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Samstag, 28.2.

 

Mirjam saß auf der letzten Umzugskiste und sah aus ihrem neuen Fenster. Charlotte hatte ihre gemeinsame Wohnung direkt am Fluss gefunden, wenige hundert Meter hinter ihrem alten Studentenwohnheim.

Mirjam betrachtete den blaugrau dahinfließenden Strom und fragte sich, wohin er ihre Wunschflaschenpost getragen hatte. An Neujahr hatten sie die Flasche in den Fluss geworfen. Acht Zettel voller Hoffnungen, Sehnsüchte und Träume hatten Kurs auf den Horizont genommen. Und obwohl sie alle in derselben Flasche losgeschickt worden waren, würden die Wünsche nicht denselben Weg nehmen. Manche von ihnen würden ankommen, manche würden untergehen und manche würden weiterreisen. Mirjam hatte der Flaschenpost nur einen Wunsch mitgegeben.

Begabung zum Glücklichsein‹.

Nichts erhoffte sie sich mehr für ihre Tochter. Denn sie selbst hatte diese Begabung offenbar nicht.

Mirjam stand auf und strich sich die blond gesträhnten Haare aus dem Gesicht. Dann nahm sie Bücher aus der Kiste, auf der sie gerade gesessen hatte. Das Regal war fast vollständig eingeräumt. Auch sonst lagen vor allem leere Kartons herum, wie um die Offenheit und Unbestimmtheit von Mirjams Leben widerzuspiegeln. Es war ein großes Zimmer, größer als das von Charlotte.

Trotzdem hatte Mirjam aus ihrem alten Leben nicht viel mitgenommen. Sie wollte neu anfangen. Es gab auch kein Zurück. Denn in etwas mehr als fünf Monaten würde sie ein Kind bekommen – mit noch nicht ganz zwanzig Jahren. Mirjam hatte sich ihre Tochter nicht gewünscht. Aber als sie von ihr erfahren hatte, hatte Mirjam sie mehr gewollt als alles Andere. Sie durfte nicht mit dem Vater zusammen sein, aber sie würde die Kleine bekommen.

»Mirjam?« Charlottes Stimme erklang aus dem Nebenzimmer. »Kannst du mir mal helfen?«

Mirjam legte die Bücher auf dem Regal ab und ging durch die Küche zu ihrer Mitbewohnerin. Charlotte kniete auf ihrem Bett, einen Hammer in der einen Hand und einen Bilderrahmen in der anderen.

»Ist das so grade?« Sie sah Mirjam über die Schulter hinweg an.

Mirjam betrachtete das Bild. Es war eine Collage mit Fotos von Rebecca und Charlotte, lebendige Aufnahmen aus Klinik- und Außerhalbtagen.

Rebeccas nachdenkliches Gesicht in goldenes Stoppelfeldlicht getaucht, einen Strohhalm zwischen den gepiercten Lippen. Charlotte, die mit gesenktem Kopf im Sommergras saß, während Rebecca hinter ihr kniete und Gänseblümchen in ihr lichtblondes Haar flocht. Rebeccas dünne, schwarz gekleidete Gestalt, die auf einem Baumstamm entlangbalancierte. Charlottes Lachen vor einem hellblauen Herbsthimmel. Eine unscharfe Innenaufnahme von Rebeccas Gesicht, die ihre schwarzen Augen riesig und hungrig wirken ließ. Charlottes und Rebeccas ineinander verschlungene Hände über gefrorenem Boden.

»Willst du das wirklich aufhängen?« Mirjam lehnte sich gegen die Wand und sah ihre Mitbewohnerin zweifelnd an.

»Ich ...« Charlotte brach ab und sprach dann doch weiter. »Ich wollte doch nur ein bisschen Abstand! In meinen Augen sind wir nicht richtig getrennt.«

»Und weshalb wolltest du den Abstand?«, hakte Mirjam behutsam nach.

Charlotte biss sich auf die Lippen. »Damit wir Zeit zum Nachdenken haben. Damit wir herausfinden, was möglich ist und was nicht.«

Mirjam setzte sich auf das Bett und deutete auf die Collage. »Und wie viel Abstand bringt es dir, wenn du dieses Bild über dein Bett hängst?«

Charlotte ließ den Rahmen sinken und schloss für einen Moment die Augen. »Du hast recht.«

»Nein, hör zu!« Mirjam griff nach Charlottes Hand. »Du darfst alles, was du willst! Du solltest nur wissen, warum du es willst!«

Charlottes grünblaue Augen sahen sie unglücklich an. »Weil ich sie liebe.«

»Das darfst du auch.« Mirjam nahm ihr den Hammer ab und legte ihn auf das Bett. »Aber es hat einen Grund, warum du diesen Abstand brauchst. Und du solltest ihn nutzen! Danach kannst du die Collage wieder aufhängen. Und dann«, sie lächelte Charlotte zu, »ist es auch an der Zeit für neue Bilder!«

»Glaubst du?«, fragte Charlotte mit einem Zittern in der Stimme.

Mirjam stützte sich nach hinten ab und strich das Shirt über ihrem Bauch glatt. »Wenn ihr es beide wollt und beide dafür kämpft, dann bestimmt!«

 

 

Elias lag auf dem abgewetzten, roten Plüschsofa im Probenraum und zog eine neue E-Gitarren-Saite auf, während sich der Rest der Band in den anderen Sesseln fläzte. Nur Sina saß auf der Lehne von Max’ Sessel und studierte konzentriert ihr Smartphone.

Elias stellte fest, dass Sinas Beine kaum den fleckigen Beton berührten. Seine Schulfreundin war auch mit fünfzehn, als sie neu in Bens und seine Klasse gekommen war, auffallend klein gewesen. Sehr viel größer war sie nicht geworden. Aber fehlenden Bodenkontakt konnte man ihr wirklich nicht vorwerfen.

»Also«, erklärte Sina und moosgrüne Augen strahlten in die Runde, »wir liegen absolut im Zeitplan! Die beiden Videoclips sind jetzt auch fertig.«

»Und der letzte Gig«, Max rekelte sich in seinem Sessel, »hat echt Spaß gemacht!«

»Es war nicht der letzte Gig«, widersprach Ben, wie um den anstehenden Veränderungen das Gewicht zu nehmen. »Nächstes Wochenende«, erklärte der Bassist, »haben wir schon wieder Gigs! Außerdem ist Elias weiterhin zu den Proben hier, nur eben nicht mehr jeden Tag!«

Max verdrehte die Augen. »Letzter Gig im Sinne von: der letzte, den wir hatten!«

Elias betrachtete Ben aus den Augenwinkeln, während er den Saitenrest kappte. Als die eisvogelblauen Augen seines besten Freundes ihn streiften, musste Elias an den kleinen Jungen denken, dem er vor fast sechzehn Jahren im hinteren Teil des Schulhofs begegnet war.

»Was machst du da?«

Elias fuhr herum und sah in erstaunlich blaue Augen, die aus einem Gewirr kastanienbrauner Locken zu ihm herabblickten. Ben, der andere Außenseiter der Klasse, saß in der Astgabel einer Birke und betrachtete Elias. Dessen zehnjährige Hände ließen die junge Erle los, deren Stamm sie eben noch berührt hatten.

»Ich mache nichts«, erklärte Elias mit der angestrengten Gleichmütigkeit unerfahrener Lügner.

Ben schaute ihn eine Weile ernst an, als versuchte er herauszufinden, ob Elias gute Gründe dafür hatte, die Unwahrheit zu sagen. Dann tastete sich ein vorsichtiges Lächeln in seine eisvogelblauen Augen.

»Willst du zu mir hochkommen?«

Seitdem war viel geschehen, in Bens Leben genauso wie in Elias’, aber die Freundschaft, die sie an jenem Morgen in den Wipfeln der Birke geschlossen hatten, war bestehen geblieben.

Ben angelte sich eine Bierdose vom Boden und öffnete sie, während Sina ihr Handy ablegte und Elias mit dem Stimmen der Gitarre begann.

