Luca
21 Jahre alt,
Schwester von Ben,
Beinah-Schwester von Rebecca
Mira
17 Jahre alt,
Schwester von Elias und Laura (†)
Rebecca
26 Jahre alt,
Beinah-Schwester von Luca,
›Gerade-nicht-so-richtig-Partnerin‹ von Charlotte,
in ›Stationär‹ Patientin auf der Borderline-/Trauma-Station
Ben
26 Jahre alt, Bruder von Luca,
bester Freund von Elias,
Partner von Milan,
Bassist bei ›Not a clue‹
Elias
26 Jahre alt,
Bruder von Mira und Laura (†),
Partner von Maja,
Gitarrist bei ›Not a clue‹,
in ›Stationär‹ Patient auf der Borderline-/Trauma-Station
Julie
17 Jahre alt,
Freundin von Mira und Charlotte,
in ›Stationär‹ Patientin auf der Essstörungsstation
Charlotte
20 Jahre alt,
Freundin von Julie,
›Gerade-nicht-so-richtig-Partnerin‹ von Rebecca,
›Gerade-nicht-Partnerin‹ von Mirjam,
in ›Stationär‹ Patientin auf der Essstörungsstation
Maja
27 Jahre alt,
Partnerin von Elias,
in ›Stationär‹ Patientin auf der Borderline-/Trauma-Station
Louise
18 Jahre alt,
abgespaltener Persönlichkeitsanteil von Maja,
beste Freundin von Rebecca
Isa
17 Jahre alt,
abgespaltener Persönlichkeitsanteil von Maja,
singt statt zu sprechen
Error
ungefähr 26 Jahre alt,
abgespaltener Persönlichkeitsanteil von Maja,
Beschützer im Persönlichkeitssystem
Lenny
9 Jahre alt,
abgespaltener Persönlichkeitsanteil von Maja
Ella
14 Jahre alt,
abgespaltener Persönlichkeitsanteil von Maja
Azra
18 Jahre alt,
Freundin von Mira
Milan
24 Jahre alt,
Partner von Ben
Sina
26 Jahre alt,
Freundin von Ben und Elias,
Sängerin bei ›Not a clue‹
Jannik
21 Jahre alt,
Bruder von Mirjam,
Vater von Lotta-Pauline
Mirjam
20 Jahre alt,
Schwester von Jannik,
Mutter von Lotta-Pauline,
›Gerade-nicht-Partnerin‹ von Charlotte,
in ›Stationär‹ Patientin auf der Essstörungsstation
Lotta-Pauline, genannt Pauline
3-4 Monate alt,
Tochter von Mirjam und Jannik
Tom
21 Jahre alt,
Freund von Julie,
in ›Stationär‹ Patient auf der Essstörungsstation
Flo
6 Jahre alt,
Julies Bruder
Alfred
über 80 Jahre alt,
Nachbar von Ben und Luca in der Gartensiedlung
André
Vater von Elias, Laura (†) und Mira
Anke
Mutter von Elias, Laura (†) und Mira
Eike
Andrés Frau
Adoptivmutter von Mira
Benedikt
Vater von Julie
Therese
Mutter von Julie
Inka (†)
Mutter von Ben und Luca
Jonte (†)
Großvater von Ben und Luca,
außerdem Adoptivvater von Ben
Alex
Vater von Ben
Frau Finke
Lucas Therapeutin
Dr. Noack
Lucas Psychiater
Dr. Balthus
Lucas Urologe
Dr. Gräbert
Majas Onkel (unehelicher Sohn ihres Großvaters),
ihr ehemaliger Psychiater
Ida und Bram
wohnen in der Nachbarschaft von Majas Hof
Marieke
Nichte von Ida und Bram,
Hebamme, bei der Charlotte ihr Praktikum macht
Luca lehnte ihren Kopf gegen das Busfenster und ließ sich über die Landstraße hinwegschaukeln. Einen Augenblick lang schloss sie erschöpft die Augen. Es war einer der langen Arbeitstage gewesen, und die waren auch im zweiten Ausbildungsjahr noch eine Herausforderung. Aber so erledigt sie auch war, ihre Haltestelle wollte sie nicht verpassen. Luca blinzelte in die sinkende Sonne. Seit ihrem Umzug hatte sich der Weg zum Tierheim deutlich verkürzt. Luca wühlte in ihrem Rucksack und zog zwischen zwei Büchern den Disso-Stein heraus. Auch wenn es gerade keine destruktiven psychischen Zustände zu stoppen galt, half ihr der Druck in der Handfläche wachzubleiben.
»Der ist wirklich besonders.« Rebeccas schmale Finger fuhren über die blaugraue Spitze des Steins. »Du hast ein viele Millionen Jahre altes Anti-Dissoziativum.«
Luca schob eine dunkelblonde Strähne hinter das Ohr. »Ich habe ihn beim Ausgang in der Kinder- und Jugendpsychiatrie gefunden. Da waren die Kerben noch scharfkantiger.«
Rebeccas mehrfach gepiercte Braue hob sich. »Und du durftest ihn dennoch behalten?«
Luca nahm den Stein aus der Hand ihrer Beinah-Schwester wieder entgegen. »Ich habe ihn bis zur Entlassung draußen versteckt.«
Die schmutzige Busfensterscheibe überzog das Licht mit einem diesigen Schleier. Gleich konnte sie sich noch eine Weile in den Garten setzen und lesen. Wenigstens bis die abendliche Septemberkühle aufzog. Auch Ben war sicher noch draußen und werkelte im Garten.
Luca ahnte die Andeutung eines Lächelns auf ihrem unvollständigen Busfenster-Spiegelbild. Dieser Sommer hatte nicht nur die fragile und zugleich von metallerner Unbeugsamkeit durchsetzte Rebecca in ihr Leben gebracht, sondern auch einen Halbbruder. Und dann waren da auch noch die anderen. In Lucas Gedanken tauchten all die Gesichter und Menschen auf, die sie in den vergangenen Wochen kennengelernt hatte. Luca wusste noch nicht genau, wie sie mit dieser Invasion an Verbundenheit umgehen konnte. Aber sie war froh, ins Gartenhaus gezogen zu sein, auch wenn noch nicht klar war, wie es mit Bens halblegalem Zuhause weitergehen würde.
Wenigstens würde sie sich heute Abend ausruhen können, ohne dass sie jemand daran hinderte. Luca seufzte dankbar. Bis vor Kurzem hatte sie in einem sozialpsychiatrischen Wohnheim gelebt, und dort hatte es etliche fremdbestimmte Programmpunkte gegeben. Es war ungewohnt, ohne das komplexe Regelwerk zu leben, aber durch Ben und die anderen war sie nach ihrem Auszug nicht so abgestürzt wie andere vor ihr.
›Sogar nach der Klinik muss man sich erst mal wieder draußen zurechtfinden‹, hatte Rebecca gesagt, ›in der Selbstbestimmung, ohne die vorgegebene Struktur. Und da ist man nicht so lange wie im betreuten Wohnen.‹
Luca wusste, dass sie unwahrscheinliches Glück gehabt hatte, in ein Netzwerk entlassen worden zu sein, das sich gerade zu dem Zeitpunkt gebildet hatte, als ihr Auszug bevorstand.
Im Vorbeifahren realisierte sie, dass sie die Häuserreihe vor der Biegung, die zu ihrer Haltestelle führte, erreicht hatte, und drückte den Signalknopf. Sie zog den Riemen ihres Rucksacks über die Schulter. Es war nicht absehbar, wie ihr Leben sich weiterentwickeln würde, aber sie hatte in Wenigem mehr Übung als darin, ungewiss zu leben.
Mira öffnete Alfreds verwitterte Gartenpforte und schob einige Zweige der Felsenbirne zur Seite. Danach sah sie an der Schwengelpumpe den Hausbesitzer in ausgeleierten Hosen stehen.
»Hallo Alfred«, rief sie dem alten Mann zu.
Bens Gartenhausnachbar drehte sich um. »Hallo Mira«, grüßte er lächelnd. »Julie ist hinten in der Laube.«
»Ich weiß, das hat sie mir geschrieben.« Mira ließ ihren Blick über die Obstbäume und das Hochbeet wandern, bevor er an Alfred hängen blieb, der mit gleichmäßigem Schwung die Gießkannen füllte. Noch nicht einmal ihr großer Bruder strahlte eine so ausgeglichene Ruhe aus wie dieser alte Mann. »Soll ich Wasser für die Rosen mitnehmen?«, erkundigte sie sich und deutete auf die Gießkannen.
»Nein, nein.« Alfred schüttelte gelassen den Kopf. »Das mache ich später.«
»Dann gehe ich nach hinten.«
»Gut.« Der alte Mann lächelte ihr zu. »Ich komme dann mit dem Tee, wie immer.«
Mira winkte ihm noch einmal zu und ging dann über die grasbewachsenen Pflastersteine in Richtung Haus. Früher war sie oft mit ihrem Bruder in der Gartensiedlung gewesen.
Elias hatte sich nebenan mit seinem Freund Ben getroffen, und Mira war ab und zu nach drüben gegangen, um Alfred zu besuchen. Dann hatte sie mit dem alten Mann Tee getrunken und Buchstaben aus seinen Zeitungen ausgeschnitten. Der alte Gartenhausnachbar hatte eine Fähigkeit, die den meisten Erwachsenen abging: Er konnte da sein, ohne sich einzumischen. Das zeigte sich auch in seinem Umgang mit Julie, der er einen Lernort im hinteren Garten bot. Alfred hatte Miras Freundin besonders ins Herz geschlossen, und trotz seiner Ungezwungenheit im Umgang mit Julies Untergewicht passte er gut auf sie auf.
Mira umrundete Alfreds von Wein umranktes Haus und erblickte Julie am Pavillon-Tisch. Gedankenverloren und mit einem verfärbten Blatt in den Engelslocken hob ihre Freundin den Kopf.
»Du siehst aus, als würdest du für Renoir oder Monet Modell sitzen«, begrüßte Mira sie und zog das Blatt aus Julies Haar. »Nur deine Kleidung ist nicht ganz stilecht.«
Julie schaute an ihrem Baumwollshirt herab. »Nein, wohl eher nicht. Aber im 19. Jahrhundert bin ich gerade tatsächlich. Nur ein paar Jahrzehnte vor dem Impressionismus.«
»Mit wem?« Mira warf einen Blick auf die Unterlagen. »Ach ja, Bentham und Mill. Du bereitest dich also für die Nachholklausur vor.«
»Ja.« Julie schaute auf die Notizen und verzwirbelte eine Locke. »Die Vorletzte. Aber für Kunst habe ich kaum noch Zeit.«
Auch Mira fand, dass die Nachholklausuren eng geblockt waren. So als wollte das Lehrerkollegium nicht nur Julies Wissen, sondern auch ihre Stressresistenz prüfen. Und das war das Einzige, was Mira beunruhigte. Die Lerninhalte waren kein Problem für Julie, ihre Prüfungsangst schon.
»Für Kunst bist du schon vorbereitet.« Mira ließ sich auf einem der Stühle mit der abgeplatzten Farbe nieder. »Damit hast du dich sogar in der Klinik beschäftigt. Vor deinem Bett lag ein ganzer Stapel Fachbücher über die Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts.«
Es waren die Monate in Klinik und Tagesklinik gewesen, die Julie den ganzen Schulstoff hatten versäumen lassen. Aber sie hatte auf gar keinen Fall zurückgestuft werden wollen. Und so lernte sie seit geraumer Zeit für das elfte und zwölfte Schuljahr gleichzeitig.
