪
Da ich in der Küche, außer den Tisch zu decken, ziemlich unbrauchbar war, half ich Zippo das Radio zu reparieren. Na ja, helfen und reparieren klang ein wenig übertrieben. Ich hielt es fest, damit er mit der Nadel die Krümel herauspopeln konnte. Mizie kümmerte sich wieder um ihren Teig, aus dem später Regenbogenmuffins werden sollten. Eigentlich nannte man diese kleinen Kuchen wohl eher Papageien- Muffin. Doch als überzeugte Tierschützerin weigerte sie sich strikt, sie so zu nennen. Mir war beides recht, so lang ich später welche davon futtern durfte.
Als wir glaubten, den letzten Krümel aus dem Radio entfernt zu haben, was erstaunlicherweise nicht wenige waren, stellte ich es auf die Theke zurück und Zippo drückte auf den Playknopf. Wie zuvor erklangen Die Ärzte leise, beinahe flüsternd, doch durch das stete Drücken des Lautknopfs wurde die Küche wieder mit Farin Urlaubs Stimme erfüllt.
„Operation geglückt, Patient gerettet. Gute Arbeit, Doc Johnson“, sagte ich grinsend zu Zippo.
„Ohne Sie hätte ich das nie geschafft, Doc Wagner“, antwortete dieser, bedeutete mir meine Hand zu heben, um mit mir einzuschlagen. Danach machte er die Musik wieder etwas leiser als Zimmerlautstärke, aus Rücksicht auf Hitch, da er ein viel feineres Gehör, als wir hatte und alles doppelt so laut hörte. Und weil er und Mizie als Werwölfe ein ebensolches Gehör hatte.
„Die sind beide doof, stimmt‘s Hitchi?“, meinte Mizie und ich konnte das Kopfschütteln aus ihrer Stimme hören. Ich drehte mich um und sah, dass sie sich zu Hitchcock gesetzt hatte und seinen Kopf kraulte.
„Sagt gerade die, wegen der wir die OP erst machen mussten.“ Zippo ging zum Herd und öffnete diesen - wohl um zu sehen, wie weit die Muffins schon waren. Sofort kam eine süße Duftwolke nach frisch Gebackenen heraus und umnebelte uns. Mein Magen meldete sich prompt, obwohl es noch gar nicht so lang her war, dass ich Frühstück gegessen hatte.
„Mach den Herd wieder zu, die Muffins brauchen noch ein Weilchen“, sagte Mizie. „Vom Anstarren wird‘s nicht schneller gehen. Außerdem müssen sie eh erst abkühlen, bevor wir sie essen können, dass weißt du doch“, fügte sie hinzu, als ihr Bruder die Ofentür nicht schließen wollte und begonnen hatte die Muffins zu fixieren.
Grimasse schneidend klappte er die Tür wieder hoch und gesellte sich zu mir.
„Wolltest du Nono nicht sowieso noch was fragen?“
Verwirrt runzelte Zippo die Stirn und schien nicht zu wissen, was seine Schwester von ihm wollte. Doch nach einem Augenblick glättete sie sich wieder. „Stimmt“, sagte er und sah mich direkt an, ein kleines Lächeln auf den Lippen. „Ich hab mich an einem Songtext versucht und wollte dich fragen, ob du ihn dir mal ansehen könntest?“
Ich lächelte zurück. „Gern.“ Es freute mich immer sehr, wenn mich jemand um Rat fragte, denn ich half gern. Besonders bei Musik - meinem Kerngebiet. Noch bevor ich schreiben konnte, textete ich meine eigenen Lieder, die ich meiner Mum diktierte, damit sie diese aufschrieb. Das Songtexten war für mich, wie Tagebuch schreiben. Die meisten schrieben ihr Erlebtes, als Autobiografie auf, ich machte Lieder daraus. Natürlich klangen meine ersten Texte nicht besonders gut und sie brachten mich auch eher zum lachen, dennoch mochte ich sie und ich würde sie nicht wegschmeißen, schließlich waren sie ein Teil von mir. Und irgendwann, wenn ich eine Familie hatte, würde ich sie meinen Kindern zeigen und vererben.
♪♪♪
„Und das ist wirklich dein erster Songtext?“
„Ja, warum?“ Die Unsicherheit und Nervosität in seiner Stimme ließ mich aufschauen, weil das so gar nicht zu Zippo passte.
„Weil er gar nicht danach klingt.“ Das konnte ich mit Fug und Recht behaupten, weil ich in meinem bisherigen Leben schon viele gelesen hatte. „Der ist wirklich gut.“ Was ich von einigen anderen leider nicht sagen konnte, die waren ziemlich verbesserungswürdig und bei ein paar half nicht mal das. Zippos Text brauchte kaum Verbesserung - er gehörte offensichtlich zu den Naturtalenten. Sein Text selbst war sehr gesellschaftskritisch. Er prangerte die Situation auf Deutschlands Straßen an und das viel zu wenig dagegen getan wurde. Lieber sah man konsequent weg und widmete sich belanglosen Themen, wie etwa ob sich irgendein Promi irgendetwas an seinem Körper hat herumschnibbeln lassen. Er benutzte eine deutliche, direkte und an manchen Stellen auch derbe Sprache. Diese ließ den Text aber keinesfalls plump und dumm klingen. Im Gegenteil, die Worte blieben besser haften und hallten viel stärker im Inneren nach. Ja, sein Songtext gefiel mir wirklich sehr.
“Meinst du das wirklich ernst?”, harkte er nach.
Erneut sah ich auf, noch immer irritiert von seiner unsicheren Art - was ihn aber nur um so sympathischer machte. Ich gab ihm seinen Text wieder und lächelte ihn aufrichtig an. “Ja, das ist mein voller Ernst. Ich würde nur zwei Wörter ändern, damit's runder wird.”
“Das Eckige also ins Runde”, meinte er daraufhin und auf seinen Lippen schlich sich wieder das altbekannte schelmische Grinsen, mit welchem er selbst als runzliger, alter Zwerg noch jungenhaft aussehen würde.
Ich lachte. “Ja, so kann man es auch nennen.”
“Hilfste mir dabei?”, fragte er, setzte sich auf seinen Schreibtisch und deutete mir mich neben ihn zu setzen. Was ich auch prompt tat.
“Übrigens, wegen dem Liebesbrief, ich würde mein Hauptaugenmerk auf Daniel, Richi, Moritz oder Tim legen. Bei denen könnte ich mir echt vorstellen, dass die so ein Blödsinn verzapfen.”
“Danke für den Hinweis, Lestrade”
I've been meaning to tell you
I've got this feelin' that won't subside
I look at you and I fantasize
You're mine tonight
Now I've got you in my sights
- Eric Carmen
♦Adrián♦
Als ich um die Ecke bog, zog ich abrupt die Bremsen meines BMX. Vor dem Hauseingang der Wagners stand Noah, lächelnd wie eigentlich immer, Hitchcock wuselte zwischen seinen Beinen herum. Und vor ihm ein anderer Bengel. Braune kurze Haare, ungefähr im gleichen Alter, vielleicht auch älter und ein ganzen Kopf größer als er. Ich kannte ihn nicht. An sich auch nicht weiter tragisch. Mir gefiel aber nicht, wie er Noah ansah. Als ob er ihn jeden Moment die Klamotten vom Leib reißen und auf der Straße flach legen wollte, ohne Rücksicht auf Verluste. Noah merkte davon nichts, wirkte viel zu unschuldig und arglos. Meine interne Alarmanlage plärrte los und ich fuhr sofort zu den beiden hin und blieb neben Noah stehen.
Beide zuckten erschrocken zusammen, wobei ich nur auf Noah achtete. Seine Augen wurden zu riesige Ametyste, die durch das Sonnenlicht faszinierend funkelten. Ich zog ihn wegen seiner violetten Augenfarbe oft auf; wenn man zu lange in ihnen schaute, würde man nur noch Lila sehen oder Lila wäre eine Mädchenfarbe, ergo hätte er Mädchenaugen - in Wahrheit konnte ich mich an ihnen nicht satt sehen. Sie begegneten mir oft in meinen Träumen. Mal groß, unschuldig, aber neugierig. Mal verrucht und verführerisch. Und oft voller Liebe und Zärtlichkeit. Leider waren es nichts als Träume, die nie wahr werden würden. Nicht alle Träume erfüllten sich, manche blieben es einfach, flogen um dich herum, wie unsichtbare Bücher und wann immer du wolltest, würdest du dich in ihnen verlieren können. Sie halfen auch, die eigene Welt bunter zu machen, wenn diese an Farbe verlor. Vielleicht hielten sie aber auch davon ab, das, was man wollte, auch zu tun. Möglich war es, aber ich hatte keine Zeit, um darüber nach zu denken. Noahs leicht geöffneter Mund, weckte den Drang in mir, ihm einfach meine Zunge in den Hals zu rammen. Ich biss mir auf die Unterlippe, um es nicht zu tun. Außerdem musste ich diesen Kackvogel, vor ihm, vertreiben - auch wenn mich der Gedanke nicht los ließ, dass der Blödbatzen sich trotzdem an seine Fersen heften würde und Noah würde es zu lassen, erst recht wenn dieser hier erst hergezogen war – Angelito war einfach zu lieb. Aber noch viel schlimmer; der Ekel würde sich später auf Noah einen runter holen - allein dieser Gedanke, ließ mich einen Mordplan schmieden.
“Ich bind' dir nochmal ein Glöckchen um den Hals”, sagte Noah und schüttelte den Kopf, wie um den Schrecken abzuschütteln.
“Versuch es doch.” Herausfordernd sah ich ihn an, ein schiefes Grinsen auf den Lippen.
“Fühl dich nicht zu sicher, eines Tages wirst du damit noch aufwachen.”
“Die Spannung steigt.”Wenn du nachts in meinem Zimmer auftauchen würdest, würde ich Besseres mit dir anstellen, als das du mir ein Glöckchen um den Hals bindest. Meine Gedanken und der viel zu lange Blick in seine Augen ließen den Drang noch stärker werden. Maldita sea... Scheiß Herz hör auf! Und du auch, verdammter Körper! Kurz überlegte ich, einfach zu fliehen und dabei den Eierkopp als Lenkerfigur mitzunehmen, doch ich entschied mich dagegen. Sonst musste ich mir demnächst noch ein neues BMX kaufen.
Noah räusperte sich leise. “Das ist Timon”, sagte er und zeigte auf diesen. “Timon, Adrián der Erschrecker”, deutete er dann auf mich.
Ich schnaubte belustigt. “Und wo ist Pumba?”
“Ríán!” Er boxte mich gegen die Schulter.
Schmierlappen winkte nur lachend ab. “Kein Problem, das höre ich öfter.”
Ich sah wieder zu Noah. “Hast du gehört, Linda?” Den Namen meiner Freundin betonte ich bewusst, weil sonst sie es war, die mich boxte, wenn ich nicht besonders nett zu meinen Mitmenschen war - was sehr häufig vor kam ... eigentlich immer.
Er verdrehte die Augen, konnte sich ein Schmunzeln aber nicht verkneifen. “Wie gesagt”, er wandte sich Blödbatzen wieder zu, “wenn du willst, kann ich dir gerne ein wenig Gardelegen zeigen. Und später, wenn die Ferien vorbei sind, das Gym.”
Also war der Idiot doch erst hierher gezogen. Ich zog eine Augenbraue hoch. “Was willst du hier denn zeigen?”
“Ein paar Sehenswürdigkeiten. Und die wichtigsten Läden. Eben einfach die Stadt, damit er sich besser zurecht findet”, antwortete er mir und sah mich verständnislos an, so als ob er sich fragte, wie ich so eine doofe Frage stellen konnte.
“Dafür gibt's die Touristinformation im Rathaus.”
“Sie gehen aber nicht mit ihm herum.”
“Brauchen die auch nicht. Kein halbwegs intelligenter Mensch verläuft sich in Gardelegen.”
“Ortsfremde aber schon und das hat nichts mit Intelligenz zu tun.”
“Wir sind hier aber in Gardelegen und nicht in Berlin.”
Noah seufzte tief. Ich liebte es, ihn zu ärgern, selbst mit völlig belanglosem Zeugs – gerade ganz besonders, weil seine Konzentration dann auf mir lag und nicht auf diesem Trollkopp.
“Ich muss dann mal wieder rein. Muss noch einige Kisten auspacken”, sagte Blödbatzen und setzte sich in Bewegung.
“Komm einfach vorbei, wenn du Zeit hast und ich führe dich ein bisschen herum”, bot Noah ihm erneut an. Du bist viel zu lieb. Und manchmal auch naiv.
Er nickte lächelnd. “Mach ich. Danke.” Ich werde dich sicher nicht mit ihm allein lassen, du Ekel.
“Du könntest ruhig ein wenig netter sein”, sagte Noah, nachdem Blödbatzen die Straße überquert hatte und hob den inzwischen schlafenden Hitchcock hoch.
“Nett? Ist das 'ne Krankheit? Steck mich bloß nicht damit an!”
Er schüttelte schmunzelnd den Kopf. “Lass uns rein, Hitch braucht sein Körbchen und ich hab immer noch Hunger. Und du hast bestimmt noch nichts zum Mittag gegessen”, fügte er hinzu und steuerte den Eingang seines Hauses an.
Grinsend stellte ich mein BMX an das Garagentor und folgte ihm.
♦♦♦
“Und wie groß war die Katastrophe deines Dads?”, fragte Noah.
Schmunzelnd beobachtete ich, wie er auf Zehenspitzen versuchte eine Packung Spirellis von ganz hinten eines Küchenschrankes zu holen. Dabei fluchte er leise vor sich hin, welcher Troll die Nudeln soweit nach hinten gepackt hatte. Ich war der Troll, vorgestern, als ich ihm beim Einkaufen geholfen hatte, hatte ich die Nudeln soweit nachhinten geschoben, wie es ging - und das nur um ihn zu ärgern und um ihm näher zu kommen, als gut für mich war. Die Blöße sich einen Stuhl zu nehmen und darauf zu steigen, gab er sich natürlich nicht. Ich könnte ihn ja aufziehen.
Gemächlich stand ich auf, schlenderte zu ihm hin und stellte mich ganz dicht hinter ihm. Ein paar Sekunden schloss ich die Augen und genoss seinen anziehenden süßlich- holzigen Geruch, der laut meiner Hermana Sandelholz gleich kam und die Wärme die von ihm ausging. Beinahe hätte ich meine Hände an seine Taille gelegt und ihn an mich gedrückt.
“Solltest vielleicht noch ein paar Fruchtzwerge mehr essen”, flüsterte ich dicht an seinem Ohr, griff nach der Tüte, nicht ohne dabei seine Hand zu berühren und legte sie auf die Theke vor ihm. Zufrieden beobachtete ich, wie er eine Gänsehaut bekam und sich seine feinen Nackenhärchen aufstellten. 3, 2, 1...
Er drehte sich zu mir herum und sah mich aus einer Mischung aus Belustigung und Verärgerung an. “Du bist der Troll.”
Ich brachte ein wenig Abstand zwischen uns, um nicht noch einen Fehler zu begehen. “Kandidat hat hundert Punkte.”
“Macht's denn wenigstens Spaß?”
“Würde ich's sonst machen?”
Er verdrehte die Augen. “Wieso frage ich überhaupt?”
“Das frage ich mich allerdings auch. Zu viele Sekunden für solch unnützes Zeugs verschwendet.”
“Das muss der Hunger sein. Der lässt mich Sinnbefreites tun.” Ja, dass tat er manchmal wirklich. Aber ich wusste es besser. Noah wusste nicht, wie er mit seiner Reaktion auf meiner Aktion reagieren sollte. Kurz flammte Hoffnung in mir auf. Vielleicht... vielleicht sollte ich ihn einfach küssen... Meine Lippen kribbelten bereits, doch ich war zu feige, wandte mich ab und holte einen Topf aus einem der unteren Schränke.
“Ich dachte, du hast dich bei Mizie mit Muffins vollgestopft?”, fragte ich, während ich Wasser in den Topf laufen ließ. Hatte er mir freudestrahlend verkündet, als wir uns im Flur die Schuhe ausgezogen hatten.
“Hab ich ja auch. Aber der Weg von ihr, bis zu mir ist lang.” Ein gutes Stück war die Strecke schon, aber nicht so lang, dass man dadurch wieder Hunger bekam. Allerdings war der Bengel verfressen. Oftmals tat er, außer Musik machen, nichts anderes als essen. Und ich fragte mich, wo der Bengel das alles ließ. Wenn ich es nicht besser wüsste, hätte ich ihn zu den Werwölfen gezählt - das waren auch ziemliche Fressköppe.
“Du und dein Dad, ihr habt euch wieder gestritten, hm?”, fragte er mich und tauchte sogar neben mir auf, als ich das Wasser abstellte und mit dem Topf zum Herd gehen wollte. Mit einem Salzstreuer streute er etwas Salz ins Wasser.
“Erst wenn die Nudeln drin sind, kommt Salz rein.”
“Ach Quatsch, ist doch völlig egal. Lenk nicht ab.” Da hatte er sogar recht, es war im Grunde wirklich egal, wann Salz ins Wasser kam. Um den Topf zu schonen, so spät wie möglich. Und ja, ich versuchte erneut abzulenken. Eigentlich hatte ich gehofft, ihn schon zuvor genug abgelenkt zu haben, damit er mich darauf nicht wieder ansprach. Was sollte ich auch antworten? Ja, ich habe mich wegen dir mit ihm gestritten? Ich fühle mich so stark zu dir hingezogen, dass es mich fast zerreißt und ich deshalb unerträglich bin? Ganz sicher nicht. Im Grunde kam ich damit nicht mal selbst wirklich klar. Wie sollte ich also Noah davon erzählen?
Aber ich hätte auch wissen müssen, dass Noah nicht so schnell locker ließ, er hatte besonders in solchen Dingen ein 'Elefanten Gedächtnis'.
“Ja”, antwortete ich knapp und ging mit dem Topf zum Herd.
“Und warum?”
“Warum willst du das immer wissen? Ändern kannst du daran eh nichts, also frag nicht ständig”, sagte ich, viel zu schroff und bereute meine Antwort bereits. Mit ihm wollte ich mich nicht auch noch streiten. Ich streite mich mit ihm, wegen ihm. Wie bescheuert wäre das denn?
“Ich... Kommt nicht wieder vor.” Ich schloss die Augen und biss mir auf die Unterlippe. Er wollte verbergen, wie verletzt er war, doch seine Stimme verriet ihn. Eine Stimme die nicht so recht zu ihm passen wollte, zu tief und zu rau, zu soulig und zu bluesig, vor allem wenn er sang. Und doch gehörte sie zu ihm, wie sein Lächeln, das stets die Sonne berührte, sie sogar in den Schatten stellen konnte.
Ohne darüber nachzudenken stellte ich den Topf auf den Herd, ging zu ihm und legte eine Hand an seine Wange, in seine vor Verwunderung immer größer werdenden Augen verlor ich mich fast. “Er hatte die Küche in ein Schlachtfeld verwandelt, dass hatte mich genervt, ergo kam es zum Streit.” Das war nicht gelogen, aber auch nicht ganz die Wahrheit. “Völlig belanglos also.” Ich holte tief Luft, mein Herz hämmerte mir in den Ohren. “Bitte hör niemals auf, danach zu fragen.” Das war für meine Verhältnisse eine Entschuldigung und... ein bisschen klang es auch verzweifelt. Vielleicht war ich das auch. Ich wollte einfach nicht, dass er aufhörte zu fragen. Das er aufhörte, sich für mich zu interessieren.
Als er eine Hand hob und auf meine legte, weiteten sich nun meine Augen. Zu erst dachte ich, er wollte sie von seiner Wange nehmen, doch er ließ sie liegen und strich sanft mit dem Daumen an der Seite meines Zeigefingers. Tausende kleine Raupen feierten in meinem Bauch eine Party und ein Schauer jagte mir über den Körper, der sogar el Mayuscùlo zucken ließ. Dios mio, wenn er wüsste, was er mit dieser einzelnen Berührung in mir auslöst. Und dann lächelte er, dass hinreißenste Lächeln was er überhaupt besaß. Es war ein wenig schüchtern, aber so warm und voller Zuneigung, dass die Raupen in meinem Bauch sich entschieden eine Gangbangparty zu veranstalten und mein Herz gab den Takt vor.
“Okay”, sagte er leise und mit angerauter Stimme. Jetzt konnte ich nicht mehr anders. Der Drang, ihn unbedingt küssen zu wollen, war so stark, dass ich dagegen nicht mehr ankämpfen konnte, wollte. Ich beugte mich vor, nur noch wenige Zentimeter trennten mein Mund von seinem. Und ich glaubte, er würde es zu lassen...ich glaubte, er würde mich sogar zurück küssen. Sein Atem streifte meine Lippen und mein Atem streifte seine Lippen, dabei öffnete er sie leicht. Eindeutiger ging es nicht.
Doch gerade, als ich ihn endlich küssen wollte, knallte die Haustür mit solcher Wucht zu, dass wir vor Schreck regelrecht auseinander sprangen. Ich hatte nicht mal bemerkt, dass sie aufgeschlossen wurde. Dabei hätte ich es müssen, ich war Gestaltwandler mit Hauptaugenmerk auf Katzen jeglicher Art. Dieser Bengel lenkte mich so sehr ab, dass ich nicht mal bemerkte, wenn Krieg neben uns ausbrach.
“Sorry, war nicht mit Absicht. Irgendwo zieht's”, erklang es aus dem Flur. Julia. Noahs zwölf jährige Schwester. “Nöchen?”
Er fuhr sich durchs braune Haar, was mich stets an Walnüssen erinnerte, sah kurz zu mir, bevor er ihr, um einen neutralen Tonfall bemüht, antwortete: “Jülchen?!”
“Macht ihr essen?”, fragte sie und ich musste schmunzeln, weil sie bereits ohne nach zu sehen wusste, dass ich da war. Ihre Eltern waren arbeiten und ich war der einzige, der sonst in dieser Küche kochte - kochen durfte. Amanda, war ein sehr herzlicher und liebevoller Mensch, doch wenn es um ihre Küche ging, konnte sie ziemlich böse werden - sie war eben eine leidenschaftliche Hobbyköchin, so wie ich kochen als ein Hobby ansah. Nur Catalina, meine Hermana, nicht, die versuchte mich ständig dazu zu überreden Koch zu werden.