»Wir müssen uns nur besser organisieren«, erklärte die Sängerin der Band. »Aber das müssen wir sowieso, wenn wir semiprofessionell arbeiten wollen!«

»Semiprofessionell«, ächzte Max und legte einen Arm um die Hüfte seiner Freundin, »wenn wir dich nicht hätten, bräuchten wir glatt einen Manager.« Er küsste Sina, dann wandte er sich mit einem Grinsen an Elias. »Sag mal, wohnst du jetzt echt im Babyzimmer?«

Elias ignorierte den Spott in der Stimme des Drummers. »Es ist kein Babyzimmer. Es ist einfach eine kleine Kammer. Und wenn das Baby größer ist, wird daraus das Kinderzimmer.«

»Wann ist so ein Baby denn kein Baby mehr?«

»Himmel«, Sina gab Max einen Stoß in die Seite, »du wirst Lehrer! Langsam solltest du dich ein bisschen mit Kindern auskennen!«

Max hob abwehrend die Hände. »Ich unterrichte keine Babys! Die sind schon zehn, wenn sie bei mir Sport haben!«

Elias legte sein Instrument zur Seite. »Nach zwölf Monaten ist es kein Baby mehr. Aber ich weiß nicht, ab wann Mirjam das Zimmer braucht. Ein halbes Jahr kann ich auf jeden Fall drinbleiben.«

Es fiel Elias schwer, sich Mirjam als Mutter zu denken. Nicht weil er glaubte, sie würde ihre Sache nicht gut machen, sondern einfach, weil sie so jung war. Mirjam war selbst kaum erwachsen. Und viel zu wenige Menschen wussten von ihrer Schwangerschaft. Noch vor zwei Wochen hatte man ihr überhaupt nichts angesehen. Es war, als hätte das Kind erst nach dem Umzug die Erlaubnis bekommen, sich zu zeigen.

Max brachte seine dichten Haare zu einer gewollten Nachlässigkeit durcheinander.

»Auf jeden Fall gibst du deine schöne eigene Wohnung für zwei winzige Kammern auf – eine bei Ben und eine in dieser Mädchen-WG!«

»Man könnte auch sagen«, konterte Elias und nahm seine Gitarre vom Verstärker, »ich tausche viel Platz gegen viele Freunde.«

»Daraus solltest du einen Song machen«, höhnte Max.

Die Sängerin zog ihm ihre zusammengerollten Texte über den Kopf. »Du«, sagte sie, »solltest die vorhandenen Songs erst mal lernen!«

Max schlang seine Arme um Sina und rangelte sie unter viel Gelächter von der Sessellehne. Die beiden verschwanden hinter einem Vorhang aus Sinas Haaren, die von einzelnen, perlenverzierten Dreads durchsetzt waren.

Ben hob seine Bierdose und sah Elias an. »Gehst du?«

Elias packte seine Gitarre ein und nickte. »Ich will Maja dabei helfen, noch die letzten Sachen zusammenzupacken.«

Ben schwang seine langen Beine vom Sessel und begleitete Elias zur Tür.

In der zehnten Klasse, als sie die Band gegründet hatten, hatten sie in ihrer Schule geprobt. Nun befanden sie sich wieder in einem Schulgebäude. Die alte Realschule war baufällig und stand seit Jahren leer, offenbar fehlte sowohl zum Renovieren als auch zum Abriss das Geld. Aber der Fahrradkeller war benutzbar und ›Not a clue‹ hatte ihn zum Proben angemietet.

Es war, als hätte die marode Schule darauf gewartet, dass sich die versprengten Gründungsmitglieder der Band hier wieder zusammenfanden. Als hätte der Geruch nach verfallener Kreide und in Beton gegossener Pubertät sie angezogen, um dort weiterzumachen, wo sie mit dem Ende ihrer eigenen Schulzeit aufgehört hatten. Ben lehnte sich in den verzogenen Türrahmen des Fahrradkellers.

»Dann sehen wir uns also morgen zum Umzugskistenschleppen?«

»Ja.« Elias lächelte und nahm seinen Gitarrenkoffer. Es würde Spaß machen, an den Band-Wochenenden mit Ben zusammenzuwohnen. Und er wusste, dass nur dieser Deal seinen besten Freund darüber hinwegtröstete, dass Elias seinen Hauptwohnsitz verlegte. Er umarmte Ben und rief noch ein »Bis morgen!« in den Kellerraum. Dann machte er sich auf schlaksigen Beinen auf den Weg zum Auto.

 

 

Die Straßenlaterne auf der Brücke warf ihren fahlen Schein in Charlottes Zimmer. Es war kurz vor Mitternacht und Mirjam lag wach auf ihrer Seite von Charlottes Bett.

Ihr eigenes war noch immer nicht geliefert worden. Aber Mirjam hatte ihr Bett von zu Hause genauso wenig mitnehmen wollen wie ihren Kleiderschrank oder Schreibtisch. Es hingen zu viele Erinnerungen daran.

Mirjam warf einen Blick auf Charlotte, die ihr den Rücken zugedreht hatte. Sie wusste nicht, ob ihre Mitbewohnerin schon schlief. Charlottes Nacken verschwand in einem Durcheinander aus blonden Haaren und ihre Schulter schimmerte matt im Licht der Laterne. Mirjam glaubte, Charlottes Wärme ganz entfernt zu spüren. Es tat gut, nicht so allein zu sein.

Mirjam betrachtete die verbliebenen, unausgepackten Kartons im Zimmer ihrer Freundin. Charlotte war auch noch nicht ganz angekommen. Aber vielleicht war das auch zu viel verlangt für die zwei Wochen, die sie jetzt hier waren.

Ein kleines Geräusch kam vom Charlotte und Mirjam drehte sich herum. Aber Charlotte lag nach wie vor auf der Seite, das Gesicht abgewandt. Einen Moment lang dachte Mirjam, sie hätte sich verhört, aber dann zuckte Charlottes Schulter und ein unterdrücktes Schluchzen erklang in der Stille.

»Hey«, Mirjam strich vorsichtig über die angespannte Schulter, und als eine Reihe weiterer Schluchzer folgten, kroch sie näher an Charlotte heran und legte einen Arm um ihre Freundin. Mirjam atmete den Duft nach Vanille, während Charlotte sich an ihre Hand klammerte und Mirjam wusste, dass sie nicht die Einzige war, die jemanden vermisste.

 

Sonntag, 1.3.

 

»Freckles?« Elias nahm gerade die Autobahnausfahrt und warf einen kurzen Blick auf den Beifahrersitz. »Findet ihr den Weg zu Wiebke, oder wollt ihr das Navi einstellen?«

Louise bohrte ihre Stiefel in das Armaturenbrett und starrte durch die Windschutzscheibe. »Wir finden ihn.«

»Seid ihr nervös?«

Maja schickte Elias ein vages Lächeln. »Ein bisschen.« Sie stellte die Füße auf den Boden und öffnete vorsichtig die Kaninchentransportbox auf ihrem Schoß.

Elias zuckte mit der Schulter. »Du weißt, es ist nur ...«

»... ein Versuch, ja!« Maja streichelte behutsam über Mikados weißes Fell. »Aber gerade ist es total durcheinander innen. Ich glaube, ich muss den Umzug noch mal allen erklären!«

Elias setzte den Blinker. »Dann fang an. Ich kann dir helfen, wenn du nicht weiterkommst!«

Er stellte sich auf einen längeren Innen-Außen-Dialog ein, an dem mehr Menschen beteiligt waren, als er sehen konnte.

Es hatte Elias nicht überrascht zu erfahren, dass seine Freundin Viele war, dass die Gewalt, die sie als Kind erlebt hatte, sie in verschiedene Persönlichkeitsanteile gespalten hatte.

Im Grunde hatte er schon immer mit ihnen gelebt, den unterschiedlichen Personen, die es neben Maja gab. Bereits im letzten Sommer, in der Klinik.

Er hatte mit Louise gekifft, mit Lenny herumgealbert, lange Gespräche mit Maja geführt, verletzte Kindergartenkinder wie Lilly beschützt. Und in letzter Zeit hatte er immer wieder dabei geholfen, die einzelnen Anteile miteinander in Kontakt zu bringen.

»Also, hört mal bitte alle zu«, begann Maja und schloss die Transportbox wieder. »Wir starten jetzt einen Versuch! Es ist sechs Wochen her, dass wir von zu Hause weggegangen sind. Seitdem haben wir nichts mehr von Dr. Gräbert gehört.«

Elias’ Hände krampften sich um das Lenkrad. Auf diesen Namen reagierte er unmittelbar mit Aggression und tiefster Verachtung. Obschon es natürlich eine gute Nachricht war, dass Maja von ihrem Psychiater und Onkel nichts mehr gehört hatte.

Dr. Gräbert gehörte dem Zirkel an, der Maja einst mittels organisierter Gewalt zu Vielen gemacht hatte. Und er hatte in den letzten Monaten des vergangenen Jahres versucht, sie zu diesem Zirkel zurückzuholen. Es war beruhigend, dass er keine weiteren Anstrengungen unternommen hatte, Kontakt zu Maja aufzunehmen. Aber Elias hasste die Vorstellung, dass der Mann weiter unbehelligt leben, als Arzt praktizieren und im Zirkel Kinder foltern durfte.

Du kannst ihn nicht anzeigen‹, hatte Rebecca gesagt. ›Du hast keinen rechtskräftigen Beweis. Damit bringst du nur Maja in Gefahr!‹

Sie hatte recht. Aber Elias wusste nicht, wie er damit leben sollte, dass Dr. Gräbert vielleicht in diesem Augenblick einem Kind dasselbe antat, was er Maja angetan hatte – und dass Elias nichts, absolut gar nichts dagegen tun konnte.