Mira betrachtete ihre Freundin aufmerksam. Sie wirkte blass und angespannt, außerdem war sie weiterhin zu dünn, aber noch hatte Julie keinen Kampf aufgegeben. Weder den um die Versetzung noch den gegen die Anorexie. Mira war überzeugt davon, dass Julies Anwesenheit in der Gartensiedlung dabei eine große Rolle spielte. Es tat ihr gut, an diesem Ort zu sein, und Mira wünschte ihr nichts mehr, als dauerhaft hier leben zu dürfen.
»Gibt es eigentlich irgendwas Neues von Benedikt?«, erkundigte sie sich.
Vor einigen Tagen hatte Julie ihre Eltern mit Unterstützung ihrer Therapeutin darum gebeten, bei Ben im Gartenhaus wohnen zu dürfen. Alle aus der Clique hatten sie zu diesem Schritt ermutigt, und Mira hatte Stunden damit verbracht, Julie bei der argumentativen Vorbereitung zu helfen. Aber Benedikt hatte die Sitzung abgebrochen und eine Antwort verweigert.
»Nein.« Julie blickte auf ihre Notizen, als hätte sie dort etwas entdeckt, das ihre ganze Aufmerksamkeit forderte.
Mira presste die Lippen aufeinander und verfluchte sich stumm selbst. Sie hätte nicht fragen sollen. Wenn es Neuigkeiten gab, würde Julie sie ihr mitteilen, und so erinnerte sie ihre Freundin nur an die angespannte Atmosphäre zu Hause. Benedikt schwieg sich aus, seit er die Therapiestunde verlassen hatte, und das war leider nichts Neues. Julies Vater spielte auf seiner Tochter wie auf einem Instrument. Er wusste genau, welche Saiten er anschlagen musste. Sein abweisendes Schweigen war nichts weiter als eine Taktik, die Julie dazu bringen sollte, ihren Wunsch zurückzunehmen.
Und die wusste das genauso wie Mira, nur musste Julie auch aushalten, was ihr Mut bewirkt hatte: sein Gekränktsein, das sich in manipulativem Verhalten zeigte.
»Du hältst das aus«, beschwor Mira ihre Freundin. »Es ist nur ein Machtspiel.«
»Wahrscheinlich«, bestätigte Julie unglücklich. »Aber ich weiß nicht, wie lange ich das aushalten kann.«
»Rufst du mich an, bevor du glaubst, alles zurücknehmen zu müssen?«, bat Mira.
»Das wollte Charlotte auch schon.«
»Gut.« Mira lächelte sie aufmunternd an. »Dann sind wir uns in dem Punkt ja einig.«
Sie wusste nicht, ob es reichen würde, damit Julie gegenüber Benedikt bestand, aber es erleichterte sie. Denn Julie brauchte alle Unterstützung, die sie kriegen konnte, um nicht das zu tun, was sie immer tat: Auf Lebensnotwendiges verzichten.
»Sollen wir Mathe machen?«, fragte Julie. »Du wolltest doch, dass ich dir etwas erkläre, bei den Aufgaben zur Bernoullie-Kette.«
Mira unterdrückte ein Seufzen. An Mathe dachte sie fast so ungern wie an Julies Vater. Aber sie wusste, dass dieses Fach eine beruhigende Wirkung auf Julie hatte. Also war sie bereit, die eintönige Welt der Wahrscheinlichkeitsrechnung als Ausstieg aus dem schwierigen Thema zu akzeptieren.
»Okay. Aber spätestens, wenn Alfred mit dem Tee kommt, hören wir auf.«
Als Luca in den Garten kam, hörte sie ihren Bruder im Schuppen rumoren. Sie zog einen der Plastikstühle in die Herbstsonne und wischte gelbbraune Birnbaumblätter von der Sitzfläche. An diesem Wochenende wollte Ben eine Entrümpelungsaktion durchführen. Also konnte es sein, dass er im Schuppen bereits das ein oder andere aussortierte. Denn ganz offensichtlich hatte ihr Großvater das zu Lebzeiten nicht getan.
»Hallo Schwesterherz.« Ben trat aus der Schuppentür heraus und mit einem verschwitzten Lächeln auf sie zu. »Wie war dein Tag?«
»Gut.« Luca musste ebenfalls lächeln. Diese Anrede hatte noch immer etwas Gewöhnungsbedürftiges, weil sie sich erst so kurze Zeit kannten, aber aus irgendwelchen Gründen mochte sie die verbale Nähe, die ihr Bruder auf diese Weise herstellte. »Wie war deiner?«, wollte sie wissen.
Ben blickte erst auf den Schuppen und deutete dann auf die hintere Ecke des Gartens. »Er wurde besser, während ich das Gehege fertiggebaut habe.«
Luca folgte seinem Blick und sah die Ränder eines großzügig angelegten Auslaufs. Bisher hatte dort nur ein alter, heruntergekommener Stall gestanden, aber da bald zwei junge Kaninchen einziehen sollten, hatte Ben in den vergangenen Wochen begonnen, das Gehege zu bauen und den Stall als Unterschlupf auszubessern.
»Es sieht gut aus«, meinte Luca. »Sie werden sich dort wohlfühlen.« Dann betrachtete sie Bens leicht abwesenden Ausdruck noch einmal. »Und was war vorher?«,
Ben hatte manchmal eine ungewöhnliche Art, mit Fragen umzugehen. Nicht dass er abweisend geworden wäre oder ungehalten, er äußerte sich nur absolut undurchsichtig, bevor er davon ging. Aber wenn man seinem Partner Milan glauben konnte, tat er das auch bei anderen. Es war also nichts, worum Luca sich mehr Gedanken machen musste als der Rest der Clique.
»Vorher hat sich Alex gemeldet«, berichtete Ben ausweichend.
Luca nickte. Alex war Bens Vater, aber auch er war erst in diesem Sommer aufgetaucht. Und deshalb hatten sie erst ein Mal Kontakt gehabt: Ben hatte Alex in seiner Anwaltskanzlei angerufen, um ihn um seine juristische Hilfe zu bitten. Und Alex hatte versprochen, sich zu melden.
»Er kommt Donnerstagabend«, beschloss Ben dann mitzuteilen. »Kannst du da zu Hause sein?«
Luca nickte. »Kein Problem. War er okay?«
Ben zuckte mit der Schulter. »Wir haben uns nur kurz verabredet. Da konnte er nicht auf eine bestimmte Weise sein.«
Zwischen den Worten hing die verborgene Aufwühlung ihres Bruders, und Luca konnte sie nachvollziehen. Ben hatte einen schwierigen Sommer hinter sich, in dem sich viele Annahmen, mit denen er aufgewachsen war, als Unwahrheiten herausgestellt hatten. Er wollte keine weiteren Belastungen und Verstörungen, er wollte Alex nur ein paar Fragen zu juristischen Problemen bei der Erbschaft stellen. Aber auch das fand Luca bereits mutig. Sie war sich keineswegs sicher, ob sie unter diesen Umständen nach ihrem Vater Ausschau gehalten hätte.
»Ich werde da sein«, versprach sie.
»Gut. Dann gehe ich jetzt duschen.« Ben lächelte sie noch einmal an, klopfte sich die Spinnweben vom Pullover und verschwand auf langen Beinen im Haus.
Luca holte ihr Buch aus ihrem Rucksack und lehnte sich im Stuhl zurück, während der Wind in den Blättern auffrischte. Es war doch rascher kühl geworden, als sie gedacht hatte. Aber sie würde noch eine Weile hier sitzen und den Aufschub genießen, den Ben ihr verschafft hatte. Sie würde erst später duschen müssen.
Mira trug das Tablett mit dem benutzten Teegeschirr zurück zu Alfreds Haus. Es dämmerte bereits, und Julie war längst gegangen, um ihren kleinen Bruder aus der Betreuung abzuholen. Letztlich hatten sie alle Bernoullie-Aufgaben gelöst, und danach war Julie gelassen genug gewesen, um Mira auch noch ihre Ethik-Notizen zu erklären.
Der aufkommende Wind hatte die Unterlagen verweht, und Mira hatte sich gewünscht, dass Julies Selbstvertrauen mit jeder Prüfung wachsen würde – bis es vielleicht irgendwann auch vor Benedikt bestand.
Die blau bedruckten Tassen klapperten auf dem Tablett, als Mira den unebenen Pflastersteinen zum Haus folgte. Dann hörte sie ein Geräusch aus dem Nachbargarten und hob den Blick. Gerade war Bens Schwester mit einer Wolldecke aus dem Schuppen getreten und drückte die Tür ins Schloss.
»Hallo Luca«, begrüßte sie den Cliquen-Neuzuwachs lächelnd.
Als sie das Mädchen mit den dunkelblauen Augen zuletzt gesehen hatte, hatten sie auf der Schwelle zum Gartenhaus gesessen und über Ovids Metamorphosen geredet. Und danach hatte Luca ihr ein Buch geliehen. Mira kannte niemanden sonst, der genau wie sie immer etwas zu Lesen mit sich herumtrug.
»Hey.« Lucas Augen lächelten sie an. »Was liest du gerade?«
»Deine Graphic novel«, erwiderte Mira.
Als Bens Schwester ihr den Band gegeben hatte, war Mira bewusst geworden, dass Luca einen Bogen über zweitausend Jahre Literatur geschlagen hatte. Ovid hatte die Geschichte von Iphis erzählt, die in einen Mann verwandelt wurde, damit sie ihre Geliebte heiraten konnte, und die Graphic novel erzählte die Geschichte eines Transjungen in eindrücklichen Bildern und Worten. Bisher hatte Mira sich noch nicht überwinden können, den Band zurückzugeben.
»Und du?«, fragte sie mit Blick auf das Buch in Lucas Hand zurück.
»›Orlando‹, von Virginia Woolf«, erklärte Bens Schwester. »Ich habe die Ausgabe in dem kleinen Antiquariat neben deiner Schule gefunden.«
»Das ist einer meiner Lieblingsorte«, berichtete Mira. »Ist das Buch gut?«
»Natürlich, es ist von Virginia Woolf.« Luca blinzelte. »Aber mir ist kalt geworden, deshalb habe ich eine Decke aus dem Schuppen geholt.«
»Die ist warm«, bestätigte Mira. »Bens Großvater hat mich früher darin eingewickelt, wenn es spät wurde und Ben und Elias sich noch nicht von ihren Gitarren trennen konnten.« Dann unterbrach sie sich. »Du hättest auch da sein sollen, damals ...«
Denn Jonte war auch ihr Großvater gewesen, und plötzlich fragte sich Mira, wie es gewesen wäre, wenn es neben den großen Jungen auch noch Luca im Gartenhaus gegeben hätte. Ob sie sich mit dem Kind Luca angefreundet hätte ...
»Dann wäre alles anders gewesen«, erwiderte Luca.
»Ja«, bestätigte Mira beim Versuch, sich eine so frühe Begegnung vorzustellen. Lucas Geschichte, die von ihnen allen, wäre so anders gewesen, dass es kaum vorstellbar war. »Aber wenigstens bist du jetzt da!«
»Das bin ich.« Lucas dunkelblaue Augen lächelten. »Und ich darf im Garten lesen.«
»Dann tu das«, meinte Mira und warf einen kurzen Blick in Alfred Fenster. »Ich bringe das Geschirr mal rein. Und beim nächsten Mal musst du mir von ›Orlando‹ erzählen!«
»Das mache ich«, versprach Luca.
Mira spürte ihr einseitiges Grübchen lächeln und balancierte dann das Tablett zu Alfreds Haus. Vielleicht konnte er ihr als ehemaliger Lateinlehrer eines Tages noch mehr zu Ovid erzählen. Ob Iphis auch mal einen anderen Namen gehabt hatte?
»Luca«, wandte Mira sich abrupt um. »Wann wusstest du, was dein richtiger Name ist?«
»Mit fünf«, antwortete Bens Schwester. »Wir sollten einen Buch-Club gründen!« Dann winkte sie ihr mit ›Orlando‹ zu und machte sich auf den Weg zu ihrem Stuhl.