“Ja”, antwortete Noah. Ganz schön einsilbig der Gute, endlich hatte auch ich ihn mal aus dem Konzept gebracht.
“Und was kocht ihr?”
“Bratnudeln.”
“Lecker! Dann komme ich ja genau richtig.”
Eigentlich nicht, dulzura. Eigentlich wollte ich deinen Bruder gerade küssen und mit meiner Zunge seine Mandeln abtasten.
“Wie weit seid ihr?”
“Du brauchst dich gar nicht erst an der Küche vorbei zu schleichen. Ich brauche jemanden der mir beim Schnibbeln hilft, dein Bruder würde es sogar schaffen, sich mit einem Plastikmesser die Hand abzuschneiden.” Prompt erntete ich von Noah einen bösen Blick, den ich, ohne nachzudenken, mit einem Luftkuss quittierte, woraufhin sich seine hohen Wangenknochen rosa färbten.
“Bin gleich da”, rief Juli lachend.
Noahs Reaktion machte mir Mut, einen erneuten Kussversuch zu starten. Am liebsten sofort, doch seine kleine Schwester würde jeden Moment in die Küche kommen. Also musste ich mich verschissenerweise noch gedulden, leider.
Noah wandte sich ab, holte die restlichen Zutaten für Bratnudeln mit Ei, Salami und Käse heraus. Ich wandte mich dem Herd wieder zu, schaltete ihn an und holte dann zwei Schneidebretter und Schneidemesser heraus. Das einzige, was ich Noah helfen lassen würde, wäre Ei zu verquirrlen, aber erst nachdem ich sie in die Schüssel geschlagen hatte - ich war nicht unbedingt scharf darauf Bratnudeln mit Eierschalenbeilage zu essen.
*Die Sehnsucht
♪Noah♪
Adrián und ich hätten uns beinahe geküsst.
Noch immer wenn ich daran dachte, kribbelte es in meinen Lippen. Weder auf sie herumzukauen half, noch sie zusammenzupressen.
Vergessen war der schmalzige Liebesbrief. Vergessen war der Streit mit Lucie. Ich konnte nur noch an den Fast-Kuss denken. Und ich hatte keine Ahnung, was ich davon halten sollte. Ich wusste ja noch nicht einmal, was ich fühlen sollte. Gab es denn da etwas, was man fühlen sollte? Musste man da etwas fühlen? In mir herrschte das reinste Chaos, welches mich zu zerreißen drohte. Ob... ob er es vielleicht nur wieder aus Provokation gemacht hatte, um zu sehen wie ich reagierte? Sowie heute morgen mit der SM- Sache? Denn nach dem Fast-Kuss hatte er sich völlig normal verhalten, als wäre überhaupt nichts passiert. Gut, konnte auch daran gelegen haben, weil meine Schwester anwesend war. Aber wenn er es wirklich wieder nur getan hatte, um zu sehen wie ich auf einen seiner üblen Scherze reagierte, konnte er mich mal. Das ging zu weit, viel zu weit. Das war Grenzüberschreitung die einfach nicht mehr okay war. Mich küssen zu wollen, aus rein provokativen und analytischen Zwecken, danach so zu tun als wäre alles wie gehabt und mich dann als wandelndes Durcheinander zurück zu lassen, war mehr als nicht okay, es war scheiße. Wut kroch in mir hoch, wie heiße Lava aus einem brodelnden Vulkan. Ich hatte große Lust Adrián deshalb einen Kinnharken zu verpassen, obwohl ich Gewalt verabscheute.
Dieser verdammte Arsch! Jetzt brachte er mich schon so weit, ihn verprügeln zu wollen. Konnte doch nicht wahr sein! Wieso... Plötzlich schoss mir das Bild seiner Augen durch den Kopf und meine Wut löste sich auf, wie frisch gefallener Schnee auf warmen Asphalt. Seine Augen... Sie waren so voller tiefer Sehnsucht, als ob... als ob es sein innigster Wunsch wäre mich zu küssen, mich nur ein einziges Mal zu küssen. Konnte man so etwas nur vorspielen? Ich glaubte nicht. Und trotzdem hatte ich noch immer keine Ahnung, was ich fühlen, was ich denken, wie ich denken sollte, wo er doch so norm-
“Noah pass auf!”
Daraufhin folgte ein energisches Hupen, wütendes Brüllen und ein starkes Ziehen an meinem T-Shirt. Dann prallte ich hart gegen etwas weiches. Das alles ging so schnell, dass ich kaum Zeit hatte, es zu realisieren. Als mich der Duft von Zimt, Minze und Mittelmeer umhüllte, begann mein Herz zu trommeln und mein ganzer Körper kribbelte. Doch seine Frage, was los sei, ließ die Wut zurückkommen.
“Du bist los.” Ich riss mich von ihm los und rannte, ohne wirklich zu sehen wohin.
♪♪♪
Erst als ich im, von der Sonne erwärmten, Gras lag und in den blauen Himmel sah, nahm ich die Welt um mich herum wieder wahr und erkannte das ich auf der Wiese der ehemaligen Freilichtbühne lag. Die Bäume und Büsche umrahmten diesen leicht verwilderten Platz und schotteten ihn so vom Rest des Walls ab.
So etwas hatte ich noch nie, dass ich blindlings los lief und gar nichts mehr wahrnahm. Okay, wenn ich mich mal wieder in meinen Gedanken verlor, blendete ich auch automatisch alles aus. Aber das war etwas anderes. Hierbei wollte ich nur weg. Denn eigentlich war ich ein Mensch der sich den Dingen immer stellte, mochten sie noch so unüberwindbar sein. Doch sein Geruch, seine Wärme, meine Reaktion darauf, der Fast-Kuss, dass ihm das alles nichts auszumachen schien, dass war alles zu fiel in dem Moment. Ich brauchte Zeit für mich, um das alles zu verdauen. Und um einen klaren Kopf zu bekommen, damit ich endlich herausfinden konnte, ob es wieder nur einen seiner üblen Scherze war. Oder ob er mich wirklich küssen wollte, der Sehnsucht wegen. Allerdings wusste ich nicht, ob es mir dabei half, mit meinen Gefühlen klar zukommen und der Erkenntnis, dass ich den Kuss zugelassen, sogar mitgemacht hätte. Sagte das jetzt irgendetwas über mich aus? Mochte ich jetzt auch Jungs? Oder war ich nur neugierig? Ich seufzte genervt, weil ich darauf keine Antwort wusste. Auf gar nichts hatte ich eine Antwort. Knurrend rupfte ich etwas Gras und schmiss es in die Luft. Du bist schuld, weil du immer provozieren musst! Wegen dir ist mein Kopf so voll, dass er nicht mehr weiß, was er denken und ich fühlen soll.
Wo blieb Adrián überhaupt? Ich stützte mich auf meine Unterarm und sah mich um. War er nicht direkt hinter mir gewesen? Mit seinem BMX müsste er doch längst hier sein. Seufzend legte ich mich wieder hin. Muss er nicht. Mir fielen die letzten Worte wieder ein, die ich ihn entgegen gerufen hatte, als ich über die Straße gerannt war.
“Noah, warte!”
“Lass mich in Ruhe!”
So hatte ich ihn noch nie angeschrien. Überhaupt hatte ich ihn noch kein einziges Mal angeschrien. Und dann auch noch mit dem Satz, vor dem er am mit meisten Angst hatte. Denn er hatte mir schon oft gesagt, dass eines Tages dieser Satz aus meinem Mund kommen würde. Ich hatte immer verneint. Und nun war es doch passiert. Beschämt schloss ich die Augen und dass schlechte Gewissen fraß sich seinen Weg durch mein innerstes. Verdammt, wieso wolltest du mich überhaupt küssen? Wieso konnte ich nicht normal darauf reagieren? Und wieso muss man in Wut immer Dinge sagen, die man gar nicht so meint?
Seufzend fuhr ich mir mit beiden Händen durchs Gesicht, dabei bemerkte ich das meine Lippen noch immer kribbelten.
Ach Adrián, heute machst du mich echt fertig. Meine Gedanken kreisten um ihn, wie sooft an diesem Tag. Und jetzt auch um seine Lippen. Ob sie nach Zimt schmeckten? Oder Minze? Oder nach Urlaub am Mittelmeer? Ich saugte meine Unterlippe ein, doch das Kribbeln hörte nicht auf. Im Gegenteil, es wurde noch stärker, als ob meine Lippen jetzt unbedingt von ihn geküsst werden wollten.
Zum gefühlt unzähligsten Mal seufzte ich. Anstatt hier herum zu liegen und darüber nachzudenken, wie Adrián schmeckte und das meine Lippen von ihm geküsst werden wollten, sollte ich lieber zu ihm. Und mich entschuldigen und ihn eine Pizza spendieren.
Mit einem Satz sprang ich auf, verließ die Freilichtbühne seitlich durch eine Öffnung in einem Busch und lief rüber zum Habicht Sportplatz, zum Fußballplatz, wo wir im Sommer immer waren. Hoffentlich war er bei den anderen. Doch schon beim Näher kommen, wurde meine Hoffnung zerstört. Adrián war nicht da.
♪♪♪
Eigentlich wollte ich mich wieder um drehen und Adrián woanders suchen gehen, doch Püppie hatte mich bereits entdeckt und winkte mir lächelnd zu. Außer ihr waren noch Tim, Titus, Hendrix, Jules, Maria und Richi da, noch nicht viele also. Die fünf Jungs waren auf dem Fußballfeld beschäftigt, wobei man deutlich erkennen konnte, dass Titus der Profi war. Er ging seit der sechsten Klasse auf das Sportgymnasium in Magdeburg, wohnte unter der Woche im Internat und war nur an Wochenenden und in den Ferien in Gardelegen. Für ihn war die Aufnahme dort das Beste, was ihm passieren konnte, nicht nur weil es seinen Traum Fußballprofi zu werden ein großes Stück näher brachte, sondern auch weil er so der Hölle entfliehen konnte. Er hatte eine Scheißmutter und einen Scheißvater, dass meinte auch genau so, obwohl ich sonst nicht so gemein war. Wie oft er mit blauen Flecken, Augen, verstauchten oder gebrochenen Armen in die Schule kam, konnte ich schon gar nicht mehr zählen. Angeblich hingefallen oder gestoßen - wenn er tollpatschig gewesen wäre, hätte ich es vielleicht noch geglaubt. Aber Titus bewegte sich viel zu leichtfüßig durch die Welt. Erst auf Zippos drängen hin, machte er endlich den Mund auf. Seine Großeltern, die bis dato noch in Stendal gewohnt hatten, zogen hier her und bekamen das Sorgerecht. Sie waren außer sich, als sie davon erfuhren.
Seine Eltern, so dreist und berechnend, wollten sich bei ihren Sohn wieder einschleimen, wussten sie doch, wie talentiert er im Sport, besonders Fußball war. Als er sich darauf nicht einlassen wollte, wollte sein Stiefvater ihn zum Krüppel machen - sein Wortlaut, nicht meiner. Fast hätte er es auch geschafft, wenn Hendrix nicht da gewesen wäre. So kam Titus nur mit einer angeknaxten Hand davon und Hendrix mit gebrochenen Arm und eines Narbe am Kopf, wo er die Bierflasche abbekommen hatte. Deshalb musste Titus auch den Aufnahmetest des Sportgyms verschieben. Sein Stiefvater saß bis heute im Gefängnis, kam aber bald raus. Seine Mutter war seit längerem wieder draußen, hielt aber nach, wie vor zu ihm. Titus möchte zu beiden kein Kontakt. Und ich konnte einfach nicht verstehen, wie man so zu einem Kind sein kann und wie man als Mutter tatenlos zusah. Eigentlich glaubte ich stets an das Gute in allen Lebewesen, doch wenn man das Böse gesehen hat, war es manchmal echt schwer.
Püppie wuselte Maria in den Haaren herum und schien ihr eine kompliziert Frisur machen zu wollen - sie machte ihrer Mutter alle Ehre, die Friseurmeisterin war. Ich setzte mich zu ihnen auf die karierte Wolldecke.
“Na, kleiner süßer Nono”, begrüßte sie mich schelmisch grinsend - wohl wissend, dass sie mich sowohl mit klein, als auch mit Nono ärgern konnte.
Aber ich konnte das auch. “Na, winzige, süße Püppie.” Sie war mit ihren ein Meter dreiundfünfzig mit Abstand die Kleinste aus unserer Clique. Als Antwort streckte sie mir die Zunge heraus. Maria begrüßte mich mit einem leisen Hallo und einem schüchternen Lächeln.
“Wo hast du denn Ríán gelassen?”, fragte Püppie und steckte Maria Gänseblümchen ins dunkelbraune Haar.
“Ouhm. Keine Ahnung, wieso?” Ertappt wandte ich den Blick ab und sah den fünf Fußballern zu.
“Weil er immer bei dir ist. Euch gibt's doch eigentlich nur im Doppelpack.”
“Quatsch. Bei Linda ist er auch oft. Genauso, wie bei dir oder Jules. Oder bei den anderen”, fügte ich noch hinzu.
Sie lachte. “Ach Nonochen, du brauchst gar nicht abzustreiten, dass ihr Siamesische Zwillinge seid.”
Ich zog leicht die Stirn kraus. Waren wir wirklich sooft zusammen? Mir war das bisher nie aufgefallen. Es war eben selbstverständlich, dass er da war. Bei mir. Mein Herz schlug plötzlich in einem schnelleren Rhythmus, ein bisschen tat es sogar weh. Ob es jetzt anders war, nachdem ich ihn so angeschrien hatte? Ich musste mich dringend bei ihm entschuldigen. Also holte ich mein Handy heraus, da er mit seinem BMX überall in der Stadt oder außerhalb sein konnte, wollte ich ihm erst mal eine SMS schreiben. Hoffentlich antwortete er mir.
'Wo bist du?'
Im gleichen Moment spürte ich etwas Warmes an meinem Rücken, zwei Arme die sich um meine Taille legten und Hände mit rosa Fingernägeln, die sich auf meinem Bauch verschränkten. Dunkelgrünes Haar kitzelte meine linke Wange.
“Ihr habt euch gestritten, hm?”
Ich senkte die Lider und nickte. Hoffentlich fragte sie nicht nach dem Grund. In Lügen war ich schlecht und die Wahrheit konnte ich ihr nicht sagen, weil ich sie selbst immer noch nicht begriff - und weil ich Angst hatte, dass sie lachen und sagen würde, dass es wirklich nur ein Scherz von Adrián war. Wie bescheuert. Ich war mit Lucie zusammen und mochte sie sehr, da sollte ich doch froh sein, wenn es so war. Leider war ich es nicht. Und das verwirrte mich zutiefst.
“Das renkt sich wieder ein”, meinte sie ohne jeden Zweifel. Da war ich mir nicht so sicher. Keine Ahnung warum, aber ich hatte das Gefühl, dass ich etwas kaputt gemacht habe, was man nicht mehr reparieren konnte. Schon beim ersten Anzeichen einer Vibration griff ich nach meinem Handy und zog es heraus. Mein Herz begann ein irres Trommelspiel, als ich Adriáns Namen auf dem Display sah. Püppie löste sich von mir und ich dankte ihre Diskretion mit einem Lächeln - zumal ich wusste, wie neugierig sie war.
'Zu Hause.'
Gut, dann fuhr er nicht ziellos durch die Straßen. Erleichterung durchströmte mich.
'Kommst du wieder raus?'
Wenige Sekunden später.
'Nein. Lieber nicht.'
Ich spürte ein kleinen Stich in meinem Herzen. Er wollte nicht raus, wegen mir, dabei liebte er es draußen zu sein.
'Warum? Ist es wegen mir? Ich kann auch woanders hin gehen.'
Meine Augen brannten verdächtig, als mir bewusst wurde, wie sehr ich ihn verletzt hatte. Ich schickte ein 'Es tut mir leid.' hinterher, obwohl ich es ihm lieber persönlich gesagt hätte.
'Es ist nicht wegen dir. Ich hab Kopfschmerzen.' Diesmal blieb meine Erleichterung aus, denn ganz überzeugt war ich nicht.
'Soll ich vorbei kommen?'
Er meinte, dass meine Schläfenmassage Wunder bewirkten. Und wenn er starke Migräne hatte, wollte er oft, dass ich ihm vor las oder sang, bis er eingeschlafen war.
'Nein, alles gut. Wir sehen uns morgen.'
Erneut stach es in meiner Brust, stärker als zuvor. Er wollte nicht, dass ich bei ihm war, das war deutlich. Es tat verdammt weh. Aber ich hatte es verdient, oder? Schließlich hatte ich ihn auch verletzt.
“Geh zu ihm.” Der leichte Stoß an meiner rechten Schulter ließ mich erschrocken zusammenzucken, so weit war ich wieder weggedriftet. Als ich aufschaute, sah ich in Jules azurblaue Augen. Im Augenwinkel bemerkte ich, dass sie mit dem Fußballspielen aufgehört hatten, wohl eine kleine Pause einlegten. Erst dann sickerten seine Worte richtig zu mir durch und ich schüttelte den Kopf.
“Er will mich nicht sehen.”
“Glaub ich nicht. Wenn es jemanden gibt, den er immer sehen will, dann dich.”
♦Adrián♦
'Nein, alles gut. Wir sehen uns morgen.'
Diese Nachricht abzuschicken war die schwerste Entscheidung in meinem bisherigen Leben. Noahs trauriges Gesicht, welches vor meinem inneren Auge auftauchte, ließ mein verdammtes Herz noch stärker schreien - beinahe hätte ich mit geschrien. Oder es mir aus meiner verfluchten Brust gerissen. Hauptsache ich hätte Ruhe. Ruhe und Frieden. Ich wäre innerlich nicht mehr so zerrissen und aufgewühlt.
Jules fand ja, dass ich alles übertrieben kompliziert machen würde. Ich sollte Noah einfach sagen, was Sache war. Selbst wenn er nicht das Gleiche empfand, würde es nichts an unserer Freundschaft ändern.
Doch, das würde es.
Deshalb konnte ich es ihm nicht sagen, dann würde ich ihn verlieren, seine Reaktion vorhin war deutlich. Und sie tat verdammt weh. Denn mal ehrlich, dass er den Kuss zu gelassen hätte und mich sogar zurück geküsst hätte, war alles nur Einbildung gewesen. Wunschdenken. Die Sehnsucht nach ihm, ihn endlich küssen zu dürfen und berühren, ließ mich blind für die Wirklichkeit werden. Und das, obwohl mir in Sachen Psychologie, genauer der Verhaltensforschung, so schnell keiner etwas vor machen konnte. Außer Noah. Er war einer der Wenigen, die ich nicht wie ein Buch lesen konnte. Und er war der einzige, bei den meine Wachsamkeit und mein scharfer Verstand sich komplett ausschaltete und ich nur noch das sah, was ich sehen wollte.
Nein, ich machte nicht alles unnötig kompliziert, es war kompliziert. Ich wollte meinen besten Freund, aber der wollte mich nicht. Punkt. Dagegen konnte ich nichts tun. Es ihm zu sagen würde nichts besser machen. Nur noch schlimmer. Also musste ich mich von ihm fernhalten, um ihn nicht zu verlieren. Wie bescheuert das klang. Tja, so war die Realität, eine bescheuerte Funzel.
Ich rollte mich auf meinem Bett zusammen, schloss die Augen und hoffte, dass mein gottverdammtes, schreiendes Herz endlich heiser wurde.
♪Noah♪
Noch immer saß ich auf der Wolldecke und wusste nicht, was ich tun sollte. Adrián wollte mich nicht sehen und das war sein gutes Recht. Seine SMS war deutlich. Er schrieb so etwas nicht einfach so. Und das wusste auch Jules. Er mochte in vielem Recht haben und Adrián gut kennen, aber ich kannte ihn besser. Wenn ich jetzt zu ihm gehen würde, obwohl er es nicht wollte, würde er sauer sein. Richtig sauer. Morgen, wenn ein bisschen Gras über die Sache gewachsen war, würde ich es schaffen, dass er mir verzeiht. Aber nicht, wenn ich jetzt bei ihm auftauchen würde - er hieß nicht umsonst El Temperamente.
“Du bist ja immer noch hier.” Jules, Püppie und Maria kamen von Penny wieder. Titus, Tim, Hendrix und Richi spielten wieder Fußball, wie ich im Augenwinkel bemerkte.
Mal wieder hatte ich nicht mitbekommen, dass sie ihre kurze Pause beendet hatten, obwohl sie sich dafür extra auf die Decke gesetzt hatten. Ich hatte mit ihnen ein wenig geredet, aber abgelehnt mit zu spielen - ich würde ja eh nur blöd in der Gegend herumstehen - und hatte auch gemerkt, dass Jules mit den beiden Mädels nach Penny gegangen war, aber dann… diese Angewohnheit war doch echt kacke.
Jules schmiss zwei Tüten Gummibärchen und eine Flasche Eistee neben mich, hockte sich vor mich hin und nahm mein Gesicht in beide Hände. Eindringlich sahen seine azurblauen Augen in meine. “Geh. Zu. Ihm. Auch wenn er es nicht zu geben, eher mürrisch sein wird, ganz tief in ihm wartet er nur darauf.”
Ich blinzelte irritiert und öffnete meinen Mund um etwas zu sagen, doch vor lauter Sprachlosigkeit kam nichts heraus. Ein Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus.
“Du weißt gar nicht was das gerade für eine anziehende Wirkung hat. Deine Lippen gehören zu den Verführerischsten die ich je gesehen habe. Adrián muss eine krasse Willenskraft haben, dass er dich nicht schon längst geküsst hat.”