»Wir ziehen heute«, erklärte Maja ihrem System, »zu Wiebke in die Wohnung. Ihre Mitbewohnerin ist für ein Semester im Ausland und wir können das Zimmer haben. Das ist gut, weil dann jemand mit uns zusammen beobachten kann, ob von Dr. Gräbert Post oder Anrufe kommen.«

Noch war Wiebke bei ihren Eltern und machte ein Praktikum. Aber Maja hatte ihr genauso wie Milan geschrieben, dass sie Viele war. Elias hoffte, dass allein Wiebkes Gegenwart Majas Unterkunft mehr Schutz verlieh. Allerdings hatte Maja bisher nicht mit Wiebke über ihren Brief oder die Ereignisse des vergangenen Jahres sprechen können.

Milan war es gewesen, der ihnen von dem vorübergehend freiwerdenden WG-Zimmer erzählt hatte. Wiebkes Sandkastenfreund hatte sie besucht, nachdem er Majas Brief erhalten hatte. Und als er wenig später von dem Zimmer erfahren hatte, hatte er angerufen und gefragt, ob das eine Möglichkeit für Maja war, zurückzukommen.

»Elias«, fuhr Maja mit ihren Erläuterungen nach innen fort, »wohnt bei Charlotte und Mirjam in der WG. Und unseren offiziellen Wohnsitz melden wir auch dort an, damit Dr. Gräbert nicht über die Stadt an unsere tatsächliche Adresse kommt.«

Offenbar kam es nach dieser Mitteilung zu einem inneren Tumult, denn Maja schloss gestresst die Augen und erklärte dann eindringlich: »Wir können nicht bei Rebecca wohnen, weil da schon Andrea wohnt, und wir können nicht bei Elias wohnen, weil da kein weiteres Zimmer frei ist. Aber das hier ist nur ein Versuch! Wenn Wiebkes Mitbewohnerin zurückkommt, müssen wir eh umziehen.«

»Aber in dieser Stadt«, schaltete sich Elias ein, »könnt ihr nur bleiben, wenn ihr keinen Umgang mit dem Zirkel habt! Also darf weder Dr. Gräbert zu euch Kontakt aufnehmen noch ihr zu Dr. Gräbert!«

»Jaja«, antwortete Lenny genervt. »Ich weiß, dass ich ihn nicht anrufen darf. Nicht anrufen und nicht besuchen und nicht schreiben.«

»Und warum nicht?«, hakte der Erzieher in Elias nach.

Der Neunjährige in Majas Körper wippte gelangweilt mit den Beinen. »Weil Rainer zu allen doof war, außer zu mir.«

Elias musste grinsen. »So ungefähr.« Er wechselte die Spur und fuhr auf eine Ampel zu. »Also, wenn ihr weiter mit Rebecca, Andrea und Charlotte in einer Stadt wohnen wollt, dann nur ohne Dr. Gräbert!«

»Aber mit dir!« Katy strahlte Elias so siebenjährig-sonnig an, dass er Milchzahnlücken in Majas Gebiss zu sehen glaubte.

Er lachte und strich über Katys leuchtend rote Haare. »Und mit mir!«

Es war nicht immer einfach, eine Freundin zu haben, die ihren Körper mit so vielen Anderen teilte. Trotzdem hatte Elias sich für dieses Leben entschieden. Diese Bande forderte ihn mehr, als es ein einzelner Mensch je gekonnt hätte. Aber sie brachte auch den Reichtum mehrerer Leben in seines.

 

Als sie vor Wiebkes Haus parkten, warteten Rebecca und Andrea bereits an der Straße. Elias zog die Handbremse und öffnete die Tür, während Maja den Transportkäfig auf ihrem Sitz abstellte und heraussprang.

Rebecca sah noch dünner und angespannter aus als normalerweise. Als Elias sie umarmte, dachte er unwillkürlich an das aus dem Nest gefallene Vogeljunge, das er als Kind aufgezogen hatte. Es war, als hielte er ein von Stoff umgebenes, zittriges Knochenbündel in den Armen. Lange hielt Rebecca seine Umarmung nicht aus. Sie schlüpfte unter seinem Arm durch und verschwand mit Maja im Inneren des Bullis.

Elias begrüßte Andrea und nahm dann einen Karton, um sich erst mal dem Umzug zu widmen.

Rebecca erschien mit Maja und deren Sitzsack an seiner Seite. »Kommt ihr morgen noch mal vorbei?« Ihr blasser Blick wanderte zwischen Elias und Maja hin und her.

»Klar.« Louise sprang mit ihrem Teppich auf die niedrige Gartenmauer. »Wir lassen dich am letzten Abend vor der Klinik doch nicht allein!«

»Natürlich kommen wir«, bestätigte Elias. »Außerdem können wir dich auch dort besuchen.«

Rebecca nickte und ein Mundwinkel zuckte zu einem tapferen Lächeln.

Elias wusste, wie sich Vor-Klinikaufnahme-Tage anfühlten. Wenn man weder ganz hier noch ganz dort war und sich fragte, was einen erwartete. Wenn man nicht wusste, ob man in zwei Monaten noch derselbe oder ein anderer sein würde – und was es bedeuten würde, derselbe oder der andere zu sein.

Für Rebecca, das war ihm bewusst, waren Vor-Klinikaufnahme-Tage noch mal anders. Denn ihre Erwartungen wurden getragen von den Erfahrungen aus unzähligen früheren Klinikaufenthalten. Manche davon waren hilfreich gewesen, andere retraumatisierend. Und dann stand ihr auch noch die therapeutische Auseinandersetzung mit einer Vergangenheit bevor, die der von Maja viel zu ähnlich war.

Elias streckte seinen Arm nach Maja aus und zog sie zu sich heran, als könnte er zusammen mit seiner Freundin auch Rebecca und die ganze Welt halten.

»Kommt ihr jetzt endlich?«, rief Andrea von Wiebkes Haustür aus. »Jemand muss den Eingang blockieren!«

Und Rebecca sprintete los, um Max’ Werkzeugkiste in die Haustür zu stellen.

 

 

Mirjam saß inmitten von Secondhand-Babykleidung, die sie nach Größen sortierte. Im Kinderbett, das vor ihrem eigenen angekommen war, stapelte sich die Erstlingsausstattung. Mirjam drehte ein Jäckchen in ihrer Hand.

Wie von selbst wanderte ihr Blick zum Notebook, das neben ihr auf dem Boden lag und Musik abspielte. Eine Stimme in ihr widersprach heftig dem, was sie zu tun beabsichtigte, aber ihre Finger waren schneller.

Wenige Augenblicke danach strahlten ihr Janniks karamellfarbene Augen vom Bildschirm entgegen. Das Foto war am Tag ihres Abiballs aufgenommen worden. Janniks Gesicht leuchtete so sorglos, als würde die Welt sie beide mit offenen Armen empfangen.

Mirjam verlor sich an den winzigen Sommersprossen über Janniks Wangen. Dann fluchte sie leise. Sie sollte sich das verbieten.

Vor Wochen hatte sie beinah alles aus ihrem Leben verbannt, das an ihre verbotene Verbindung erinnerte. Sie hatte Zettel und Zeichnungen von Jannik zerrissen, sie hatte seine Nachrichten aus den elektronischen Speichern gelöscht. Aber sie hatte nicht alle Bilder wegwerfen können.

Nun fiel Janniks Blick ungehindert durch sie hindurch und zerschmolz in ihr zu Sehnsucht, Verlangen und Schmerz.

Mirjam klickte den jungen Mann weg. Sie durfte das nicht wieder empfinden. All diese sinnlosen Gefühle, die viel zu groß und viel zu hoffnungslos waren. Für die es keinen Platz gab auf dieser Welt.

Mirjam blickte Jannik nervös an und machte eine ausholende Geste durch ihr Klinikzimmer.

»Hier lebe ich gerade.«

Wie, als würde sie durch seine karamellfarbenen Augen blicken, sah Mirjam die Fotos, die sie an die Wände gepinnt hatte. Sie sah ihren Schreibtisch mit dem Notebook, den vielen bunten Stiften und den Zetteln. Sie sah ihren Therapiestundenplan an der Magnettafel, ihren Pullover auf dem Stuhl und die karierte Decke auf ihrem Bett.

Jannik bewegte sich auf so vertraute Weise durch ihr Zimmer, dass es Mirjam vor Sehnsucht fast zerriss.

»Ist es«, fragte er mit einem Blick auf ihren Therapiestundenplan, »anders als beim letzten Mal?«

Mirjam nickte. »Es ist besser.«

Mit sechzehn war sie zum ersten Mal in einer Klinik gewesen. Nun, drei Jahre später, musste sie niemand mehr zwangsernähren. Sie war nicht mehr so rigide mit sich wie damals. Allerdings zeugte davon nicht nur ihr 16er-BMI, sondern auch die bulimischen Attacken.