Luca hielt die Klinke der Badezimmertür noch in der Hand und atmete durch. Die Ablenkung durch Mira hatte gut getan, und die Frage nach ihrem Namen hatte die erste Erinnerung daran zurückgebracht, wer sie war. Doch nun stand sie in diesem Türrahmen und vor ihrer abendlichen Trauma-Begegnung. Mit einer Hebelbewegung zog sie die schief hängende Badezimmertür ins Schloss, und das ausgeblichene Holz rastete im Rahmen ein.
›Es ist alles gut‹, beschwor sie den Ausnahmemodus ihres Gehirns. ›Du bist im Gartenhaus, die Tür hat einen altmodischen Riegel und du bist ganz allein.‹
Als sie mit fünf erkannt hatte, dass sie Luca war, hatte sich das nach Befreiung und Ankommen zugleich angefühlt, doch kaum ein halbes Jahr später waren Dinge geschehen, die beides hatten zerstören wollen.
Luca warf noch einen Blick auf die Tür und begann dann, sich aus der Kleidung zu schälen. Alle Arbeitstage endeten mit der unvermeidlichen Dusche am Abend. Seit Beginn der Ausbildung war das so, und doch war es noch immer eine Qual. Sie löste den Hosenknopf, und die Jeans rutschte über die schmale Hüfte zu Boden. Luca schob sie mit einem wackeligen Bein zur Seite. Dann zog sie das Longsleeve über ihren Kopf und streifte den BH mit den Silikoneinlagen ab. Bevor sie das, was sie sarkastisch ihre ›Dessous-Collage‹ nannte, über die Beckenknochen schob, atmete sie noch einmal tief durch. Sie hatte schon unterschiedliche Versionen von Unterwäsche probiert und war schließlich bei einer engen Miederhose mit einer Panty darüber hängen geblieben. Luca stopfte beides unter das Shirt und verschwand mit einer raschen Bewegung unter der Dusche.
Die Therapeutinnen, denen sie im Laufe ihres Lebens begegnet war, hatten ihr bisher nicht helfen können, diese Situation erträglicher zu gestalten. Aber das lag auch daran, dass Luca sie in dem Glauben gelassen hatte, es ginge ausschließlich um eine Identitätsproblematik.
Unglücklicherweise gestaltete sich das Duschen im Gartenhaus besonders kompliziert. Das Wasser wechselte dauernd seine Temperatur und musste durch beständiges An- und Abdrehen neu angepasst werden. Diese Wasserregulation ließ sich nicht mit geschlossenen Augen erledigen, und so bedeutete sie eine vermehrte Konfrontation mit ihrem Körper – was Luca weitgehend vermeiden wollte.
Sie drehte den Wasserhahn in eine Position, die erfahrungsgemäß am Anfang lauwarmes Wasser produzierte. Während sie auf den Anstieg der Wassertemperatur wartete, machte sie bereits die Augen zu. Je weniger Luca von ihrem Körper sah, desto besser. Das Problem an diesem Vorgehen war nur, dass sie so auch weniger von der Gegenwart wahrnahm.
›Ich weiß, wie du ein Mädchen werden kannst ...‹
Die Männerstimme schien in ihr Ohr zu raunen, und Luca durchlief ein Beben. Das Duschen war ein unauflösbares Dilemma.
›... ich kann dich behandeln.‹
Lucas Körper zuckte unter dem Ansturm der Vergangenheit, und sie riss die Brause aus der Halterung. Die Wassertemperatur war ihr jetzt gleichgültig, sie wollte nur diesen Flashback abwehren. Aber so rasch sie sich auch wusch, ihre Hände erkannten doch, was ihre Netzhaut nicht wahrnehmen sollte. Ihre Fingerspitzen ertasteten die großflächig vernarbte Haut, die jungenhaft flache Brust und zuletzt auch ihr irreführendes Genital. Nichts davon war auch nur annäherungsweise so, wie es sein müsste, und genau deshalb erzählte ausgerechnet ihr Körper präzise von ihrer Wirklichkeit.
›Bist du ein Doktor?‹, flüsterte ihre Kinderstimme.
›Ja.‹ Der Mann lachte rau. ›Ich bin ein Spezial-Doktor.‹
Luca drehte den Wasserhahn so weit wie möglich auf, und das immer kälter werdende Duschwasser prasselte auf ihre Haut. Sie wollte unbedingt fertig werden, bevor die Flashbackschmerzen heranrollten. Als sie schließlich das Wasser aus ihren Haaren drückte, hatte sich Gänsehaut auf ihren Armen gebildet. Luca zerrte ihr Handtuch vom Haken. Sie musste sich nur noch abtrocknen und anziehen – bis zum nächsten Tag.
An diesem Morgen war Mira früh zu einer Runde mit ihrer Hündin aufgebrochen. Es war unsonntäglich ungemütlich in der Wohnung gewesen, weil ihre Adoptivmutter Eike die Sachen für ihren Urlaub zusammenpackte. Ihr Vater André dagegen war geistig bereits jetzt abwesend, und so hatte Mira ihren Hund gerufen und war rausgegangen.
Sie hatte sich für die Altstadtrunde entschieden, um einen Blick in das Schaufenster des Antiquariats werfen zu können. Nun betrachtete sie die Auslagen und dachte an ›Orlando‹, das Bens Schwester auch hier entdeckt hatte. Gestern Abend hatte sie noch recherchiert, dass die Hauptfigur sich im Laufe des Romans von einem jungen Mann in eine Frau verwandelte. Aber wahrscheinlich war das nicht der einzige Aspekt, der Luca an Virginia Woolfs Geschichte ansprach. Mira hoffte, demnächst die Gelegenheit zu haben, mit ihr darüber zu reden. Sie wollte sich gerade dem zweiten Schaufenster widmen, als ihr Handy zu klingeln begann.
»Lieblingsbruder«, begrüßte sie den Sechsundzwanzigjährigen, »du schläfst an diesem Sonntag also auch nicht aus?«
»Das verschieben wir aufs nächste Wochenende«, sagte er, und Mira hörte ihn lächeln.
»Wenn ihr hier seid«, erklärte sie und spürte, wie das Grübchen in ihrer linken Wange zuckte.
Schon vor Wochen hatte sie den Besuch in ihrem Philosophie-Kalender eingetragen. Genau genommen seit Maja ihren Termin bei der Psychiaterin hatte, und nun war es bald so weit. Mira freute sich bei jedem Blick auf Blaise Pascale darauf, Elias und seine Freundin wiederzusehen. Aber sie wusste, dass Maja dem Termin mit gemischten Gefühlen entgegensah.
»Maja und die anderen sind wahrscheinlich schon ziemlich angespannt«, mutmaßte Mira.
»Ja, das sind sie«, bestätigte Elias.
Und das war nicht verwunderlich, dachte Mira. Immerhin war es ihr erster Versuch, sich psychiatrische Hilfe zu holen, nachdem sie vor einem Jahr bei einem psychopathischen Arzt gewesen waren, der sich als Halbbruder ihres Vaters herausgestellt hatte. Außerdem hatte sich gezeigt, dass Dr. Gräbert Maja bereits als Kind schwer traumatisiert und ihre dissoziative Identität geschaffen hatte. Er gehörte zu einem Zirkel, der es darauf angelegt hatte, Maja zurückzuholen, und so war es vollkommen verständlich, wenn Maja oder einer ihrer dissoziierten Persönlichkeitsanteile vollkommen panisch auf Psychiatertermine reagierte.
»Aber wir kriegen das hin«, sagte Elias. »Ich dachte nur, es wäre gut, den Termin mit etwas Positivem zu verbinden. Und deshalb kommen wir schon Freitag.«
»Wirklich?«, strahlte Mira. Sie hatte auf eine Übernachtung gehofft, aber ein ganzes Wochenende war natürlich noch viel besser.
Ihr Bruder lachte. »Ben will das Gartenhaus weiter entrümpeln«, berichtete er. »Damit Julie Platz hat – und überhaupt alle ...«
Mira nickte. Das Gartenhaus wurde von allen aus der Clique besucht, und dass Ben das Schreibzimmer für Julie vorbereiten wollte, ohne dass ihr Umzug gewiss war, erwärmte Mira noch mehr für ihn. Ben war ihr Zusatz-Bruder, und sie war gern bereit, ihn mit Julie zu teilen.
»Wir können ihm alle helfen«, schlug sie vor.
»Genau das habe ich mir auch gedacht«, meinte ihr Bruder. »Sagst du André Bescheid, dass wir früher kommen?«
»Ich schreibe ihm gleich«, versprach Mira. »Und weil Eike im Urlaub ist, backe ich den Willkommenskuchen.«
Elias lachte. »Ich freue mich auf dich! Bis Freitagabend dann!«
»Bis Freitag – grüß Maja und die anderen!«
Mira legte auf und wuschelte ihrem Hund durch das Fell. »Das wird ein großartiges Wochenende«, versprach sie Tonks.
In wenigen Tagen würde sie ihren Bruder sehen und außerdem Teile der Clique. Sie würde in der Gartensiedlung sein und mit Luca reden können. Außerdem waren Julies Prüfungen dann vorüber. Das Wochenende würde auch von der Aussicht auf Majas Arztbegegnung überschattet werden, aber im Vorgespräch hatte sich die Psychiaterin offen und kooperativ gezeigt. Mira hoffte also mit Elias, dass alle Befürchtungen überflüssig waren.
»Jetzt muss nur noch Julie bestehen«, flüsterte sie Tonks zu, »und ein kleines Wunder Benedikt vom Gartenhausumzug überzeugen.«
Im Laufe des Vormittags hatte sich der Himmel zugezogen, und Luca beschloss, den schwarzen Hundesenior mit in ihre Pause zu nehmen. Der Neuzugang war seit seiner Ankunft noch nicht nach draußen gekommen, und Luca wollte ein bisschen herumlaufen. Auch wenn sie bei der Arbeit mehr als genug Bewegung bekam, brauchte sie es gelegentlich, das Tierheim zu verlassen.
Vor allem an Tagen, denen Albtraumnächte vorausgegangen waren und an denen sie das Gefühl brauchte, nicht eingesperrt zu sein. Sie nahm eine Leine vom Haken und holte Robin aus dem Zwinger. Der große Hund sah sie beinah ungläubig an, folgte ihr dann aber bereitwillig durch das Tor.
Luca ließ Robin den Weg bestimmen und begleitete ihn durch die abgeernteten Felder. Als einzelne Tropfen begannen, vom Himmel zu fallen, zog sie die Kapuze über den Kopf.
»Dir macht der Regen nichts aus, oder?« Sie betrachtete den zotteligen Hunderiesen, der an einem Strauch schnupperte.
Doch dann brachen urplötzlich derartige Wassermassen aus den Wolken, dass Luca Robin in das Bushäuschen zog.
»Ich habe keine Wechselklamotten hier«, erklärte sie ihm. »Und der Arbeitstag dauert noch ein paar Stunden.« Sie streichelte dem schwarzen Vierbeiner über den Kopf. »Wir warten hier, und demnächst deponiere ich wieder ein paar Kleidungsstücke im Tierheim.«
Sie ließ sich auf der Bank nieder und blickte in den Regen hinaus. Eine nasskalte Böe schlug herein und ließ sie frösteln. Luca zog die Jackenärmel über die Hände und blickte sich um. Am verkratzten Glas des Unterstandes rann das Wasser herab, und gelegentlich schlug der Wind mit Regentropfen nach ihr.