Das Rot kribbelte richtig, als es sich auf meine Wangen legte. Noch immer war ich unfähig zu sprechen. Jules war wirklich sehr attraktiv und auf gewisser Weise exotisch. Denn seine dunklen Augenbrauen standen im krassen Gegensatz zu seinen silber-weiß blonden Haaren - die nicht gefärbt waren. Selbst bei Okenaiden, wie er einer war, war die Haarfarbe selten. Seine Porzellanhaut war makellos und die Augen intelligent, wachsam und frech. Wenn ich nicht auf Adrián…quatsch! Wenn ich auf Jungs stehen würde, wäre ich wohl in ihn verknallt.
“Er hat dich bereits geküsst?”
Ich schüttelte den Kopf. “Fast.” Meine Stimme hatte kaum Ton.
“Und jetzt bist du verwirrt?” Ich nickte.
“Und deshalb hast du ihn angeschrien?”
Damn! Er war gut.
“Ja.” Meine Stimme bekam wieder mehr Farbe.
“Geh zu ihm.”
“Aber…”
Er nahm die linke Hand von meinem Gesicht und legte den Zeigefinger auf meinem Mund. “Kein Aber. Geh zu ihm. Sofort. Dann wirst du auch nicht mehr verwirrt sein.” Mir kam der Verdacht, dass er etwas über Adrián wusste und ich nicht. Das wurmte mich irgendwie, aber ich verdrängte es, schließlich war es normal Geheimnisse zu haben, jeder hatte welche. Als Adriáns sehnsuchtsvolle Augen durch meinen Kopf schwebten, glaubte ich meine Antwort zu haben.
“Okay.”
Er ließ mein Gesicht los, blieb aber noch hocken. Ein schelmisches Grinsen schlich sich auf seine Lippen. “Würdest du dich von mir küssen lassen?”
Ich rückte nachhinten von ihm ab und stand auf. “Wenn du Adrián wärst, sofort.” Ich zwinkerte ihm zu und lief los.
Erst auf dem Weg zu Adrián wurde mir bewusst, was ich eben gesagt hatte. Mein Herzschlag beschleunigte sich von null auf hundert.
♪♪♪
Seit einer Viertelstunde lungerte ich nun schon vor Adriáns Haustür. Der Mut hatte mich schneller verlassen, als er gekommen war. Was ist, wenn ich mich geirrt hatte? Wenn Jules sich geirrt hatte? Ja, ich war wegen des Fast- Kusses verwirrt und ja, meine Lippen waren ganz scharf darauf von seinen berührt zu werden. Allein bei den Gedanken daran kribbelten sie schon wieder. Auch war ich neugierig, wie es sich anfühlen würde. Vorher kam mir eigentlich nie in den Sinn, einen Jungen zu küssen. Aber jetzt, wo es beinahe dazu gekommen wäre, wollte ich unbedingt wissen wie es war. Jules Angebot mich zu küssen so verlockend es auch war, würde ich nicht annehmen. Ich wollte nur von Adrián geküsst werden, weil wir schließlich schon kurz davor gewesen waren… nein, das stimmte nicht, nicht ganz. Im Grunde wusste ich nicht, warum ich nur von ihm geküsst werden wollte.
Seufzend fuhr ich mir durch die Haare und verfluchte diesen Tag. Er würde als der Bekloppteste in der Geschichte eingehen. In dem Moment als ich mich umdrehte, um wieder zu gehen, öffnete sich hinter mir die Haustür.
“Noah. Hola.” Erklang eine sanfte, melodische Stimme - Adriáns ältere Schwester Catalina.
Mit verschmitzten Lächeln drehte ich mich um. “Hi Lina.” Ertappt kratzte ich mich am Kinn. Sie hatte wohl Mittagspause und musste nun zur Arbeit zurück. Sie arbeitete nebenbei im Café Bethy, fing aber bald ihr Physikstudium in Jena an.
“Adrián ist oben in seinem Zimmer.” Ein Blick in meine Augen und sie wusste, dass er und ich uns gestritten hatten, wenn auch nicht warum. Lächelnd kam sie auf mich zu, gab mir ein Kuss auf die Schläfe und schubste mich dann in Richtung Haus. Perplex drehte ich mich zu ihr um. Kichernd ging sie mit schwarzen, wippenden Pferdeschwanz davon.
Zögerlich betrat ich das innere des Hauses und als ich die Tür schloss, schien sich mein Herz einen Weg aus meinem Körper kämpfen zu wollen. Catalinas blumiger Duft lag noch in der Luft, sowie der vertraute Geruch von frischer Wäsche und Orange. Dennoch beruhigte ich mich nur mäßig. Vielleicht sollte ich wieder gehen? Es war eine blöde Idee hier hier her zu kommen. Ich wusste ja nicht mal was ich sagen sollte. Entschuldigen ja, aber wie? Ich hätte eine Pizza kaufen sollen, oder irgendwas anderes was er gerne aß. Wenn er mit essen beschäftigt war, konnte er weniger knurren und beißen.
Als ich an die Türklinke fasste, blinkte in großen Leuchtbuchstaben Feigling in meinem Kopf auf. Ich straffte meine Schultern und holte tief Luft. Ich war ein Idealist, Träumer, glaubte stets das Gute im Menschen, auch wenn es naiv war und es selbst mir auch mal ziemlich schwer fiel. Auch lief ich oft, mit offenen Augen schlafend durch die Straßen, oder ließ mich von meinen Gedanken gefangen nehmen. Eigenschaften, die nicht unbedingt jeder positiv bewerten würde, was mich nicht störte. Aber Feigling genannt zu werden, selbst wenn es nur die eigenen Gedanken waren, mochte ich überhaupt nicht. Angst war ja eigentlich kein negatives Gefühl, es war sogar richtig und wichtig Angst zu haben, aber von ihr beherrscht zu werden, war nicht gut. Und gerade in diesem Moment versuchte sie es bei mir, dieses Biest. Adrián war mein Freund, verflixt nochmal, was machte ich mir da fast in die Hose? Über mich selbst den Kopf schüttelnd, straffte ich die Schultern noch etwas mehr und ging die Treppe hinauf.
Ich klopfte an seiner Zimmertür, wartete aber keine Antwort ab - unhöflich und übermütig, ich weiß, aber wenn ich es nicht tat, würde es dieses Biest doch noch schaffen, dass ich feige den Rückzug antrat - und trat hinein.
♪♪♪
Aus grimmigen Katzenaugen fixierte er mich und erinnerte mich dabei stark an das mürrische Katzengesicht seines Katers Caligula, wenn fremde Katzen den Garten betraten, oder auf Adriáns Schoß saßen, oder wenn Linda da war. Doch ich verkniff mir ein Grinsen, wohl wissend das ich ihn unsanft aus dem Schlaf gerissen habe.
“Hi grimly cat.” Ich konnte mein Grinsen nicht länger unterdrücken und winkte ihm auch noch zu - wenn ich mich damit mal nicht ins Aus beförderte.
“Was willst du hier? Hab ich dir nicht geschrieben, dass du nicht kommen brauchst?” Die leicht raue Färbung seiner Stimme ließ eine Gänsehaut entstehen.
“Die SMS muss wohl verloren gegangen sein”, meinte ich Schulter zuckend.
Natürlich glaubte er mir nicht. Er verkniff sich ein Kommentar und wiederholte stattdessen seine Frage: “Was willst du hier?”
“Nachsehen wie es dir geht.”
“Wie du sehen kannst, gut. Also kannst du ja wieder gehen.” Das tat weh, verdammt weh. Mein Vorhaben kam ins Wanken.
Dennoch blieb ich unnachgiebig. “Nein.”
“Noah, mir geht's gut. Der Migräneanfall ist nicht sonderlich stark, daran werde ich schon nicht sterben. Ich will nur pennen und du störst da nur. Außerdem kommt Linda nachher noch.” Das war mehr als deutlich. Genauso, wie seine SMS. Jules hatte Unrecht. Mein Vorhaben fiel wie ein Kartenhaus in sich zusammen und der Stich im Herzen fühlte sich an, wie von einem Schlachtermesser. Ich hatte etwas kaputt gemacht, was man nicht mehr reparieren konnte. Der Kuss- Versuch war natürlich nur ein Scherz gewesen, ein ziemlich übler, aber eben nur ein Scherz. Und ich Idiot hatte mich da zu sehr rein gesteigert. Gott, war ich dämlich.
Wieso machte Jules da mit? Warum hatten sie mich dafür ausgesucht? Hinter dem Brief steckten sie sicher auch. Was hatte ich getan, dass sie mir so eine Scheiße an taten? Nervte ich sie mit meiner Art so sehr, dass sie mir einen Denkzettel verpassen wollten? Sie hätten es mir doch auch sagen können… Mizie mochte mich wenigstens, so wie ich war. Oder?
“Angelito, eh. Noah!”
Erschrocken zuckte ich zusammen und stieß mir dabei den Kopf an der Tür, als ich bemerkte, dass Adrián plötzlich vor mir stand. Ich dachte, ich wäre schon längst gegangen. “I-ich geh schon”, sagte ich, hob abwehrend die Hände, versuchte mich gleichzeitig bei einem Lächeln, drehte mich um, öffnete die Tür -hätte mir beinahe wieder den Kopf gestoßen - und stürmte raus.
♪♪♪
Auf der dritt letzten Stufe kam ich ins stolpern, konnte mich nicht mehr halten und fiel, dabei merkte ich ein Stechen in meinem Knöchel. Dieser Schmerz übertönte den des Aufpralls auf dem Boden.
“Madre mia, Noah!” Ich öffnete meine Augen und sah in Adriáns erschrockenes Gesicht. “Alles gut”, sagte ich und bemühte mich, um ein überzeugendes Lächeln. Bevor er unten ankommen würde, wollte ich aufgestanden sein. Ich musste hier weg! Doch beim Aufstehen stach der Schmerz so stark und kroch mein Bein hinauf, dass ich sofort wieder auf meinen Hintern plumste.
“Bleib liegen, verdammt!” Er sprang die letzten vier Stufen runter und landete leichtfüßig, wie eine Katze, auf seinen Füßen - was mir nur noch mehr klar machte, was für ein Trampeltier ich war. Trotzig hob ich mein Kinn.
“Lass mich in Ruhe, ich brauche deine Hilfe nicht.”
Meine Würde und mein Stolz, oder was davon noch übrig war, wollte ich mir schließlich wahren. Ich wollte von allein aufstehen, also würde ich das auch. Sollte er doch wieder ins Bett gehen und auf seine scheißblöde Linda warten. Das knurrte ich ihm auch entgegen, als er mich hoch heben wollte und schlug seine Arme weg. Dann rutschte ich rückwärts weg (zum zweiten Mal heute) und startete einen neuen Versuch. Es klappte auch, extrem schmerzhaft, aber ich stand. Jetzt musste ich nur noch so würdevoll und so schnell wie möglich zur Tür kommen und dann nichts wie weg. Ich biss die Zähne zusammen, als der Schmerz bis hoch zu meiner linken Pobacke strahlte. Scheiß auf die Würde, Hauptsache ich kam hier weg.
“Maldita sea! Verdammter Schotte, hör auf so stur zu sein!” Schnell hatte Adrián mich eingeholt und hob mich gegen meinen Willen auf seine Arme. Auf einer Seite fühlte es sich gut an, auf der anderen aber auch echt demütigend. “Zappel nicht so, sonst fallen wir die Treppe runter. Hat dir das eine Mal eben nicht gereicht?”
Wütend sah ich ihn an, er quittierte es mit einem schiefen Lächeln.
Behutsam legte er mich auf sein Bett, kniete sich an den Bettrand und zog meinem linken Fuß die dunkelgraue Socke aus. Allein das tat weh, aber als er leicht an ihn herum drückte, trieb mir das kalten Schweiß auf die Stirn und ich konnte mir ein Schmerzlaut nicht verkneifen. “Ah, verdammte Axt! Nur weil du mich hasst, musst du an mir nicht deine sadistischen Neigungen auslassen.”
“Ich lasse meine sadistischen Neigungen nicht an dir aus, ich will nur nachsehen, was es sein könnte.”
Ich verdrehte die Augen. “Und Doc Mertens, was könnte es Ihrer Meinung nach sein?” Als ob er das als Laie mit einem Blick feststellen könnte.
“Wenn's nicht noch mehr anschwillt und sich dunkelblau verfärbt, dann zum Glück nur eine Bänderdehnung.” Hörte ich da Erleichterung aus seiner Stimme? Bestimmt nur Einbildung.
“Gibt's auch etwas, dass du nicht weißt, oh großer, weiser Adrián?” Sarkasmus, mein Schutzschild, was Besseres gab es nicht.
“Vieles.” Er richtete sich auf. “Lass die Socke ausgezogen, ich hol etwas zum kühlen.”
“Du brauchst nichts zum kühlen holen. Ich rufe meine Mum an und sie kommt dann. Maximal eine dreiviertel Stunde, dann bist du mich los.”
Ohne eine Wort nahm er meinen Strumpf, schmiss ihn zu seinem Kleiderschrank und verließ das Zimmer. War er gerade allen ernstes sauer geworden? Er wollte mich doch los werden, schließlich störte ich nur. Ja, ich klang gerade wie ein weinerliches, trotziges Kind, aber seine Worte taten immer noch weh. Ich musste mich doch irgendwie schützen und wenn ich dabei bockig wirkte, dann war es eben so. Zudem bekam ich langsam Kopfschmerzen, was mich zusätzlich nervte.
Ich sah zu meiner Socke, die eigentlich nur ein paar Meter entfernt war, für mich in meiner momentanen Situation aber weiter entfernt als der Mond lag. Knurrend pustete ich mir Ponysträhnen aus den Augen und tastete meine Hosentaschen nach meinem Handy ab. Ich fand es in der Rechten, holte es heraus und drückte auf einem Knopf, damit sich der Bildschirm einschaltete. Es leuchtete, aber das Display blieb bis auf einer kleinen Ecke, schwarz. Super klasse, war das doofe Ding auch noch schrott. Ich musste da vorhin drauf gefallen sein. Genervt schob ich es in die Hosentasche zurück.
Kurz darauf kam er mit einem Kühlpad und einer Verbandstasche wieder. Er legte die Tasche aufs Bett, hob mein Fuß etwas an und schob das Kühlpad darunter. Vorsichtig legte er meinen Fuß darauf. Daraufhin sog ich scharf die Luft ein. “Wie stark sind die Schmerzen? Reicht kühlen und eine Salbe, oder brauchst du noch eine Tablette?” Die Sanftheit in seiner Stimme und sein intensiver Blick irritierten mich, war er eben doch noch kühl und abweisend. “Nur eine Kopfschmerztablette.” Eigentlich wollte ich gar nichts sagen, aber mein Mund schien sich selbstständig gemacht zu haben.
Ein besorgter Schatten kroch über sein Gesicht. “Ist dir auch schlecht und schwindelig?” Mit einem Mal stand er vor mir und sah mir direkt in die Augen. “Wie ist der Sturz passiert?”
Ich zog die Brauen zusammen. Was hatte er denn jetzt? “Was sollen die doofen Fragen?” “Beantworte meine Frage.” Einen erneuten Widerspruch würde er nicht dulden.
Gereizt antwortete ich: “Kein Plan, bin über meine eigenen Füße gestolpert. Zu dumm zum laufen, wie du schon früh festgestellt hast.” Ich grinste, dennoch klang mein eingebauter Witz, wie ein böser Seitenhieb. Was ich ehrlich nicht beabsichtigt hatte.
Früher, als Kind, hatte ich oft Probleme mit dem Gleichgewicht, bin viel gestolpert und auch hingefallen. Adrián hatte mich oft deswegen aufgezogen. Als ich vermehrt Tinnitus bekam und auch mein Hörvermögen beeinträchtigt war, ging meine Mum mit mir zum Hals- Nasen- Ohrenarzt, der durch ein paar Tests feststellte das ich ein Akustikusneurinom hatte, welches operativ entfernt werden musste.
“Hat deine Mum heute auf?” Die Sanftheit war verschwunden und mir blieb meine Entschuldigung im Halse stecken. “Ouhm… Heute ist doch Samstag?” Seine Fragen verwirrten mich und seine kalte Art verunsicherte mich so sehr, dass ich gar nicht mehr wusste, welcher Tag heute war.
Genervt verzog er das Gesicht, holte meine Socke und schmiss sie mir zu. Dann öffnete er seinen Kleiderschrank und holte T- Shirt, Hose und Socken heraus - erst jetzt merkte ich, dass er nur in Boxershorts war. Er hatte einen schönen Rücken mit leicht definierten Muskeln, die Sonne ließ seine olivfarbene Haut strahlen und die enge Shorts betonte seinen Hintern – der zugegebenermaßen echt gut aussah. Adrián schien mein Blick zu bemerken, denn er drehte seinen Kopf zu mir. Böse sah er mich an und ich wandte betroffen den Blick ab.
Die eisige Stimmung die nun zwischen uns herrschte, verschlug mir zudem die Sprache. Es war ungewohnt und neu und ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Ganz tief drinnen war ich wütend. Am liebsten würde ich ihn anschreien und sagen, dass ich es nicht mochte, wenn er so war - er war sonst nie so zu mir. Doch über die Wut, war die Traurigkeit, weil es verdammt nochmal weh tat. Es tat weh, zu sehen, wie unsere Freundschaft immer mehr Risse bekam. Ich war daran Schuld und ich wusste nicht, was ich sagen, oder tun sollte, um es auf zu halten.
Ich schob das Kühlpad weg, mein Knöchel sah noch ziemlich geschwollen aus und ein wenig bläulich. Normal, in fünf Minuten konnte nichts so schnell abschwellen, also streifte ich meinen Strumpf über, rutschte zum Bettrand und stand auf. Wenn ich mein Gewicht auf mein rechtes Bein verlagerte, ging es, dann war der Schmerz aushaltbar. Nun musste ich nur noch hoffen, so die Treppen runter und zu mir nach Hause zu kommen.
“Kannst du nicht warten bis ich angezogen bin? Setz dich wieder hin verflucht nochmal. Gehst mir echt auf den Sack.”
Betreten sah ich zu Boden. “Tut mir leid”, murmelte ich. Auf einmal bildete sich zu meinen Füßen Schwärze, die immer höher stieg und mich in die Dunkelheit zu ziehen drohte. Mein Magen drehte sich um, gleichzeitig setzte auch Schwindel ein und kalter Schweiß entstand auf meiner Stirn und meinem Rücken.
“Noah!” Dumpf erklang seine Stimme an meinen Ohren. Doch ich wagte nicht aufzuschauen, aus Angst das sich alles verschlimmerte. Ich wollte nicht fallen, doch die Schwärze zog und zerrte an mir, dass ich mich kaum wehren konnte. Mit den Händen griff ich nach hinten, um mich am Bett festzuhalten, bekam aber nur das Bettlaken zu fassen. Es rutschte mir aus den Fingern, als wäre beides in Öl getränkt und ich kippte nach vorn. Bevor ich aber auf den Boden knallte, prallte ich gegen etwas Warmes. Das Letzte, was ich wahrnahm, war der Duft von Zimt, Minze und Mittelmeer.
♦Adrián♦
Montag.
Das Arschloch der Wochentage.
Kaum jemand mochte ihn. Ich heute ganz besonders nicht. Und doch fühlte ich mich verbunden mit ihm, war ich doch wie er.
Noah war im Krankenhaus. Als er kurzzeitig ohnmächtig geworden war, hatte ich ihn auf mein Bett gelegt und sofort den Krankenwagen gerufen, war aber die ganze Zeit bei ihm geblieben. Denn er hatte ganz klar eine Gehirnerschütterung, wie mir einer der Sanitäter meine Vermutung bestätigte. Ich durfte leider nicht mitfahren -Zippos Padre hätte eine Ausnahme gemacht- und sollte Noahs Eltern verständigen. Da seine Madre Zuhause war, war sie schneller bei mir, als sein Padre, der als Immobieleinmakler einen Aussentermin hatte. Amanda wollte mich mitnehmen, doch ich lehnte ab. Sie schien zu denken, dass mir der Schock von Noahs Sturz noch in den Knochen saß, ganz unrecht hatte sie da nicht, aber eigentlich fürchtete ich mich davor ins Krankenhaus zu fahren. Ich hatte verschissene Angst davor, wie er auf mich reagieren, dass er mich zum Mond jagen würde. Und nichts mehr mit mir zu tun haben wollte.
Ja, ich weiß, genau das wollte ich ja mit meiner Aktion erreichen, aber... Es war übertrieben gewesen und es tat verdammt weh. Mit jedem Schmerz, den ich ihm zugefügt hatte, hasste ich mich nur noch mehr. Scheiße, es war auch so verdammt schwer überhaupt so zu ihm zu sein und das durchzuziehen. Aber ich hatte es geschafft und ich fühlte mich so beschissen, wie noch nie.
Er war die wichtigste Person in meinem Leben. Ich vergötterte ihn. Er war einfach perfekt. Sicher, auch er hatte seine Fehler. Aber genau das machte ihn in seiner Unperfektheit perfekt. Mi Angelito. Du fehlst mir schon jetzt. Ich hatte fünfzehn Jahre Freundschaft an einem Tag, innerhalb weniger Stunden zerstört. Das konnte ich nicht wiedergutmachen. Er würde mir nicht verzeihen, da war ich mir sicher. Ich konnte es ja selber nicht.
♦♦♦
Frühstückspause.
Ich hatte weder Hunger, noch Bock auf Gesellschaft, weswegen ich meine Freunde mied und Bekannte mit Todesblicken in die Flucht schlug.
Da ich mich überall, nur nicht auf Klo versteckte, tat ich genau das, weil ich wusste, dass niemand darauf kommen würde. Und um wirklich sicher zu gehen, dass mir nicht doch jemand auf die Schliche kam, nahm ich das Mädchenklo. So gut es ging, machte ich es mir in der Toilettenkabine gemütlich. Und ignorierte die kichernden Mädels, die des öfteren herein geschneit kamen. Nebenbei verfluchte ich mich, dass ich meinen MP3 Player vergessen hatte.
Trotz, dass ich wusste, wie es in solchen Kabinen aussah, zumal sie sich wenig von den der Jungs unterschied, sah ich mich um. Wenn ich starke Klaustophobie hätte, wäre ich in Panik ausgebrochen. Pirouetten konnte ich zwischen den hellgrauen Wänden nicht drehen. Nicht das ich darauf sonderlich scharf war. Auf Scheißhäuser scheißte man. Oder pinkelte. Binnsenweißheit des heutigen Tages.
