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Dienstag, 15.7.

 

Dass Rebecca den Zug verpasst hatte, wäre für Freud kein Zufall gewesen. Und wie sie vermutete, hätte er ihr auch keine Chance gelassen, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Zum Glück war Freud tot, und im Augenblick fragte auch sonst keiner nach den Umständen, die dazu geführt hatten, dass dieser Zug ohne sie den Bahnhof verließ.

»Shit«, fluchte sie leise, als sie dem Zug nachsah. 

Drei immer schemenhafter werdende Rücklichter verschwanden in der Ferne, dann wurden sie von den dunklen Gewitterwolken verschluckt. Nun würde sie erst zwei Stunden später ankommen. Wahrscheinlich, dachte sie, würde niemand außer ihr einen Aufnahmetermin in der Klinik vergessen und dann zu spät am Bahnhof erscheinen. 

Rebecca sank neben ihren Koffern und Taschen auf den Boden. Sie wusste, dass es Ärger geben würde. Weit entfernt hallte diese Erkenntnis in ihrem Kopf, dann grollte ein lauter Donner. Die Beine eng an den Körper gezogen, zu einem unbewegten Dunkel zusammengerollt, fühlte sie sich beinah wie ein Teil ihres eigenen Gepäcks. Regen stürzte auf die Gleise, und eine alte Erkenntnis leckte mit kalten Zungen an ihr. Rebecca zog die dünne Jacke enger um sich. Dieser Zug war fort, und sie saß fest. 

»Eine Stunde nur«, versuchte sie, sich zu beruhigen, »kein Drama.«

'Und dann noch mal eine Stunde auf dem nächsten Bahnhof', wisperte eine Stimme in ihr.

Das Gefühl, ausgeliefert zu sein, wühlte die Panik in ihr auf. Mit nervösen Fingern spielte sie an ihrem Lippenpiercing, den Blick hypnotisch ins Nichts gerichtet.

Die Tür fiel ins Schloss, und es war augenblicklich stockdunkel. Angst brach in Rebeccas fünfjährigem Gehirn aus und überflutete ihren Körper. Ihre Hände griffen nach der Klinke, und sie hängte sich mit ihrem ganzen Gewicht daran. Aber natürlich hatte er abgeschlossen. 

Rebecca richtete sich schwankend auf. Sie musste sich irgendwo festhalten gegen das Wegdriften der Zeit. Ihr Blick heftete sich auf die verrosteten Stützpfeiler, an denen der Regen hinabstürzte. Rebecca griff nach einer der eisernen Säulen. Das Wasser rauschte über ihre Finger und ihr Handgelenk, durchweichte ihren Ärmel und schlug hart auf dem rissigen Beton auf. 

»Da kommst du nicht raus«, hörte sie ihn sagen. »Aber vielleicht leiste ich dir später Gesellschaft ...« 

Rebecca kauerte sich in den Türrahmen. Sie hasste es, wenn er sie einsperrte. Aber noch grauenvoller war es, wenn er dazukam. 

Das harte Metall genügte nicht, um sie in der Gegenwart zu halten. Mit einem Schritt trat sie auf den offenen Bahnsteig hinaus. Kalte Regentropfen prasselten auf sie herab und durchweichten ihre Kleidung. Als sie die Nässe auf der Haut spürte, wandte sie sich wieder ihrem Gepäck zu. 

In fahles Licht getaucht hieß der überdachte Teil der Gleise sie willkommen. Auf anderen Bahnsteigen standen regenverschwommene Gestalten wie Ausblicke auf eine unstete Wirklichkeit.

Rebecca wühlte zitternd nach Zigaretten und Feuerzeug in ihren Taschen. Sie musste Andrea eine Nachricht schicken, damit sie sich keine Sorgen machte. Rebecca ließ hastig das Feuerzeug aufschnappen und zündete eine Kippe an. Nur eine Verspätung, sie würde sich am Abend melden. Und für die anderen Uni-Leute musste sie sich noch etwas ausdenken.

Als der Zug einlief, drückte Rebecca die Zigarette in der Ellenbeuge aus und stieg ein. 

 

 

 

Charlotte warf einen letzten unruhigen Blick in den Raum. Wieder tasteten ihre Augen die Einzelheiten ihres Zimmers ab. Sie verabschiedete sich für so lange Zeit von diesem Ort wie noch nie.

Da war der Schreibtisch, das weiß lackierte Holz unter dem Fenster. Jenseits des Glases bewegten sich tiefgrün beblätterte Zweige wie all die Jahre zuvor, und für einen Augenblick erlag Charlotte dem Trugschluss, alles wäre wie immer.

Eine Katze miaute, und Charlotte lauschte der nachfolgenden Stille, als könnte sie die Zeit anhalten. Dann flohen ihre Augen weiter. 

Die Fotos an der Wand, rechteckige Beweise ihres Lebens. Das Bett mit den Stofftieren, unerfüllte Versprechen aus beinah zwei Jahrzehnten. Das Regal – zwischen den verstaubten Büchern klafften Lücken, Statthalter ihres Fortgehens. Ihre Finger umschlossen den Gurt der Tasche fester.

»Lotte!«

Es war die Stimme ihrer Mutter, die das Treppenhaus hinaufschallte. Charlotte schlang die Arme um den Brustkorb. Zwei Monate lang hatte sie auf diesen Tag gewartet. Immer wieder hatte er sich in ihr Bewusstsein geschlichen, begleitet von einem Beigeschmack von Bedrohung. Nun, da er gekommen war, brach die Angst aus und überschwemmte jeden einzelnen ihrer Gedanken.

Ihr Blick streifte den verstaubten Spiegel über der Kommode, und die Unruhe sah ihr aus großen, blaugrünen Augen entgegen. Wieder hörte sie die seltsam zwischen den Wänden zweier Stockwerke widerhallende Stimme ihrer Mutter.

»Lotte, wir müssen fahren!«

Charlotte konnte sie in Gedanken vor sich sehen, am Treppenabsatz stehend, den Autoschlüssel in der Hand und um den Anschein von Gelassenheit bemüht. Noch einmal hastete Charlottes Blick wie suchend durch den Raum, dann drehte sie sich abrupt um und schloss die Zimmertür hinter sich. 