Die fünfjährige Luca sah durch einen Schleier aus Wassertropfen auf die Wand des Duschwagens. Ihr nackter Körper zitterte vor Kälte und Furcht. Bob hatte sie unter die Brause gestoßen, bevor das Wasser ausreichend warm geworden war. Sie hörte, wie er sich fluchend auszog. Dann gab der Boden des Duschwagens nach, als er hinter sie trat.
Schon mehrmals war der sich neigende Untergrund das Letzte gewesen, was sie wahrgenommen hatte, bevor ihr schwarz vor Augen geworden war. Eine stürzende Welt und ein brachialer Schmerz hatten Bobs Behandlung beendet, und doch versuchte er es immer wieder.
Luca spürte, wie sich sein Unterleib an ihren Kinderkörper presste. Irgendwo an ihrem Rücken pulsierte es, und eine unbeugsame Hand drückte hart gegen ihren Brustkorb. Es war eine große Hand, die ihren Oberkörper fast umschloss. Luca starrte auf die schwarzen Haare auf dem Handrücken, dann wurde sie von einer zweiten Hand ruckartig vom Boden gerissen, und ein reißender Schmerz zuckte durch ihren Körper, als Bob in sie eindrang.
Luca fühlte das Echo des Schmerzes in ihren Eingeweiden und schlang die Arme um ihren Unterleib. Vornübergebeugt hockte sie auf der Kante des Sitzes und wartete darauf, dass der Flashback abebbte. Die Augen zu Boden gerichtet, konzentrierte sie sich auf den Asphaltboden.
›Es ist Vergangenheit‹, versuchte sie sich zu sagen. ›Und Bob ist im Gefängnis.‹
Eine große, schwarze Schnauze bohrte sich in ihre Seite und zwang sie aufzuschauen. Robin schob seinen schweren Kopf auf ihren Schoß, und Luca wiederholte ihre Selbstbeschwörung.
›Bob ist im Gefängnis. Und ich bin nicht länger wehrlos.‹
Robin atmete schwer, und sie spürte die warme Luft durch ihre Jacke. Es war wirklich Vergangenheit. Hier und jetzt saß sie mit einem Tierheimhund an der Bushaltestelle, und nur die Regentropfen erinnerten entfernt an eine Dusche. Luca strich Robin mit zittrigen Fingern durch das Fell.
»Du bist ein Anti-Dissoziativum«, sagte sie leise. »Und weißt du was? Bob hätte Angst vor dir gehabt.«
Mira saß mit Ovid und Iphis an ihrem Schreibtisch, als Eike den Kopf zur Tür hereinstreckte.
»Möchtest du mir beim Plätzchenbacken helfen?«, fragte ihre Adoptivmutter.
»Du hast Zeit zum Backen?«, fragte Mira überrascht.
Eike lachte. »Wie du siehst«, sagte sie und deutete auf ihre mehlbestäubte Küchenschürze. »Wenn ich am nächsten Wochenende schon nicht da bin, wollte ich euch wenigstens ein paar gut gefüllte Keksdosen hier lassen.«
»Ich komme sofort«, versprach Mira.
Sie blickte über ihre Lateinunterlagen, während Eike in die Küche zurückging. Sie notierte ihren letzten Übersetzungsansatz und schlug dann das Wörterbuch zu. Wenn sie das letzte Mal für drei Wochen die Gelegenheit hatte, Eikes Plätzchenduft und Warmherzigkeit zu atmen, würde sie nichts davon verpassen.
»Du kannst den Kakao in den Teig kneten«, schlug Eike vor, als sie über die Küchenschwelle trat.
Mira nickte und machte sich an die Arbeit. Im Gegensatz zu ihren Geschwistern war sie mit einer ganzjährig backenden Eike aufgewachsen, in einer ofenwarmen Küche, die nach Vanille und karamellisiertem Zucker duftete und in der ihre Adoptivmutter den Rührlöffel schwang wie einen Zauberstab. Aber Elias und Laura waren auch nicht adoptiert worden, ihre leibliche Mutter hatte nur Mira hergegeben. Und Mira wusste, dass das ein Privileg war.
Sie siebte den dunklen Kakao in die Rührschüssel und begann dann, den Teig zu kneten.
›Ich wünschte, Eike wäre auch meine Mutter‹, hatte Laura mit dreizehn gesagt.
Es war eins der ersten Gespräche mit ihrer großen Schwester, an das Mira sich erinnerte. Laura hatte ein Backblech in den Ofen geschoben, während Eike draußen war, und die vierjährige Mira hatte darauf gewartet, die Plätzchen mit Zuckerguss bestreichen zu dürfen.
›Ich habe die andere Mutter vergessen‹, hatte Mira geantwortet.
Laura hatte angesetzt, etwas zu sagen, sich dann aber offenbar dagegen entschieden. Stattdessen hatte sie sich vor Mira gesetzt und sie in eine der wichtigsten Wahrheiten eingeweiht, die sie zu vergeben hatte.
›Wenn du nicht möchtest, dass Elias mitbekommt, was in dir vorgeht, ist Vergessen das allerbeste. Und wenn du es nicht vergessen kannst, denkst du so sehr an etwas anderes, dass er nur noch das wahrnehmen kann.‹
Mira hatte genickt, auch wenn sie nur teilweise verstanden hatte, was Laura gemeint hatte. Aber nur wenige Jahre später hatte sie perfektioniert, was ihre große Schwester ihr beigebracht hatte. Bewegung half dabei, aber auch, dass sie unentwegt las. Auch Elias’ Begabung, in Atmosphären und Gefühlen zu lesen, war gewachsen, doch schon mit sieben konnte sie ihn wirksam ablenken. Denn sie liebte ihn über alles und wollte ihn beschützen.
Als die obligatorischen Nachmittagsarbeiten erledigt waren, stapfte Luca die hintere Hundewiese ab. Bevor sie nach Hause ging, musste sie hier noch aufräumen. Sie bückte sich, um die Wassernäpfe zum Auswaschen einzusammeln.
Robin hatte sich als so verträglich erwiesen, dass sie ihn mit den anderen rausgeschickt hatte. Der Neuzugang hatte seinen Menschen an den Tod verloren und noch nie in einem Zwinger gesessen. Jeder Quadratzentimeter seiner zotteligen Existenz schien zu fragen, warum er hier war. Luca seufzte, denn die Attribute ›alt‹, ›schwarz‹ und ›groß‹ machten Robins Vermittlung nicht wahrscheinlicher, sie flößten den Menschen eher Angst ein.
Dabei wollten alle hier nur ein Zuhause.
»Das ist unser neues Zuhause.« Bob nahm Luca die Augenbinde ab. »Wenigstens zwischendurch.« Er gab ein raues Lachen von sich und schob sie vor das Gebäude. »Aber besser als nichts, oder?«
Die sechsjährige Luca legte den Kopf in den Nacken und zählte anhand der Fenster die Stockwerke. »Fünf«, flüsterte sie.
Das Gebäude sah selbst in der hereinbrechenden Dunkelheit schmutzig grau aus. In einer der rechteckigen Fensterbuchten hing ein kaputter Rollladen. Es sah nicht schön aus. Und auch nicht so, als wäre es drinnen schöner. Aber möglicherweise war dieses Zuhause besser als das Wohnmobil.
»Du bekommst dein eigenes Zimmer«, verkündete Bob und schlug die Autotür zu. »Da stört uns keiner.«
Bei seinen Worten zogen sich Lucas Eingeweide zusammen. Irgendwas stimmte nicht, wenn sie auch noch nicht genau sagen konnte, was. Doch bevor sie darüber nachdenken konnte, schubste Bob sie auch schon durch die angelehnte Haustür in das dunkle Treppenhaus. Es roch muffig, und die einzelne matte Glühbirne leuchtete nur im Erdgeschoss. Von Geschoss zu Geschoss wurde es finsterer, sodass Luca kaum noch etwas erkennen konnte. Doch dann blieb Bob vor einer Wohnungstür stehen.
»Hier ist es«, verkündete Bob, rammte einen Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür. »Rein mit dir.«
Er gab ihr einen Stoß in den Rücken, sodass sie vorwärts in den winzigen Flur stolperte. Die angehenden Straßenlaternen warfen unvermittelt einen blassen Schein auf den Boden und ließen die Umrisse der kleinen Wohnung erahnen. Dann drängte Bob ebenfalls herein und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Plötzlich wünschte Luca, sie hätte nie nach einem richtigen Zuhause gefragt. Sie hatte das unvermittelte Gefühl, in einem Gefängnis zu sein.
Panik stieg in ihr auf, während Bob in den nächsten Raum trat und einen Lichtschalter betätigte. Aus den teilweise gefliesten Wänden ragten Kabel, und langsam folgte Luca ihm durch den kahlen Raum. Dann öffnete er die Tür zum nächsten Raum.
»Dein Zimmer ist schon eingerichtet«, lachte er dröhnend, während Luca vorsichtig an ihm vorbei lugte.
Es war der Raum mit den kaputten Rollläden. Im schwachen Laternenlicht sah sie eine alte Matratze auf dem Boden liegen, eine Decke und daneben Bobs Koffer mit den Spezial-Doktor-Sachen. Lucas Magen zog sich zusammen, und Übelkeit brach aus ihren Poren. Das hier war kein Zuhause, es war Bobs Arztpraxis.
»Luca?«, hörte sie ihre Kollegin quer über den Hof rufen. »Kommst du? Ich brauche dich im Büro!«
Luca spürte den Zaun, in den sich ihre Hand gekrallt hatte, und nickte. »Ja«, brachte sie hervor. »Gleich!«
Vorsichtig löste sie den Griff und atmete durch. Es war gut, dass sie bald zum Gartenhaus fahren konnte. Und vielleicht sollte sie heute Abend mal wieder bei Rebecca anrufen. Es würde ihr bestimmt guttun, mit ihrer Beinah-Schwester zu telefonieren, auch wenn ihre ›Schwesternschaft‹ darin bestand, dass sie beide von Bob missbraucht und gequält worden waren.
Bevor der Nachmittagsunterricht begann, gingen Julie und Mira noch eine gemeinsame Runde durch den Park. Mit latentem Unbehagen dachte Mira an den Projektkurs, der ihr bevorstand. Dabei hatte sie ihn selbst gewählt. Das Zusatzfach lautete ›Literatur und Psychiatrie‹, und Mira war ursprünglich vollkommen begeistert von dem Angebot gewesen.
Als sie den Aushang gesehen hatte, waren ihr gleich mehrere literarische Werke eingefallen, die im Kontext psychischer Störungen gelesen werden konnten. Außerdem hatte beinah die ganze Clique psychiatrische Diagnosen. Und sie hatte ihr Leben lang versucht, genug Wissen zu sammeln, um alles zu verstehen, was ihr wichtig war. Dass die Cliquen-Mitglieder dazugehörten, ergab sich von selbst. Es war also keine Frage gewesen, ob sie den Kurs belegen würde.
Aber dann hatte der Unterricht begonnen, und Mira hatte begriffen, dass er nicht nur inspirierend und aufschlussreich war, sondern auch belastender, als selbst sie es erwartet hatte.
»Woran denkst du?«, wollte Julie wissen, als sie am Denkmal abbogen.
»An meinen ›Literatur und Psychiatrie‹-Kurs«, antwortete Mira. »Ich hoffe, wir schließen heute das Kapitel zur ›Geschichte der Psychiatrie‹ ab.«
Damit würden sie hoffentlich in einer Ära landen, in der an psychisch kranken Menschen keine Foltermethoden mehr ausprobiert wurden – jedenfalls nicht mehr in der Absicht, sie zu heilen. Unversehens musste Mira an Majas sadistischen Psychiater Dr. Gräbert denken, und dann auch an ihre tote Schwester, die jede erzwungene Nahrungszufuhr als Folter empfunden haben musste.