Schon jetzt lagen auf dem Boden ein paar Tolittenpapierstreifen. Bonbonpapier und vier Kaugummipapierkügelchen. Waren die Weiber zu blöd, Mülleimer zu benutzen? Da fragte man sich echt, ob sie das auch zu Hause machten. Klar, auch auf dem Jungsklo gab es welche, die die Funktion des Abfalleimers noch nicht begriffen hatten, aber im Gegensatz zu den Weibern hielt es sich in Grenzen. Wer auch immer meinte, Mädchen waren sauberer als Jungs, der war noch nie auf einem Weiberscheißhaus. Die Reinigungskräfte die am späten Nachmittag hier sauber machen mussten, taten mir leid. Es war noch nicht mal Zehn und es sah hier aus, wie in einer mexikanischen Würfelbude.
Mein Blick blieb an die Kritzelein hängen, die an den Wänden geschmiert worden waren. Auch etwas, was Weiber häufiger taten, als meine männlichen Artgenossen.
Ja, das hat er wirklich. Und sie schmecken sicher göttlich. Es war mir scheißegal, dass es noch andere Noahs hier gab. Für mich gab es nur einen. Mi angelito.
Noah und Linda... Sie hatte mich. Ich wollte ihn. Sie liebte mich. Ich liebte ihn. Er hasste mich. Und bald würden mich beide hassen. Seufzend rieb ich mir über die Augen. Wann hatte mein Leben angefangen einer Telenovela zu gleichen?
Als ich in meiner Hosentasche nach meinem Handy griff, um zu schauen, wie spät es war, ging die Tür auf. Gekicher und Getuschel blieb diesmal aus. Es kam zwar verdammt selten vor, aber manche Weiber gingen nicht zu zweit aufs Klo. Zwar machte mich das hin und her Schleichen stutzig, denn es waren genug Toiletten offen und ich war auch gerade der einzige hier, doch ich kümmerte mich nicht weiter darum. Vielleicht hatte sie ein Stammklo – hoffentlich nicht meins – oder musste einen kleinen Trampelpfad laufen, bis sie pinkeln konnte. Jeder hatte eben seine Macken.
Ich holte mein Handy heraus und drückte auf den Ein und Ausschaltknopf, um nachzusehen, wie spät es war. 9:35 Uhr. Der Unterricht fing in fünf Minuten wieder an. Wenn die Wandertrulla endlich fertig war, würde auch ich mich auf den Weg machen. Auch wenn ich keine Lust hatte und mich viel lieber in Selbstmitleid baden wollte. Außerdem musste ich mir noch überlegen, wie ich mich so schonend wie möglich von Linda trennte.
“Adrián.”
Erschrocken zuckte ich zusammen, als ich meinen geflüsterten Namen hörte.
“Oder sollte ich dich jetzt eher Adriána nennen?”
Jules. Mein Versteck war genial. Wie hatte er mich finden können?
“Denkst du nicht, dass ich dich mittlerweile kenne?”
Ich sah nach oben. Seine türkiesen Augen musterten mich eingehend – ich hasste es, dass wusste er. Also verstärkte ich meine Mauer.
“Geh nach Noah.”
Mein Blick verfinsterte sich und ich baute eine Mauer, um meine Mauer. Inzwischen mussten es an die fünfzehn sein, so alt wie ich selbst war. Wann immer ich das Gefühl hatte, jemand durchbrach eine Mauer, baute ich eine neue drumherum.
“Hör auf Mauern, um deine Mauern zu bauen. Man muss nicht sonderlich gute Menschenkenntnisse besitzen, um zu sehen, was mit dir los ist.”
Als mein Todesblick nicht funktionierte und mir sein Glotzen auf den Sack ging, senkte ich den Blick und starrte auf meine Oberschenkel.
“Geh nach Noah.”
“Er will mich nicht sehen”, sagte ich, meine Stimme nur ein Knurren.
“Geh nach Noah.”
“Hast du 'ne verdammte Schallplatte verschluckt?”
“Geh nach Noah.”
“Du gehst mir verfickt nochmal auf den Sack. Er will mich nicht sehen, kapier es endlich.”
“Woher willst du das wissen? Hat er es dir gesagt?”
“Nein. Ich weiß es eben.”
“Geh nach Noah.”
“Fängst du schon wieder damit an.”
“Geh einfach zu ihm.”
“Er ist im Krankenhaus, schon vergessen?”
“Falsch. Er ist bereits entlassen worden und auf dem Weg nach Hause.”
Ich riss den Kopf nach oben. “Woher weißt du das?”
“Geh nach Noah.”
Meine Augen verdrehten sich automatisch. “Wir haben gleich Mathe, wie du wissen solltest.”
“Du kannst dich eh nicht konzentrieren. Ich bring euch nachher die Hausaufgaben”, fügte er noch hinzu.
Seufzend sah ich wieder nach unten und ballte meine Hände zu Fäusten. Ich konnte nicht zu ihm. Er würde mich wegschicken. Oder seine Madre beauftragen. Ich... hatte einfach verdammte Angst, dass er mich wirklich hassen würde. Obwohl ich es gestern darauf angelegt hatte. Aber...
“Geh zu ihm”, sagte Jules und ich spürte ein warmes Lächeln in seiner Stimme. “Wehe du hast nachher nicht deine Zunge in seinem Mund, wenn ich die Hausaufgaben bringe.” Er schloss die Tür leise hinter sich. Und ich blieb sitzen, unfähig auch nur eins meiner Beine einen Befehl zu erteilen.
♦♦♦
Ich hatte keine Ahnung wie lange ich noch auf dem Mädchenklo gesessen, oder wie ich es dann geschafft hatte, meinen Beinen den Befehl zu geben, sich in Bewegung zu setzen. Doch nun stand ich vor Noahs Haus. Tigerte aber wie ein Löwe im Käfig hin und her, weil ich zu feige war, um zu klingeln.
Nach meiner Aktion Samstag wollte er mich garantiert nicht sehen. Da war ich mir sicher. Ich kannte Noah einfach zu gut. Sobald ich in seinem Zimmer auftauchen würde, würde er mich sofort rausschmeißen, wenn ich überhaupt so weit kam. Er konnte auch seine Madre beauftragen mich an der Tür abzuwimmeln und wenn sie wusste, was ich ihm vorgestern alles angetan hatte, würde sie es auch tun.
Trotz, dass die Streitereien überwiegend von mir ausgegangen waren, hatte sie stets Verständnis für mich gehabt, mich umarmt und gesagt, dass sich alles wieder einrenkt. Wenn sie aber wusste, dass ich an Noahs Unfall Schuld war, war es damit vorbei. Das stand fest.
Um diesem Erlebnis aus dem Weg zu gehen, ging ich zur Garagenseite. Alle Schlafzimmer des Einfamilienhauses waren zum Garten hin ausgerichtet, so dass sie vom Straßenlärm abgeschirmt waren. Doch seit Noah 14 Jahre alt war, hatte er im Dachgeschoss sein eigenen kleinen Wohnbereich bekommen, wo auch seine Instrumente platz hatten und er seine Songs besser einsingen konnte, ein Ministudio sozusagen. Ich fand es super, aber es erschwerte mein Vorhaben. Denn auch wenn ich zu feige war, um zu klingeln und Noah mich nicht sehen wollte, so wollte ich ihn sehen. Nicht reden, mir fehlte der Mut und er würde nicht wollen. Jedoch war beobachten erlaubt, nur ein kleines Bisschen.
Allerdings musste ich erst mal so weit kommen. Einmal bin ich bis jetzt da hochgeklettert, wäre fast abgestürzt und hätte mir das Genick gebrochen. Lebhaft tanzten die Bilder der Erinnerungen durch meinem Kopf, als wäre es gestern gewesen. Nur knapp hatte ich mich am Fensterbrett bei ihm festhalten können, als ich abgerutscht war und er hatte mich dann in sein Zimmer gezogen – erstaunlich was der Kleine für Kräfte entwickeln konnte.
Ich schmunzelte, seine Motztriade danach war ebenfalls nicht zu verachten. Er hatte sich im wahrsten Sinne des Wortes heiser geredet. Glücklich, auch wenn ich es ihm nicht gezeigt hatte, ließ ich es über mich ergehen, weil es sich wahnsinnig gut angefühlt hatte, wie er sich um mich sorgte. Natürlich war es auch leichtsinnig und jemanden absichtlich Sorgen zu bereiten war scheiße. Ich tat so etwas auch nicht, jedenfalls nicht oft. Trotzdem hatte ich es genossen.
♦♦♦
Noch eine Weile überlegte ich, ob ich wirklich auf das Dach klettern sollte, nur um kurz in Noahs Zimmer schauen und ihn vielleicht sehen zu können. Einerseits war es riskant. Gefährlich. Und irre. Sollte ich erwischt werden, war mir ein Platz in einer Geschlossenen sicher - wenn es gut ging. Wenn nicht, konnte ich den Pflanzen bald von unten beim wachsen zusehen. Anderseits… Hatte ich je behauptet nicht irre zu sein? Den Geschmack der Gefahr und den Duft des Risikos nicht zu mögen?
Außerdem, hier ging es um Noah. Schon früh hatte ich gemerkt, dass alles was ihn betraf wichtiger war und die Gefahr nebensächlich. Bei ihm fühlte ich mich sowieso unbesiegbar und unverwundbar. Nichts und niemand konnte mir etwas anhaben. Außer er. Er war der einzige der mich wirklich verletzen, der mich in die Knie zwingen, der mich brechen konnte. Das machte mir verschissene Angst. Und dennoch konnte ich nicht ohne ihn. Würde es nie sein. Er war meine Sucht. Meine Obsession. Meine Welt. Die er mit jedem Tag, an dem er bei mir war, leuchtender und bunter machte. Leider wusste er es nicht. Ich würde ihn verlieren, wenn ich es ihm sagte. Falls ich ihn nicht schon längst verloren hatte.
Ich seufzte und fuhr mir kurz mit einer Hand übers Gesicht. Dann ging ich hinter dem großen Walnussbaum. Legte mein Cap ab, meine restlichen Sachen folgten. Ja, ich war meschugge und ziemlich verkorkst. Aber tot in Wagners Garten konnte ich weder ihnen, noch meinem Padre und meiner Hermana antun. Erst recht nicht Noah. Ich wollte weiterhin in seiner Nähe sein, auch wenn er mich hasste. Ganz recht, ein Masochist war ich auch noch. Ich war ein Facettenreicher Bengel und sehr stolz drauf, auch wenn ich es manchmal selbst mit mir schwierig fand.
Deshalb hatte ich beschlossen als Katze auf das Dach zu kommen und damit meine Klamotten nicht zerrissen, zog ich sie vorher eben aus. Als Katze bewegte ich mich noch viel leichtfüßiger, konnte mich, falls ich abrutschte, besser wieder fest krallen und wenn ich fiel, würde ich mir, wenn überhaupt, ein Arm oder Bein, verstauchen. Gebrochen hatte ich mir jedenfalls bisher noch nichts. Und da ich nicht ganz blöd war, nur wahnsinnig, würde das auch so bleiben.
Grinsend schüttelte ich den Kopf, als mir bewusst wurde, dass ich gerade nackt in Noahs Garten stand. Ob er mich wegschicken würde? Wenn ich an seinen Blick von gestern dachte, als er eingehend meinen Rücken betrachtet hatte, würde die Antwort nein lauten. Aber als mir meine darauffolgende Reaktion in den Sinn kam, wurde daraus ein ja. Dabei hatte ich es nur getan, um nicht etwas zu tun, was ich jetzt noch mehr bereute, als das ich ein Riesenarsch ihm gegenüber war. Mios dio, es hatte mich so krass angemacht, als er mich so intensiv gemustert hatte, dass mich meine eigenen Gedanken, über ihn herzufallen, so erschrocken und verstört hatten, dass ich mir nicht anders zu helfen wusste – wie so oft in den letzten Jahren, wenn ich mit den Gefühlen zu ihm nicht klar kam.
Seine verletzte Entschuldigung die er gemurmelt hatte, ließ mein Herz noch mehr schreien. Und das, obwohl es sich bei dem zutiefst traurigen Blick, bevor er aus meinem Zimmer gestürmt und die Treppe heruntergefallen war, schon heiser geschrien hatte. Dieser Blick hatte sich tief in meinen Hirn, tief in meinem Herzen und tief in meiner Seele gebrannt, sodass ich ihn malen musste. Die Hoffnung, dass er dadurch verblasste, starb bevor sie überhaupt richtig zum Leben erwachte.
Ehe mich der Mut komplett verließ, verdrängte ich all die Erinnerungen von Sonnabend und konzentrierte mich auf meine Verwandlung. Ein Lächeln von ihm, welches zeigte, dass es ihm gut ging und die Bilder würden transparenter werden und irgendwann verschwinden.
Ich schloss die Augen und konzentrierte mich darauf, diesmal eine ganz normale Hauskatze zu werden. Kein Luchs, kein Tiger, kein Löwe, kein Puma. Und auch kein Panther. Nicht einmal eine Maincoon oder ein Bengal. Als Hauskatze würde Noah nicht auf die Idee kommen, dass ich es bin. Ich hoffte aber sehr, dass sich diesmal auch meine Augen verändern würden, denn daran erkannte er mich immer. Also rief ich mir einen schwarz – weiß gefleckten Kater ins Gedächtnis, mit grünen Augen. Ich könnte auch eine Katze wählen, doch auch noch das Geschlecht zu wechseln, würde mir mehr Kraft und Energie kosten und die Verwandlung würde sich um mehrere Stunden verkürzen. So schaffte ich es immerhin schon zwei Tage lang die Gestalt konstant zu halten. Das konnten in meinem Alter nur die wenigstens. Wenigstens als Gestaltwandler machte ich alles richtig
Eigentlich hätte ich auch die Gestalt eines anderes Tieres annehmen können. Ein Rabe wäre wegen seiner Flügel einfacher gewesen. Leider hatte ich mich noch nicht intensiv mit den Vögeln auseinander gesetzt, sodass ich mich zwar in einem verwandeln, aber nicht fliegen konnte. Denn nur weil man die Gestalt eines Tieres annahm, konnte man noch lange nicht alle Fähigkeiten. Jede Medaille hatte nunmal zwei Seiten. Deshalb spezialisierten sich die meisten Gestaltwandler auf das Tier, mit welchem sie sich am besten indentifizieren konnten. Nur die wenigstens von ihnen waren in der Lage mehrere perfekte Verwandlungen in verschiedenste Tiere zu schaffen und sie auch lange zu halten, ohne dabei übermäßig viel Kraft und Energie zu verlieren.
Als der reißende Schmerz in den Beinen begann, ging ich in die Knie und krümmte mich. Diese Position linderte den Schmerz eigentlich nicht, aber es bescherrte mir einen Placeboeffekt, der mir half ihn auszuhalten. Onkel Miguel sagte mir, dass der Schmerz irgendwann erträglicher wurde, ich müsste mich nur oft genug verwandeln. Es reichte am Tag, sich zehn Minuten in einen Stift zu verwandeln und irgendwann würde es nicht mehr so weh tun. Ja, wir konnten uns nicht nur in Tiere, sondern auch in Gegenstände jeglicher Art verwandeln. Gegenstände waren sogar einfacher und kosteten weniger Kraft und Energie. Machten aber auch weniger Spaß. Obwohl... Ich könnte mich ja mal in eine Gitarre verwandeln, dann wäre ich Noah ziemlich nahe und er würde sogar an mir herumzupfen... blöde Idee. Ich wäre dann wahrscheinlich die erste Gitarre die einen Orgasmus bekommen würde.
Dennoch bezweiflte ich, dass dieser verdammte Schmerz jemals an Intensität nachlassen würde. Ich schaffte es gerade so, nicht zu schreien, als sich meine Knochen verbogen und in die richtige Position brachten. Mein Herz donnerte mir in den Ohren, mein Puls raste und ich atmete unkontrolliert, als es endlich vorüber war. Flach lag ich auf dem Boden und versuchte mich zu beruhigen. Auch das sollte sich irgendwann ändern, hatte Onkel Miguel gesagt.
♦♦♦
Nachdem ich mich endlich beruhigt hatte, stand ich auf und lief zur Terassentür, um in der Spiegelung im Fenster nachzuschauen, ob meine Verwandlung geklappt hatte. Hatte sie. Ich war schwarz- weiß gefleckt, meine Augen waren hell, ob grün oder blau konnte ich nicht sagen, zumindest war keines von ihnen braun. Das war gut. Weniger gut fand ich, dass ich ein Katzenjunges war. Als Baby waren meine Krallen noch nicht so stark, dass sie mich halten konnten, falls ich abrutschte. Dennoch würde ich es wagen, einfach weil ich Noah sehen musste.
Mein Vorhaben über die Garage aufs Dach zu kommen, war als Jungkatze gegessen und ich wählte den Baum der am nähsten am Haus stand. Es war der Ahornbaum, um den Noah und ich als Kinder oft beim Fangen herumgerannt sind. Ich lief zu ihm und wollte mich auch schon zum Sprung bereit machen, als ich hörte, wie die Terassentür geöffnet wurde und etwas Schwarzes herausgeschossen kam, direkt auf mich zu. Hitchcock. Ihn hatte ich völlig vergessen. Er musste mich gesehen haben, als ich mich im Fenster begutachtet hatte. Er würde mir nichts tun. Mich sogar erkennen. Aber er würde mit mir spielen wollen und da er noch etwas tapsig war, würde es nicht ganz schmerzfrei sein.
Noch im Sprung erfasste er mich und wir rollten beide über die Wiese. Noch bevor ich mich wieder aufrappeln konnte, kam er mit wedelnden Schwanz auf mich gesprungen und leckte mir über Gesicht und Köpfchen.
“Hitchcock, lass das Kätzchen in Ruhe!”
Amanda. Ich nutzte die kurze Ablenkung, um mich von dem schwarzen Fellkäul wegzurollen, zum Baum zurück zu laufen und hochzuklettern. Durch den Adrenalinkick klappte es erstaunlich gut und schnell. In wenigen Sekunden war ich in Dachhöhe geklettert und tat so, als würde ich mich auf dem dicken Ast verstecken.
“Sieh nur, was du angerichtet hast, du kleiner Wildfang”, meinte Amanda, knuffte Hitch und sah dann zu mir hoch. Ich mochte ihren britischen Akzent. Das violette Leuchten ihrer Augen, konnte ich sogar von hier oben sehen. Nicht nur die Augenfarbe, auch die Haarfarbe hatte Noah von ihr geerbt. “Poor Kitten. Wir sind gleich wieder drin, dann kannst du runter kommen.” Sie zog kurz nachdenklich die Augenbrauen zusammen. Überlegte sie etwa, mich hier herunterzuholen? Hoffentlich nicht. “Ich glaube-” Bevor sie ihren Satz zu Ende gesprochen hatte, sprang ich auf das Dach. Ich wollte nicht, dass sie wegen mir auf eine Leiter stieg.
Sie lachte. “Smart kitten.” Ich weiß, sexy Mamasita. Da sie wohl davon überzeugt war, dass ich vor dem wilden, schwarzen Fellknäul sicher war, konzentrierte sie sich nun auf diesen.
Vorsichtig arbeitete ich mich auf die Dachziegel fort, zu Noahs Fenster, um mich dort auf das schmale Brett zu setzen.
“Good idea. Mein Sohn wird dich sicher reinlassen.” Erschrocken hielt ich inne, nur mein Herz raste wieder los. Flüchtig kam mir der Gedanke, dass sie wusste, dass das Kätzchen auf dem Dach ich sein könnte. Doch ich schob ihn beiseite. Ich war viel zu schnell auf dem Baum gewesen, sie hätte mich nicht erkennen können. Oder doch? Ach Quatsch! Über mich selbst die Augen rollend ging ich weiter, bis ich am Fensterbrett angelangt bin.
Aber als ich ins Zimmerinnere blickte, erfasste mich der nächste Schock. Noah war da. Aber er war nicht alleine.
Lucie war bei ihm.
Was machte die Trulla denn bei ihm? Warum war die nicht in der Schule? Gerade kam mir der Gedanke, dass sich ein paar Kratzer in ihrem Gesicht hübsch machten. Bisschen verwegen.
Noah wirkte angespannt, sogar ein wenig entnervt. Und müde. Kein Wunder, er brauchte Ruhe. Wie sehr musste die Funzel Amanda genervt haben, bis sie diese zu ihrem Sohn gelassen hatte? Freiwillig war es sicher nicht, denn sie konnte Lucie genauso wenig leiden, wie ich. Bestimmt war sie auch bei Noahs Entlassung dabei. Gesehen hatte ich sie auf dem Schulhof jedenfalls nicht.
Jetzt wollte ich unbedingt in sein Zimmer, um sie solange zu triezen bis sie abhaute. Sie verdiente Noah noch weniger als ich.
Um auf mich aufmerksam zu machen, fing ich an zu miauen. Meine Stimme war so hell, dass ich die Befürchtung hatte Noah würde mich nicht hören. Doch schon nach kurzer Zeit sah er zum Fenster und entdeckte mich. Sofort kam er zum Fenster gehumpelt und öffnete es. Mit einem flüchtigen Blick nach unten, war ihm klar, dass ich nur wegen Hitchcock hier oben sein konnte.
“Wie süß!” Dieses Quietschen klang wie eine Unheilsverkündung. Als Lucie meinen Kopf tätscheln wollte, wich ich zurück und wäre beinahe heruntergefallen, wenn Noahs Reflexe nicht so schnell reagiert hätten. Er nahm mich hoch und drückte mich sanft an seine Brust. Sofort inhalierte ich seinen unverkennbaren süßlich – holzigen Geruch.
“Du musst vorsichtiger sein, es hat doch Angst. Hitch wollte sicher mit ihm spielen und war zu wild”, meinte Noah und strich mir über den Kopf. Ich sah ihn an und hätte am liebsten eine Tatze nach ihm ausgesreckt, doch ich musste noch ein wenig länger das ängstliche Kätzchen mimen. Sein Lächeln ließ mich schwach werden. “Was für schöne große, blaue Augen du hast.” Was für eine sexy Stimme du hast.