Mirjam betrachtete Janniks Gesicht, auf das die Sonne eine leichte Bräune und viele zusätzliche Sommersprossen gemalt hatte. Sie hatten sich aus Vernunftgründen gegen die Beziehung entschieden. Aber an diesem Ort hielt Mirjam die wenige Schritte umfassende Entfernung einfach nicht aus. Einen Augenblick später barg sie ihr Gesicht an seiner Schulter und murmelte sinnlose Worte in sein hell changierendes Haar.

»Warum hast du mir nicht gesagt, dass du in eine Klinik gehst?«

Mirjam hob ihren Kopf und sah Jannik verzweifelt an. »Wir hatten vereinbart, dass wir uns bis Weihnachten nicht sehen.«

Sie hatte ihn vermisst, an jedem schmerzweckenden Therapietag und in jeder schattenerinnernden Nachtstunde.

»Ich weiß. Aber wenn du in einem Krankenhaus bist, besuche ich dich.« Jannik drückte sie an sich und seine warme, stets nach Zimt riechende Haut ließ ihre Einwände davonfließen und ihre Vernunft formlos in den Äther aufsteigen. »Ich habe mich so beeilt, dass ich noch nicht einmal ein Besuchsgeschenk dabei habe.«

Nein, sie war nicht mehr besonders rigide. Und Jannik hatte ihr ein Besuchsgeschenk gemacht, das sich nach neun Monaten selbst auspacken würde.

 

 

Elias stellte die Leiter seines Hochbettes in dem kleinen Dachzimmer ab und sah sich um. Es war eine gemütliche und helle Kammer. Er war sich sicher, dass er sich hier wohlfühlen würde, auch wenn es nur für einige Monate war. Mirjam trat in den zugerümpelten Raum und stellte seine winzige Marihuana-Pflanze auf einer Umzugskiste ab.

»Wann«, fragte sie mit einem Nicken in Richtung Blumentopf, »ist sie so weit?«

Elias lachte leise. »Sagen wir mal, wenn sie überhaupt etwas wird, hebe ich etwas auf, um die Geburt deiner Kleinen zu feiern!«

Seine neue Mitbewohnerin grinste: »Dann solltest du daraus eine Tradition machen und jedes Jahr zu ihrem Geburtstag etwas anbauen! Wenn sie achtzehn ist, darf sie mitrauchen!«

Elias sah einen verwirrten Ausdruck über Mirjams Gesicht huschen und wusste, dass es ihr merkwürdig vorkommen musste, sich ihre noch nicht geborene Tochter in ihrem eigenen Alter vorzustellen.

»Vielleicht«, sagte er mit einem Augenzwinkern, »ist es bis dahin sogar legal!«

Er musste an den merkwürdigen Tag in der Klinik denken, als er entlassen worden und Mirjam ziemlich neben der Spur bei ihm im Glasgang aufgetaucht war. Er hatte die widersprüchlichen Schwingungen zwischen Glück und Verstörung wahrgenommen, die Nuancen von Scham, Ekstase und Qual, und versucht, ein bisschen Beruhigung zu ihr fließen zu lassen. Sie hatten nebeneinander zwischen seinen Koffern gesessen, über alles und nichts gesprochen und auf die Ankunft seines Vaters gewartet. Heute war er sich ziemlich sicher, dass Mirjams Kind an diesem Tag gezeugt worden war.

Charlotte tauchte mit einem letzten Karton im Türrahmen auf. »Macht irgendwer«, fragte sie und stellte die Kiste ab, »einen Spaziergang mit mir?«

»Auf jeden Fall«, nickte Mirjam. »Wir sollten die Sonne genießen.«

»Und den letzten freien Tag«, ergänzte Charlotte und strich sich eine Strähne aus dem umzugserhitzten Gesicht.

Elias runzelte die Stirn. »Ich dachte, ihr habt Semesterferien!«

»Ich fange morgen ein Pflegepraktikum an.« Charlotte zog ihre hochgeschobenen Ärmel wieder nach unten. »Es ist ganz schön viel gerade. Erst die Klausuren am Ende des Semesters und jetzt das Praktikum im Krankenhaus.« Sie sah die beiden aus erschöpften Augen an und unterschlug die privaten Komplikationen.

Elias nickte. Die Trennung ihres Klinikpärchens brachte allgemeine Traurigkeit und Hilflosigkeit mit sich. Maja hatte dadurch ein Symbol verloren, eine Art Versprechen auf Hoffnung. Und er war sich nicht sicher, woher Maja ihre Hoffnung jetzt bezog.

Rebecca war Majas beste Freundin und Elias hatte in den letzten Wochen beobachtet, wie die Welten, durch die die beiden taumelten, immer abgründiger wurden.

Rebecca war zwar als Borderlinerin diagnostiziert worden, aber sie hatte einige teilabgespaltene Anteile, die mit denen von Maja erschreckend gut zusammenpassten. Wenn Louise auf die selbstzerstörerischen Anteile von Rebecca traf, konnte eine destruktive Spirale in Gang gesetzt werden, die kaum noch aufzuhalten war. Elias war sich nicht sicher, ob Louise sich dem vernichtenden Sog entziehen konnte oder wollte. Und er wusste nicht, welche Wirkung Louise ihrerseits auf Rebeccas selbstzerstörerische Anteile hatte.

Elias hoffte, dass mit der Klinik alles etwas besser werden würde. Für Rebecca und für Maja, die fast ebenso unter der Trennung litt wie Rebecca.

»Lasst uns den Fluss entlang zum Park laufen«, schlug Mirjam vor. »Vielleicht blühen schon die ersten Frühlingsblumen.«

Charlotte wandte sich Elias zu. »Kommst du mit? Du hast auch deinen letzten freien Tag!«

Er ließ seinen Blick über das Umzugschaos im Zimmer schweifen und beschloss, dass es warten konnte. Ankommen bedeutete mehr als ein eingerichtetes Zimmer.

»Ja«, nickte er, »ich komme mit.«

  

Montag, 2.3.

 

Mirjam hatte versucht, allen drängenden Gedanken zu entkommen, indem sie möglichst lange geschlafen hatte. Gegen fünf Uhr war Charlotte aufgestanden, um ihr Praktikum mit einer Frühschicht zu beginnen, und zwei Stunden später war die Wohnungstür hinter Elias zugefallen. Aber nun war es neun und Mirjam konnte einfach nicht mehr schlafen.

Sie schlug die Decke zurück und tappte ins Bad. Die Spuren in Küche und Flur zeugten vom Aufbruch ihrer Mitbewohner. Es war tröstlich zu sehen, dass es sie gab, und doch hinterließen die eilig verlassenen Gegenstände in Mirjam das Gefühl, unproduktiv zu sein.

Sie hatte im Augenblick weder ein Praktikum noch eine Anstellung oder ein Studium vorzuweisen. Durch die Klinik hatte sie ihr erstes Semester verspätet begonnen – und in den Weihnachtsferien hatte sie ihr Studium dann abgebrochen.

Jetzt kam es ihr seltsam vor, dass sie nicht früher festgestellt hatte, dass sie zu Hause nicht mehr leben konnte. Alles dort erinnerte sie an Jannik.

Aber sie hatte so lange mit einem Durcheinander von verworrenen Gefühlen und aussichtslosen Träumen gelebt, dass ihr erst irgendwann im Dezember bewusst geworden war, wie unerträglich dieser Zustand eigentlich war. Daraus war der Gedanke entstanden, auszuziehen und mit Charlotte eine WG zu gründen.

Der momentane Plan war, hier im April mit dem Studieren zu beginnen. Wenn die Schwangerschaft unkompliziert verlief, würde sie das Semester ordnungsgemäß abschließen können. Aber im Wintersemester würde es komplizierter werden. Es fiel Mirjam schwer, sich vorzustellen, wie ihr Lebens- und Studienalltag mit Baby aussehen würde.

Sie zog ihr Shirt über den Kopf und blickte an ihrem Körper hinab. Behutsam legte sie eine Hand auf den leicht vorgewölbten Bauch. Seit wenigen Tagen wusste sie, dass es ein Mädchen werden würde. Etwas früher als üblich, aber die meisten Schwangeren waren auch nicht wegen Untergewichts jede Woche beim Arzt.

Mirjam hatte Janniks Mutter nie kennengelernt, aber sie mochte ihren Namen: Pauline.

»Was denkst du«, fragte sie die Kleine leise, »gefällt dir ›Pauline‹?«

Vielleicht konnte sie ihrer Tochter so Wurzeln mitgeben, die ihr sonst fehlen würden. Mirjam strich über ihre Bauchdecke und betrachtete sich im Spiegel.

In gewisser Hinsicht war sie ziemlich produktiv.