Wenigstens war Julie die Auseinandersetzung mit diesen Inhalten erspart geblieben. Ihre Freundin hatte nie auch nur in Erwägung gezogen, an diesem Kurs teilzunehmen. Manchmal, dachte Mira, funktionierte Julies Selbstschutz doch ganz gut, und das gab Anlass zur Hoffnung.
»Kommst du am Samstag ins Gartenhaus?«, erkundigte sie sich. »Mein Bruder hat angerufen und gesagt, dass sie Ben beim Entrümpeln helfen wollen. Er freut sich bestimmt, wenn du auch da bist ...«
Julie mochte Ben, das wusste Mira, aber über ihre Stirn zogen schwere Gedanken.
»Ich habe Alfred versprochen, ihm am Nachmittag beim Einkochen zu helfen«, sagte sie schließlich. »Als Dankeschön dafür, dass ich wochenlang bei ihm lernen durfte. Wenn ich danach für eine Weile rüberkomme, das dürfte kaum auffallen.«
»Ja ...«, erwiderte Mira gedehnt. »Aber warum fragst du Therese nicht direkt, ob du nach dem Einkochen bei Alfred noch ins Gartenhaus gehen kannst? Dann kannst du länger bleiben ...«
Julie schüttelte den Kopf. »Lieber nicht. Die Klausurergebnisse stehen aus, und die Umzugsfrage sowieso. Es ist besser, ich bitte mal eine Weile um nichts.«
Mira wollte widersprechen. Sie wollte sagen, dass ein Besuch im Gartenhaus nichts Besonderes sein sollte, schließlich wollte Julie dort einziehen, und viele aus der Clique würden dort sein. Aber dann schluckte sie die Worte herunter. Sie wusste, dass für Julie andere Maßstäbe galten.
»Und wenn ich dich decke?«, schlug sie vor. »Wenn wir verabreden, dass ich mit dir am Abend den Schulstoff durchgehe, den du durch die letzten Klausuren verpasst hast? Das werde ich natürlich auch in Wirklichkeit tun, nur nicht gerade an diesem Wochenende ... Aber es wäre eine Begründung dafür, dass du länger bleibst.«
Im letzten Jahr hatten sie Methoden dieser Art entwickelt, damit Julie Kontakt zu der Klinik-Clique haben konnte, obwohl Benedikt es verhindern wollte. Zu Anfang hatte Mira noch gedacht, dass diese freundschaftlichen Verschwörungen bald überflüssig werden würden. Aber dann hatte sich gezeigt, dass dem offenbar nicht so war. Benedikt war wenig veränderungsbereit, und Julie musste ihre Kräfte sorgsam aufteilen.
»Womöglich brauchen wir diese Ausrede noch für etwas anderes«, meinte Julie und zog die Schultern hoch, als wäre ihr kalt. »Aber nach dem Einkochen komme ich vorbei.«
Mira nickte. Im Augenblick konnte sie nicht mehr bewirken, das wusste sie. Und Julie konnte nicht mehr Widerständigkeit aufbringen. An der Seite ihrer Freundin kehrte sie um und ging zur Schule zurück. Sie musste weiter hoffen, dass es besser wurde – spätestens, wenn Julie achtzehn und bis dahin nicht verhungert war.
Luca verließ die Berufsschule mit dem Longboard unter dem Arm. Sie durfte die Ausbildung zwar in Teilzeit absolvieren, weil ihre psychische Stabilität für eine ganztägige Beschäftigung einfach nicht ausreichte, aber die Schule fand für sie genauso wie für alle anderen statt. Also verbrachte sie die Montage mit Unterrichtsstunden, die sie abwechselnd interessierten oder in graduellen Abstufungen von mäßig bis tödlich langweilten.
Aber das, dachte sie, ging Mira wahrscheinlich nicht anders. Sie schwang sich auf das Longboard und rollte den Gehweg entlang.
Luca war noch niemandem begegnet, dessen Gehirn so rasch arbeitete wie das von Mira, der sich so oft unterbrach, um die Denkrichtung zu ändern oder auszuweiten. Manchmal war es fast schwindelerregend, ihr folgen zu wollen. Aber Mira hatte angefangen, nicht mehr alles, was sie dachte, auszusprechen, und Luca fand das beinah schade.
Anfangs hatte sie Miras impulsive Direktheit gewöhnungsbedürftig gefunden, doch sie hatte bald begriffen, dass Elias’ kleine Schwester nicht unempathisch war. Ihr war es nur ein großes Anliegen, alles verstehen zu wollen.
Luca verlagerte das Gewicht und bog in eine andere Straße ein. Auch Rebecca mochte nicht alles, was sie an der Uni lernen musste. Also gehörte das wohl dazu, auch wenn einem das Studium oder die Ausbildung grundsätzlich gefiel. Sie holte Schwung und ließ sich über das unebene Pflaster tragen. Ihre Beinah-Schwester hatte in dieser und der nächsten Woche einige Prüfungen, und Luca hoffte, dass die Flashbacks ihr genügend Gegenwart ließen, um zu lernen.
»Ich bin stolz auf dich«, murmelte sie halblaut, denn das war sie in jedem Fall.
Rebecca hatte Bob vor ihr angeklagt und ihn überlebt. Außerdem hatte sie sich auf die Suche nach ihr gemacht und es gewagt, Charlotte zu lieben. Luca glaubte nicht, dass es jemanden gab, der tapferer war als Rebecca.
»Brauchst du noch irgendwas?«, erkundigte sich Eike und blickte ihre Adoptivtochter fragend an.
Die Frau mit den walnussbraun nachgefärbten Haaren und den mütterlichen Röntgenaugen stand in Miras Türrahmen.
Mira schüttelte den Kopf. »Ich habe alles: ein Zimmer in dieser Wohnung, meinen Hund, und Dad ist auch noch da! Außerdem fährst du doch nur in Urlaub ...«
Eike seufzte. »Ich wollte nur sichergehen.«
Mira konnte ihre Beunruhigung nachvollziehen. Alle paar Jahre machte Eike einen langen Urlaub mit ihrer besten Freundin. Und bisher war während ihrer Abwesenheit immer irgendwas passiert. Einmal hatte ihr Bruder ein Kind aus der Einrichtung entführt, in der er gearbeitet hatte, um es vor häuslicher Gewalt zu schützen. Für Mira machte ihn das zu so etwas wie einem pathologisierten Helden, denn sie fand sein Handeln nicht persönlichkeitsgestört, sondern zutiefst menschlich. Aber es hatte einige Probleme mit sich gebracht und Elias in eine Klinik befördert. Und bei dem Urlaub davor hatte ihr Bruder Mira entführt und aus ihrer alten Schule nach Hause gebracht. Eine Geschichte, an die sie sich ungern erinnerte, die ihn aber nicht weniger heldenhaft erscheinen ließ.
»Mir geht es gut, und Elias auch«, versuchte sie, ihre Mutter zu beruhigen. »Wir haben heute morgen erst telefoniert. Und alles wird gut sein, wenn du wiederkommst! Du solltest die Zeit genießen ...«
»Also gut.« Eike trat mit einem weiteren Seufzen in den Raum herein und umarmte das einzige Kind, das ausschließlich mit ihr aufgewachsen war. »Dann pass auf dich auf – und du auch!«
Sie beugte sich zu Tonks herab und streichelte ihr über den Kopf. Mira gab ihr einen Kuss auf die Wange, und dann erschien André im Türrahmen.
»Wir müssen jetzt los«, erinnerte er seine Frau. »Sonst verpasst du den Zug.«
»Ja.« Eikes Blick flog noch einmal über Mira, dann küsste sie sie ein letztes Mal und gab Andrés Drängen nach, der bereits ihren Koffer in der Hand hielt. »Tschüss«, rief sie noch aus dem Flur, dann fiel die Haustür ins Schloss.
»Hoffentlich habe ich recht, und es passiert wirklich nichts«, sagte Mira zu Tonks. »Sonst gibt sie es irgendwann völlig auf, Urlaub zu machen.«
Sie ließ sich auf ihren Schreibtischstuhl fallen und betrachtete die Unterlagen, die heute im ›Literatur und Psychiatrie‹-Kurs ausgeteilt worden waren. Auszüge aus einem Roman, der die einzige psychische Erkrankung zum Thema hatte, über die sie gar nicht mehr wissen wollte: Schizophrenie.
Natürlich hätte sie es wissen müssen. Dieses Fach trug das Wort ›Psychiatrie‹ im Titel, und nichts war so stark mit der psychiatrischen Praxis assoziiert wie psychotische Störungen. Aber heute Abend würde sie die Romanauszüge nicht lesen. Anke hatte sich nachhaltig in Elias’ und tödlich in Lauras Leben geschrieben. Mira stopfte die Auszüge aus dem Roman in ihren Rucksack. Sie wusste längst nicht alles über das Leben mit Anke, aber sie hatte das Nachbeben erlebt.
»Komm, Tonks«, wandte sie sich an ihre Hündin. »Wir gehen raus.«
Luca machte sich auf den Weg in die Küche, um sich mit einem Tee wieder in der Gegenwart zu verorten. Sie strich eine duschfeuchte Haarsträhne hinters Ohr und öffnete die Tür.
Am Tisch saß Milan, der außerplanmäßig schon früher gekommen war, um den Rest der Woche im Gartenhaus zu verbringen – und sich mit dem Alex-Besuch zu beschäftigen. Luca warf einen Blick über seine Schulter, bevor sie den Wasserkessel aufsetzte. Ausdrucke von juristischen Paragrafen und beinah unleserliche Notizen verteilten sich über die Tischplatte.
»Möchtest du auch einen Tee?«, erkundigte sie sich.
»Ja, bitte.« Milan sah kurz auf und lächelte sie aus verschiedenfarbigen Augen an. »Vielleicht hilft mir die Kombination aus Teein und Kandiszucker, das Ganze hier zu strukturieren.« Er hob beide Hände und deutete auf das Papierchaos vor sich.
»Alex weiß ... bisher gar nichts?«, hakte Luca sicherheitshalber nach.
Es war leichter, mit Bens Freund über den Besuch zu sprechen als mit ihrem Bruder selbst. Ben wurde noch wortkarger als sonst, wenn es um seinen Vater ging, und Luca wollte ihn nicht immer wieder an dieses schwierige Thema erinnern. Milan war zumindest nicht persönlich betroffen von der Begegnung, auch wenn er natürlich irgendwie beteiligt war.
»Nur dass sein Sohn mit ihm reden will und dass Jonte gestorben ist.«
Luca nickte. Davon ausgehend, war es wirklich einiges, das Alex erklärt werden musste. Allein die Darlegung ihrer eigenen Existenz und der Verwandtschaftsverhältnisse würde einige Zeit in Anspruch nehmen. Und dann waren da die ganzen bürokratischen Probleme, die sich aufgetan hatten und wegen derer Ben überhaupt Kontakt zu seinem Vater aufgenommen hatte.
Der Junge mit den fedrig-blonden Haaren notierte ein Fragezeichen neben einen der Paragrafen auf seinen Blättern. Es überraschte Luca nicht, dass Milan die praktischen Vorbereitungen übernahm, während Ben lieber verdrängte, dass es überhaupt eine Alex-Begegnung gab. Ihr Bruder neigte dazu, sich in andere Welten zu flüchten, wenn er überfordert war.
»Wie weit bist du denn?«, erkundigte sie sich.