“Du solltest dich hinlegen, Schatz. Du musst dich schonen.” Ich sah ihm an, dass er sich eine Bemerkung wegen des Kosenamens verkniff – er konnte solche nichtssagenden Namen nicht ausstehen, so wie ich.
“Und du solltest langsam zur Schule”, sagte er und gähnte.
“Na gut.” Ihre Stimme verriet, dass sie etwas völlig anderes sagen wollte, doch dann hätten sie sich wieder gestritten. Und seiner Haltung ihr gegenüber nach zu urteilen, hatte er ihr noch nicht wirklich verziehen. Wenn es nach mir ginge, sollte er das auch gar nicht. Sie zog sich ihre dünne Jacke über und nahm den Rucksack in die rechte Hand, während Noah zum Bett humpelte.
“Was wirst du mit dem Kätzchen machen?”, fragte sie und ich ließ widerstrebend zu, dass sie mich streichelte.
Noah zuckte mit den Schultern, drückte mich aber noch ein wenig enger an sich – weggeben schon mal nicht.
“Bis später. Reden wir dann?”, fügte sie hinzu. Er nickte und sie gab ihm einen Kuss. Das wird definitiv der letzte sein, Funzel! Wie gern hätte ich sie ins Kinn gebissen.
Als Lucie die Tür hinter sich schloss, legte er sich hin, hielt mich aber fest, damit ich nicht von seiner Brust runter rutschte. Mit dem Zeige und Mittelfinger kraulte er mich unters Kinn und ich konnte ein Schnurren nicht mehr unterdrücken, selbst meine Augen wurden immer schwerer. Nur noch aus schmalen Schlitzen konnte ich ihn sehen. Er grinste daraufhin und ich hoffte, dass er nicht merkte, dass ich mich nicht wie ein ängstliches Kätzchen benahm.
“Wem du wohl gehörst?”, fragte er und sah mich nachdenklich an.
Dir.
Ich war froh, dass er zu müde war, um zu bemerken, dass mein Herz viel zu schnell schlug.
Wenn er so weiter machte, würde ich auf seiner Brust einschlafen und es würde nicht mehr lange dauern. Ich war so verdammt müde, weil ich die letzten Nächte nicht geschlafen hatte. Ich konnte nie schlafen, wenn wir uns gestritten und noch nicht ausgesprochen hatten. Aber auch wenn wir nicht im Streit waren, schlief ich nicht viel, war aber dennoch ausgeruhter. Am besten schlief ich, wenn er in meiner Nähe war, weswegen ich mich am Wochenende oft bei ihm einquartierte, um Schlaf nachzuholen. Meistens benutzte ich die Ausrede 'Hab mich mit meinem Padre gestritten', die nicht mal wirklich eine Ausrede war, da ich mich häufig mit ihm stritt.
“Hast recht, schlafen ist 'ne gute Idee”, murmelte er und schloss die Augen. Es dauerte nicht lange und das Kraulen hörte auf, seine Atemzüge wurden tiefer und das sanft lächelnde Gesicht glich dem eines Engels – umsonst nannte ich ihn schießlich nicht angelito. Auch wenn er immer betonte keiner zu sein und auch eher dachte, dass ich ihn mit dem Namen aufzog. Ich meinte es ernst. Er war ein angelito und er war mein angelito.
♦♦♦
Auch ich muss eingeschlafen sein, denn als ich wieder aufwachte, war es dunkel. Nur der Mond warf ein paar sanfte Strahlen hinein, direkt auf Noahs Engelsgesicht. Noch immer hatte er dieses sanfte, völlig zufriedene Lächeln auf den Lippen, bei dem ich alle Kraft aufwenden musste, um ihn nicht einfach zu küssen. Für mich war er der schönste Bengel auf diesem fragilen Gebilde namens Erde. Und auch, wenn ich gerade der Letzte war, den er sehen wollte, vielleicht hasste er mich wirklich (wobei ich mich oft schon gefragt hatte, ob er überhaupt zu diese Empfindung fähig war), würde ich nicht von seiner Seite weichen und weiter auf ihn aufpassen. Und mich von Linda trennen, denn sie hatte jemanden verdient der sie wirklich liebte. Nebenbei musste ich auch dafür sorgen, dass Noah sich von Lucie trennte. Es lag nicht nur an Eifersucht, dass ich davon überzeugt war, dass sie ihn weniger verdiente, als ich, sondern auch, weil sie eine unsympathische Art an sich hatte. Sie war eine von der Sorte, die dich lächend umarmte und dabei ein Messer in den Rücken rammte. Um das herauszufinden, brauchte ich nicht mal eine Analyse starten, in ihre Rehbraunen Augen zu schauen reichte aus. Irgendwann würden es Noah und der Rest auch noch merken. Doch irgendwann dauerte mir zu lang. Die Funzel sollte sich verpieseln und zwar schleunigst.
Peinlich darauf bedacht, Noah nicht zu wecken, rutschte ich von ihm runter, ging zum Bettrand und sprang auf den Boden. Dort verwandelte ich mich, ohne das ich es wollte, zurück und hielt mich schwankend an der Wand fest. Halleluja, hätte nicht gedacht, dass mir das so viel Energie kostet. So lange war die Verwandlung doch nicht gewesen, wieso haute mich das jetzt so um? Und woher kamen diese verschissenen Kopfschmerzen? Egal, ich musste nach Hause, bevor Padre morgenfrüh noch einen Suchtrupp nach mir losschickte, oder mir verbal den Arsch aufriss. Letzteres war eher der Fall. “In Schulwochen wird nirgendwoanders geschlafen, als zu Hause”, tänzelte seine Regel nervig durch mein von Schmerzen geplagter Schädel. Ich hatte es ja sonst nicht so mit Regeln, doch ihm zu Liebe hielt ich mich zumindest an ein paar. Auch wenn es mir mit Blick auf Noah so verflucht schwer fiel. Lieber hätte ich mich zu ihm gelegt und ihm faszinierend beim Schlafen zu gesehen.
Ich schlich mich zu seinem Kleiderschrank, um ihm eine Boxershorts zu klauen. Nachts nackt durch Gardelegen zu sprinten würde weniger Aufsehen erregen, als tagsüber, dennoch wollte ich es nicht riskieren. Außerdem wollte ich etwas von Noah haben, auch wenn es nur eine verschissene Unterhose war. Der Geruch würde mich besser schlafen lassen.
Nachdem ich die Boxer angezogen hatte, bei der mir schon vorher klar war, dass sie nicht passte, ging ich zu ihm, um das Bild des schlafenden Angelito zu schärfen. Dieses seelige Lächeln. Daran würde ich mich nie satt sehen können. Ich beugte mich vor, ich brauchte erst gar nicht da gegen anzukämpfen und küsste sanft seine Stirn.
“Noah...”, begann ich leise, holte tief Luft und sprach dann weiter. “Ich will nur, dass du weißt, dass ich dich nicht hasse. Eher im Gegenteil. Du bist die wichtigste Person in meinem Leben, angelito. Niemand bedeutet mir so viel, wie du. Ohne dich wäre ich heillos verloren in dieser riesigen Welt. Ich weiß, dass ich dir sehr weh getan hab und das du mich deshalb nicht mehr sehen willst. Trotzdem werde ich immer auf dich aufpassen.”
Ja, ich sollte ihm diese Worte im wachen Zustand sagen, aber ich war so ein verdammter Feigling! Außerdem wusste ich nicht, ob er sie überhaupt hören wollte. Und ein kleiner, naiver Teil hoffte, dass sie trotzdem zu ihm durchdrangen. Schließlich klappte es bei Komapatienten ja auch. Wobei ich sicher nicht zulassen würde, dass Noah je ins Koma fallen würde. Mal davon abgesehen, wer würde das wollen?
Ich richtete mich auf, schnappte mir den Liebesbrief der noch immer auf dem Schreibtisch lag, drehte mich um und ging zur Tür. Ohne noch einmal zurück zu sehen, weil ich sonst nie von hier los kam, verließ ich sein Zimmer und hoffte, dass ich das Haus verlassen konnte, ohne jemanden zu wecken, allen voran Hitchcock.
♦Adrián♦
“He, Schlafmütze, du musst zur Schule.”
Catalina? Ich zog die Brauen zusammen, kam nur langsam zu mir.
“Alles okay bei dir? Du musst dich beeilen, es ist schon um sieben.”
Was? Ich riss die Augen auf und setzte mich auf. Doch so schnell ich mich aufgesetzt hatte, lag ich auch wieder. Mir tat alles weh. Besonders mein Schädel dröhnte, als würde ein Presslufthammer Tango tanzen. Gleichzeitig war mir so heiß und schwindelig und mein Hals brannte, als wäre ich in der Sahara und würde in der prallen Sonne liegen. Auch fühlte er sich geschwollen an, dass Schlucken war eine Qual.
“Rián?!” Lina setzte sich zu mir aufs Bett und fühlte meine Stirn. “Díos mio, du glühst ja!”
Ich sah sie nur an, traute mich nicht zu sprechen. Mein Blick musste so leidend gewesen sein, weshalb sie mir sanft die Stirn streichelte. Ich war sonst nie krank. Nie!
¡Maldita sea! Ich glaubte von einer Dampfwalze überfahren worden zu sein und durch einen Fleischwolf gedreht. So fühlte es sich also an, wenn man krank war? ¡Mierda! Scheiße war eigentlich gar kein Ausdruck. Plötzlich empfand ich Mitleid mit Menschen die das öfter hatten. Aber nur ein bisschen. Schließlich war ich nicht Mutter Theresa.
Das Immunsystem bei uns Gestaltwandler, war dem der Menschen ähnlich, allerdings war ich sehr stolz auf mein Immunsystem, was stets alle Krankheiten erfolgreich abgewehrt hatte. Bis jetzt.
“Ich ruf im Gymnasium an und hol erst mal das Fieberthermometer.” Sie gab mir einen Kuss auf die Stirn und verließ dann mein Zimmer, dabei huschte Caligula hinein. Wo kam er denn schon wieder her? Und wieso hatte er mich nicht geweckt? Sonst war er immer mein Wecker. Punkt sechs Uhr miaute er so lange, bis ich wach wurde. Manchmal leckte er mir mit seiner rauen Zunge auch übers Gesicht, was sich echt beschissen anfühlte. Bisschen wie Sandpapier. Und welcher Idiot wollte schon mit Sandpapier geweckt werden? Der kleine Scheißer weckte mich aber nicht, weil er nicht wollte dass ich zu spät zum Unterricht kam, nein, er musste um diese Zeit kacken. Katzenklos fand er blöde und die Katzenklappe, die wir extra in meiner Zimmertür einbauen lassen haben (in der Tür zum Garten ebenfalls) benutzte er nur, wenn niemand da war der dem Kaiser die Tür öffnete.
Vage erinnerte ich mich, dass er mich heute Nacht in meinem Zimmer erwartet hatte. Sein Blick war vorwurfsvoll und er bestrafte mich mit Schweigen, obwohl er sonst ziemlich redsam war. Seine Angepisstheit hielt ihn aber nicht davon ab, sich auf mich zu pflanzen, nachdem ich mich hingelegt hatte. Gleiches tat er auch jetzt, nur war sein Blick nicht mehr ganz so anklagend, eher besorgt. Ich hob die Hand, um ihn ein wenig zu kraulen. Sofort ging sein Motor an und Schnurren erfüllte den sonst so stillen Raum. Zu still. Normalerweise wäre jetzt Musik an, während ich mich für die Schule fertig machte. Beschissenerweise lag die Fernbedienung meiner Anlage auf dem Boden neben meinem Bett – was auch immer das Drecksding da suchte. Ich rutschte so dicht an den Rand meines Bettes, um nach der Fernbedienung zu angeln, bekam sie aber leider nicht zu fassen. Mich auf die Seite zu rollen, um so besser heranzukommen, wagte ich mich nicht. An die Bettkante zu rutschen, war schon eine Tortour gewesen. Widerstrebend gab ich auf, hob meinen Arm und legte ihn auf meinem Bauch, neben Caligulas Rücken.
♦♦♦
Dösend lag ich in meinem Bett und wartete, dass meine Schwester wieder kam, damit ich sie nach etwas zu trinken und Halsbonbons bitten konnte. Nebenbei überlegte ich, wie ich mich davor drücken konnte, zum Arzt zu gehen, worauf sie mit Sicherheit bestehen würde. Wenn ich heute im Bett blieb, mich schonte und Erkältungstee Literweise trank, würde ich morgen schon wieder fit sein, dann reichte auch ein Entschuldigungsschreiben meines Padres.
“So, ich habe im Gymnasium angerufen und soll dir von Herr Rosenstein gute Besserung wünschen. Ja, vom Direktor höchst persönlich. Frau Leuschner ist ebenfalls krank und Herr Schuster verspätet sich, sein Auto springt nicht an”, fügte sie hinzu, als ich sie mit leicht hochgezogener Augenbraue ansah. Dann wird heute im Sekretariat die Hölle los sein, trotz das der Schuster noch kommen würde. Herr Rosenstein war ein guter Direktor, freundlich und charismatisch. Mobbing, Prügeleien, Verschmutzung des Schulgebäudes und Geländes, sowie Demolierung bestrafte er hart, weswegen ihm der nötige Respekt entgegen gebracht wurde. Und doch würde er heute, ohne seine gute Fee Frau Leuschner, aufgeschmissen sein – Telefonate und Papierkram aufeinmal, war nicht wirklich sein Ding. Grinsend erinnerte ich mich, dass vor eineinhalb Jahren schonmal so eine Situation war und er nicht mal Vizedirektor Schuster zur Seite hatte. Er war schon so entnervt, dass er das Gymnasium so lange schließen wollte, bis seine Sekretärin wieder da war. An diesem Tag ging wirklich alles schief, was schief gehen konnte. Es war Winter, die Heizung fiel aus, das Telefon klingelte fast im Sekundentakt und eine Grippewelle hatte die Hälfte der Lehrer außer gefecht gesetzt. Irgndwie hatten wir den Tag und die restliche Woche dann doch unbeschadet überstanden – hätten ja auch festfrieren können.
“Grins nicht so amüsiert, der arme Mann tut mir jetzt schon leid”, sagte Lina und setzte sich zu mir auf das Bett.
“Tja, das nennt man wohl Berufsrisiko”, entgegnete ich schulterzuckend, breute es aber gleich wieder, selbst das tat weh. Krank sein war mehr als scheiße. Und meine Stimme klang, wie eine Krähe mit Stimmbruch. Sprechen war noch beschissener. Zudem bekam ich einen Hustenanfall, bei dem ich glaubte, meine Lungen drückten sich bis hoch in meinem Hals und verknoteten sich mit meiner Luftröhre. Um dem entgegen zu wirken, musste ich mich sogar aufsetzen, nur um mich dann zu krümmen.
“Oje”, mitfühlend strich mir meine Hermana über den Rücken und versuchte so, dass ich mich beruhigte. Als ich drohte, keine Luft mehr zu bekommen, schlug sie mir leicht mit der flachen auf den Rücken, aber auch das half nichts. Also lief sie aus meinem Zimmer, rüber ins Bad und kam mit meinem gläsernen, grünen Zahnputzbecher wieder, gefüllt mit Wasser. Wie ich das mit meinem Hustenanfall trinken sollte war mir schleierhaft. Doch meine Hermana wartete geduldig, wohl auch ein wenig hilflos. Caligula, der von meinem Bauch gerutscht war und zwischen meinen Beinen saß, sah mich völlig verstört an.
Nach einer gefühlten Ewigkeit beruhigte sich der Husten und ich sank erschöpft in mein Kissen zurück. Ich setzte mich nur noch einmal auf, um gierig das kalte Wasser aus dem Glas zutrinken. Mein Hals fühlte sich beim Schlucken an, als würde heiße Lava mein Hals entlang rinnen. Fast hätte ich alles auf meine Decke gespuckt.
“Mein armes, kleines Brüderchen”, sagte Lina besorgt und strich mir ein paar schwarze Ponysträhnen auf der Stirn. “Nachdem Fiebermessen koche ich dir einen Tee, okay?”
Ich schüttelte den Kopf, wenn sich der genauso anfühlte, vielleicht sogar schlimmer, weil er warm war, konnte ich darauf gut verzichten. “Bonbons oder Eis”, flüsterte ich, auch das tat weh.
“Trinken ist aber wichtig, Rián”, sagte sie, schaltete das Fieberthermometer ein und gab es mir. Ich nahm es und steckte es mir unter eine Achsel – ich schlief stets nur in Boxer, besonders im Sommer. Als es nervtötend zu piepen begann, gab ich es ihr wieder, ohne dabei drauf zu schauen. Mir war es sowieso egal, ich war einfach nur müde und wollte schlafen.
“Haleluja”, entsetzt sah sie mich an. “40,1 Grad!”
Ich sah mit einem 'Ich weiß, dass ich heiß bin'- Blick an, doch sie ignorierte mich. “Ich ruf Tante Astrid an.”
Nun war es an mir, sie entsetzt anzusehen. Nicht Arschtritt! Nicht diese Grapscheralte, bei dessen Blick mir immer kotzübel wurde. Eigentlich bei ihrer ganzen Anwesenheit. Die Olle hatte etwas an sich, was ich nicht mochte und in mir sämtliche Alarmglocken zum schrillen brachte. Zudem roch sie immer penetrant nach Vanille, als ob sie jeden Tag darin badete und Bockwurst, die sie wirklich jeden Tag fraß. Wie es ihre Patienten bei ihr aushielten, war mir ein Rätsel. Aber ich fragte mich auch, wie sie mit ihrem Frettchengesicht und dem Lachen eines Puters überhaupt einen Kerl abbekommen hatte. Sie kam ganz nach Padres Madre -äußerlich kam sie nach ihrem Padre, der hatte auch so ein Frettchengesicht- und war ihr ganzer Stolz, zumindest in Sachen Partnerwahl. “Ihr Frank war wenigstens ein Deutscher”, wie die blöde Schreckschraube stets betonte “und dann war er auch noch Arzt, genau wie meine schöne Astrid.” Por dios, schön war echt was anderes. Ihre anderen Kinder hatten bei ihren Partnern einen kompletten Fehlgriff hingelegt. Onkel Raphael schleppte eine Polin an, mein Padre eine Spanierin, Onkel Patrick eine Tasmanierin und Tante Barbara einen Türken. Ja, diese Partnerwahlen waren wirklich schlimm. Einer der vielen Gründe, warum ich Padres Madre noch weniger leiden konnte, als Arschtritt. Sie war eine gottverdammte Rassistin und völlig in der Hitler- Zeit stehen geblieben.
Bevor Lina aus meinem Zimmer stürmen konnte, hielt ich sie an der Hand fest und sah sie eindringlich an. “Nicht Arschstritt”, presste ich mit Mühe hervor.
“Doch”, sagte sie streng und entzog mir ihre Hand, “sie ist die einzige, die ihre Praxisöffnung verschieben und sofort hier her kommen würde”, fügte sie sanft hinzu.
“Die stinkt nach Vanillebockwurst und ist scheiße”, flüsterte ich und wusste, dass Lina es ebenso fand.
“Wir können auch ins Krankenhaus fahren.”
Grimmig sah ich sie an. Ins Krankenhaus zu fahren, hatte ich noch weniger Lust. Zudem wusste ich nicht, ob ich überhaupt aus dem Bett kam. Mir war so schwindelig, dass ich glaubte, zu fallen noch bevor ich richtig stand. Ein wenig wunderte ich mich, dass ich mit so einer hohen Temperatur überhaupt die Konzentration besaß mit meiner Schwester zu diskutieren. Anderseits; Arschtritt in mein Zimmer zu lassen und dann auch noch so nah an mich heranzulassen, war diskutierwürdig, egal wie hoch mein Fieber war.
“Was ist mit Amanda?”, flüsterte ich. Auch wenn sie mich nicht mehr mochte, weil ich Schuld war, dass Noah die Treppe runtergefallen war, würde sie mich trotzdem untersuchen. Zudem war mir Naturheilkunde lieber, als die Schulmdizin.
Lina schüttelte über meine sture Weigerung von Arschtritt untersucht zu werden schmunzelnd den Kopf und sah dann auf ihre Armbanduhr. “Ich ruf mal durch und frag, ob sie noch Zuhause ist.”
“Ich würde auch zu ihr gehen.” Robben wohl eher. Aber egal, wie ich zu Amanda kam, ich würde es machen, so lange la Vanillabockwurstia nicht hier her kam.
“Du bist so ein Sturschädel”, antwortete Lina und verließ mein Zimmer. Hoffentlich dachte sie an Bonbons und Eis.
♦♦♦
Lila Augen über mir.
Gruben sich forschend in meine. Erkundeten jeden Winkel meines innerstes; meines Kopfes, meines Herzens, meiner Seele.
Furcht krabbelte in mir hoch, wie eine Spinne zum Opfer in ihrem Netz. Nur einer schaffte es, dass ich mich nackt fühlte, obwohl ich angezogen war. Und selbst wenn ich nackt war, schaffte er es, dass ich mich noch entblößter, ein wenig auch schutzloser, fühlte. Noah.
Dennoch würde ich mich ihm nie verschließen. Meine sieben Siegel öffnen, damit er in mir lesen konnte, wie in einem Buch. Meine enorme, dicke Mauer einreißen, damit er Zugang hatte. Er sollte jeder Zeit wissen, wie ich für ihn empfand. Wie bedingungslos, tief und ehrlich meine Gefühle für ihn waren.
Ein Lächeln bildete sich auf seinem schönen Mund. Ein Lächeln voll reiner, unschuldiger Liebe. Mein Herz schien in meinem Kopf gehüpft zu sein und trommelte irgendeinen durchgeknallten Rhythmus. Während er mit seinem Gesicht meinem langsam näher kam, war ich zu ungeduldig und hob mein Kopf, um meine Lippen auf seine zu pressen. Doch noch bevor sie ihr Ziel erreichten, klopfte es von irgendwoher.