 

 

Das Auto wälzte sich schwerfällig im dichten Verkehr voran. Charlottes Mutter war hinter dem Steuer unvermittelt in Schweigen verfallen, und immer dunkler werdende Wolken jagten über den Himmel. Charlottes Magen krampfte sich zusammen. 

Die Belanglosigkeiten, von denen ihre Mutter gesprochen hatte und die ihr das Gefühl von Alltäglichkeit gegeben hatten, lösten sich auf und gaben den Abgrund frei. 

Unmerklich krallten sich Charlottes Hände in die Beckenknochen. Die Jeans warf Falten, die sich weich ihrem Griff anpassten. Ihre Handballen schmiegten sich tief in die vertrauten Höhlen. 

Denn sonst war da nichts, was sie der Angst entgegensetzen konnte. 

»Wir sind gleich da«, verkündete ihre Mutter plötzlich. »Hör zu, Charlotte: Wenn jemand fragt, wo du bist, werden wir sagen, dass du ein Praktikum machst. Das hier geht niemanden etwas an.«

Charlotte spürte, dass sie nickte, während sich in ihrem Kopf angstgetriebene Leere ausbreitete. 

»Abgesehen davon kann ich noch immer nicht glauben, dass das so lange dauern soll«, fuhr ihre Mutter fort. »Zwei bis drei Monate sind doch wirklich überflüssig.«

Charlotte lauschte dem nachdrücklichen Klang der Stimme. Wirkungsvoll übertönte er das Aufkommen von Fragen in ihr, die sich nun wieder im nie Gewesenen verloren.

Die Mutter schüttelte den Kopf. »Wenn du jede Woche zwei Kilo zunimmst, bist du zur Goldenen Hochzeit deiner Großeltern wieder draußen. Du musst dich nur ein bisschen anstrengen.« Ein Lächeln streifte Charlotte. »Schließlich wollen wir dich alle zur Feier wieder zu Hause haben.«

Charlotte lächelte zaghaft zurück. Seit Monaten schon sprachen die Großeltern von nichts anderem als der Goldenen Hochzeit. Sogar ihr Abitur war vor diesem ausstehenden Ereignis unbedeutend geworden. Keine drei Wochen war die Zeugnisverleihung her, und doch kam es Charlotte so vor, als hätte sie nie stattgefunden. Ihre Mutter konzentrierte sich wieder auf den Verkehr. Eben hatten sie das Ortsschild passiert. Charlotte war übel.

'Sie muss zu dieser Feier wieder hier sein', hatte ihr Vater gesagt. Die Stimme hatte heftig geklungen, ohne jeden Raum für Widerspruch. Sie war hinausgeschwappt auf den Flur, zu seiner barfüßigen Tochter, die sich ein Glas Wasser hatte holen wollen, spät am gestrigen Abend.

'Wie sollen wir das denn sonst erklären?' Darauf hatte eine angespannte Stille gefolgt. Ein Glas war abgestellt worden, ein Weinglas vermutlich. Danach hatte die Stimme ihres Vaters ruhiger geklungen. 'Warum sollte sie das auch nicht schaffen? Sie hat noch alles geschafft, was sie sich vorgenommen hat. Das wäre ja lächerlich.',

Charlotte starrte auf ihre knochigen Knie herab, die unter ihrem Blick zu einer bizarren, fleischigen Masse anschwollen.

»Wir sind da«, riss sie die Stimme ihrer Mutter in die Gegenwart. Mit einem Ruck kam der Wagen in der Parklücke zum Stehen.

 

 

Fahles Neonlicht erhellte den kargen Raucherraum des Gebäudes. Weiße Fliesen und verzogene Plastikmöbel am Ende des Eingangsflurs. Ein Provisorium, vielleicht auch eine Methode. Rebecca blies gedankenverloren einen Strom bläulichen Rauches der Decke entgegen. Wieder so ein Ort, dachte sie. Was hier keinen Sinn hatte, bekam einen, spätestens, wenn man danach fragte.

»Sie sind spät!« Die Schwester durchbohrte Rebecca mit strengem Blick. »Eigentlich endet unsere Aufnahmezeit um vier.«

»Der Zug hatte Verspätung.« Auf einmal kippte Zorn durch ihre Verunsicherung, unvermittelt und heftig. Sie hatte es satt, gestraft zu werden. Nicht sie hatte diesen Ort gewählt. 

»Ich werde Ihnen jetzt Ihr Zimmer zeigen, dann macht die Nachtschwester eine Kurzaufnahme.« Der weiße Kittel rauschte Rebecca voran, den langen Flur entlang. »Morgen nehmen wir Sie dann richtig auf.«

Es war gespenstisch still dafür, dass es erst acht war. Der Teppichboden verschluckte sogar den Hall. Die Stimme der Schwester eilte ihren Schritten voran, ungerichtet in die Leere der Gänge. »Wir haben auf Sie gewartet. Aber jetzt sind die Ärzte und Therapeuten natürlich längst im Feierabend.«

Der Klang der Stimme machte deutlich, dass auch sie gerne schon zu Hause wäre. Rebecca hatte das Gefühl, weiter und weiter zurückzufallen. Vor ihr kramte die Schwester nach einem Schlüsselbund und verlangsamte ihren Schritt. Dann kam sie vor einer der zahllosen Türen zum Stehen. »Das ist Ihr Zimmer, Nummer 127, im ersten Stock.«

Rebecca hatte sich mangels freier Stühle auf einer Fensterbank niedergelassen und die Beine ausgestreckt. Große, moderne Klinikfenster, vor denen die Schwärze der Nacht wie eine Wand stand. Sie wippte mit den Fußgelenken, ihre Stiefel schlugen gegen das Mauerwerk. Die Scheibe an ihrer Schläfe war angenehm kühl. Sie war eine ganze Weile durch die Klinik gezogen, bis sie den Raum endlich gefunden hatte. Hoffentlich fand sie später ihr Zimmer wieder. 

Im Raum verteilt saßen allein und in kleinen Grüppchen andere Patientinnen und Patienten – Männer und Frauen unterschiedlichen Alters, zwei Jungen hinten in der Ecke, kaum älter als achtzehn, und einige junge Frauen am Tisch vor ihr. Sie waren nur unwesentlich älter oder jünger als sie selbst, 'twenty-somethings', wie Andrea irgendwann mal gesagt hatte.