»Ich habe einen verkürzten Stammbaum gezeichnet«, grinste Milan. »Um Alex den Einblick in die Erbschaftsproblematik zu erleichtern.«
Er blätterte durch seinen Block und schob Luca das entsprechende Blatt hin. Der Stammbaum begann mit Bens Großeltern, die sowohl seine und ihre gemeinsame Mutter Inka als auch deren Schwester adoptiert hatten. Dann wies eine zusätzlich gezeichnete Verbindung darauf hin, dass die Großeltern auch Ben kurz nach dessen Geburt adoptiert hatten. Sie selbst tauchte als Inkas Tochter auf, die einige Jahre nach Ben geboren und deren Vater unbekannt war. Der Stammbaum wirkte erstaunlich übersichtlich dafür, dass er im letzten Sommer große Verwirrung ausgelöst hatte. Aber die waren ja auch nicht von der tatsächlichen Abstammung ausgelöst worden, sondern von den Geheimnissen und Lügen, mit denen Ben aufgewachsen war.
Seine Großeltern hatten ihn glauben lassen, er wäre das Kind von Inkas tödlich verunglückter Schwester, und Ben hatte weder von Lucas Existenz gewusst noch, wer sein Vater war oder dass Inka, seine wirkliche Mutter, vor einigen Jahren ebenfalls gestorben war.
»Die Erbfolge ist nicht wirklich kompliziert«, erklärte Milan. »Da eure Mutter nicht mehr lebt, seid ihr beide zu gleichen Teilen erbberechtigt.«
Luca nickte. Zu dem Schluss war sie ebenfalls bereits gekommen, aber sie hatte bisher gehofft, dass noch ein Testament auftauchen würde, das ihren Bruder zum Alleinerben erklärte. Es kam ihr ungerecht vor, dass Ben, der im Gartenhaus bei seinen Großeltern aufgewachsen war, nun alles mit einer Schwester teilen musste, der er bis zum vergangenen Sommer nie begegnet war.
»Glaubst du«, erkundigte sie sich zögernd bei Milan, »unsere Großeltern wussten von mir?«
»Das habe ich mich auch schon gefragt.« Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und blickte sie nachdenklich an. »Aber ich weiß es nicht. Es gibt keine Dokumente, die darauf hinweisen, Briefe von Inka oder Ähnliches. Dennoch ... vielleicht hat Jonte in Betracht gezogen, dass es noch weitere Enkel gibt.«
»Meinst du, er hat deshalb kein Testament gemacht?«
Milan hob hilflos die Schultern. »Ich glaube eher, es war so, wie Alfred annimmt: Bens Großvater hat die Aussicht auf seinen eigenen Tod geflissentlich ignoriert. Wahrscheinlich dachte er, er hätte noch genug Zeit, Ben alles zu erklären, alle Angelegenheiten zu regeln, und vielleicht hat er auch noch darauf gehofft, dass seine Tochter wieder auftaucht. Ich weiß es nicht.«
»Als sie starb«, murmelte Luca, »stand das in einigen Zeitungen, aber natürlich anonymisiert. Und vielleicht auch nicht in den lokalen Ausgaben hier, das habe ich damals nicht verfolgt.«
Milan sah sie ernst und mit einem gerade noch erträglichen Mitgefühl an. »Wie alt warst du da?«
»Gerade achtzehn.« Luca lächelte die aufkommenden Erinnerungen und die unausgesprochenen Worte weg. »Aber ich habe zu der Zeit nur noch ab und zu bei meiner Mutter gewohnt.«
»Mein achtzehnter Geburtstag war auch der letzte bei meinen Eltern«, erklärte Milan, den Blick wieder auf seine Notizen gerichtet. »Und die haben ganz sicher ein Testament, weil sie mich mit dem Rausschmiss umgehend enterbt haben. Aber den Pflichtteil ...« er schenkte ihr ein schiefes Grinsen, »... werde ich einer LGBTQI+-Organisation spenden, aus Rache.«
Luca stand vor dem beschlagenen Badezimmerspiegel, den Bens Duschen hinterlassen hatte. Rasch schlüpfte sie in ihre Unterwäsche, bevor die reflektierende Fläche sie ihrem Anblick aussetzte. Doch auch wenn sie das Ausmaß der Selbstbegegnung reduzierte, wusste sie um jeden Millimeter, der sie in den vergangenen einundzwanzig Jahren gequält hatte. Ihr Blick wanderte von ihrem geschundenen Oberkörper nach unten und streifte die obere Schicht ihrer ›Dessous‹-Collage. Luca schloss die Augen.
»Das ist Teil deiner Therapie«, erinnerte sie die Stationstherapeutin streng. »Diese Konfrontation ist für niemanden leicht, aber sie ist wirkungsvoll. Es gibt dazu etliche Studien.«
Die dreizehnjährige Luca stand in Boxershorts und Unterhemd vor dem Spiegel im Behandlungsraum. Mit flatternden Lidern bemühte sie sich, den Blick abzuwenden, während ihre Arme und Beine unkontrolliert zitterten.
»Aber das sind Studien zur Behandlung von Essstörungen«, wagte sie einzuwenden.
»Nicht nur«, widersprach die Psychologin. »Die Spiegeltherapie wird auch bei anderen Störungsbildern erfolgreich angewendet. Bei uns werden zwar tatsächlich viele Patientinnen und Patienten mit Anorexie behandelt, aber auch für dich ist eine Konfrontation mit der Realität wichtig.«
Luca sah die Therapeutin beinah flehend an. »Ich kenne mein Spiegelbild, bitte!«
»Du kennst es, aber du akzeptierst es nicht.« Der Blick der Mittvierzigerin hatte etwas Triumphierendes. »Genau darum geht es in dieser Therapie. Jetzt dreh dich bitte zum Spiegel und beschreibe mir, was du siehst!«
Lucas Körper erbebte, als sie sich umwandte. Zwischen einem Staccato an Lidschlägen nahm sie schemenhaft ihr Gegenüber wahr. Den unterernährten Körper eines Jungen, von Hämatomen und Schnittwunden in unterschiedlichen Stadien der Heilung übersäht.
»Das bin ich nicht«, flüsterte sie.
Luca streifte hastig ein Trägershirt über den Kopf und versuchte, ruhiger zu atmen. Sie angelte nach ihrer Jeans und musste daran denken, dass sie nach der Entlassung alle Unterwäsche weggeworfen hatte, die sie an diese Zeit erinnerte. Genauso wie sie sich geschworen hatte, nie wieder in eine Klinik eingewiesen zu werden oder eine Therapie zu machen.
»Es ist schon so viel besser geworden«, beruhigte Luca sich selbst. »Das kommt auch noch in Ordnung, irgendwann ...«
Und deshalb musste sie sich nun für den Tag wappnen. »Dieses Mal ist es anders«, erinnerte sie sich.
Mira trat auf die Schultreppe hinaus und schaute zur Brücke vor dem Park herüber. Aber André, der sie hatte abholen wollen, war noch nicht da.
Ein Blick auf ihr Smartphone verriet ihr, dass er auch ihre Nachricht noch nicht beantwortet hatte. Während des Unterrichts war Mira ein Gedanke gekommen, der so naheliegend wie aufregend war: An diesem Wochenende begannen die Herbstferien, und wenn Elias und Maja am Montag zum Hof zurückfuhren, konnten sie Mira mitnehmen.
›Du darfst immer kommen‹, hatte Elias geschrieben, als sie ihm ihre Idee mitgeteilt hatte. ›Und Julie natürlich auch, aber frag André!‹
Mira hatte genau das augenblicklich getan, aber André war nicht so rasch im Zurückschreiben, und nun war er auch noch zu spät. Mira ging zur Brücke herüber und setzte sich auf das Geländer, um zu warten.
Selbstverständlich hatte sie Julie bei ihrem Herbstferienabenteuer mitgedacht, aber sie zögerte, ihre Freundin direkt zu fragen. Zum einen, weil Julie am Tag vor der Klausur andere Dinge im Kopf hatte, zum anderen, weil sie an ihre Runde im Park denken musste. Wenn Julie ihre Eltern schon nicht fragen wollte, ob sie ein paar Stunden im Gartenhaus verbringen durfte, würde sie sie dann um Urlaubstage auf dem Hof bitten?
Miras Kiefer pressten sich grimmig zusammen. Ihr war der Gedanke so naheliegend erschienen, dass sie sich fragte, warum sie nicht früher darauf gekommen war, aber für Julie galten andere Gesetzmäßigkeiten. Julies Vater begründete seine Reglementierungen immer mit Begriffen wie ›Verantwortung‹, aber die ganze Clique wusste, dass es ihm darum ging, die Fäden in der Hand zu behalten. Julies Vater bestand auf die Aufrechterhaltung eines asymmetrischen Machtverhältnisses. Auch deshalb beinhalteten seine Entscheidungen immer eine gewisse Portion an Willkür. Mira hatte versucht, sich vorzustellen, wie es wäre, wenn sich André ihr gegenüber derart ignorant verhalten würde, aber daran war sie gescheitert.
»Mira.«
Sie wandte sich um und sah, dass ihr Vater auf die Brücke getreten war, gefolgt von Tonks, die glücklich auf sie zuwedelte.
»Wo bist du denn mit deinen Gedanken? Ich habe dich von da hinten schon gerufen.«
Mira ging in die Hocke, um Tonks zu begrüßen. »Bei Julie«, antwortete sie ausweichend, »auf dem Hof und überall ...«
»Ihr dürft natürlich fahren«, entgegnete André mit einem Lächeln. »Ich habe Eike angerufen, und die hat gemeint, dass wir darauf auch hätten kommen können ...«
Mira sah zu dem Mann in dem ausgebeulten Jackett hoch. André war den meisten Vätern der Cliquen-Mitglieder absolut unähnlich, und das war das allerbeste, was sie gerade über ihn sagen konnte.
»Danke«, sagte sie, als sie die Arme um ihn schlang. »Ihr seid die Besten.«
Diesen Weg fuhr Luca fast immer mit dem Cruiser-Board. Die Therapie-Stunden waren unumgänglich, aber da das Skaten ihr immer ein Gefühl von Freiheit und Selbstbestimmung gegeben hatte, war es ein adäquater Kontrapunkt.
Luca umkurvte eine aufgebrochene Stelle im Asphalt und versuchte, ganz im Rhythmus aus Gewichtsverlagerung und Schwungholen aufzugehen. Aber auf dem Weg zur Therapie funktionierte das nie besonders gut. Dabei war ihre Psychologin sympathisch und auch aufgeschlossen. Aber das bedeutete nicht viel. Luca wusste nur zu gut, dass einem auch die nettesten Therapeutinnen in den Rücken fallen konnten – insbesondere, wenn sie wie Frau Finke mit einem anderen Behandler zusammenarbeiteten.
Die Stationstherapeutin der Kinder- und Jugendpsychiatrie saß Luca wie immer gegenüber. Aber als sie zu sprechen begann, lag eine neue Abgegrenztheit in ihrer Haltung.
»Wir haben das alles noch einmal im Team besprochen«, erklärte die Psychologin ernst. »Und wir denken, dass es bei dir um etwas anderes geht.«
Luca spürte, wie sich ihr Inneres vor Angst zusammenzog. »Was meinen Sie damit?«
Auch die Stimme der Therapeutin, die vor wenigen Tagen noch so zugewandt gewesen war, hatte sich verändert. »Wir denken, dass du kein Junge mehr sein möchtest, nach all dem, was dir als Junge widerfahren ist.«
»Nein.« Die dreizehnjährige Luca sprang auf. »Das ist es nicht.« Sie spürte die Verzweiflung in sich aufsteigen und hörte das Zittern in ihrer Stimme. »Ich habe Ihnen doch alles erklärt!«
»Tomte.« Die Therapeutin schlug einen besänftigenden Ton an, behielt aber ihre distanzierte Körperhaltung bei. »Uns ist bewusst, dass du das so empfindest. Und wir werden alles tun, um dir zu helfen.«
»Nein.« Luca schüttelte heftig den Kopf und wich zurück, während Tränen in ihre Augen schossen. »Nein, Sie haben gesagt, Sie glauben mir!«
Das Cruiser-Board schlingerte über einige lose Pflastersteine, und Luca sprang vom Brett. Ihre Reflexe waren gut genug, um das Board abzufangen, bevor es auf die Straße polterte, doch dann musste sie kurz innehalten, um sich zu orientieren. Diese Dinge waren geschehen, und sie konnten wieder passieren. Dennoch, rief Luca sich ins Gedächtnis, waren sie unwahrscheinlich.