Ich erschrak so sehr, dass ich zusammenzuckte und einen Moment brauchte, um zu realisieren, dass ich mich in meinem Zimmer befand. Ohne Noah. Und das alles nur ein Traum war. Wie immer. Denn nur in meinen Träumen wusste ich, dass es kein Fehler sein würde, Noah zu zeigen was ich für ihn empfand. In meinen Träumen erwiderte er es auch – weil ich es so wollte. In der Realität sah die Sache schon wieder anders aus - weil die Realität eine blöde Funzel war. Müde rieb ich mir über die Augen, wollte eigentlich rufen, dass ich kein Bock auf Gesellschaft hatte, als ich mich erinnerte, dass mein Hals ja aus heiße Lava bestand. Wie spät war es eigentlich? Und wie lange hatte ich geschlafen? Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren, traute mich aber auch nicht, meinen Kopf zu drehen, um die Uhrzeit an meiner Anlage abzulesen. Es fühlte sich an, als ob dadrinnen Samba getanzt wurde.
Als sich die Tür leise, irgendwie vorsichtig, öffnete und ein lila Augenpaar durch den Spalt in mein Zimmer linste, bekam ich den nächsten Schock. Noah? Mein Herz sprang, wie ein Flummi, in meiner Brust. Doch noch während ich mich von dem Schrecken erholte, erkannte ich, dass es nicht Noah war, der in mein Zimmer spähte, sondern Amanda, seine Madre. Denn ihre schulterlangen braunen Haare, waren viel dunkler, als seine. Kurz flimmerte Enttäuschung in mir auf, weil sie gerade mein Zimmer betrat und nicht er. Idiota, beschimpfte ich mich selbst. Ich konnte schließlich froh sein, dass sie kam und nicht Arschtritt. Zudem hätte Amanda ja auch ihre Kollegin schicken können, doch sie war persönlich hier. Ob sie doch nicht so sauer war, wie ich glaubte?
“Hola mamacita”, begrüßte ich sie, wie gewohnt und versuchte mich bei einem Lächeln - leider vergaß ich, dass auch das Flüstern weh tat, weshalb es kläglich fehlschlug.
“Na du krankes Hähnchen”, sagte sie und lächelte mich mitfühlend an. Ihr brittischer Akzent, ließ mich dann doch leicht grinsen. Sie setzte sich zu mir aufs Bett und stellte ihren Koffer neben sich ab. “Lina hat mir schon von deinem Fieber, deinen Halsschmerzen und dem Hustenanfall erzählt.”
Ich nickte, während sie ihre Hand auf meine Stirn legte, die sich angenehm kühl auf meiner Haut anfühlte. Noch immer war mir so verdammt heiß, obwohl ich im Schlaf meine Decke weggestrampelt haben musste, denn sie lag zusammengeknüllt am Bettende.
“Heiß, was?”, fragte ich und setzte ein schelmisches Grinsen auf.
“Hotter than hell”, bestätigte sie schmunzelnd, legte ihre beiden Hände sanft jeweils rechts und links an meinem Hals und tastete nach meinen Lymphknoten. Die Schmerzen, die diese kleinen Mistviecher ausstrahlten, gingen bis ins Ohr und Hirn, weshalb ich zusammenzuckte und Amanda sie auch sofort losließ.
“Alles gut”, sagte sie sanft. Nicht wirklich. Sie öffnete ihren schwarzen Lederkoffer und holte ein Stethoskop heraus. “Setzt du dich bitte einmal kurz auf?”
Ich sah sie gequält an, befolgte aber brav ihre Aufforderung, wenn auch schwankend und Kopf haltend. ¡Mierda, tat dieses Dreckding weh. Und dieser Scheißschwindel nervte auch extrem. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich noch immer Nohas Boxershorts an hatte – hoffentlich bemerkte Amanda sie nicht. Beim Abhorchen ließ sie sich jedoch nichts anmerken, dass ich in der Unterhose ihres Sohnes vor ihr saß. Meine Lungen schienen frei zu sein und auch mit meinem Herz war alles in Odrnung, dennoch misst sie noch mein Blutdruck.
Als nächstes holte Amanda ein eingeschweißtes, flachen Holsspatel heraus und eine Taschenlampe. Natürlich war es keine Taschenlampe im herkömmlichen Sinne, aber mein Schädel wollte mir einfach nicht die korrekte Bezeichnung für dieses Leuchteding geben. Gab es diese überhaupt? Egal, jedenfalls sollte ich jetzt meinen Mund öffnen, damit sie mit dem Spatel meine Zunger runter drücken und mit der Lampe in den Rachen leuchten konnte.
“Oje”, sagte sie, “sieht mir ganz nach einer Mandelentzündung aus.” Sie schaltete ihre Taschenlampe aus, legte sie in ihren Koffer zurück und schmiss den Mundspatel in meinem Mülleimer – der am anderen Ende meines Zimmers, neben meinem Schreibtisch stand.
Ich reckte einen Daumen in die Höhe, woraufhin sie lachte und mir über die linke Wange strich.
“Ich werde Lina die Rezepte geben”, sagte sie und schloss ihren Koffer.
Ich nickte. “Wie lang muss ich das Bett hüten?” Im Moment konnte ich, wie Dornrößchen hundert Jahre schlafen, allerdings wusste ich, dass ich einen zu großen Bewegungsdrang hatte und schon bald sehr ungeduldig werden würde.
“Also die letzte Schulwoche wirst du dieses Jahr nicht mit machen. Aber sobald das Fieber nachgelassen hat, darfst du ruhig aufstehen. Und ich denke, am Sonnabend, oder Sonntag, kannst du ruhig auch ein bisschen an die frische Luft.” Sie sah mich eindringlich an. “Wenn die Symptome aber nicht besser werden, sogar schlechter, lässt du Lina oder deinen Vater anrufen, okay?”
Ich nickte, griff nach meiner Decke und ließ mich nach hinten sinken, bis mein Kopf, wieder auf mein Kissen lag.
Amanda lächelte zufrieden. “Good boy.” Sie tätschelte mir den Kopf, stand auf und nahm ihren Koffer.
“Wie...” Ich unterbrach mich selbst, atmete tief durch und verfluchte mich, weil mich eine simple Frage so nervös machte. “Wie geht es Noah?”
Ihr Lächeln wurde wärmer. “Die Nachwirkungen der Gehirnerschütterung machen ihm ein wenig zu schaffen, aber er ist zäh.” Sie verdrehte die Augen. “Und stur, so stur. Wenn ich sage, er soll sich und seinen Fuß schonen, sitzt er schon wieder an seinem Keyboard. Ich freue mich sehr, dass Musik seine Leidenschaft ist, wirklich. Aber, wenn er so weiter macht, nehme ich ihm seine Instrumente weg.” Amanda lachte zwar, aber ich hörte den Ernst in ihrer Stimme und wusste, dass sie das durchaus durchziehen würde. Und ja, es klang ganz nach meinem angelito – den ich jetzt zu gern ärgern würde. Oder einfach nur bei ihm sein. Grinsend rieb ich mir über die Augen, die zu brennen begann, weil meine Müdigkeit immer stärker wurde.
“Schlaf dich gesund, Loverboy”, sagte sie sanft und gab mir einen Kuss auf die Stirn.
Ich glaubte, ihr noch eine Antwort zu murmeln, während mich der Schlaf holte.
♪Noah♪
“Wie geht es ihm?”
Mum inspizierte meinen Fuß, ob er schon dünner geworden war. Ich fand schon, sie, nach ihrem Blick zu urteilen, nicht. Dabei war ich heute wirklich den ganzen Tag im Bett gewesen. Schwindel und Kopfschmerzen hatten mich an die Matratze gefesselt, weswegen ich nicht mal meine Gitarre in die Hand nehmen beziehungsweise mich auf irgendwelche Akkorde oder Strophen konzentrieren konnte. Die Nachwirkungen der Gehirnerschütterung setzten mir mehr zu, als ich mir eingestehen wollte. Trotzdem würde ich nicht wieder ins Krankenhaus gehen, wie Mum mir schon angedroht hatte. Das eine Gehirnerschütterung Nachwirkungen hatte, war normal, dass wusste Mum als Ärztin, auch wenn sie sich auf Naturheilkunde spezialisiert hatte. Doch zurzeit kam bei ihr der überfürsorgliche Mutterinstinkt heraus. Natürlich konnte ich es verstehen, dennoch brauchte ich nicht erneut ins Krankenhaus, nicht so lange mir wieder schwarz vor Augen wurde oder ich mich ständig übergeben musste.
Außerdem machte ich mir Sorgen um Adrián. Es war das erste Mal, dass Lina angerufen hatte und das ausgerechnet ihr Bruder einen Arzt brauchte. Ja, ich war noch immer verletzt und verwirrt, wusste noch immer nicht, was ich von all dem halten sollte. Erst wollte er mich küssen, dann ließ er den Drecksack heraushängen und dann kam er als Kätzchen zu mir ins Zimmer – selbstverständlich hatte ich ihn erkannt. Das tat ich immer, auch wenn ich manchmal ein wenig länger brauchte. Keine Ahnung, warum ich stets spürte, dass er es war, wenn mich eine Katze besuchte, vielleicht lag es daran, dass er sich auf diese Tierart geprägt hatte. Doch mein Gefühl sagte mir, dass ich ihn auch in andere Tierformen erkennen würde, selbst wenn er sich einen Gegenstand aussuchen würde. Allerdings war es diesmal auch nicht schwer ihn zu erkennen. Welches ängstliche Kätzchen sprang von einem Baum auf ein Dach? Das konnte nur Adrián sein. Zudem waren seine Augen zwar blau, aber von unterschiedlicher Nuancen. Und selbst wenn ih ihn diesmal nicht erkannt hatte, seine Sachen lagen in unserem Garten.
Es war schön, ihn in meiner Nähe gehabt zu haben, gerne hätte ich auch mit ihm geredet, aber ich war gestern so verdammt müde gewesen.
Mum lächelte mich sanft an. “Die Mandelentzündung hat ihn zwar ganz schön außer Gefecht gesetzt, aber wenn er sich an meinen Anweisungen hält, wird es ihm schnell wieder besser gehen.”
Wie von selbst, schob sich meine linke Augenbraue nach oben. “Adrián und sich an Anweisungen halten?”
“Lina wird schon aufpassen, dass ihr Bruder im Bett bleibt.”
Ich senkte den Blick und zupfte an meinem Bettlaken. Jetzt wäre die Gelegenheit, mich für seine ganzen Krankenbesuche zu revanchieren – und mich mit ihm zu vertragen.
“Ein bis zwei Kontrollbesuche werde ich auch noch machen, für dich.” Aufmunternd strich sie mir durchs Haar.
“Kann ich nicht zu ihm? Als Unterstützung? Wenn er auf Lina nicht hört, dann auf mich”, sagte ich und sah sie mit flehendem Blick an. Das stimmte sogar. Schon oft hatte ich es geschafft, seinen Sturkopf umzustimmen, besonders im Bezug auf seinem Dad. Dieser wollte gerne einen Vater- Sohn- Tag einführen, einem Tag bei dem nur sie zwei etwas zusammen machten. Adrián war erst strikt dagegen gewesen, weil er glaubte, dass sie sich eh nur die ganze Zeit streiten würden. Ich hatte ihn überredet, es dennoch zu tun. Streiten taten sie sich zwar trotzdem, sie waren eben zwei ziemlich starke Persönlichkeiten, aber ich wusste, dass er diesen Tag trotzallem mochte. Er bedeutete ihm auch sehr viel – was er natürlich niemals zugeben würde.
“No. Better not, darling. Du musst dich selbst noch schonen und er würde nicht wollen, dass du mit einer Gehirnerschütterung zu ihm gehumpelt kommst.”
“Dann frage ich halt Dad, ob er mich hinfährt.”
Mum schüttelte den Kopf und ich begann wieder an meinen Laken zu zupfen.
“Ihr werdet euch bald wieder vertragen”, sagte sie lächelnd.
“Hm”, zuckte ich wenig überzeugt mit den Schultern. So lange waren wir noch nie zerstritten. Zudem hatte er mir am Samstag deutlich gezeigt, wie sauer er war. Und genervt. Er wollte sich mit dem angedeuteten Kuss nur einen Scherz erlauben und ich machte da so eine riesen Sache daraus. Sicher, nicht jeder würde so etwas witzig finden und vielleicht wie ich reagieren. Aber es war eben Adrián. Völlig normal und ich hätte es wissen müssen. Dennoch verwirrte es mich, dass er mich als Kätzchen besucht hatte. Was wollte er mir damit sagen? Scheiß drauf? Lass uns den Tag einfach streichen? Könnte zu ihm passen, weil er bis jetzt immer auf sehr unkonventionelle Art unsere Streiterein beendet hatte, wenn sie von ihm ausgegangen waren.
“Ach mein Babychen”, sie drückte mich an sich, “das wird schon wieder, glaub mir.”
“Hm.”
“Ich hol dir jetzt erst mal ein Kühlakku.” Mum ließ mich wieder los und ging hinaus.
Seufzend lehnte ich mich zurück, bis ich wieder lag. Selbst wenn wir uns wieder zusammenrauften, würde es je wieder so werden, wie es einmal war? Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass es von nun an immer zwischen uns stehen würde. Ja, es war bloß ein idiotischer Scherz von Adrián gewesen. Eine idiotische Andeutung eines Kusses, nichts besonderes. Nur etwas, um mich, mal wieder, zu ärgern. Oder für seine blöden Forschungen. Oder beides. Auf jeden Fall nichts, worüber ich mir den Kopf zerbechen musste. Und doch tat ich es. Weil es für mich eben nicht nur ein Scherz war. Ich hätte es nämlich zu gelassen und ich hätte ihn zurück geküsst. Und, da bin ich mir fast sicher, mir hätte es sogar gefallen. Während es für Adrián nur ein Streich, ein Test, oder was weiß ich, war, bin ich jetzt der Dumme. Der dumme, verwirrte Idiot, der nicht aufhören konnte daran zu denken. Der nicht aufhören konnte, sich vorzustellen, wie es wäre, wenn seine Lippen wirklich meine berührt hätten. Der davon sogar träumte und wenn er wach wurde, diese blöde Sehnsucht nur noch stärker war. Wieso war ich so? Wieso musste ich allem immer mehr Bedeutung schenken, als es dies verdiente? Wieso musste ich so viel grübeln und immer über alles nachdenken? Das kotzte mich so an! Und wieso musste Adrián immer solche beschuerten Aktionen starten und mich als sein Opfer aussuchen? Argh! ...da war sie wieder, die Wut. Die ich gerade um so vieles besser fand, als diese nervige Verwirrung. Eigentlich war ich selten wütend, mochte es noch nicht einmal. Doch zurzeit begrüßte ich sie, hielt sie mich doch von den ganzen unnötigen Grübeleien ab.
Jetzt fand ich es gar nicht mehr so schlimm, nicht nach Adrián zu können. Unser Streit würde nur noch schlimmer werden...
♦Adrián♦
Samstag.
Heute durfte ich für ein paar Stunden nach draußen – endlich. Zwar war ich die letzten Tage eher scheintot gewesen, dennoch fiel mir in meinem Zimmer zunehmend die Decke auf dem Kopf. Ganz fit war ich noch nicht, aber mir fehlte die frische Luft. Fenster ankippen oder auf machen war eben nicht dasselbe. Außerdem hatten meine Hermana und Padre ein wenig Ruhe vor mir, denn ich war echt ungenießbar. Brummte und knurrte und murrte, dabei konnten sie nicht einmal etwas dafür.
Zur Zeugnisausgabe am Donnerstag war ich natürlich nicht, sie war mir sogar entfallen, wären Lina und Padre nicht mit vor Stolz geschwellter Brust in meinem Zimmer gekommen und hätten es mir gegeben. Da ich vom Ehrgeiz getrieben wurde, hatte ich auch in Fächern sehr gut, obwohl sie mich nicht interessierten. Ich war eben nicht nur ein Drecksack, sondern auch ein Streber und dabei lernte ich nicht mal. Was war ich doch für schlaues Kerlchen, nicht wahr? Ja gut, mein eidetisches Gedächtnis spielte da eine nicht ganz zu verachtene Rolle. Dennoch machte es auch mich stolz, ein gutes Zeugnis bekommen zu haben. Wenn ich schon charakterlich verdorben war, musste doch wenigstens die Schullaufbahn tadellos sein, oder? Ich grinste mein Spiegelbild schief an.
Dabei fiel mir auf, dass ich noch immer Ähnlichkeiten mit einem Zombie hatte, trotz das ich frisch geduscht war und ich mich schon besser fühlte. Starke Augenringe, meine olivfarbene Haut wirkte blass, sogar ein wenig grünlich und da ich fast nichts gegessen hatte, hatte ich auch ein wenig abgenommen – hauptsächlich aber Muskelmasse. Krank sein war einfach scheiße, meine Erkenntnis des Lebens. Hoffentlich wurde ich es nie wieder. Die gelegentlichen Migräneanfälle reichten mir vollkommen.
Ob Noah heute auch da sein wird?, fragte ich mich, während ich mir Klamotten aus meinem Schrank angelte. Jedes Jahr zum Ferienbeginn veranstalteten wir eine Party, mit allem Pipapo, um das vergangene Schuljahr gebührend zu verabschieden. Früher gab es eher Kekse und anderen Süßkram, Kinderspiele wie Topfschlagen und oder Trickfilme. Heute lösten ein paar Spirituosen, Knabberkram, viel Musik und bescheidene Spiele, wie Wahrheit oder Pflicht, den kindlichen Part ab – wobei Noah und ich jenes heute noch ab und an taten. Er war es damals auch, der auf die Idee mit dieser Schuljahr- Verabschiedungsparty kam. Er fand, dass man das Beenden des Schuljahres ruhig feiern sollte. Zunächst feierten wir alleine, bis ich dann ausnahmsweise im dritten Schuljahr zu ließ, dass auch Mietzi, Zippo, Titus, Püppi und Jules mitmachen durften. Tja und jedes Jahr wurde die Gruppe größer. Deshalb brauchte ich auch mal Tage mit ihm, nur für mich allein.
Zur Zeugnisausgabe war auch er nicht gewesen, wir mir Lina erzählt hatte. Doch die Party heute, würde er sich sicher nicht entgehen lassen, deshalb musste ich da heute unbedingt hin. Ich wäre auch mit Fieber gegangen, wenn es hätte sein müssen. Ich wollte den Streit mit ihm endlich beenden, ich würde es ja doch nicht schaffen, mich von ihm fernzuhalten. Außerdem fehlte er mir. Leider wusste ich noch nicht, wie ich es schaffen sollte, dass er mir verzieh – ich wusste ja noch nicht einmal, wie ich ihm gegenübertreten sollte.
Seufzend strich ich mein, noch etwas feuchtes Haar, nach hinten, schnappte mir eine schwarze Cap, setzte sie verkehrtherum auf und verließ mein Zimmer.
♦♦♦
Ich saß auf meinem BMX und wartete, dass meine (noch) Freundin aus dem Wohnblock kam. Genervt taxierte ich die Tür. Warum brauchten Weiber immer eine Ewigkeit um sich fertig zu machen? Verständislos schüttelte ich den Kopf. Mit der linken Hand glitt ich in meine schwarze Jeans, um einen Eisbonbon herauszuholen – der dritte in den letzten fünfzehn Minuten.
Während ich mir den Bonbon in den Mund schob, nagte das schlechte Gewissen an mir. Da ich in den letzten Tagen halb tot war, hatte ich nicht mit Linda reden können, um mich von ihr zu trennen. Jeden Tag war sie da gewesen, hatte die Krankenschwester gemiemt und ich war nicht sonderlich nett zu ihr gewesen. An meiner Entscheidung rüttelte es nichts, ich würde mich von ihr trennen, aber es machte es nur noch schwerer. Allerdings zeigte es mir nur noch deutlicher, dass sie jemand besseren, als mich verdiente.
Aus meiner anderen Hosentasche holte ich mein Handy heraus, um zusehen wie spät es war. Ich verdrehte die Augen: 14:45. Noch eine Minute länger und ich stürm die Bude! Fast zwanzig Minuten wartete ich schon auf sie. Was machte das Weib denn so lange? Musste sie erst noch die Klamotten nähen? Die Schuhe besohlen? Konnte doch nicht wahr sein!
Endlich öffnete sich die Tür und ein hübsches, engelsgleiches Mädchen mit langen blonden Locken und klaren blauen Augen kam heraus. Linda. Ihr Lächeln starb, als ihr Blick auf mich fiel. „Das ist nicht dein Ernst?!“
Ich wusste sofort was sie meinte. Mein BMX. Doch ich antwortete nichts und schob genüsslich mit der Zunge den Bonbon in meinem Mund hin und her.
„Schon mal was von Gentlemen gehört?“, fragte sie.
Ich zuckte mit den Schultern. „Sí.“ Das Sprechen tat nicht mehr weh, eher wenn ich hustete, aber meine Stimme war noch immer sehr rau, brach ab und an sogar – wie vor zwei Jahren im Stimmbruch.
„Schön! Du bist keiner.“ Linda verschränkte die Arme vor ihrer Brust.
„Das sagst du.“
„Ein Gentlemen würde seine Freundin nicht zufuß gehen lassen.“
„Mache ich doch auch nicht. Das Lenkrad ist bereit für dich.“ Ich streichelte liebevoll über das schwarze Metall und unterdrückte den Drang es zu küssen. Was für andere ihr Auto war, war für mich mein BMX.
„Nicht in diesem Kleid!“
Ich musterte sie mit ausdrucksloser Miene. „Woher sollte ich wissen, dass du heute ein Minikleid anziehst. Außerdem wusstest du, dass ich mit dem BMX kommen würde.“ Selber schuld, hätte ich fast noch gesagt, ließ es aber bleiben. Sie würde mal eine super Regisseurin abgeben. Szenen machen konnte sie perfekt. Mich nervte es. Ich mochte sie, wirklich. Aber es gab Momente, wie diesen gerade, da wollte ich sie fressen. Stattdessen biss ich auf meinem geschrumpften Bonbon, der mit einem leisen Knacken zersplitterte.