Hin und wieder drängte sich ein Satz aus den Unterhaltungen in Rebeccas Bewusstsein, ein Auflachen, ein Wort. Überraschend klar, aber völlig beziehungslos hallte es dann in ihrer Erinnerung wider und ließ sie zunehmend verwirrt zurück. Rebecca versuchte, sich zusammenzureißen und sich für oder gegen das Zuhören zu entscheiden. Die Fensterscheibe spiegelte sie alle konturenhaft zurück. Plötzlich erklang eine Stimme direkt neben ihr. Rebecca zuckte zusammen und fuhr herum.

»Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken«, sagte das Mädchen, das nun vor ihr stand. Sommersprossen, rote Haare und große, grüne Augen. Viel zu traurig für Pippi Langstrumpf.

»Ich wollte bloß fragen, ob du einen Kaffee willst.« Das Mädchen hielt ihr einen dampfenden Pappbecher entgegen.

»Ja, danke.« Rebecca lächelte zaghaft und nahm den Becher vorsichtig in beide Hände. Die Wärme tat gut, auch wenn das Gebräu nicht halb so gut roch wie der Kaffee aus der WG-Espressomaschine.

»Du bist die Neue, oder?« Die grünen Augen musterten Rebecca mit leisem Interesse.

Rebecca erwiderte den Blick. »Ja, wahrscheinlich«, sagte sie dann. »Ich bin vorhin erst gekommen.«

Die Rothaarige nickte. »Du bist auf der 2, richtig?«

Rebecca erinnerte sich vage an eine Stationsordnung, die die Schwester ihr gegeben hatte.

»Ja«, sagte sie nachdenklich. »Steht jedenfalls auf dem Zettel.«

»Dann bist du bei uns«, lächelte das Mädchen. »Ich bin Maja.«

»Rebecca.« Rebecca verlor sich einen Augenblick zwischen den Sommersprossen, dann sah sie wieder in ihren Kaffee.

»Ich bin deine Patin«, erklärte Maja. »Hier bekommen neue Patienten immer einen Paten, der ihnen den Einstieg erleichtern soll. Morgen zeige ich dir erst mal alles.«

»Okay.« Rebecca nickte. Patensysteme waren ihr bekannt, es hatte in den meisten Kliniken welche gegeben. 

»Ich würde dich auch heute schon rumführen, aber die meisten Räume sind jetzt abgeschlossen.« Maja zog eine Grimasse. »Ist hier so.«

»Ich weiß.« Rebecca spürte, wie über ihr Gesicht der Anflug eines Lächelns huschte.

Die Schließzeiten waren selten großzügig. Sie dachte an all die Paten, die sie gehabt hatte, und all die Patenschaften, die sie übernommen hatte. In raschen Bildern zogen die Räume an Rebecca vorbei, die es an Orten wie diesem gab. Gruppenräume, Therapieräume, Speiseräume, Physiotherapieräume – immer neue, immer andere, immer gleiche Räume, versetzt zu einem großen, bizarren Patchworkbild.

»Morgen dann also«, sagte Maja. »Coole Piercings übrigens.« Sie grinste.

Rebecca spürte, wie auch ihre Mundwinkel unwillkürlich zuckten. Dann wandte sich die andere um und winkte den Übrigen im Raum kurz zu.

»Schlaft gut!«, rief sie, und die Gute-Nacht-Wünsche der anderen Patienten spülten Maja aus dem Zimmer.

Rebecca lehnte den Kopf wieder gegen die Fensterscheibe, der Stiefel klopfte einen unregelmäßigen Rhythmus. Schließlich setzte sie sich mit einem Ruck auf und trank den heißen, bitteren Kaffee in langen Zügen. Dankbar registrierte sie, wie er ihre Zunge und Kehle verbrannte. Unüberprüfbar, das war gut. Schließlich war sie jetzt wieder drinnen. Mit einem Sprung von der Fensterbank lief sie hinaus auf die stillen Flure der Klinik. Sie musste noch Druck abbauen. 

 

Mittwoch, 16.7.

 

»Kann jemand für Frau Ewers die Gruppenregeln wiederholen?«

Die hochgewachsene Frau mit der dunkelroten Brille hatte sich Charlotte als Frau Mahler und ihre Bezugstherapeutin vorgestellt. Nun schaute sie fragend in die Runde.

Auch Charlotte musterte die anderen verstohlen. Sie saßen im Halbkreis auf unbequemen Stühlen. Einige hatten sich Kissen mitgebracht, und Charlotte begriff, warum, denn ihre eigenen Knochen bohrten sich schmerzhaft in das Hartplastik. Die Sonne schien durch die Dachfenster und malte helle Flecken auf den Teppich. Gleißend weiß leuchtete das Flipchart hinter der Therapeutin. Acht Patientinnen und Patienten hatte Charlotte gezählt, aber niemand beantwortete die Frage.

»Herr Jasper?«, wendete sich Frau Mahler an den größeren der beiden Jungen.

»Was in der Gruppe besprochen wird, bleibt in der Gruppe«, murmelte der.

Lukas hieß er, erinnerte sich Charlotte. Im 'Blitzlicht', der kurzen Runde zu Beginn, hatten sie alle sagen sollen, wie sie hießen und wie es ihnen ging. Charlotte hatte sich an den Namen festgeklammert und sie sich immer wieder ins Gedächtnis gerufen. Der andere Junge hieß Tom.

»Frau Diestler?«, forderte die Therapeutin ein Mädchen auf, weitere Regeln zu nennen. 

Es war ungewohnt, dass die Psychologin alle mit Nachnamen ansprach. Wenn sich Frau Mahler an sie wendete, hatte Charlotte immer den Eindruck, ihre Mutter und nicht sie wäre gemeint. 

»Niemand darf die Gruppe ohne Begründung verlassen«, antwortete das Mädchen tonlos.

Bine, wiederholte Charlotte in Gedanken. Sie war, wie die meisten, nur wenig älter als sie. Die Station 1, erinnerte sie sich, bestand aber aus zwei Gruppen. 