Die Gemeinschaftspraxis von Dr. Noack, ihrem Psychiater, und Frau Finke, ihrer Psychologin, war ihr vom betreuten Wohnen vermittelt worden. Beide hatten bereits Erfahrung mit der obligatorischen Behandlung von Transpersonen. Und das Wohnheim, das hatte sie in den vergangenen Jahren gelernt, war gut vernetzt. Deshalb würde Luca weiter zur Therapie gehen und sich auf das konzentrieren, worauf es ankam: die psychologische Anerkennung ihrer Identität als Frau. Luca versetzte das Board in Bewegung und versuchte, ihren Körper wieder in Balance zu bringen. Alles andere war sekundär.
André und Mira hatten zunächst einen Abstecher zum Antiquariat neben der Schule gemacht. Es war einer ihrer gemeinsamen Lieblingsorte, seit Mira sich mit fünf das Lesen beigebracht hatte. In den Philosophie-Regalen tauchten immer wieder lang ersehnte Ausgaben auf, und in einem anderen Leben hatte Mira auch in der musikalischen Abteilung gestöbert.
Sie wusste noch, wie glücklich sie gewesen war, als sie alle vier Bände von Vivaldis Jahreszeiten zusammengehabt hatte. Damals hatte sie immer wieder besondere Exemplare unter den Noten für Violine und Klavier gefunden, die sie mit nach Hause genommen hatte. Aber das war vorbei, und so hatte sie mit André allein die philosophischen Bücher durchgesehen.
»Möchtest du etwas mitnehmen?«, erkundigte sich ihr Vater.
Dabei vermied er den Blick in die Musik-Abteilung so angestrengt, dass Mira das dringende Bedürfnis verspürte, den kleinen Laden zu verlassen.
»Dieses Mal nicht«, erklärte sie und wandte sich zum Gehen.
»Dann nur der Wittgenstein«, meinte André betont locker und hob das Buch hoch, das er in der Hand hielt. »Warte mit Tonks doch draußen!«
Mira nickte und griff nach der Hundeleine. Tonks hätte problemlos auch im Laden gewartet, sie fühlte sich wohl zwischen den ganzen Büchern, aber Mira brauchte jetzt dringend etwas Abstand zwischen sich und der Musikabteilung. Sie blieb hinter der Schwelle stehen, doch noch bevor sie ihre Gedanken auf etwas anderes richten konnte als den stattgefundenen Wortwechsel, trat André auch schon nach draußen.
»Gehen wir nach Hause«, sagte er munter und legte einen Arm um ihre Schultern.
Mira lehnte sich ein wenig an ihn und atmete seinen Duft nach Aftershave und Herbstlaub. Als sie noch klein war, hatte sie geglaubt, dass alle wissenschaftlichen Bücher so rochen. Aber es waren natürlich nur Andrés Bücherstapel gewesen, die seinen Duft konserviert hatten. Auf jeden Fall roch es nach Schutz, Beständigkeit und den endlosen Weiten hinter den Buchstaben.
»Bist du immer noch froh, dass die Schulzeit bald hinter dir liegt?«, erkundigte sich André, als sie die efeubewachsene Klostermauer entlang liefen.
Mira spürte, wie sich ihr Körper versteifte, doch dann wusste sie wieder, dass ihr Vater wirklich nur genau das wissen wollte. Er hatte sie nie bedrängt und würde das auch heute nicht tun.
»Ich weiß nicht«, erklärte sie unbestimmt.
Bevor sie auf die Schule ihrer älteren Geschwister gewechselt war, hatte sie die verbleibenden Tage ihrer Gymnasialzeit auszurechnen versucht. Aber nun hatte sie schon eine ganze Weile nicht mehr über die vergehenden Monate und Wochen nachgedacht, mit denen ihr letztes Schuljahr ablief. Nachdem sie Julie begegnet und mit ihrem Bruder in die Klinik-Clique geraten war, zählten andere Dinge.
»Auf die Uni freue ich mich immer noch«, berichtete sie ihrem Vater. »Aber ...« sie zog die Brauen nachdenklich zusammen, »... es ist okay, zur Schule zu gehen.«
André nickte, und Mira wusste, auch ohne ihn anzusehen, dass er erleichtert war. »Elias und Ben waren auch gerne auf dem Gymnasium.« Dann zwinkerte er ihr zu. »Besonders nach dem Unterricht, bei den ›Not-a-clue‹-Proben.«
Mira musste grinsen. Als Achtjährige hatte sie zum ersten Mal die Schule ihres Bruders betreten, um ihn zu den Band-Proben zu begleiten. Damals war ihr das Gebäude groß und bedeutungsvoll erschienen, genau wie die ›Not a clue‹-Mitglieder, die cool und begabt waren. Mira hatte sich nichts sehnlicher gewünscht, als genauso zu werden wie sie.
»Wusstest du, dass Bens Schwester in der Schule auch in einer Band war?«, erkundigte sie sich bei André.
»Tatsächlich?« André hob interessiert die Brauen. »Welches Instrument hat sie gespielt?«
»Die Drums«, sagte Mira nachdenklich.
»Oh«, machte ihr Vater, und sie nickte.
Das Schlagzeug war bei ›Not a clue‹ gerade unbesetzt. Mira dachte an das Cliquen-Gespräch, bei dem sie von Lucas Drum-Erfahrungen gehört hatte. Es war der gleiche Austausch gewesen, bei dem Ben erfahren hatte, wer seine Eltern waren. In diesem Durcheinander war die Option, dass Luca Schlagzeugerin bei ›Not a clue‹ werden konnte, untergegangen.
»Die Band sollte endlich ein Drummer-Casting anberaumen«, sagte Mira und seufzte.
Ihr Vater zog sie näher zu sich. »Das passiert schon noch. Im letzten Jahr ist viel passiert, alle Band-Mitglieder sind umgezogen, manche mehrfach, alle haben die Jobs gewechselt ...«
»... und die Beziehungen«, ergänzte Mira.
Nicht nur für sie war die Clique eine neue Lebensrealität. Die anderen kannten sich nur wenige Monate länger, und zuvor hatten sowohl der Gitarrist als auch der Bassist keine Partnerschaft gehabt. Außerdem hatte ›Not a clue‹ auf dramatische Weise den letzten Drummer verloren und andere Ausnahmezustände überlebt.
»Mir fehlt es nur, bei den Proben oder Gigs dabei zu sein«, erklärte sie ihrem Vater.
»Ich weiß«, bemerkte André. »Aber ›Not a clue‹ kommt bestimmt bald wieder in eine Routine. Elias hat gesagt, dass Sina schon einen Probenraum gefunden hat. Ben und sie leben ja wieder in der Stadt, und auf dem Hof ist sowieso Platz. Wenn sie jemanden für die Drums gefunden haben, können sie an beiden Orten proben ...«
Mira nickte und hoffte, dass André recht behielt. Ihr fehlte ›Not a clue‹ beinah genauso wie ihr Bruder. Wieder dachte sie an Luca. Sie hatte keine Ahnung, welche Art von Musik Bens Schwester gespielt hatte, und auch nicht, wie gut sie gewesen war. Aber Mira hatte das Gefühl, dass es mehr als Bücher gab, worüber sie mit ihr reden konnte – wenn sie es wagte, sich darauf einzulassen.
Luca saß auf Frau Finkes Sofa und fühlte sich genauso unbehaglich wie immer, wenn die Sitzung begann. Die junge Psychologin hatte sich ihr gegenüber im Sessel niedergelassen und lächelte sie freundlich an. Auch das war wie immer, und Luca tat es ein bisschen leid, dass sie ihrer Therapeutin nicht mehr Vertrauen entgegenbringen konnte.
»Wie geht es Ihnen heute?«, erkundigte sich Frau Finke mit offenem Blick.
»Ganz gut.« Luca verknotete mit einer gewissen Beklommenheit ihre Beine.
Sie wusste nie genau, was sie auf diese Frage antworten sollte. Natürlich kannte die Psychologin ihre Trauma-Geschichte, sie hatte die Akten vorliegen und wusste von der traumapädagogischen Ausrichtung des Wohnheims, aber darum ging es in dieser Therapie nicht. Nicht um Bob oder Flashbacks, nicht um Albträume, das Leben in einem Wohnmobil mit einer drogensüchtigen Mutter oder deren Tod. Bei dieser Behandlung ging es einzig und allein darum, dass sie trans war und für die medizinische Geschlechtsangleichung ein psychologisches Gutachten brauchte, das genau das bestätigte. Luca wusste langsam nicht mehr, was sie zu diesem Thema noch sagen sollte.
»Im Gartenhaus geht es Ihnen weiterhin gut?«, hakte ihre Psychologin nach.
Luca nickte. »An dem Ort, mit meinem Bruder und allen anderen«, bestätigte sie wahrheitsgemäß.
Frau Finke lachte leise. »Gut. Dann würde ich gern etwas Wichtiges mit Ihnen besprechen.«
Luca spürte, wie sich alles in ihr angstvoll zusammenzog. Derartige Gesprächsankündigungen von ärztlichen und therapeutischen Professionellen hatten noch nie zu etwas Gutem geführt.
»Dr. Noack und ich hatten eine Unterredung«, begann Frau Finke, »bezüglich ihrer Transition.«
Die Anspannung in Lucas Körper ähnelte nun einer unterdrückten Panik. Der Psychiater begleitete sie hauptsächlich medizinisch, aber auch die gesetzlich geforderte Therapie hatte sie bei ihm begonnen. Das betreute Wohnen hatte ihr den Platz vermittelt, und erst als deutlich geworden war, dass Luca mit einem Mann als Therapeuten nicht zurechtkam, hatte Dr. Noack sie an seine neue Praxis-Kollegin verwiesen und lediglich die traumabedingte medikamentöse Betreuung beibehalten. Ohne ihn, das war Luca bewusst, würde Frau Finke keine relevanten Schritte gehen.
»Bei mir sind Sie noch kein ganzes Jahr in Behandlung«, fuhr Frau Finke fort. »Aber formal, also in Bezug auf die genehmigten Stunden und das Thema, handelt es sich um dieselbe Therapie wie bei Dr. Noack. Es ist daher möglich, die von ihm durchgeführten Sitzungen dazuzuzählen.«
»Und dann wäre es ein Jahr?« Lucas Stimme klang leise und beinah heiser.
»Fast«, erwiderte ihre Therapeutin.
In Lucas Kopf überschlugen sich die Gedanken. Während der aufreibenden Monate des Prozesses gegen Bob waren immer wieder Termine ausgefallen, sodass sie den Überblick über die Stunden verloren hatte. Außerdem hatte sie die Sitzungen angesichts des Therapeutenwechsels falsch gezählt. Aber bedeutete dieser unerwartete Gesprächsbeginn, dass ihre Behandlung beendet war?
»Dr. Noack und ich sind uns einig«, berichtete Frau Finke, »dass wir eine Stellungnahme zugunsten geschlechtsangleichender Maßnahmen ausstellen werden. Mehr noch, wir sind überzeugt, dass ein baldiger Beginn der Hormonbehandlung indiziert ist.«
Luca starrte sie an und begriff erst nach mehreren Augenblicken, was ihre Psychologin gesagt hatte. »Dr. Noack überweist mich an eine urologische Praxis?«
»Ja.« Die Therapeutin lächelte. »Wir arbeiten schon lange mit einer urologischen Ambulanz zusammen, die umfassende Erfahrungen mit der Begleitung von Menschen mit Transidentität hat. Dorthin würden wir Sie gerne schicken.«
Luca nickte, damit die Psychologin weiter sprach. Ganz langsam löste sich etwas tief in ihr und begann, als vorsichtige Erleichterung durch ihre Glieder zu rieseln.