Lindas Gesichtszüge wurden weicher. Mit schuldbewusster Mine kam sie auf mich zu. „Ich wollte dir eine Freude machen, Hase. Dir hat das Kleid letztens so gefallen, da wollte ich es heute für dich anziehen. Hab nicht dran gedacht, dass du mit dem BMX kommst.“ Sie sprach mit gespitzten Lippen, was ihrer Stimme einen merkwürdigen, aber lustigen Klang verlieh. Das tat sie bewusst, da ich ihr dann nicht mehr böse sein konnte. Ich war nicht sauer auf sie, sondern auf mich und meinen lächerlichen Gefühlen für Noah. Da stand ein wirklich tolles Mädchen vor mir, liebte mich und ich? Wollte meinen besten Freund, der es nie erfahren und nie erwidern wird. Was für eine gottverdammte Drecksscheiße! Niemand konnte etwas dafür, schon gar nicht Linda. Leider gelang es mir nicht immer, meine schlechte Laune nicht an andere auszulassen. Das hier war ja noch harmlos. Es gab Situationen wo ich jeden in meinem Umfeld nur anbrubbelte und knurrte und regelrecht Streit suchte.
Als sie sich zu mir herunterbeugte und verräterisch auf meine Lippe sah, ertönte plötzlich hinter mir eine Fahrradklingel. Während Linda sich erschrocken aufrichtete, bließ ich erleichtert die Luft aus. Ahhh. Por poco. Beinahe hätte Linda mich geküsst und ich hätte nicht gewusst, was ich hätte dagegen tun können, ohne sie dabei zu verletzen.
Ich wollte schon auf den Rasen rollen, als Linda erfreut: „Lucie! Noah!“ schrie, oder eher quietschte. Lucie rief ebenso erfreut Lindas und meinen Namen. Daraufhin rannte Linda los. Mit Pumps! Zwar würde ich es nie zugeben, aber ich war ehrlich sprachlos. Ich fragte mich oft, wie man mit diesen Dingern gehen konnte, ohne sich den Hals zu brechen. Aber laufen? Respekt, chica!
„Ruhig Blut Lucie“, sagte Noah und ich spürte sein Lächeln in der Stimme, wogegen mein Herz in die Hose rutschte. Was sollte ich tun? Wie sollte ich mich ihm gegenüber verhalten? Mein erster Impuls war Flucht. Nur mit Mühe hielt ich ihm stand.
Mit dem Fahrrad als Stütze kam er neben mich gehumpelt. In seinem Zustand Fahrrad fahren? Seit wann war er so unvernünftig, sonst war das doch mein Part. Lucie hatte ein viel zu schlechten Einfluss auf ihn. Ob Amanda davon wusste? Ich glaubte nicht. Auch sein Padre hätte es ihm nicht erlaubt.
“Hi”, sagte er nach kurzem Zögern.
“Hola”, antwortete ich und lächelte leicht. Er erwiderte es auf so extrem niedliche Weise, dass es mir schwerfiel auf meinem BMX-Rad sitzen zu bleiben. Dios mío! Wieso musste er mich so schwach machen? Wieso konnte er nicht einfach mir gehören? Und wieso musste alles so verdammt kompliziert sein?
“Wie geht's dir?”, fragte ich. Er sah nicht mehr so müde aus, wie am Montag und die kränkliche Blässe war auch verschwunden, die Gehirnerschütterung schien weg zu sein oder zumindest nicht mehr so stark zu sein. Doch ich konnte mir vorstellen, dass sein Fuß noch weh tat, sehr sogar, aber Noah war jemand, der sich nie beklagte. Auch damals nicht, als sich herausstellte das er ein Akustikusneurinom hatte. Es wurde auch nur durch Zufall entdeckt, weil seine Gleichgewichtsstörungen immer schlimmer wurden und sein Gehörfunktionen stark beeinträchtigt waren. Kurz gesagt, er konnte kaum noch geradeaus laufen und war fast taub.
“Besser. Lucie fährt, während ich auf dem Gepäckträger sitze”, fügte er hinzu, als ich ihn skeptisch ansah. Lucie fuhr? Bis sie bei Marc, bei dem dieses Jahr die Party stattfand, ankamen war Noahs Fuß nicht nur verstaucht, sondern seine Arme und Beine gebrochen. Oder schlimmer noch, sein Genick.
“Komm auf meinem Lenker, ich fahr dich jetzt.”
Noah sah mich an, als wäre ich das achte Weltwunder.
“Ist dir je etwas passiert?” Ich war ein um Längen besserer Fahrer, als seine funzelige Freundin und würde ihn auch sicherer fahren, wenn er auf dem Lenkrad stehen würde.
Er schüttelte den Kopf.
“Dann komm her, der Lenker ist bereit für dich”, schief grinsend streichelte ich erneut über das schwarze Metall.
Noah schnaubte belustigt, klappte den Ständer herunter und kam zu mir gehumpelt. Während er sich, ziemlich umständlich, nach oben hievte – oder es jedenfalls versuchte – packte ich ihn kurzerhand an den Hüften und zog ihn hoch. Automatisch lehnte er sich mit dem Rücken gegen meinen Oberköper und ich schloss die Augen um seine Nähe zu genießen. Verdammt, wie hab ich dich vermisst, angelito. Ich widerstand nur schwer, meine Wange an seiner zu reiben.
“Seit ihr bald fertig?”, rief ich Lucie und Linda zu, um mich zum einen abzulenken und zum anderen ihre Klamottenbewunderung zu unterbinden, die sonst bestimmt noch bis nachts anhalten würde. Die zwei taten so, als ob sie sich unabhängig von einander irgendein angesagten Designerfummel gekauft hätten, dabei waren sie erst vor zwei Wochen im New Yorker, in Magdeburg, gewesen. Glücklicherweise hatte ich da meinen Padre- Tag und musste mir den Blödsinn nicht antun. Auch Noah hatte Glück, da Onkel D einen Überraschungsbesuch gestartet hatte.
“Wieso sitzt Noah auf deinem Lenker?”, fragte Lucie.
Weil er zu mir gehört, du uselige Funzel, hätte ich beinahe gesagt, verkniff es mir aber. “Weil ich besser fahren kann, als du”, brummte ich. Dadurch das meine Stimme immer noch so rau war, klang sie auch tatsächlich wie ein Brummen. Zudem fuhr ich BMX seit ich fünf Jahre alt war, also was wollte die Trulla?
“Kannst du-”
“Quatsch nicht”, unterbrach ich sie, öffnete die Augen und trat in die Pedale. Mir ging ihre nervige Stimme, die stets immer etwas Schnippisches an sich hatte, dermaßen auf den Kranz, dass mein Hirn von selbst einen Mordplan schmiedete. Wie hielt Noah das nur aus?
♪Noah♪
Während des ganzen Weges nach Marc sprachen wir kein Wort. Auch jetzt als wir auf die Auffahrt fuhren schwiegen wir. Ich könnte es jetzt damit erklären, dass Adrián sich aufs Fahren konzentrieren musste und ich deshalb nichts sagte. Leider wusste ich es besser. Adrián nahm des Öfteren an BMX- Radrennen teil, mit mir auf dem Lenker nach Marc zu fahren, kostete ihn ein müdes Lächeln, wenn überhaupt. Wir redeten nicht miteinander, weil wir nicht wussten wie. Das war das erste Mal, dass wir nach einem Streit nicht wussten, wie wir mit dem jeweils anderen umgehen sollten. Ja, es gab für alles ein erstes Mal, das war mir klar. Dennoch war es ungewohnt. Tat sogar weh. Würde es jetzt immer so sein? Das wir uns einander wie auf heißen Kohlen begegneten?
Ein Seufzen unterdrückend versuchte ich von dem Lenker zu kommen, ohne dabei meinen verletzten Fuß zu belasten. Es war der Linke, ich war Linkshänder, schrieb nicht nur mit links, sondern trat auch mit links auf. Deshalb gestaltete sich mein Vorhaben schwieriger als angenommen. Denn auch wenn die Schwellung nicht mehr so ausgeprägt war und ich zudem einen elastischen Fußverband, der eigentlich für Sportler war, trug, tat mein Knöchel noch ziemlich weh.
„Warte.“ Behutsam legte er seine Hände an meinen Hüften und hob mich von dem Lenkrad, dabei konnte ich nicht verhindern gegen ihn zu stoßen – seine Berührung machte mich nervös und noch wackliger auf den Beinen als ohnehin schon.
„Tut mir leid, ich...“
Sein Atem an meinem Hals ließ eine Gänsehaut auf meinem gesamten Körper entstehen und ich vergaß, was ich sagen wollte. Ich schloss die Augen, während mein Herz ein irrsinnigen Rhythmus anschlug. Mein Kopf neigte sich, wie von selbst in die Richtung seines Atems.
„Noah...“ Rau fegte seine Stimme über meinen Körper hinweg und ich glaubte, die Gänsehaut würde nie wieder weggehen. Er beugte sich vor, sein Atem streifte nun meine Lippen und diese öffneten sich prompt. Endlich zu wissen, wie sich ein Kuss von ihm anfühlte, wie er schmeckte, war mein sehnlichster Wunsch. Seit seinem Kussversuch letzten Samstag beherrschte nichts anderes mehr mein Denken.
Sachte berührten seine Lippen meine, es war kaum spürbar, fast wie der Flügelschlag eines Schmetterlings. Mein Herz schlug dennoch bis zu meinen Ohren, mein Brustkorb hob und senkte sich viel zu schnell und mein ganzer Körper vibrierte... Vibrieren? Irgendetwas an meinem Körper vibrierte. Halb öffnete ich meine Augen und tastete nach meinem Handy, um es auszuschalten. Adrián brummte missbilligend und half mir bei der Suche. Er fand es schneller, meine Finger fühlten sich an, wie in Watte gesteckt.
„Du hast ein neues Handy?“, murmelte er irritiert. „Und dieser Timon hat deine Nummer?“ Ich spürte, wie er sich völlig versteifte, ich brauchte sein Gesicht nicht zu sehen, um zu wissen, wie sehr ihn das missfiel. Seine Stimme verriet es mir, besonders wie er Timons Namen aussprach, als würde dieser die Pest in seinem Mund ausbrechen lassen. Was hatte er nur gegen ihn? Er kannte Timon doch gar nicht. Sein Griff an meiner rechten Hüfte fühlte sich an, als würde seine Hand aus Stahl bestehen.
„Mein Handy ist beim Sturz kaputt gegangen“, antwortete ich und griff nach meinem Mobiltelefon, doch Adrián wich mir geschickt aus. „Und Timon hatte gestern vorgeschlagen mit mir ein Neues zu kaufen. Er hat vor kurzem sein Führerschein bestanden und mich in seinem Auto mittgenommen“, fügte ich erklärend hinzu.
„Welch ein Samariter“, brummte er. „Wieso hat der deine neue Nummer und ich nicht?“ Seine Stimme war so anklagend, dass das schlechte Gewissen mich von innen auffraß.
„Weil ich sie dir heute geben wollte, persönlich“, sagte ich aufrichtig. Er schwieg, doch sein Griff um meine Hüfte ließ nicht nach, verstärkte sich eher noch. Ich wand mich, weil es langsam weh tat.
„Warum ruft der dich an? Zum zweiten Mal?“, fügte er hinzu. Er war so wütend, dass er kaum seinen Kiefer bewegen konnte. Warum? Warum war er plötzlich so sauer? Ja, ich hätte ihm meine neue Nummer auch in Form einer SMS senden können, aber ich fand es schöner ihm sie persönlich zu geben, weil ich dann mit ihm hätte reden können.
„Um nach den Weg- verdammt, du tust mir weh!“ Endlich schaffte ich es, mich aus seinem Stahlgriff zu befreien, dass ich dabei meinen linken Fuß stärker belasten musste, war mir egal, zudem humpelte ich ein paar Meter von ihm weg und drehte mich zu ihm um. Zeitgleich sah ich, wie sich Marcs Haustür öffnete und ein Junge mit dunkelbraunem kurzen Haar und Aussehen, was ihn stets südländisch wirken ließ, im Türrahmen stand. Sein Gesicht war neugierig und verwirrt zugleich. Die Augen aber blitzten schalkhaft. Es war Alex, Cliquenmitglied und Marcs bester Freund.
„Was macht ihr zwei hier draußen?“, fragte er und sah mich und Adrián abwechselnd an. „Ihr wisst schon, dass die Party hinten im Garten ist und nicht in der Einfahrt?!“
„Wir hatten 'ne kleine Meinungsverschiedenheit“, antwortete Adrián, ehe ich auch nur meinen Mund öffnen konnte. Seine Stimme klang beiläufig und seine Mine war undurchdringlich. Mein Handy hielt er noch immer in der Hand, nur nicht mehr oben, sondern neben seinem Bein.
Kurzzeitig schnellte eine dunkle Braue von Alex nach oben, bevor ein breites Grinsen sein Gesicht zierte. Glaubte er Adrián etwa nicht? Warum? In gewisser Weise stimmte es doch. Vielleicht irrte ich mich auch. Ich war noch ein bisschen durch den Tornado gedreht, schließlich hätten wir uns zum zweiten Mal fast geküsst und mein schlechtes Gewissen nagte an mir, weil Timon noch vor ihm meine neue Handynummer bekommen hatte. Ich beschloss, ihm heute lieber aus dem Weg zu gehen. Oder zumindest so lange, bis er nicht mehr so explosiv war.
„Ich muss euch leider enttäuschen. Ich mach 'ne Poolparty, keine Boxveranstaltung. Geschlagen wird hier höchstens mit der Zunge“, tauchte Marc grinsend hinter Alex auf.
„Is' sowieso die beste Art sich zu schlagen“, sagte Adrián und grinste ebenfalls. „Außerdem ist alles wieder im Grünen.“
Ist es nicht, dachte ich, mied aber bewusst seinen, Alex oder Marcs Blick, sah stattdessen zu den Kiefern die in der Einfahrt gepflanzt worden waren.
„Na dann, kommt rein. Wo sind denn Lucy Liu und Linda de Mol?“, wollte Alex dann wissen.
Gerade als ich antworten wollte, erklang ein „Hier“. Ich drehte meinen Kopf zur Seite und sah Linda und Lucie geradewegs in die Einfahrt biegen. Kichernd. Wie fast immer, wenn sie zusammen waren. Noch nie war ich so froh gewesen, die zwei zu sehen, diese ganze Situation war so merkwürdig, so unbehaglich, dass ich jede Ablenkung begrüßte.
„Na endlich. Hat ja ewig gedauert“, murmelte ich.
„Dreihundert Jahre für 'ne Schachtel Kippen“, meinte Adrián.
„Ooh, habt ihr uns vermisst?“, fragten beide, wieder gleichzeitig.
Adrián und ich bekamen einen Kuss und während Lucie und er die Fahrräder mit Marc in die Garage stellten, humpelte ich mit Linda nach Alex.
♦Adrián♦
Ich ließ mich ins Gras fallen, bewusst Abseits des Partytreibens, denn ich brauchte Zeit für mich. Leise seufzend fuhr ich mir durchs Gesicht, streifte dabei mein Cap ab und legte es neben mich. Verdammt, ich wollte mich mit Noah versöhnen, nicht noch mehr streiten. Warum konnte ich meine Eifersucht nicht einmal unter Kontrolle halten? Warum musste auch dieser Timon auftauchen und sich in Noahs Leben drängen, wie ein Parasit? Und warum merkte Noah das nicht? Oder das das ich ihm verfallen war? Er war doch sonst so feinfühlig.
„Rián!“
Erschrocken richtete ich mich auf und sah nur noch, wie ein kleines dunkelgrünes Ding auf mich zu sprang. Es landete direkt auf meinem Bauch und schnürte mir kurz die Luftzufuhr ab. Ich hustete und rang nach Luft. Zwei Brüste verpackt in einem schwarzen Bikinioberteil kamen meinem Gesicht bedrohlich näher.
„Verdammt Püppi! Willst du mich umbringen?“, fragte ich keuchend.
Sie kicherte nur und gab mir einen Kuss direkt auf dem Mund. Das war nichts Neues. Wenn ihr Spitzname, wegen ihres Puppengesichts, nicht schon perfekt passte, würde Knutschkugel ebenso treffend sein. Dann musterte sie mich aus zusammengekniffenen Augen. „Ihr habt euch noch immer nicht vertragen“, stellte sie fest.
„Miss Marple wie sind Sie darauf nur gekommen?“ Mittlerweile wusste sicher die ganze Stadt das wir uns gestritten hatten.
Meinen Sarkasmus ignorierend, machte sie es sich auf mich bequem in sie sich auf mich legte, ihre Hände auf meiner Brust verschränkte und mich mit ihren dunkelbraunen Augen ansah. „Brauchst du 'nen Passbild?“, fragte ich genervt, zupfte mir eine Strähne ihrer türkies- grünen Haarpracht aus ihrem Zopf und ließ sie durch meine Finger gleiten. Püppi wartete darauf, dass ich ihr von Noahs und meinem Streit erzählte, dass wusste ich, doch ich wollte nicht. Denn sie wusste nicht, dass ich viel mehr, als nur tiefe Freundschaft, für ihn empfand. Das Jules es wusste, war nur Zufall, wegen meiner Eifersucht, dieser verdammten Verräterin. Jahrelang hatte ich geschafft, dieses Geheimnis zu hüten, als hinge mein Leben davon ab, was in gewisserweise sogar stimmte: Noah war mein Leben. Und dann, wegen einem unbedarften Spruch Jules', dass Noah zu den Menschen gehörte, die nicht wussten wie attraktiv und anziehend sie waren und das sie das erst recht sexy machte, womit er recht hatte, explodierte ich und hätte ihn beinahe geschlagen. Ich, der schlagen verabscheute und niederträchtig fand, wollte meinen besten Freund schlagen, weil er meinen anderen besten Freund heiß fand, nur weil ich es selbst tat. Ich hasste diese brennende, brodelnde, nie zum Stillstand kommende Eifersucht in mir, weil ich sie nicht kontrollieren konnte und weil sie aus mir einen Idioten machte. Einen obsessiven, übertrieben beschützerischen Idioten, der die ganze Welt in brand stecken würde, käme jemand Noah zu nahe, der die ganze Welt in Schutt und Asche legen würde, täte jemand Noah weh und der doch zu feige war, ihm seine Gefühle zu offenbaren und ihn stattdessen lieber verletzte. Lächerlich, nicht wahr? Tja, das war ich. Wenn jetzt auch noch Püppi davon wusste, könnte ich mich gleich einsargen lassen, denn sie würde sich prompt in Cupido verwandeln. Ja, sie würde es nur gut meinen, aber genau das war es eben nicht.
„Klar, darauf ornanier ich heute Nacht“, antwortete sie. „Spuck schon aus, warum habt ihr euch gestritten?“
Ich schwieg und wickelte sanft die Strähne, um meinen Zeige- und Mittelfinger.
„Komm schon.“
„Nein, nicht heute.“
Sie zog einen Schmollmund, aber ich blieb eisern. Tief gruben sich ihre Augen in meine, versuchten meine Barriere zu druchdringen, schafften es glücklicherweise nicht und doch flackerte, fast unscheinbar, Erkenntnis in ihren Glupschern auf. Wusste sie es? Mein Herz hatte einen kleinen Aussetzer. Anstatt etwas zu sagen, nahm sie ihre Hände von meinem Brustkorb und kuschelte ihren Kopf darauf, direkt über meinem Herzen. „Aber sonst geht es dir wieder gut?“
„Einigermaßen.“
„Du solltest das Raue in deiner Stimme behalten, steht dir.“ Ich spürte ihr freches Grinsen, wodurch sich auch auf meinen Lippen eins bildete.
„Dann gib mir einen großen Kippen und Whisky- Vorrat und ich versuch's.“
„Verlockende Idee, aber ich möchte nicht das mein bester Freund schon mit fünfzehn Alkoholiker wird und an einem Lungenkrebs stirbt.“
„Reite ihn mal ordentlich durch, Püppi. Linda hat die rote See, deshalb is' er so gefrustet“, rief Daniel.
Ich verdrehte die Augen: „Halt's Maul!“ Gespielt verängstigt schlug er die Hand auf seinen Mund. Daraufhin tötete ich ihn mit meinem Blick. Jedenfalls versuchte ich es. Leider fiel er nicht um. Er lachte nur und sprang in den Pool. Blödbatzen.
Püppi richtete sich nun mit einem diabolischen Grinsen auf.
Warnend sah ich ihr in die dunklen Augen, doch sie grinste weiterhin, rutschte tiefer bis sie direkt auf meine Kronjuwelen saß und bewegte sich rhytmisch vor und zurück – und sie konnte es verflucht gut.
Ich ballte die Hände zu Fäusten. „Verdammt hör auf“, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Ja, sexuelle Unbefriedigung kam auch zu meinem Frust hinzu. Linda würde auch trotz ihrer roten Flut mit mir schlafen, aber ganz ehrlich? Ich fand es ekelhaft, trotz Kondom. Scheiß auf 'echter Seeman sticht auch ins rote Meer'! „Lass el Mayúsculo schlafen!“ Sanft aber bestimmt zog ich sie wieder auf meinem Bauch.
„Püppi, deine Haare werden gleich rot“, rief Linda, die Eifersucht war nicht zu überhören.
Püppi lachte nur und meinte dann: „Komm mit zu den anderen. Im Pool kannst du dich abkühlen.“
Danke fürs Backobst, dachte ich. „Fünf Minuten. Gib mir nur fünf verdammte Minuten“, brummte ich. Warum konnte dieses kleine Biest mich nicht mal kurz in Ruhe lassen? Schließlich musste ich mir überlegen, wie ich mich wieder mit Noah vertragen konnte. Ich ließ meine linke Hand in die Hosentasche gleiten, um einen Eisbonbon herauszufischen.