»Das sind beides wichtige Punkte«, betonte Frau Mahler. »Die Schweigepflicht innerhalb der Gruppe. Und die Regel, dass niemand unbegründet gehen darf.« Die Therapeutin wandte sich zwar Charlotte zu, sprach aber mit einer Eindringlichkeit, die sich offenbar an alle richtete. »Wenn jemand glaubt, dass er es in der Gruppe nicht mehr aushält«, führte die Psychologin aus, »dann muss er das der Gruppe mitteilen und den Grund dafür nennen, bevor er geht.«

Charlotte senkte den Blick und spürte dankbar, wie sich die Therapeutin von ihr abwandte.

»Die Gruppe«, fuhr Frau Mahler fort, »soll nicht dadurch verunsichert werden, dass jemand einfach verschwindet. Außerdem müssen wir Therapeuten wissen, was bei dem Einzelnen gerade passiert. Weitere Regeln?«

»Nicht bewerten«, sagte Charlottes Sitznachbarin.

Wie sie hieß, hatte Charlotte vergessen, aber sie war außerordentlich untergewichtig. Charlottes Blick wanderte unwillkürlich von dem blassen Gesicht hinab bis zu den dünnen Beinen, dann riss sie sich los. Sie selbst hasste es, so angesehen zu werden. 

»Genau«, stimmte Frau Mahler zu. »Gedanken und Gefühle, die hier geäußert werden, werden nicht bewertet. Wir können in der Gruppe darüber sprechen, aber niemand soll Angst davor haben müssen, sich der Gruppe zu öffnen.«

Die Psychologin ließ ihren Blick ein letztes Mal über die Gruppe schweifen, dann sah sie wieder Charlotte an. Ihr Lächeln kam unerwartet und verstörte Charlotte aus irgendeinem Grund.

»Das sind die wichtigsten Regeln«, schloss die Frau mit der roten Brille ab. »Wir haben ein Gruppenblatt, auf dem auch die anderen Regeln stehen. Das bekommen Sie später von mir, wenn wir unser Einzel haben. Meistens«, ergänzte sie dann, »haben die Patienten zuerst einen Einzelkontakt, aber heute mussten wir den Stundenplan etwas verschieben, weil eine Kollegin krank geworden ist. Deshalb verläuft Ihr erster Tag ein bisschen anders als üblich.«

Charlotte sah ihre Therapeutin kurz an und nickte leicht. Irgendwas fehlte an Frau Mahlers Lächeln. Wärme, überlegte Charlotte, oder auch nur Sicherheit. Die Psychologin schien ein wenig zu bemüht, Bestimmtheit auszustrahlen.

Charlotte blickte wieder zu Boden, die Arme fest um den Leib geschlungen. Sie spürte die Rippen unter den Fingern, hart und fest versprachen sie Halt. 

»Die anderen können sich das Blatt übrigens auch noch einmal anschauen.« Frau Mahler löste die Augen von ihrer neuen Patientin und sah wieder in die Runde. »Es wäre schön, wenn Ihnen beim nächsten Mal auch die anderen Regeln einfallen!« Die Psychologin schlug ein Blatt auf dem Flipchart um. »Also dann, fangen wir an. Wer hat ein Thema für heute?«

 

 

Gleich würde es schon wieder Essen geben. Charlotte stand verloren am Rand der Terrasse, die große Tür im Rücken, und konnte an nichts anderes denken.

Einzelne Patientinnen und Patienten saßen auf Gartenstühlen, die sich um Tische herum gruppierten. Auf den Liegen, die sich über die angrenzenden Rasenflächen verteilten, verdunstete das Regenwasser der vergangenen Nacht. Charlotte fühlte sich noch immer übervoll vom Frühstück. Sie hatte ein ganzes Brötchen gegessen. Mit Honig. Und Butter. Sie wusste nicht mehr, wann sie überhaupt das letzte Mal Butter verwendet hatte. Hier hatte sie keine Wahl. Ihr wurde schlecht bei dem Gedanken an das Mittagessen in einer halben Stunde. 

»Hey, Charlotte!«

Sie drehte sich zu der Stimme um und erkannte Bine aus ihrer Gruppe. Sie saß mit zwei anderen Patientinnen an einem der Terrassentische. Charlotte kannte keine von beiden.

»Willst du dich zu uns setzen?« Bine zog einen leeren Stuhl zurück.

»Danke.« Über Charlottes Gesicht flog ein unsicheres Lächeln, als sie sich niederließ.

Ihr Blick irrte von ihrer Tischgruppe zu den anderen. Es war nett von Bine gewesen, sie zu sich zu rufen, und doch fragte sich Charlotte mit wachsender Verzweiflung, wie sie nur hierher gekommen war. Wie hatte es so weit kommen können? Die ganze Situation kam ihr unwirklich vor. 

»Das ist Julie«, sagte Bine und deutete auf das weißblond gelockte Mädchen, das Charlotte gegenübersaß und fast vollständig in einer der Klinikdecken aus undefinierbarem Beigebraun verschwand.

Das Mädchen sah unendlich jung aus, fast wie ein Kind. 'Mindestalter für die Aufnahme: 16 Jahre' hatte im Klinikprospekt gestanden. Julie wirkte noch jünger.

»Und das ist Maja.« Bine nickte der anderen zu.

»Hey.« Maja grinste Charlotte an und fuhr dann fort, langsam auf ihrem Stuhl hin- und herschaukelnd, Zigaretten zu drehen. Drei lagen schon fertig vor ihr auf dem Tisch.

Maja war älter als die anderen, Mitte zwanzig vermutlich. 

»Hallo«, antwortete Charlotte so leise, dass sie es selbst kaum hörte.

Irgendwo zwischen draußen und drinnen war ihre Stimme verloren gegangen. Vielleicht, überlegte sie, weil sich diese Welt anfühlte wie ein Albtraum, an den sie ausgeliefert war.

»Julie ist bei uns auf der Station«, berichtete Bine. »Sie war heute nur ausnahmsweise nicht in der Gruppe.«

»Frau Dr. Haselmann wollte mit mir sprechen«, erklärte Julie ihre Gruppenabwesenheit schüchtern.

Charlotte nickte stumm. 