»Aufgrund Ihrer besonderen Ausgangslage möchte Dr. Noack aber vorab mit dem dortigen Chefarzt Dr. Balthus sprechen.«
Bei dieser Bedingung schluckte Luca. Die ›besondere Ausgangslage‹ waren ihre Trauma-Geschichte und die Akten, die gegen sie sprachen. Natürlich konnte Dr. Noack nichts davon ignorieren oder verschweigen. Aber ihr Psychiater würde sich für ihre Hormontherapie einsetzen, und darauf kam es an.
Luca schluckte abermals und akzeptierte die Bedingung mit einem Nicken.
»Danke«, sagte sie leise.
»Gern geschehen«, erwiderte ihre Therapeutin mit einem warmen Lächeln. »Dr. Noack wird sich darum bemühen, dass Sie einen kurzfristigen Termin bekommen. Wissen Sie, warum es mir wichtig ist, dass Sie mit der hormonellen Behandlung beginnen können?«
Luca schüttelte vage den Kopf. Ihre Gedanken fühlten sich so leer an, als stünde sie unter Schock – wenn es so etwas wie einen erfreulichen Schockzustand gab.
»Zuallererst natürlich, weil ich davon überzeugt bin, dass Sie eine junge Frau sind«, lächelte ihre Therapeutin. »Dann ist es aber auch so, dass Sie Ihre Traumafolgestörungen nie zum Inhalt der Therapie machen wollten. Das ist aus Ihrer Geschichte heraus verständlich, aber ich denke, dass es helfen könnte, ein bisschen Symptomreduktion zu betreiben – auch im Hinblick auf ihre Behandlungstraumen.«
Nach ihrer Rückkehr hatte Mira einige alte ›Not-a-clue‹-Aufnahmen aufgerufen und tanzte zu ihnen durch das Zimmer. Sie hatte beinah alles, was es von der Band gab, auf ihrem Notebook archiviert und damit digital das fortgesetzt, was ihre Schwester einmal analog begonnen hatte.
Elias hatte ihr erzählt, dass Laura sogar Song-Notizen aufgehoben hatte, die im Papierkorb gelandet waren. Auch er hatte das nicht gewusst, bis er im Frühjahr die Tagebücher seiner Zwillingsschwester gelesen hatte.
Mira war wie zerrissen gewesen zwischen dem Wunsch, mehr über Laura zu erfahren, und der Angst, was diese Aufzeichnungen in die Gegenwart holten. Die Albträume, die Mira auch über zehn Jahre nach Lauras Tod noch vereinnahmten, waren für ihren Geschmack genug Belastung. Und so hatte sie nur ausweichend Elias geantwortet.
Mira sah ihn unglücklich an. »Müssen wir uns das antun? Ich meine, Laura ist tot und ...«
Er hatte sie nicht davonkommen lassen, und so hatte sie ihm gesagt, dass ihre große Schwester sie gequält hatte. Es waren nur Bruchstücke der Misshandlung gewesen, die Laura selbst erlebt hatte, und doch waren sie beängstigender gewesen, als Mira ihrem Bruder gegenüber zugegeben hatte. Ansonsten würde Laura wohl kaum noch in ihren Träumen auftauchen, mit jenem weggetretenen Ausdruck, und ihr Schmerzen zufügen, als wäre sie gar nicht mehr ihre große Schwester.
Das mitleidlose Drum-Solo des ›Not-a-clue‹-Songs begann und trug Miras Gedanken erst zu Luca und dann weiter ... Plötzlich griff sie zu ihrem Smartphone.
»Mira?«, fragte Elias kurz darauf. »Was ist los?«
»Ich habe eine Frage«, erklärte sie und drehte die Musik leiser. »Du hast gesagt, Laura hatte vermutlich auch teil-abgespaltene Anteile, so wie Rebecca, wegen der Traumatisierungen«, brach es aus ihr heraus. »Und dass es darunter ein Täter-Introjekt gab, das – du weißt schon – mir wehgetan hat. Was genau ist die Aufgabe dieser Anteile?«
Elias gab ein Ächzen von sich. »Niemand stellt so abrupt so komplizierte Fragen wie du«, sagte er. »Täter-Introjekte übernehmen Ansichten und Verhaltensweisen des Täters«, erklärte er dann. »Auch sie sind Trauma-Abspaltung. Aber sie haben genau verstanden, wie der Täter funktioniert. Sie wissen, wie sie sich verhalten müssen, um durch die traumatische Situation durchzukommen.«
»Und auch, wie sie sich nicht verhalten sollten?«, mutmaßte Mira.
In Lauras Fall bedeutete das vermutlich, dass ihre große Schwester das Wahnsystem ihrer Mutter verinnerlicht hatte. Dass das Introjekt, das sie gequält hatte, davon überzeugt gewesen war, die Misshandlungen zu verdienen, weil sie der Ordnung der Welt entsprachen. Lauras Täter-Introjekt hatte gewusst, dass es dem Ganzen nicht entkommen konnte und Ankes Überzeugungen besser übernahm, bevor es noch schlimmer wurde.
»Genau«, bestätigte Elias. »Das Denken und Handeln von Introjekten ist destruktiv, hat aber genauso dem Überleben gedient wie das der anderen Anteile.«
Mira nickte. Laura hatte die Schmerzen an sie weitergegeben, weil ihr Anblick sie an sich selbst als kleines Kind erinnert hatte. Mira war zum Auslösereiz für das Täter-Introjekt ihrer großen Schwester geworden, und so waren zwei Dinge gleichzeitig geschehen: Laura hatte sich selbst in Mira weiter gequält, und ihre Mutter hatte indirekt auch ihre jüngere Tochter in ihre psychose-bedingte Gewalt eingebunden.
»Mira?«, fragte Elias. »Ist alles okay bei dir? Warum willst du das wissen?«
Sie hob den Kopf und sah zu dem Notebook, das den Song abspielte, den sie sonst immer übersprang. ›Chameleon juice‹ war vor vielen Jahren von Elias über Anke geschrieben worden.
»Luca hat auch eine ›Ego-State-Disorder‹, oder?«, fragte sie ihren Bruder.
»Ich glaube schon«, meinte der. »Warum?«
»Hat sie dann auch ein Täter-Introjekt?«
»Ich weiß nicht«, entgegnete Elias. »Aber ich vermute schon, immerhin gab es viele traumatische Zustände, die sie überleben musste.« Sie hörte ihn einige Augenblicke lang wortlos atmen. »Du brauchst keine Angst vor ihr zu haben«, sagte er dann leise. »Täter-Introjekte sind unterschiedlich, viele gehen mit ihrer Aggression nur nach innen und nicht nach außen. Und Luca weiß, dass es diese Anteile gibt, das ist ein gravierender Unterschied gegenüber Laura ...«
»Ich habe keine Angst vor ihr«, sagte Mira und stellte fest, dass es stimmte. »Es war nur ein Gedanke ...«
»Und noch etwas«, meinte Elias. »Wenn Täter-Introjekte für die Zusammenarbeit gewonnen werden können, wenn sie sich in der Therapie einbringen und destruktive Impulse umleiten, sind sie unglaublich starke Anteile.«
Mira nickte, während der Song zu Ende ging. »Ich freue mich, wenn ihr am Freitag kommt!«
»Ich auch«, entgegnete ihr Bruder. »Und jetzt hör auf zu grübeln und mach etwas Schönes!«
Es war schon spät, aber Luca saß noch immer an der Frisierkommode ihrer Großmutter. Sie mochte ihr Zimmer und ganz besonders dieses alte Möbelstück, das für sie Schreibtisch und Aufbewahrungsort zugleich war. Es half ihr, zur Ruhe zu kommen, wenn sie hier saß und auf die schattenhaften Bäume und Sträucher schaute, die der Spiegel ins Zimmer holte. Außerdem hatte sie heute einiges aufschreiben wollen, was sie in der Therapie besprochen hatten.
Als Luca vom Notebook aufsah, traf sie ihr gespiegelter dunkelblauer Blick. Plötzlich fragte sie sich, ob sie ihrem Bruder als Junge ähnlicher wäre. Auch wenn Bens Augen eine andere Farbe hatten, war deren Form doch gleich. Und vielleicht wäre ihr ganzer Gesichtsausdruck unter Einfluss von mehr Testosteron ein anderer. Luca wandte den Blick ab. Das war eine Frage, die unbeantwortet bleiben würde.
Sie widmete sich wieder dem Notebook und scrollte sich durch die Vlogs anderer Transpersonen. Das meiste davon hatte sie schon zum wiederholten Male aufgerufen, aber es war etwas anderes, wenn die eigene Hormontherapie in greifbare Nähe gerückt war. Luca klickte sich durch den Kanal einer Vloggerin, die erst wenige Monate auf Östrogen war. Das aktuellste Video zeigte ein Update ihrer Trans-Pubertät.
Die Jugendliche auf dem Bildschirm war jünger als Luca und hatte bereits Pubertätsblocker bekommen. Aber gerade das machte ihren Anblick Luca vertraut. Svenjas Augen leuchteten, als sie von den neuesten körperlichen Veränderungen berichtete. Mit der Kamera betrachtete sie die zart gerundete Hüfte, dann zoomte der Fokus über eine etwas schmaler gewordene Taille hinauf zu den Ansätzen einer sichtbar femininen Brust.
Unvermittelt fuhren Lucas Finger ihren eigenen Körper hinauf. Wenn alles gut ging, würde sie schon bald eine ähnliche Entwicklung durchmachen. Sie wusste um die Risiken, um die Nebenwirkungen der Medikamente und die Irreversibilität ihrer Entscheidung. Aber Luca hatte nie etwas anderes gewollt.
Dennoch breitete sich Unruhe in ihr aus, als ihre Finger das Unterband ihres BHs abtasteten, als sie den glatten Stoff unter den Fingern spürte und wusste, dass sie darüber nur Baumwollgewebe und eingesetzte Silikonpolster fühlen würde. Da waren keinerlei Zweifel an ihrem Weg, aber sie fragte sich doch, wie es sich anfühlen mochte, so anders als gewohnt zu sein.
Mira war schon eine halbe Stunde vor Unterrichtsbeginn mit Julie in der Schule verabredet gewesen, damit die ihr ein letztes Mal vor der Ethik-Klausur die wichtigsten Prüfungsinhalte zusammenfassen konnte. Nun saßen sie auf dem obersten Absatz der Neubautreppe, und Mira versuchte, ihre Freundin zu beruhigen.
»Es war alles richtig, bis auf die Jahreszahlen zu Epikur, und die brauchst du wirklich nicht.« Sie legte die Karteikarten zusammen, die Julie ihr zur Überprüfung gereicht hatte. »Der Schwerpunkt der Klausur liegt auf dem Utilitarismus des 19. Jahrhunderts.«
»Aber den Bezug zur Gegenwart brauche ich schon«, wandte Julie ein.
»Dazu wird eine Frage kommen«, bestätigte Mira. »Aber damit hattest du keine Probleme. Und die Antike kannst du für diese Klausur vergessen.«
»Okay«, seufzte Julie leise. »Danke, dass du mir zugehört hast!«
Mira betrachtete ihre Freundin, die mit angstgeweitetem Blick neben ihr saß und an ihren Fingerkuppen nagte.
»Du wirst das hinkriegen«, sagte sie und versuchte,
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 10.08.2021
ISBN: 978-3-7487-9124-9
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