Die Schwangerschaft hatte ihren Körper bisher wenig verändert. Ihre Brüste spannten leicht und der Bauch hob sich ein wenig ab. Aber alles Andere war genauso grenzwertig dünn wie immer. Sie hatte keinerlei schwangerschaftstypische Probleme und es kam ihr fast absurd vor, dass sie seit November weniger gekotzt hatte als in der Zeit davor. Die Kleine war nicht besonders groß, aber es ging ihr gut. Und Charlotte sorgte dafür, dass Mirjam regelmäßig und abwechslungsreich aß.

Charlotte stand ihr auf dem Feldweg zwischen Klinik und entlaubtem Wald gegenüber. Ein kalter Novemberwind wehte durch Mirjams Kleidung und vereinzelte Regentropfen fielen schwer in große Pfützen.

»Also«, erklärte Charlotte, »wir schließen eine Allianz. Du und ich werden uns vernünftig und ausreichend ernähren, wenigstens bis zur Geburt des Kindes. Danach machen wir eine Bestandsaufnahme und kommen wahrscheinlich zu dem Schluss, dass wir damit weitermachen wollen!«

Mirjam blickte in Charlottes ernste, blaugrüne Augen und wünschte, sie könnte ihr zeigen, wie viel ihr diese unaufgeforderte Selbstverpflichtung ihrer Freundin bedeutete.

»Das erste Ziel«, fasste Mirjam zusammen, »ist ein Mindest-BMI von 17,5 – und ihn zu halten.«

Sie sahen sich lange an, dann verschränkten sie die kleinen Finger ineinander und besiegelten die Allianz mit einem Nicken.

Mirjam spürte ein zartes Flattern in ihrem Uterus und ließ ihre Hand auf der Bauchdecke ruhen.

»Du wirst«, flüsterte sie, »die tollste Patentante der Welt bekommen! Ich wünschte nur, du hättest auch einen Vater!«

 

 

Der Kindergarten, in dem Elias eine Vertretungsstelle übernommen hatte, lag ein Stück stadtauswärts. Trotzdem war er mit dem Fahrrad zur Arbeit gefahren.

Um in einer so großen Stadt wie dieser leben zu können, brauchte er den Weg durch den Park und die angrenzenden Flussauen. Denn er konnte nur er selbst sein, wenn er in Verbindung mit der Natur stand. Das war das erste Wissen gewesen, was er über sich gehabt hatte, ein vorsprachliches, allumfassendes Wissen.

Nun ging Elias’ erster Kindergartenvormittag bereits zu Ende. Bevor die Kleinen in den Garten durften, mussten unzählige Schuhe gebunden und etliche Reißverschlüsse eingefädelt werden.

Eine widerstrebende Vierjährige kam langsam auf ihn zu. Elias verabschiedete sich mit einem Doppelknoten von einem Kinderstiefel und lächelte das Mädchen an.

»Na, Elena, brauchst du irgendetwas von mir?«

Die Kleine sah ihn unglücklich an. »Ich soll meine Jacke anziehen!«

Elias ließ sich im Schneidersitz auf dem Boden nieder. »Und warum möchtest du sie nicht anziehen?«

Elenas Augen wanderten zu einem leeren Garderobenhaken. »Weil Malte krank ist.« Nach einem kurzen Zögern fuhr sie fort. »Wenn ich keine Jacke anziehe, werde ich auch krank.«

Elias blickte von dem verwaisten Haken zu der Vierjährigen. »Das musst du mir genauer erklären!«

Die Kleine schaute zu Boden. »Wenn ich krank bin«, erläuterte sie leise, »darf ich zu Hause bei Malte bleiben.«

Elias lächelte. »Malte ist dein Bruder.«

»Mein Zwillingsbruder«, betonte das Mädchen mit schiefgelegtem Kopf.

Elias betrachtete Elena und musste an seine Schwester denken. An das kleine Mädchen, das zu ihm gehört hatte wie ein Teil seiner selbst.

Elias’ Hand ruhte auf der Türklinke über seinem Kopf. Unglücklich schaute er hinaus in den Kindergartenflur.

Draußen stand seine Mutter und sah aus, als wäre sie schon längst gegangen. Neben ihr stand seine Schwester in ihrem grünen Lieblingsrock und weinte bitterlich.

Laura und er hatten geglaubt, dass sie den Kindergartentag gemeinsam verbringen würden, so, wie sie jeden Tag gemeinsam verbracht hatten. Aber als sie angekommen waren, hatte Anke ihnen gesagt, dass sie in unterschiedliche Gruppen gehen würden.

Elias sah an sich herunter. Er hatte die ausgebeulte grüne Cordhose an, die so gut zu Lauras Rock passte, und spürte, dass er auch gleich anfangen würde zu weinen.

Da legte sich eine Frauenhand auf seine Schulter. »Wir beginnen jetzt mit dem Morgenkreis, Elias«, sagte eine freundliche Stimme von weit oben.

Zögernd ließ Elias die Tür los und sah die Frau an. Sie schenkte ihm ein warmes Lächeln, dann nahm sie seine Hand und schloss die Tür.

»Weißt du was?« Elias sah Elena nachdenklich an. »Wenn du jetzt keine Jacke anziehst, bist du vielleicht erst in ein paar Tagen krank. Und dann ist Malte bestimmt schon wieder gesund. Das wäre doch auch nicht gut, oder?«

Elena zog die Nase kraus. »Nee«, gab sie schließlich zu. »Dann wäre Malte ja im Kindergarten und ich wäre zu Hause.«

»Eben.« Elias angelte mit einem Lächeln die letzte verbliebene Jacke von der Kindergarderobe. Es ist besser, du bleibst gesund!«

 

 

Mirjam hatte sich für den frühen Nachmittag mit Andrea im Café verabredet. Zuletzt hatte sie Rebeccas Mitbewohnerin beim Umzug gesehen. Sie alle hatten versucht, so zu tun, als wäre es nicht seltsam, dass Rebecca fehlte. Charlottes Eltern und Mirjams Mutter hatten mitgeholfen, außerdem zwei von Charlottes Kommilitonen. Aber Rebecca war nicht da gewesen, und obwohl sie schnell fertig gewesen waren, hatten die zugestellten Räume merkwürdig leer gewirkt.

Nun saßen sie in dem gemütlichen Café und blickten auf die belebten Gassen hinaus.

»Wie geht es Rebecca?«, erkundigte sich Mirjam, während sie Zucker in ihren Tee rührte.

Andrea packte die Schokolade zu ihrem Kaffee aus. »Nicht besonders gut. Sie macht ziemlich viele Zeitreisen, hat Flashbacks ...« Andrea zuckte unglücklich mit der Schulter. »Es wird immer schwerer, zu ihr durchzudringen. Entweder denkt sie, dass alle gegen sie sind, oder sie glaubt, sie selbst sei das personifizierte Böse. Ihr fehlt dann komplett der Realitätsbezug.« Rebeccas Mitbewohnerin seufzte leise. »Ich hoffe, das wird durch die Klinik wieder besser!«

»Es ist ziemlich gut da«, versuchte Mirjam, sie zu beruhigen. »Jedenfalls, wenn man Glück mit seinem Bezugstherapeuten und den Mitpatienten hat.«

Andrea bemühte sich um ein Lächeln. »Wirst du noch mal hingehen?«

»Ich hoffe nicht«, erklärte Mirjam mit Nachdruck. »Ein drittes Mal Klinik muss nicht sein.«

»Wann war das erste Mal?«, fragte Andrea mit einem Stirnrunzeln.

»Ein halbes Jahr nach der Beerdigung meines Vaters.«

Andrea sah sie bestürzt an. »Das tut mir leid! Du musst mir davon nicht erzählen ...«

»Ich weiß.« Mirjam betrachtete ihre neue Freundin. Für Andrea war dieser Satz keine Floskel; ihr musste man nichts erzählen. Für sie schien alles in Ordnung zu sein – reden, sich ausschweigen – es machte keinen Unterschied für ihre Bereitschaft, Freundschaft zu schließen. Aber irgendwie machte es gerade das leichter zu reden. »Mein Vater«, begann Mirjam, »hatte einen Herzfehler und trotzdem habe ich immer so getan, als könnte er nicht sterben. Ich wollte einfach nicht daran denken.«

Andrea sah sie bedrückt an. »Was für ein Vater war er?«

Mirjam lachte leise auf. »Er war ein richtig zerstreuter Professor. Er hat nie ganz mitgekriegt, was um ihn rum passiert. Aber er hat uns sehr geliebt.«

»Das ist unfair!« Die neunjährige Mirjam schob sich schmollend auf den Schoß ihres Vaters. »Alle Kinder fahren in Urlaub. Und du vergisst immer, dass wir Ferien kriegen!«

Wissenschaftsgefangene Augen musterten Mirjam einen Moment lang irritiert, dann schlich sich Betroffenheit in den Blick. »War schon der letzte Schultag?«

»Heute!« Das Kind mit den goldbraunen Augen sah seinen Vater mit strategischer Anklage an.