»Und ich bin auf der 2«, teilte Maja mit, während ihre Zunge über das Zigarettenpapier fuhr. »Die 1 und die 2 gehören zusammen, weil sie beide Dr. Albert als leitenden Arzt haben. Aber Therapien macht er nur bei uns.«

»Okay«, murmelte Charlotte.

Sie betrachtete Maja und fragte sich, was die 2 für eine Station war. Aber sie war sich unschlüssig, ob sie sich danach erkundigen durfte. Im Grunde konnte sie Maja dann auch direkt fragen, warum sie in der Klinik war. Und sie wusste nicht, ob an diesem Ort bereitwilliger über psychische Erkrankungen geredet wurde als draußen.

»Frau Mahler hat mich vorhin gebeten, dir alles zu zeigen«, unterbrach Bine Charlottes Gedanken. »Eigentlich ist Nadine deine Patin, aber die hat seit heute Bett.«

»Bett?« Charlotte runzelte fragend die Stirn.

Sie hatte bereits festgestellt, dass diese Welt voller unbekannter Chiffren und neuer Regeln war. Charlotte fand es beunruhigend, sie nicht zu kennen. Aber die Vorstellung, sich in der Klinik zurechtzufinden, weil sie hierher gehörte, war noch viel beunruhigender. 

»Das bedeutet, dass sie ihr Bett nicht verlassen darf«, erklärte Julies leise Stimme.

Für einen Moment rutschte die Decke von Julies Schultern und gab den Blick auf ein Stück baumwollumspielten, mageren Körper frei, dann zog das so jung wirkende Mädchen die Decke wieder hoch. 

»Klinik, Station, Zimmer, Bett«, sagte Maja, während sie Tabak auf einem neuen Blättchen verteilte und ihren Stuhl weit nach hinten kippte. »Das ist die Abfolge.«

Bine schlug die Beine übereinander. »Wenn du deinen Gewichtsvertrag nicht einhältst, bekommst du Konsequenzen«, erläuterte sie Charlotte. »Bei der ersten darfst du die Klinik nicht verlassen, bei der zweiten die Station, bei der dritten das Zimmer und bei der vierten das Bett. Außer zum Essen natürlich.« Sie zog eine Grimasse. »Und für die Therapie.«

Charlotte spürte einen kalten Klumpen Angst im Magen. »Und dann?«

»Dann gibt's ein Krisengespräch«, fuhr Bine fort, »in dem deine Motivation geklärt wird.«

»Und eine Heimfahrkarte, wenn du den Vertrag weiter nicht einhältst«, vervollständigte Maja die Information. 

Charlotte sah Maja an. Das, erkannte sie, war der Weg nach draußen. Aber nicht ihrer. Er würde sie nur in dieselbe Situation zurückbringen, aus der sie gekommen war: in die Praxis ihres Arztes, der sie umgehend wieder einweisen würde. Charlotte schluckte, dann beschloss sie, dass es vorläufig besser war, wenn sie die Regeln und Chiffren kannte. 

»Was«, erkundigte sie sich zögernd, »steht in so einem Gewichtsvertrag?«

»Du musst mindestens 700 Gramm pro Woche zunehmen, wenn du untergewichtig bist«, erklärte Julie. Ihre blauen Augen wanderten über Charlotte, aber bevor sie etwas präzisieren konnte, kam Maja ihr zuvor.

»Du also in jedem Fall«, meinte die rothaarige Station-2-Patientin. 

Julie schickte Charlotte ein schüchternes Lächeln. »Bis du dein Zielgewicht erreicht hast.«

»Und was ist das Zielgewicht?« Charlotte konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme leicht zitterte. 

»Zunächst einmal ein BMI von 18«, schaltete sich Bine ein und sah Charlotte aufmunternd an. »Aber noch hattest du kein Einzel. Also hast du auch noch keinen Gewichtsvertrag.« Bine schwang in ihrem Stuhl nach vorne. »Was ich eigentlich fragen wollte: Soll ich dir nach dem Essen alles zeigen?«

»Ja, warum nicht«, murmelte Charlotte, während ihre Gedanken durchzudrehen begannen. 

Ein BMI von 18, Gewichtsverträge, Konsequenzen, 700 Gramm pro Woche zunehmen – sie hätte davon nicht überrascht sein müssen, das wusste sie.

Wenn sie gewollt hätte, hätte sie recherchieren können, auf der Website der Klinik oder bei den Erfahrungsberichten ehemaliger Patientinnen. Aber Charlotte hatte viel zu viel Angst davor gehabt. Sie hatte den bevorstehenden Aufenthalt zwar nie vergessen, aber dennoch versucht, ihn zu ignorieren. Das einzige, was die ausstehende Behandlung bisher bewirkt hatte, war, dass sie noch mehr abgenommen hatte. Prophylaktisch sozusagen, auch wenn Charlotte nicht mit Bestimmtheit sagen konnte, was daran ‚sicherheitshalber‘ war. Und nun sollte sie zunehmen. Von jetzt auf gleich. Und das auch noch in so grotesk großen Schritten. 

»Wir müssen los.« Julie sah auf die Uhr und stand auf. »Mittagessen.«

Auch die beiden anderen erhoben sich, Maja verabschiedete sie mit einem Winken und zog ein Buch aus der Tasche.

»Sie kann essen, wann sie will«, erklärte Bine mit einem neidvollen Seufzer. »Irgendwann während der Essenszeiten. Aber wie dir die Schwestern bestimmt schon gesagt haben: Wir haben feste Termine und müssen alle zusammen gehen.«

Charlotte nickte und blinzelte die Tränen weg. Der Angstklumpen war in ihren Hals aufgestiegen, versperrte den Weg für Nahrung und ließ sich nicht herunterschlucken. 

 

 

»Frau Williams?« Dr. Albert sah seine neue Patientin durchdringend an. »Frau Williams, können Sie mich hören?« Er stand auf und ging um seinen Schreibtisch herum. »Frau Williams!«

Rebecca zuckte zusammen und starrte verwirrt in ein Paar graue Augen. Die Falten auf der Stirn des Therapeuten glätteten sich. Um die Augen herum deuteten neue Runzeln ein Lächeln an.