Gerade als ich mir den Bonbon in den Mund stecken wollte, stand Püppi von mir auf, nahm meine Hände in ihre und zog kräftig daran. Sie war zwar kaum größer als ein Gartenzwerg, hatte aber Kraft wie eine Bärin. Mürrisch ließ ich mich von ihr hochziehen. Dann schnappte sie sich mein Capi und setzte es mir auf – jedenfalls versuchte sie es. Das Standgebläse kam nicht an meinem Kopf, weil ich aufrecht stand und mich aus Rache nicht zu ihr runter beugte. Sí, fieser Drecksack war mein vierter Vorname. Ich nahm ihr das Capi aus der Hand und setzte es mir selbst auf. Sonst würden wir in 10 Jahren noch hier stehen.
Missmutig ließ ich mich von ihr zu den anderen ziehen. Die meisten waren im Pool, der Rest auf Sonnenstühle liegend oder am Rand des Pools sitzend und die Beine imWasser baumelnd. Püppi schnappte sich einen Wasserball und schmiss diesen, während des Sprungs in den Pool, an Lindas Kopf. Woraufhin diese vor Schreck fast untergegangen wäre, wenn Alex sie nicht wieder hoch geholt hätte. Ohne etwas dagegen tun zu können, suchten meine Augen nach Noah. Sie fanden ihn sehr schnell, doch bei seinem Anblick zog sich mein Herz schmerzhaft zusammen. Er stand bei Mizie, ihrem Bruder und Hendrix, wirkte dabei so verloren, als gehöre er nicht hier her, schien lieber ins Leere zu starren und auf seine verführerische Unterlippe zu beißen, statt sich an dem Gespräch zu beteiligen. Das war meine schuld. Er war sonst sehr gesellig, besonders wenn es um Musik ging. Ich musste das wiedergutmachen und zwar dringend. Also ging ich los.
♦♦♦
Je näher ich ihm kam, um so mehr schwoll der Klos in meinem Hals an, bis ich das Gefühl hatte einen Apfel verschluckt zu haben. Kein Schlucken, Räuspern oder Husten half, eher im Gegenteil meine Halsschmerzen kamen zurück. Weniger als zwei Meter trennten mich von Noah und ich wäre am liebsten geflüchtet. Da vorn stand mein bester Freund, der Mensch der mir am meisten etwas bedeutete und … genau das, war das Problem. Ich hasste es, wenn ich so ängstlich und unsicher war. In keiner einzigen Situation war ich so eine Schissbuchse, wie in einer bei der ich mich mit Noah gestritten hatte und mich entschuldigen musste. Ja, bisher hatte er mir immer verziehen, Bisher... Irgendwann, da war ich mir sicher, würde er es nicht mehr tun.
„Noah?“ Meine Stimme war genauso kratzig, wie sich mein Hals anfühlte.
Erschrocken zuckte er zusammen und drehte sich zu mir um. Kurzzeitig waren seine Augen geweitet, bis sich eine zarte Maske der Verschlossenheit auf sein Gesicht legte. Beinahe hätte ich gelächelt, wie er versuchte sich vor meinem analytischen Blick zu wappnen, wie er versuchte sich nicht anmerken zu lassen wie verletzt er war. Er war für mich ein Buch mit sieben Siegeln, welche ich unbedingt lösen wollte, aber nicht schaffte – da brauchte er sich sicher nicht noch eine Maske zulegen. Und das er verletzt war, lag auf der Hand.
Ich fischte sein Handy aus meiner Hosentasche, die Kackwurst hatte endlich aufgehört anzurufen und reichte es ihm. „Es-“ Weiter kam ich nicht. Er zog mich in seine Arme und ich verlor die Sprache.
„Es tut mir leid. Lass uns nicht mehr streiten, ja?“, flüsterte er.
Ihn fest an mich drückend antwortete ich: „Dir muss gar nichts leid tun. Hörst du? Gar nichts.“
„Ab-“
„Kein aber. Nicht dir muss etwas leid tun.“ Noch ein bisschen stärker drückte ich ihn an mich und inhalierte dabei seinen unverwechselbaren Duft nach frisch geduscht, sauberer Wäsche und Sandelholz, was einfach er zu sein schien. Mir war es dabei egal, dass uns alle sehen konnten. Mein Angelito wollte eine Umarmung, also bekam er sie. Und ich brauchte sie.
♦Adrián♦
Wenig später machten wir es uns auf Liegestühlen bequem und ich verfluchte mich, weil ich meine Sonnenbrille vergessen hatte. Mit der rechten Hand versuchte ich die Sonne abzuschirmen, was mehr schlecht als recht gelang. Mein Capi war auch keine große Hilfe. Zum einen störte der Verschluss, zum anderen verrutschte es dauernd. Ich schielte zu Noah. Ob ich ihm seine Sonnenbrille klauen sollte? Ein Schmunzeln huschte über meine Lippen, aber ich ließ es bleiben. Er hatte mir gerade erst verziehen. Wenn ich ihm jetzt den verdunkelten Augen-BH von der Nase reißen würde, sodass er direkt in die Sonne sehen musste, würde er mich fressen. Kein verlockender Tod. Zumal ich wusste, dass ich schwer verdaulich war.
„Wag es dir und klau mir meine Sonnenbrille.“ Seine angenehme rauchige Stimme riss mich aus meinen Gedanken und fegte eine Briese Gänsehaut über meinen gesamten Körper.
Mein Grinsen wurde breiter. „Warum? Hackst du mir dann die Pfoten ab?“
„Wirst du dann schon merken.“ Noahs Mund formte sich zu einem Haifischgrinsen und ließ perlweiße, ebenmäßige Zähne zum Vorschein kommen.
„War das jetzt 'ne Drohung?“
„Ein Versprechen.“
Ich schnaubte belustigt. „So, so. Muss ich jetzt Angst haben?“
Seine Antwort bestand darin mir etwas Rosanes auf den Bauch zu schmeißen. Ich sah das rosa Ding an und erkannte, dass es eine Sonnenbrille war. Lucies um genau zu sein. Mit hochgezogener Augenbraue sah ich Noah wieder an.“ Nicht dein Ernst.“
„Warum?“
„Es ist rosa!“
„Schützt aber vor der Sonne.“
„Aber es ist rosa.“
„Dann ...“
„ROSA!“
Noah fluchte nuschelnd irgendetwas auf Englisch, was ich nicht verstand und antwortete: „Du wirst gleich eine ganz andere gottverdammte Brille auf haben, die schmerzen und die Farben ändern wird. Also setz jetzt die beschränkte rosa Brille auf!“ Ich verkniff mir mit Mühe das Lachen, was sich gewaltsam nach oben drängte. Er, gerade er, wollte mir ein Feilchen verpassen, dabei konnte er nicht mal einer Fliege etwas antun. Es machte mir unheimlich Spaß den halben Schotten auf die Palme zu bringen. Er fluchte dann immer so sexy, seine hohen Wangenknochen verfärbten sich stets rosé und seine vollen, weich aussehenden Lippen veränderten sich zu seiner strengen, harten Linie die ich dann am liebsten so lange küssen wollte, bis sie wieder weich wurden und er den Kuss erwiderte. Dios mio! In meinem Bauch begannen Raupen eine Gangbangparty zu veranstalten und mein Herz gab den Ton vor. Ich sollte meine Fantasie in ein Verließ sperren. Ein Seufzen unterdrückend schnappte ich mir den bescheuerten Augen - BH und stand auf. Schleunigst sollte ich mir eine Ablenkung suchen. Mit Argusaugen sah ich mich um. Wo war der verdammte Tisch mit den Fressalien und den Spirituosen? Wobei man bei Bier, Biermixgetränken und ein paar Fruchtweinen nicht unbedingt vom Fusel sprechen konnte. Ich verdrehte die Augen, als ich ihn entdeckte. Sie brauchen nicht winken, dass Kind ist blind, dachte ich genervt. Der Tisch mit samt Stühlen stand dort wo er immer stand. Auf der Terrasse neben dem Haus.
Als ich mich in Bewegung setzen wollte, fragte Noah: „Bringst du mir ein Bier mit?“
„Woher willst du wissen, wohin ich will? Vielleicht will ich ja hinterm Busch mit el Mayusculo ein kleines Flötensolo geben?“ Imaginär schlug ich mir mit der flachen Hand gegen die Stirn. Anstatt einen Gang herunterzuschalten, gab ich Vollgas.
Er legte den Kopf schief und trotz Sonnenbrille konnte ich sehen, wie sich seine Augen weiteten. Und das er sich mir dabei vorstellte, was mich wiederum an machte, extrem an machte, sodass besagter zuckte. MIERDA! Wieso quälte mich dieser Bengel so? Ich konnte nicht mal sauer auf ihn sein, weil er es unwissentlich machte und es meine Schuld war. „Danach kannst du mir ja dann ein Bier mitbringen“, meinte er mit belegter Stimme und räusperte sich verhalten.
„Und wenn ich keine Lust hab?“ Es war verdammt schwer nicht noch etwas Provozierenderes, als davor zu antworten, doch ich musste mich zusammenreißen, damit ich mich nicht auf Noah stürzte.
„Bitte“, sagte er und lächelte mich strahlend, wie die verkackte Sonne, an. Seine Stimme trieb mir einen wohligen Schauer über den ganzen Körper und machte alles nur noch schlimmer. Verdammt hör auf so zu lächeln und besorg dir 'ne andere Stimme!
„Wenns“, nun musste auch ich mich räuspern, um die idiotische Kröte in meinem Hals los zu werden, „denn sein muss.“
„Danke.“ Sein Lächeln wurde breiter. Ich setzte mir das rosa Ungetüm auf, um mich wenigstens ein bisschen verstecken zu können, machte als Antwort nur “Mh” und ging los.
♦♦♦
Hatte ich geglaubt auf der Terrasse Ruhe zu haben und mich mit einem Curuba abkühlen zu können, schaffte es Jules, mein sogenannter anderer bester Freund, mir diesen Glauben zu nehmen. Ich wollte ihm zwei Kornbacher andrehen, eines für Noah, doch er ließ sich nicht verscheuchen. Setzte sich sogar grinsend mir gegenüber.
“Was ist? Brauchste 'nen Porträt?”, brummte ich und nahm ein großzügigen Schluck aus der Flasche. Eigentlich wollte ich heute nichts trinken, doch besondere Situationen, erforderten besondere Maßnahmen. Das Alkohol keine sonderlich kluge Lösung war, wusste ich, aber was blieb mir sonst noch anderes übrig, als Flucht?
“Nee,'n Plakat”, antwortete er und sein Grinsen wurde eine Spur breiter.
Ich rollte mit den Augen und unterdrückte den Drang ihm meine Flasche in den Hals zu rammen. “Wenn auf deinem Grabstein nicht 'Er starrte so dumm und ging zu früh' stehen soll, dann sag was du willst.”
“Vielleicht will ich dich auch einfach nur ansehen? Bist doch ein höchst attraktiver Bursche”, meinte er und zwinkerte mir zu.
“Dann hör auf dabei so dämlich zu grinsen.”
“Ich kann nichts dafür, dass macht dein Antlitz.”
Mein Griff um die Flasche wurde fester. “Jules.”
“Adrián.”
Ich versuchte ihn mit meinem Blick zu erdolchen, als das nicht klappte stand ich auf und ging langsam, aber bedrohlich auf ihn zu.
“Oh yes, come here loverboy.”
Knurrend stand ich vor ihm und fragte mich, ob ich ihn sehr vermissen würde, wenn ich ihn auffraß und entschied, dass ich seine Reaktion davon abhängig machte. Zu meiner Überraschung schlang er seine Arme um meine Taille und presste mich an sich. Unbeholfen legte ich meine Hände auf seine Schultern, war völlig überfordert. Es war nicht untypisch für Jules, die Menschen die er mochte umarmte er oder kuschelte mit ihnen, ich war es also gewohnt, dennoch irritierte es mich. Diese Umarmung war anders, als sonst. Keine Ahnung warum, ich konnte es nicht beschreiben, wusste nicht mal was ich fühlte.
“Manchmal”, begann er, “bin ich verdammt wütend auf Noah.” Ich verkrampfte mich, wollte ihn wegdrücken, doch er klammerte sich an mich fest. “Und manchmal bin ich verdammt wütend auf dich.”
Ich seufzte tief. Nicht diese Leier wieder. “Hatten wir-”
“Ich möchte euch dann schütteln”, unterbrach er mich. “Oder boxen.”
“Jul-”
Er legte Zeige- und Mittelfinger auf meinem Mund. “Doch oft wünsche ich mir … das du mich liebst. Das du mich so vergötterst, wie du es bei Noah tust.”
Mh? Das war neu. Machte er mir gerade ein … Liebesgeständnis? Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch ich bekam kein Wort über die Lippen. Es kam selten vor, aber ich war sprachlos.
“Es wäre einfacher... Du weißt, dass es einfacher wäre.”
Ich schwieg, konnte noch immer nicht sprechen, vielleicht wollte ich es auch nicht.
“Du hättest weniger Angst, mir deine Gefühle zu gestehen, weil du wüsstest, dass sich zwischen uns nichts ändern würde. Du wärst ruhiger, innerlich gefestigter. Deine Seele und dein Herz würden nicht mehr gequält werden.” Er hob seinen Kopf, seine weißblonden Haare kitzelten mich am Kinn. “Und ich könnte sogar deine Gefühle erwidern.”
“Aber du tust es nicht”, murmelte ich, sogar ein wenig enttäuscht. Denn ja, er hatte recht. Es wäre einfacher, um so vieles einfacher und das nicht nur, weil er schwul war. Und ja, auch ich war manchmal wütend auf Noah, weil er bei mir blind zu sein schien und auf mich, weil ich es nicht schaffte, ihm zu sagen, was ich fühlte.
“Aber ich könnte es”, sagte er mit Nachdruck, doch ich schloss die Augen, signalisierte ihm, dass ich von “könnte, hätte, würde” nichts mehr hören wollte.
“Es tut mir leid.”
Ich nickte nur stumm.
“Da du ein Sturschädel bist”, sagte er nach kurzem Schweigen und stand auf. “Hab ich mir etwas überlegt.” Er nahm mein Gesicht in seine Hände, ich hob eine Braue. “Und ich hoffe, du wirst mir danach danken und nicht sauer sein.” Er küsste meine Wange, wobei ich kurz den Verdacht hatte, dass er lieber meine Lippen geküsst hätte und löste sich dann von mir. “Kennst du Partykeller?”
Ich runzelte die Stirn. Partykeller? Was wollte er denn jetzt mit einem Partykeller?
“Nicht an das, was du jetzt denkst. Partykeller ist ein sehr interessantes Spiel”, erklärte er mir mit schelmischen Grinsen.
“Und? Ich hab keinen Bock auf irgendwelche Spiele”, brummte ich. Ich nahm den Gedanken ihn zu fressen wieder auf, fügte hinzu dass er mir zwar fehlen würde, er aber sicher gut schmeckte. Was war heute los mit diesem Bengel? Das er einen Schaden hatte, wusste ich, aber bis heute war mir nicht klar, wie enorm. Erst glotzt er mich dämlich grinsend an, dann faselt er Unverständliches und jetzt quatschte er von einem Spiel mit bescheidenem Namen.
„Komm schon, dass wird genial“, meinte Jules und grinste mich breit an. „That Game is a burner!“ War der Bengel besoffen? Der musste doch besoffen sein, anders konnte ich mir sein sprunghaftes Verhalten nicht erklären. Oder hatte er sich irgendetwas eingeschmissen? Unauffällig musterte ich ihn. Seine türkiesen Glubscher waren normal. Nicht glasig, rot unterlaufen, Pupillen erweitert oder dergleichen. Entweder meinte der das wirklich ernst oder meine Augen hatten durch den rosa Augen-BH Schaden erlitten.
„Ja, sicher“, sagte ich wenig überzeugt. Lachend in eine Kreissäge zu springen klang lustiger. „Erinnere mich daran mir neue beste Freunde zu suchen.“ Das sollte ich wirklich machen. Der eine drehte mir grässliche rosa Brillen an und machte mich auch sonst schwach. Der andere nervte mit bescheuerten Gesellschaftsspielen und hatte die kryptische Sprache für sich entdeckt. Und Püppi? Brachte mich mit Anspringen und ihren Brüsten fast um. Gesegnet war ich mich mit den dreien nicht. Der Rest der Clique war aber auch nicht besser und ich erst recht nicht. Ich war ein Irrer in mitten von Irren. Deshalb funktionierten wir wohl als Ganzheit auch so gut.
Lang und tief seufzend fragte ich dann, auch wenn ich es hinterher bereuen würde: „Und wie soll der ganze Scheiß ablaufen?“
“Das wird dir Mizie erklären, denn ich muss noch etwas mit Marc besprechen”, antwortete er, schob sich an mir vorbei und rannte los. Was war hier los? Das der Bengel etwas im Schilde führte, war mir längst klar. Nur was? Himmel, was war mit meinem Verstand los? Diese verdammte Mandelentzündung hatte ihn umgebracht.
“Na du”, begrüßte sie mich lächelnd mit einer Umarmung.
“Na Hatschi”, neckte ich sie. Mit den Zöpfen und dem schmalen Stirnband hatte sie Ähnlichkeiten mit der Indianerprinzessin aus Asterix und Obelix.
Sie lachte und hakte sich bei mir unter.
♦♦♦
Schwarz.
Um mich herum war alles schwarz. Nicht ein einziger Lichtpunkt drang zu meinen Augen. Meine Hände waren an einer Stuhllehne gefesselt. Nur Getuschel und Gekicher drang an meine Ohren.
„Geht's bald mal los?“, fragte ich genervt. Wir spielten nun das bescheidene Speil mit dem bescheidenen Namen Partykeller. An sich war dieses Spiel gar nicht mal so blöd – wenn man Single war und gern blind von anderen geküsst werden wollte. Ein bisschen war es, wie Flaschendrehen. Nur das man nicht selbst die Flasche drehte, sondern jemand anderes und auf einen Stuhl saß, mit gefesselten Händen und verbundenen Augen, wohl wegen des Nervenkitzels. Wie man auf diesen berüchtigten Stuhl kam, wurde mit Zetteln, auf den der eigene Namen stand, ausgelost.
Linda war nicht sonderlich begeistert, dass ich der erste war – dass ich überhaupt auf diesen Stuhl saß. Konnte ich nachvollziehen. Ich war es auch nicht. Und ich wusste, dass Jules da seine Griffel mit im Spiel hatte, nur war ich mir noch nicht sicher, was er damit bezwecken wollte. Gut, ein paar aus der Clique hatten interessante Lippen und konnten sicher gut damit umgehen, dennoch war ich nicht scharf darauf sie zu küssen.
Plötzlich verstummte das nervige Getuschel und Gekicher und ich hörte, wie sich die Flasche auf den Steinboden drehte. Danach raschelte es, als ob jemand auf stand und mit leisen, leicht abgehakten Schritten, als ob er humpelte, auf mich zu kam. Mein Herz setzte aus … Mi angelito … um in einer absurden Geschwindigkeit in meiner Brust auf und ab zu hüpfen. Er war gerade der einzige, der bei uns humpelte. Jules, was hast du getan?, schrie ich in Gedanken. Als ich seine Wärme spürte und sein Atem, der sanft mein Gesicht streifte, fuhren meine Synapsen nach unten. Das einzige was nur noch durch mein Hirn waberte war, dass Noah Donald Grayson Bancroft – Wagner mich gleich küssen würde. Mein bester Freund, den ich seit … eigentlich schon immer vergötterte. Von den ich besessen war und ich wusste, dass es wohl ab und an ungesund war. Den ich liebte, mehr als alles andere in meinem verschissenen Leben. Der einfach zu mir gehö-
Seine Lippen legten sich zaghaft auf meine und mir fiel es verdammt schwer nicht laut zu Seufzen – ich glaubte sogar, dass mir leise doch eines entflohen war. Zaghaft und sachte bewegte er sie. Dieser Kuss war so schüchtern, dass ich beinahe gelächelt hätte. Doch ich nutzte meine Chance, wusste nicht, ob ich sie je wieder bekommen würde und küsste ihn zurück, um einiges heftiger als er. Sein leises, tiefes Seufzen ließ Gänsehaut auf meinem Körper entstehen, die Raupen in meiner Bauch feierten eine Gangbangparty und el Mayuscúlo zuckte freudig in meiner Hose. Der Flummi in meiner Brust tat weh. Jedoch hätte ich nie für möglich gehalten, wie gut sich Schmerz anfühlen konnte. Seiner anfänglichen Zurückhaltung wich Leidenschaft und er vertiefte den Kuss, sogar seine Zunge fand den Weg in meinen Mund. Santa Maria! Dieser Bengel konnte küssen, so verdammt gut küssen. Gut? Traf es nicht mal annähernd. Es war … unbeschreiblich. Ich verfluchte das Tuch mit dem ich an den Stuhl gefesselt war, verfluchte Zippo der viel zu gut Knoten binden konnte, weil ich Noah nicht berühren, ihn nicht auf meinen Schoß ziehen und ihn nicht an mich pressen konnte und ich verfluchte Jules, weil er mich in diese Situation gebracht hatte. Gleichzeitig wollte ich ihm danken, weil er mich in diese Situation gebracht hatte. Ich war so überfordert von allem, dass ich nicht klar denken konnte. Als seine Zunge über meine strich und sie sich zu einem wilden Tanz vereinten, war es mir egal, dass alle mein Stöhnen hörten und uns sahen. Für mich zählte nur Noah – wie immer – und wie verdammt gut er mit seinen Lippen umgehen konnte. Dieser Kuss sollte niemals enden, leider wusste ich, dass uns der Sauerstoff langsam ausging.
Schwer atmend löste er sich von mir und ich hätte gerne seinen Blick gesehen. Und seine roten, geschwollenen Lippen. Über die ich gerne mit dem Daumen gestrichen und sie dann weiter geküsst hätte.
Ich hörte Noah zurück humpeln, während mir erst die Handfesseln und dann die Augenbinde abgenommen wurde. Unsere Blicke trafen sich, bevor er sich setzte und ich fühlte mich noch immer gefesselt.
Texte: Nala A. Addams
Bildmaterialien: Tumblr
Cover: Nala A. Addams
Lektorat: Nala A. Addams
Tag der Veröffentlichung: 13.02.2018
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Papa.
Du fehlst.