Dann zuckte ein Lächeln über das zerfurchte Gesicht des Professors.

»Nicky«, rief er durch das Haus, »wir fahren dieses Wochenende zelten!«

Andrea lächelte angesichts des versteckten Leuchtens in Mirjams Augen. »Und deine Mutter?«

»Die lebt auch in ihrer eigenen Welt.« Mirjam schüttelte den Kopf. »Nur dass sie diese selbst erschafft – sie schreibt Bücher.« Mirjam musste lachen. »Es ist erstaunlich, dass sich meine Eltern jemals begegnen und gegenseitig bemerken konnten.«

Andrea lachte ebenfalls. »Wahrscheinlich war es Schicksal.«

»Ja, so was in der Art.« Mirjam nahm den Teebecher in ihre Hände und wurde wieder ernst. »Nach dem Tod meines Vaters konnte ich nicht mehr essen. Ich hatte einfach keinen Hunger mehr. Und dann ist auch noch mein Bruder auf ein Internat nach England gegangen. Das war dann ein bisschen zu viel Verlust auf einmal.«

»Also«, fragte Andrea, »ist es dir gar nicht schwergefallen, auf das Essen zu verzichten?«

»In den ersten Wochen nicht. Das kam erst später, als ich auf das Gefühl der Leere und Leichtigkeit nicht mehr verzichten wollte, aber wieder Hunger hatte.«

Einen Moment lang fragte sich Mirjam, warum sie das erzählte. Was sie hier offenbarte, machte es schwerer, diesen Weg ungesehen zurückzugehen. Aber dann wurde ihr bewusst, dass sie es genau deshalb tat. Wenn neben Charlotte auch Andrea ihre Hintergründe kannte, war Pauline geschützter. Geschützter vor den essgestörten Impulsen ihrer Mutter, die sich nicht durchsetzen durften.

»Dein Bruder und du«, erkundigte sich Andrea, »habt ihr euch gut verstanden?«

»Ja«, Mirjam lehnte sich lächelnd im Stuhl zurück, »er war der wunderbarste große Bruder der Welt! Im Gegensatz zu meinen Eltern wusste er immer, was in meinem Leben gerade passierte.«

»Ich habe auch einen älteren Bruder«, erklärte Andrea grinsend, »aber wir haben uns immer nur geprügelt.«

Mirjam lachte auf. »Dann erzähl mir mal von deinen Narben!«

 

 

Später am Abend saß Mirjam mit Häkelnadel und Wolle in ihrer WG-Küche. Sie hatte Andrea in ein Wollgeschäft begleitet und spontan beschlossen, für Pauline ein Mützchen zu häkeln.

Vielleicht war Häkeln ja eine Lebenskompetenz, die sie irgendwie voranbringen würde. Sie hatte sich eine Anleitung heruntergeladen und wurde allmählich geschickter beim Abketten der Schlingen.

Elias war vor einiger Zeit mit Maja zu Rebecca aufgebrochen und Charlotte hatte sich nach der Rückkehr aus dem Krankenhaus in ihr Zimmer zurückgezogen. Als Mirjam gerade die achte Runde beendete, steckte Charlotte ihr blasses Gesicht durch die Küchentür.

»Hey«, Mirjam schenkte ihrer Mitbewohnerin ein Lächeln und deutete auf die Teekanne vor sich. »Magst du eine Tasse?«

»Danke.« Charlotte lächelte schwach zurück und ließ sich dann mit einem leeren Becher neben Mirjam nieder. Ihre Augen schienen riesig und sie sah unglaublich erschöpft aus.

Mirjam schaute Charlotte prüfend an. »Alles okay bei dir?«

Charlotte nickte erst, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich weiß nicht, ob ich das schaffe«, brach es schließlich aus ihr heraus.

Mirjam ließ die Häkelsachen sinken. »Was genau?«

»Alles.« Mirjam traf ein kläglicher Blick. »Mein Leben, dieses Praktikum ... Ich bin schon am ersten Tag völlig am Ende.« Charlotte stellte ihren Becher auf den Tisch. »Man muss so viele Dinge im Kopf behalten, wird ständig irgendwo hingeschickt und für nichts ist genug Zeit. Ich habe das Gefühl, ich bin den ganzen Tag nur gerannt und nie mit irgendwas fertig geworden.«

Mirjams Augenbrauen zogen sich mitfühlend zusammen. »Vielleicht wird das im Laufe der Zeit besser?«

»Ich glaube nicht.« Charlotte schüttelte den Kopf und sah auf die Tischplatte. »Das ist einfach der Praktikantenalltag.«

Mirjam betrachtete Charlotte nachdenklich und legte ihr Häkelzeug zur Seite. »Wie wäre es mit einer Entspannungsmassage?«

Ein kleines Lächeln zuckte in Charlottes Mundwinkel. »Das wäre schön.«

»Also gut.« Mirjam rutschte mit ihrem Stuhl zur Seite. »Dann dreh dich zu mir herum.«

Charlotte zog ihren Cardigan aus und drehte Mirjam den Rücken zu. Mirjam legte ihre Hände auf Charlottes Schultern und spürte zarte Knochen unter stoffumspielter Haut. Vorsichtig begann sie, die angespannten Muskeln zu massieren.

»Was hast du gerade gemacht?«, erkundigte sie sich. »Nach der Arbeit?«

Charlotte hatte die Augen geschlossen und versuchte, die Schultern lockerzulassen. »Erst habe ich vergeblich versucht zu schlafen. Und dann habe ich vergeblich versucht, Rebecca eine Karte für die Klinik zu schreiben.«

Mirjam strich mit dem Daumen über einen verhärteten Muskelstrang. »Woran ist es gescheitert?«

»Ich habe einfach nicht die richtigen Worte gefunden.« Charlotte ließ den Kopf sinken und Mirjams Finger wanderten die Wirbelsäule entlang. »Ich wünsche ihr so viel Gutes! Aber ich weiß nicht, wie ich es ihr sagen soll, ohne dass sie es falsch versteht.« Sie atmete gepresst ein und fuhr dann fort. »Ich will nicht, dass sie denkt, sie soll sich für mich verändern. Sie«, Charlottes Stimme zitterte leicht, »soll das doch für sich selbst tun!«

Mirjam ließ ihre Hände auf Charlottes Schultern ruhen, bis ihre Freundin sich wieder entkrampfte. Mirjam war nie besonders gut mit Worten gewesen. Sie sagten ihr so viel weniger als Körpersprache und Berührungen. Vielleicht hatte sie sich deshalb zu Hause oft verloren gefühlt. Die Welt ihrer Eltern hatte aus Buchstaben bestanden. Wenn sie gerade nicht gelesen oder geschrieben hatten, waren sie gedanklich in Sprachwelten versunken gewesen. Wenigstens hatte sie ihren Bruder gehabt, seine warme, gegenwärtige Nähe und seine Fähigkeit, ihre Welten zu bewohnen.

Mirjam teilte Charlottes Haare und strich mit den Daumen behutsam über ihren Nacken. Sie legte ihre Gegenwart in ihre Hände und hoffte, dass sie bei ihrer Freundin ankam.

»Ich kämpfe auch«, erklärte Charlotte traurig. »Und ich fühle mich oft so allein damit! Rebecca macht das nicht aus Unachtsamkeit, aber es gibt kaum Zeiten, in denen sie für mich da sein kann, weil sie eigentlich immer in irgendeiner Krise steckt. Deshalb bekommt sie gar nicht mit, wie schwer es für mich ist, zu essen und mich um mich zu kümmern und mich außerdem noch um alle Anderen zu kümmern.« Ein leiser Schluchzer entrang sich Charlottes Kehle. »Aber es ist schwer. Und bei mir ist die Vergangenheit auch nicht einfach vorbei.«

Mirjam ließ ihre Arme über Charlottes Schultern gleiten und drückte ihre Freundin an sich. Sie wusste, dass Charlotte nicht nur die Magersucht meinte, sondern alles, was damit in Zusammenhang stand. Ihre tote kleine Schwester, ihre fremdbestimmende Mutter, ihren nur körperlich anwesenden Vater. All die Jahre, die sie an die Krankheit verloren hatte, die verpassten Erfahrungen und die ungelösten Entwicklungsaufgaben.

Eine Träne tropfte auf Mirjams Arm und Mirjam legte ihr Gesicht in Charlottes Nacken. Sie roch den Duft nach Vanille und spürte die zarte Haut an ihren Lippen. Ohne darüber nachzudenken, begannen ihre Lippen, Charlottes Hals zu küssen. Sie flogen über Charlottes Nacken bis hinauf zum Haaransatz. Charlotte hob erst den Kopf, dann drehte sie sich um.

»Was machst du da?«, fragte sie mit leicht verstörter Stimme.