»Ah, Sie sind wieder da!« Dr. Albert zog sich einen Schritt zurück und ließ sich auf der Kante seines Stuhles nieder. »Ich wollte Sie eben etwas fragen ... aber das verschieben wir besser auf ein anderes Mal. Geschieht das öfter?«

»Was?« Rebecca sah den Mann mit dem forschenden Blick ausdruckslos an. 

»Dass Sie ... abtauchen. Sie waren eben ein paar Minuten lang nicht ansprechbar.«

»Kann sein.« Rebecca schaute im Zimmer umher.

Abtauchen. Sie war sich sicher: Die Gewässer, in denen sie tauchte, wollte er gar nicht sehen.

An den Wänden hingen Fotografien, große, schwarzweiße Küstenaufnahmen. Das dunkle Meer schien den Strand zu verschlingen. 

»Haben Sie die gemacht?«, fragte Rebecca und deutete in Richtung der Bilder. 

»Ja«, antwortete der Therapeut. »Ein Hobby von mir.«

Rebecca nickte. Sie war gegen ihren Willen beeindruckt. Noch viel widerwilliger nahm sie die leise Regung von Sympathie in sich wahr. Mit steinerner Miene drängte sie sie zurück. Dr. Albert beobachtete sie. Wie Rebecca sie hasste. All die selbstverliebten Besserwisser und Besserkönner, selbst ernannte Helden auf der anderen Seite des Schreibtischs.

»Ich weiß nicht«, sagte Dr. Albert mit einem Zögern, »ob die psychodynamische Gruppentherapie das Richtige für Sie ist. Dafür möchte ich Sie noch genauer kennenlernen.« Er lächelte erneut. »Bis dahin haben Sie nur die stabilisierenden und strukturierenden Gruppen mit den anderen gemeinsam: die Kreativtherapie, die Imaginationsübungen und die Skill-Gruppe.« Dr. Albert sah in seine Unterlagen, dann ergänzte er: »Und die Info-Gruppe Trauma halte ich ebenfalls für sinnvoll.«

Rebecca nickte wieder. Die Worte rauschten an ihr vorbei und hinterließen ein Tosen in ihren Ohren. Ihr Blick zuckte durchs Zimmer. 

»Erzählen Sie mir, warum Sie hier sind!« Dr. Albert lehnte sich im Stuhl zurück und schlug die Beine übereinander.

»Das steht doch in Ihren Unterlagen.« Abweisend deutete Rebecca auf den Stapel Papier, der im Augenblick ihre Akte bildete. 

»Das ist nur ein Arztbericht.« Dr. Albert machte eine wegwerfende Geste mit der Hand. »Der Bericht Ihrer letzten Klinik.«

»Ja«, Rebecca verschränkte die Arme vor der Brust, »und steht da nicht alles drin?«

»Einiges«, gab der Arzt zu, »aber nicht alles.«

Er sah sie weiter an. Rebecca starrte zurück. Dann stieß sie ihren Stuhl abrupt zurück und schob die Ärmel ihres Shirts hoch. Auf den Armen, die sie dem Arzt entgegenhielt, zogen sich tiefe, frisch vernarbte Schnitte rot leuchtend über ein Geflecht älterer Verletzungen aus unregelmäßigen Linien in blassrot, zartrosa und weiß. 

»Die neuesten Schnitte sind die, wegen denen man Sie in die Psychiatrie eingeliefert hat?« Dr. Albert betrachtete die Verletzungen eingehend.

»Ja.« Mit Angriff und Abwehr im Blick fixierte Rebecca den Arzt. Dann schob sie die Ärmel wieder herunter. 

»Sie sehen nicht so aus, als hätten Sie sich umbringen wollen.« Dr. Albert sagte es ganz ruhig. 

Misstrauisch sah Rebecca ihn an, eine steile Falte auf der Stirn. »Sie glauben mir, dass ich mich nicht umbringen wollte?«

»Ja.« Der Psychiater lehnte sich wieder zurück. »Die Verletzungen sehen nicht danach aus. Etwas außer Kontrolle geraten, ja, aber nicht in suizidaler Absicht.« Er sah Rebecca an. »Sie sind klug. Sie hätten es besser gemacht. Und außerdem glaube ich, das ist nicht Ihr Stil.«

Rebecca betrachtete den Arzt immer noch prüfend. »Richtig«, sagte sie langsam. Fast unwillkürlich ergänzte sie: »Ich wollte mal von der Brücke springen, aber die Polizei hat mich abgefangen.«

»Schon eher«, nickte Dr. Albert. »Aber bei dem Schneiden geht es um etwas anderes.«

»Stimmt.« Rebecca lehnte sich langsam zurück. »In der Psychiatrie haben sie mir das nicht geglaubt. Nicht bei den Schnitten.«

»Nun«, Dr. Albert legte die Finger ineinander, »ich glaube Ihnen. Aber das ist noch keine Antwort auf meine Frage. Wegen der Verletzungen sind Sie in die Psychiatrie gekommen. Aber warum sind Sie hier?«

Rebecca zog die Brauen hoch. »Vermutlich, weil sie mich in der Psychiatrie loswerden wollten. Die sind überfüllt. Und Entlassen ohne Anschlussbehandlung war ihnen dann wohl doch zu heikel – ich war nur zwei Tage draußen.«

Eine Weile blieb es still im Raum. Dann nahm Dr. Albert seinen Kalender zur Hand.

»Ich möchte Sie am Freitag noch einmal sehen, vor dem Wochenende.« Er notierte ihr den Termin auf einem Zettel. Dann zog er einen Stundenplan aus der Ablage und fuhr mit einem Textmarker darüber. »Die Therapien, an denen Sie teilnehmen«, erklärte er, »streiche ich Ihnen an.«

Eine Zeit lang war nur der Filzschreiber auf dem Papier zu hören, dann schob der Arzt beide Blätter über den Tisch.

»Außerdem«, Dr. Albert notierte einen weiteren Termin auf einem dritten Blatt Papier, »ist morgen eine diagnostische Eingangsuntersuchung, an der Sie teilnehmen müssen.«

Er warf ihr ein schiefes Lächeln zu. »Man kann über den therapeutischen Nutzen dieser Tests unterschiedlicher Ansicht sein, aber wir brauchen sie für die Statistik.«

»Okay.« Rebecca steckte den Terminzettel in die Hosentasche und faltete den Stundenplan zusammen.