Mirjam fuhr zurück, ohne jedoch die Hände von Charlottes Schultern zu nehmen. »Dich trösten«, murmelte sie, obwohl ihr bewusst war, dass diese Art von Trost ungewöhnlich war. Aber sie war nicht in Charlotte verliebt. Es hatte sich nur so – natürlich angefühlt.

»Ich bin mir nicht sicher«, sagte Charlotte zögernd, »ob ich das möchte.«

»Dann lasse ich es.« Mirjam rutschte mit ihrem Stuhl zurück und nahm ihr Häkelzeug wieder in die Hand. »Fritzi hat doch in der Klinik allen Stricken beigebracht. Weißt du, wie man beim Häkeln die Farbe wechselt?«

 

Dienstag, 3.3.

 

Nachdem Elias einen Abend bei Rebecca, eine Nacht bei Maja und einen Vormittag im Kindergarten verbracht hatte, saß er nun mit Ben in seinem halb eingerichteten WG-Zimmer.

Im Moment führte er ein ziemliches Nomadenleben, aber das störte ihn nicht. In seinem WG-Zimmer umgaben ihn seine Bücher und seine Musik, die alten Plakate und das Hochbett – die wenigen Dinge, die Elias brauchte, um irgendwo leben zu können. Solange er sich selbst dabei hatte, kam er zurecht.

Ben fläzte sich auf die Matratze unter dem Hochbett und lauschte Elias, der ein Riff auf der Gitarre variierte. Bens Anwesenheit war für Elias so selbstverständlich wie die der Klänge. Seit sie einander vor sechzehn Jahren auf dem Schulhof begegnet waren, hatten sie sich beinah jeden Tag gesehen. Sie hatten zusammen die Schule nach der zehnten Klasse verlassen und waren schließlich gemeinsam weggezogen. Elias’ Familie war von den ersten Tagen ihrer Freundschaft an so etwas wie eine Zusatzfamilie für Ben gewesen, der bei seinen Großeltern aufgewachsen war. Durch die Zeit und die Lebensdramen hindurch war ihnen der Bezug zueinander nie verloren gegangen. Elias schlug ein paar Saiten an und lauschte der Resonanz zwischen sich und Ben.

»Sag mal«, sein bester Freund stützte den Kopf in die Hand, »wie fühlen sich Birken eigentlich an?«

Elias runzelte die Stirn. Natürlich verstand er, was Ben von ihm wissen wollte. Sein bester Freund war einer der Wenigen, die wussten, dass Elias nicht nur mit Menschen sprach. Aber Elias verstand nicht, woher die Frage plötzlich kam.

»Sie fühlen sich hell an und bewegt, leicht fließend.« Es war schwer, menschliche Worte für das zu finden, was nichtmenschliche Lebewesen sagten. »Warum willst du das wissen?«

Ben drehte sich auf den Rücken und blickte auf den Lattenrost des Hochbettes. »Wegen dieser Tradition, seiner Liebsten eine geschmückte Birke vor die Tür zu stellen. Max überlegt, Sina so einen Baum zu schenken.«

Elias schlug einen misstönenden Akkord an und blickte zu Ben. »Sie wird es total bescheuert finden, dass Max einen Baum umbringt! Und dieses Traditionsding auch.«

Ben lachte leise. »Das solltest du ihm sagen.«

»Werde ich.« Elias griff ein paar weitere Akkorde. »Manchmal frage ich mich echt, was sie an ihm findet.«

»Max sieht wirklich gut aus.« Bens Blick bekam einen leicht verklärten Ausdruck und Elias seufzte.

»Ja«, Elias strich über die Saiten, »aber such dir lieber einen Jungen aus deiner Welt!«

Es roch nach Staub und Bohnerwachs, nach Kreide und Jahrzehnte altem Papier. Ben und Elias hatten die Abstellkammer unter dem Dach der Schule in der sechsten Klasse entdeckt, als ein Lehrer sie zum Kartenraum geschickt hatte und sie sich verirrt hatten. Die Kammer war selten abgeschlossen, aber es kamen auch kaum Schüler ins Dachgeschoss.

Elias wusste, dass er Ben hier finden würde. Seit zwei Jahren war dies der Ort, an den sie sich zurückzogen, wenn die Welt ihnen nicht so freundlich gesonnen war, wie Ben und Elias sie gebraucht hätten. Durch das verschmutzte Fenster schien immer ein besonderes Licht zu fallen und es war unfassbar friedlich in der kleinen Kammer. Es war beinah so, als existierte der Raum nur für sie beide.

Elias schlüpfte herein und schloss die Tür hinter sich. Seine vierzehnjährigen Jungenbeine waren lang und ungeschickt, seine Frisur genauso unentschieden wie seine Stimmlage. Ben saß unter dem kleinen Dachfenster, die Hände nach hinten abgestützt. Er drehte sich nicht um, als Elias eintrat, sondern schaute weiter in den Himmel hinauf. Elias ließ sich neben ihm nieder. Er wusste, was kommen würde, und wartete einfach darauf, dass es geschah.

Schließlich wandte Ben ihm das Gesicht zu. Die eisvogelblauen Augen waren groß und die Züge noch kindlich weich. Kastanienbraune Locken fielen ihm in die Stirn und warfen Schatten über seinen Blick.

»Es stimmt«, sagte Ben, »was an der Tafel steht.« In seinen Augen standen zugleich Flehen, Trotz und Bitterkeit.

Elias nickte. »Ich weiß. Aber das ändert doch nichts.« Er schenkte seinem Freund ein schulterzuckendes Lächeln. »Du bist du. Das warst du immer und das wirst du immer sein. Und das ist es, was zählt.«

Ein unsicheres Lächeln strich über Bens Lippen. »Sie werden es wieder an die Tafel schreiben.«

Elias zog die Beine in den Schneidersitz und sah nachdenklich durchs Fenster. »Und wenn wir«, fragte er schließlich, »ihnen zuvorkommen?«

Ben runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«

»Wenn wir es an die Tafel schreiben? Und nicht nur an unsere Tafel, sondern an alle Tafeln der Schule. Dann merken sie, dass sie dir nichts anhaben können!« Übermut zog in Elias’ Blick. »Georg wird es cool finden!«

»Bist du sicher?«, hakte Ben nervös nach.

»Klar.« Elias lehnte sich zurück auf die Unterarme. »Er ist Abiturient und in zwei Wochen weg. Außerdem steht er auf Oscar Wilde.«

Ein Grinsen wanderte langsam von Elias’ Augen über sein Gesicht, sprang in Bens Mundwinkel über und verwandelte sie beide. Sie rappelten sich auf und nach der sechsten Stunde schrieben sie auf jede einzelne Tafel in der Schule: ›Ben steht auf Georg.‹

Elias legte die Gitarre zur Seite. »Max könnte Sina einen schmalen Haarkranz aus dünnen Birkenzweigen binden. Und Schmuck für ihre Dreads reinflechten. Dann sähe sie aus wie eine Hippie-Elfe.« Elias grinste Ben zu. »Aber ohne unsere Hilfe kriegt er das nicht hin!«

Ben sah Elias aus großen, eisvogelblauen Augen an und seufzte tief. »Ich weiß, dass ich mich wiederhole, aber ich frage mich immer noch, warum du nicht schwul bist!«

 

 

Mirjam lauschte den Variationen des Intros aus dem Nebenzimmer und vollendete den Gitarrenkuchen mit einem letzten Ansetzen der Zuckergusstülle.

Elias hatte morgen Geburtstag und offenbar war er dabei, sich selbst mit einem neuen Song zu beschenken. Mirjam hatte passend zu den Klängen einen Kuchen gebacken.

Wie als Reaktion auf das in Marzipan und Schokolade gefasste Instrument kam ein leises Flattern aus ihrem Uterus. Mirjam lächelte und fragte sich, ob die Kleine Musik mögen würde.

Früher hatte sie mit ihrem Bruder viele Stunden im Klavierzimmer verbracht. Der Raum war ein lichtdurchflutetes Rondell, eine Mischung aus Wintergarten und Wohnzimmer. Aber der Flügel stand dort und ihr Vater hatte ihnen Unterricht gegeben, wenn er es nicht gerade vergaß. Das Klavierzimmer war immer Mirjams Lieblingsraum gewesen.

Noch wusste ihr Bruder nichts von der Kleinen. Sie hatte ihn noch nie belogen und es fiel ihr schwer, es für ihre Tochter zu tun. Aber irgendwann würde sie ihm dieselbe ausgedachte Geschichte über den Vater ihres Kindes erzählen wie ihrer Mutter.

Mirjam erhob sich, um den Kuchen in ihr Zimmer zu tragen.

Auch wenn sie Jannik vor der ganzen Welt verleugnete, musste sie lernen, mit seiner Gegenwart in ihrem Leben umzugehen. Ihre Tochter erinnerte sie schon jetzt täglich an ihn. Und das würde sie an jedem einzelnen Tag ihres Lebens tun. Also musste Mirjam lernen, mit dem glücklich zu sein, was Jannik ihr geschenkt hatte. Auch wenn er selbst nicht dazugehörte.

 

 

Elias sah in die Dämmerung hinaus und telefonierte mit Maja, während Ben dem neuen Musikladen um die Ecke einen Besuch abstattete. Der vorbeirauschende Fluss verschwand schaumkronentragend im Dunkelwerden.

»Wie war es bei der Beratungsstelle?« Elias ließ sich auf seiner Fensterbank nieder.

Die regelmäßigen Termine dort gehörten zu den Bedingungen, die sie an Majas Rückkehr in diese Stadt geknüpft hatten. Die Beratungsstelle war die Form von Unterstützung, auf die sich Majas Bande hatte einigen können. Nach den Erfahrungen mit Dr. Gräbert wollten manche von ihnen nie wieder zu einem Therapeuten. Da es aber sowieso nicht genug Trauma-Therapeuten in der Stadt gab, war die Beratungsstelle eine ideale Lösung.

»Gut, glaube ich.« Elias konnte hören, wie Maja Tabak auf einem Blättchen verteilte. »Sie scheinen sich dort ziemlich gut auszukennen. Die Beraterin hat gleich gefragt, ob wir im Plural angesprochen werden wollen.«

»Das ist gut.« Elias hielt, was ihn selbst betraf, wenig von Psychotherapie. Aber ihm war klar, dass Maja dringend professionelle Unterstützung brauchte. Dass er und die Bande es nicht ganz ohne Hilfe schaffen würden. Also konnte er nur hoffen, dass diese Beratung eine gute Richtung nehmen würde. »Was habt ihr vereinbart?«

»Wir bekommen erstmal wöchentliche Termine.« Majas Zungenspitze fuhr über das Blättchen. »Und im Notfall dürfen wir auch zwischendurch anrufen. Sie hat ein paar richtig kluge Sachen gesagt. Zum Beispiel, dass es gut wäre, wenn Lenny mehr Kontakt zu Error hätte. Weil dann jemand von uns sein Vorbild wäre statt Dr. Gräbert.«

Elias nickte. Dieser Gedanke war tatsächlich klug. Der Neunjährige hatte den Arzt angehimmelt, weil der Psychiater ihm Aufmerksamkeit und Anerkennung geschenkt hatte. Dass Dr. Gräbert gleichzeitig andere Kinder in ihrem System gefoltert hatte, hatte Lenny nicht gewusst. Es war eine gute Idee, Lenny ein alternatives Vorbild anzubieten, jemanden wie Error. Elias wusste nicht allzu viel über Error. Aber er war ein Beschützer, einer, der sich für das System einsetzte, einer, der als Rollenmodell für einen kleinen Jungen geeignet war. Außerdem war Error ein Teil des Systems, was bedeutete, dass Lenny sein Vorbild nicht verlieren würde.

»Sehr gut durchdacht«, stimmte Elias zu. »Hat sie Ideen, wie ihr das machen sollt?«

»Ein paar.« Maja öffnete ein Fenster und zündete die Zigarette an. »Bisher haben die beiden ja gar keinen Kontakt. Aber sie hat gemeint, wir könnten es über Tonaufnahmen versuchen.« Elias hörte, wie Maja den Rauch zum Himmel aufsteigen ließ. »Also, dass Error Lenny eine Botschaft aufspricht und Lenny sie abhört und darauf antworten kann. Sie meint, im Laufe der Zeit würde die Verbindung besser werden, sodass die beiden auch direkt miteinander sprechen können.«

»Die Frau scheint wirklich Ahnung zu haben.« Elias spürte, wie sich Erleichterung in ihm ausdehnte. Nach den Erfahrungen mit Dr. Gräbert, mit Dr. Albert und den Therapeuten seiner Zwillingsschwester war er nicht mehr bereit, Professionellen mit Vorschussvertrauen zu begegnen. Aber diese Beraterin schien etwas von ihrer Arbeit zu verstehen.

Maja zog an der Zigarette. »Ich hoffe es. Sag mal, Lieblingsmensch, wann sollen wir eigentlich morgen kommen?«

Elias überschlug im Kopf die Planung. »Eigentlich könnt ihr ab zwei immer kommen. Dann bin ich aus dem Kindergarten zurück. Der Rest trudelt im Laufe des Spätnachmittags ein und Mira muss ich zwischendurch vom Bahnhof abholen.«

»Bleibt Ben«, erkundigte sich Maja zögernd, »auch noch morgen Nacht?«

»Nein.« Elias lachte leise. »Ihr könnt bei mir schlafen.«

Er wusste, dass seine Gegenwart Majas Nächte ruhiger machte. Es sei denn, es waren Anteile da, die ihn nicht kannten und denen seine Anwesenheit Angst machte. Maja und er versuchten zwar, ihn auch mit den Persönlichkeiten bekannt zu machen, die weiter innen und kaum in der Außenwelt waren, aber garantieren konnten weder er noch Maja, dass alle Anteile von ihm wussten, bevor sie ihm zum ersten Mal begegneten.

»Gut.« Maja klang hörbar erleichtert, worauf Louise entnervt stöhnte. Sie hasste es, wenn Maja irgendwie schwach oder bedürftig klang.

Elias lachte wieder. »Ich freu mich auch auf euch! Und jetzt muss ich den Mädchen beim Kochen helfen!«

»Okay«, meinte Louise betont gleichmütig und zog an der Zigarette. »Dann tschüss!«

Elias schmunzelte in sein Handy und beendete das Telefonat. Er hörte Charlotte und Mirjam in der Küche mit Töpfen und Pfannen hantieren und war dankbar, dass es heute keine Krisen gab. Das Handy landete auf der Matratze unter seinem Bett, dann trat er zu seinen Mitbewohnerinnen in die Küche.

 

 

»Mirjam?« Charlottes Stimme klang leise in der Dunkelheit.

Mirjam drehte sich auf ihrer Bettseite herum und betrachtete Charlotte. Ihre Mitbewohnerin lag auf dem Rücken und sah zur Decke hinauf. Der Mond ließ ihre Gesichtszüge noch blasser und verschatteter wirken, als sie ohnehin schon waren.

»Warum hast du mich wirklich geküsst?« Das Weiß in Charlottes Augen flackerte über Mirjam.

Mirjam verschränkte einen Arm unter dem Kopf. »Ich weiß nicht. Es hat sich einfach richtig angefühlt.« Sie nagte an ihrer Unterlippe. »Ich will nicht fest mit dir zusammen sein. Ich mag dich einfach und«, sie zuckte leicht mit der Schulter, »ich mag es, dich zu berühren.«

Charlotte blinzelte in Richtung Zimmerdecke und Mirjam wartete die Wirkung ihrer Worte ab.

»Ich hab ja nicht so viel Erfahrung«, sagte Charlotte schließlich zögernd, »aber bisher hatte ich nur Freundschaften und Partnerschaften – also, eine Partnerschaft. Das wäre weder das eine noch das andere, oder?«

»Es«, antwortete Mirjam langsam, »wäre das, was wir daraus machen.«

Ihre Mitbewohnerin schwieg eine Weile. »Es gibt so viele verschiedene Formen von Beziehungen auf der Welt ...«

Mirjam lachte leise. »Ich glaube, es gibt alles, was Menschen sich vorstellen können.«

Charlotte schickte ihr ein Lächeln durch die Dunkelheit. »Wahrscheinlich.«

»Prinzessin«, Mirjam sah Charlotte eindringlich an, »ich werde nie zwischen dir und Rebecca stehen! Völlig unabhängig davon, was wir miteinander haben. Du bist meine Freundin, aber Rebecca liebt dich auf eine andere Weise! Okay?«

Charlotte rutschte etwas näher an Mirjam heran. »Okay.«

»Dann versuchen wir jetzt zu schlafen?«

Charlotte nickte. »Darf ich«, fragte sie zögernd, »mich vielleicht ein bisschen an dir festhalten?«

Mirjam hörte ihr sachtes Auflachen und schob ihre Finger zwischen Charlottes Hände. »Natürlich.«

Wenige Augenblicke später war Charlotte eingeschlafen und Mirjam lauschte ihrem leisen Atem, während sie sich fragte, warum alles immer so kompliziert sein musste. Und warum es für sie kein gesellschaftlich anerkanntes Beziehungsmuster gab, in dem sie glücklich sein konnte.

 

Mittwoch, 4.3.

 

Elias schlenderte mit Mira und Ben vom Park zurück nach Hause. Seine kleine Schwester hatte einen Strauß erster Frühlingsblumen gepflückt. Einen Teil davon hatte sie sich selbst ins Haar geflochten, mit den anderen wollte sie den Geburtstagstisch dekorieren. Jetzt tanzte

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Bildmaterialien: Coverdesign: Vivian Tan Ai Hua
Tag der Veröffentlichung: 09.02.2015
ISBN: 978-3-7368-7691-0

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