Dr. Albert erhob sich. »Wir sehen uns dann am Freitag.« Er streckte ihr die Hand hin. 

Rebecca nahm sie automatisch und nickte, den leeren Blick auf den Boden geheftet. 

»Alles Gute bis dahin«, wünschte der Arzt. 

»Ja.« Rebecca hob kurz den Blick und wandte sich dann wieder ab. »Bis dann.«

Die schwere Tür schloss sich mit einem sanften Sauggeräusch hinter ihr, und Rebecca stand wieder auf einem der endlosen Gänge. 

 

 

Charlotte lief zitternd in ihrem Zimmer auf und ab um die unausgepackten Koffer herum. Wie von selbst flüsterte ihre Stimme ein Mantra der Selbstberuhigung:

»Ich muss hier raus, ich muss hier raus, ich muss hier raus.«

Die Worte gingen ineinander über, formten in unendlicher Wiederholung eine nicht enden wollende Beschwörung. 

Nur wie? Wie kam sie hier raus? Charlottes Knie gaben nach, und sie sank auf die Bettkante. Die einzige, die ihr einfiel, war ihre Mutter. Sie musste kommen und ihre Tochter wieder abholen. 

Aber es gab die Kontaktsperre. 

'Patienten und Patientinnen mit Essstörungen dürfen in den ersten 3 Wochen der Behandlung keinen Kontakt zu Personen außerhalb der Klinik haben.' 

Charlotte erinnerte sich daran, wie aufgeregt ihre Mutter angesichts der Regelung gewesen war. 

Sie hatte die Ärztin angerufen und gefragt, wofür das gut sein sollte. Die Aufnahmeunterlagen in der Hand hatte sie betont, dass sie Charlotte doch unterstützen wollten. Und wissen wollten, ob sie Fortschritte machte, hatte ihr Vater ergänzt. Doch die Ärztin hatte auf die Einhaltung der Regel bestanden.

'Wenn Sie nicht bereit sind, sich an die Kontaktsperre zu halten, können wir Ihre Tochter leider nicht bei uns aufnehmen', hatte sie gesagt.

Und Charlottes Eltern hatten nachgegeben, widerstrebend, aber sie hatten nachgegeben.

Vor der Aufnahme hatte Charlotte nicht genau gewusst, was sie dazu dachte, doch nun war sie hier, gefangen in einem System aus Regeln, aus Druck und Machtausübung.

Es war kein Wunder, dass es diese Kontaktsperre gab.

Die Klinik wollte verhindern, dass man von außen gerettet wurde. Charlotte sprang wieder auf die Beine und taumelte durchs Zimmer. Es gibt diese Regel, dachte sie, damit sie einen unter die anderen Regeln zwingen können, damit niemand kommt und einen rausholt. Ein Beben lief durch Charlottes Körper und entlud sich in einem panischen Schluchzen. Sie konnte das nicht aushalten. Sie würde sterben, wenn sie hierbleiben musste. Sie würde sterben, wenn sie essen musste. Konnte das denn niemand verstehen?

»Sie haben starkes Untergewicht, Frau Ewers.« Frau Mahler hielt ein weißes Blatt mit Notizen in der Hand. »Ihr Gewicht liegt bei 40,8 Kilo. Bei Ihrer Körpergröße macht das einen Body Maß Index von 14,8.«

Die Psychologin zeigte auf die Rechnung. Kilogramm durch Meter im Quadrat. Als wenn Charlotte das nicht wüsste. Ungezählte Stunden hatte sie mit Zahlen experimentiert und neue Ziele festgelegt, geringere Zahlen. Frau Mahler legte das Blatt weg und blickte Charlotte an.

»In Ihrem Alter ist ein BMI zwischen 18 und 25 normal. Das bedeutet, dass Sie mindestens 50 Kilo wiegen sollten.«

Natürlich war Charlotte auch diese Zahl bekannt. Aber an diesem Ort war es etwas anderes. Die Klinik machte aus dieser absurd hohen Zahl ein Ziel. Charlottes Magen krampfte, und ihre Hände begannen zu zittern. Das war unmöglich! Sie konnte keine zehn Kilo zunehmen, auf keinen Fall. Sie würde sich auflösen, sie würde sterben, wenn sie das tat!

Mit kalten Händen klammerte sie sich an ihre Beckenknochen. Warum konnte das niemand verstehen?

 

Donnerstag, 17.7.

 

»Alles okay bei dir?«, wollte Fritzi wissen und beugte sich von ihrer Bank zu Rebecca herab. 

Die lag im Gras, den Kopf auf ihren Rucksack gebettet. Nach der Skill-Gruppe hatte sie das Klinikgelände zusammen mit Majas Freundin verlassen. Sie waren ein paar Meter den baumgesäumten Feldweg entlanggegangen und hatten sich dann bei der Bank niedergelassen. In den angrenzenden Wiesen summte und brummte es. Der Insektenalltag war unbelastet von Realitäten wie drinnen und draußen.

»Ja, alles okay.« Rebecca zog tief an der Zigarette. Aus ihrer Cargo-Seitentasche ragten die ersten Zeilen des eben gelesenen und achtlos zusammengefalteten Info-Blatts zur morgendlichen Therapie hervor:

'Im Skill- oder Fertigkeiten-Training sollen Sie lernen, Spannungen auf nicht selbstschädigende Weise zu reduzieren. Sie sollen lernen, mit Stress und Emotionen positiv umzugehen. Auch Achtsamkeit und zwischenmenschliche Fähigkeiten, wie beispielsweise die Wahrnehmung eigener Bedürfnisse und Grenzen, werden im Skill-Training eingeübt.'

»Die ersten Tage hier können ganz schön übel sein«, meinte Fritzi gedankenverloren. »Wenn man noch keinen kennt und alles neu ist. Aber hier lernt man schneller Leute kennen als draußen.« Sie schnippte Asche ins Gras. 

»Und die bringen einem oft mehr bei als die ganzen Therapien.« Maja tauchte hinter den Bäumen auf. »Hey ihr, darf ich mich zu euch setzen?«

»Klar.« Fritzi rückte zur Seite, und Maja ließ sich auf die Bank fallen. 

»Auf der 1 wird es gerade kritisch«, berichtete Maja, während sie eine ihrer auf Vorrat gedrehten Zigaretten herauskramte. 

»Warum?« Fritzi schnippte mit ihrem Feuerzeug.

»Weil Nadine jetzt Bett hat. Es wird immer enger für sie.«

»Die will ja auch nicht.« Fritzi klang genervt. »Zunehmen jedenfalls nicht. Ein paar von denen checken einfach nicht, dass sie nicht gesund werden können, wenn sie nicht essen.«

»Vielleicht«, räumte Maja ein. »Aber es ist die Aufgabe der Therapeuten, ihnen klar zu machen, dass Verhungern und Heilung nicht zusammenpassen. Und ich bin mir nicht sicher, ob die ganzen Konsequenzen da geeignete Überzeugungsarbeit leisten.«

Fritzi schwieg eine Weile. »Irgendwann wird es auch echt schwer, da wieder rauszukommen«, überlegte sie dann laut. »Nadine hat jetzt vier Mal keine 700 Gramm zugenommen. Das sind vier Wochen, die sie unter der Grenze geblieben ist. Wie soll sie jetzt in einer Woche die letzten vier rausreißen?«

»Ist das so?« Rebecca setzte sich auf und drehte sich zu den anderen beiden um. »Sie muss nächste Woche 2800 Gramm zugenommen haben, um wieder ganz rauszukommen?«

»Wenn es keine Ausnahmeregelung gibt, ja.« Maja schnippte Asche in die Felder hinter sich. »Wenn sie nur die 700 Gramm der aktuellen Woche schafft, rutscht sie eine Konsequenz weiter rauf, also von Bett zu Zimmer. Aber jetzt muss sie erst mal aufpassen, dass sie nicht rausfliegt.«

»Das ist ganz schön hart.« Rebecca zog die Knie an und legte den Kopf darauf. »Vor allem, weil es ja weitergeht, wenn sie aus allen Konsequenzen raus ist. Dann kommen sofort die nächsten 700 Gramm.«

»Hattest du auch schon mal einen Gewichtsvertrag?«, fragte Fritzi. 

»Ja, früher.« Rebeccas Blick verlor sich in der Sommerwiese vor ihnen.

»Wenn du noch weiter abnimmst, legen wir dir am Montag eine Magensonde!« Der Arzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie sah Rebecca streng an. »Und ich kann dir versichern: Sowas ist nicht angenehm. Also, sieh zu, dass du dein Gewicht bis zum Ende der Woche hältst. Dann machen wir Montag einen Gewichtsvertrag für die nächsten Wochen. Wir werden dich nicht entlassen, bevor du nicht mindestens 40 Kilo wiegst. Haben wir uns verstanden?«

»Arschloch«, murmelte Rebecca. 

»Was?« Maja sah Rebecca verwirrt an. 

»Schon gut. Ich habe nur an jemanden gedacht.« Rebecca wischte sich eine feine, schwarze Locke aus den Augen. 

»Ich könnte bei einer Menge Leute 'Arschloch' sagen, wenn ich an sie denke.« Fritzi drückte ihre Zigarette auf der Bank aus und ließ sie in eine leere Colaflasche fallen. »Bei meinem Stiefvater, meiner letzten Klassenlehrerin, meinem Chef ...«

»Geht mir genauso.« Rebecca sprang auf die Füße. »Wann haben wir Krea?«

Maja checkte ihr Handy. »In einer Viertelstunde.«

»Ich geh dann mal meinen Skizzenblock holen.« Rebecca warf sich den Rucksack über die Schultern. 

»Ich muss auch noch mal aufs Zimmer.« Maja rappelte sich auf und sah Fritzi fragend an.

»Okay«, seufzte die, »dann spar ich mir die Kippe eben für nachher auf.« Mit einem wehmütigen Blick steckte sie die Zigarette zurück in die Schachtel. »Also gut, gehen wir.«

 

 

Charlotte stand an ihrem Fenster und sah in Richtung Waldrand. Doch sie nahm weder die Bäume noch den Feldsaum wirklich wahr. Auch in der letzten Nacht hatte sie größtenteils wachgelegen und war nur gelegentlich in albtraumdurchsetzten Schlaf gefallen. 

Seit der Nacht vor ihrer Aufnahme war das nun so, und Charlotte wusste nicht, ob es die Klinikrealität war, die ihre Nächte noch schlimmer machte, oder ob es umgekehrt war. Während der morgendlichen Gruppe hatte sie jedenfalls das Gefühl gehabt, gleich nach dem Aufwachen in einen anderen Albtraum gewechselt zu sein.

Die Gruppe hatte über Leistungsdruck gesprochen, glaubte Charlotte sich zu erinnern. Über Ansprüche, die andere an einen stellten, aber ihr war noch übel vom Frühstück gewesen. Und die Furcht vor allem Bevorstehenden hatte dazu geführt, dass sie nicht viel mitbekommen hatte. 

Charlottes Blick wanderte zu den geöffneten Gepäckstücken.

Bisher hatte sie herausgezerrt, was sie brauchte, es dann aber wieder eingepackt. In ihren angstvollen Gedanken gab es keinen Plan, und doch wollte sie aufbruchbereit sein. Charlotte schlang die Arme fest um den Oberkörper und spürte die haltgebenden Rippen zwischen ihren Fingern. 

Alles galt hier als therapeutisch. Die Begegnungen auf den Fluren, die Nächte innerhalb des Gebäudes und sogar das Essen. Als würde es ihr besser gehen, wenn sie zunahm. Als könnte ausgerechnet die Klinik sie vor Albträumen schützen. Dann piepte ihr Handywecker: Frau Mahler erwartete sie zum Einzel. 

 

 

»Sie sind neu?« Herr Jacobs wandte sich Rebecca mit fröhlichem Gesichtsausdruck zu.

Um sie herum waren ihre Mitpatienten damit beschäftigt, ihre Blätter und Malutensilien herbeizuholen. Der Auftrag war, das Projekt der letzten Woche fertigzustellen, und Rebecca stand unschlüssig neben ihrem Tisch.

»Was möchten Sie machen? Haben Sie eine Idee?« Das Lächeln funkelte in den Augen des Therapeuten. Durch die runden Brillengläser schien es wie tausendfach vervielfältigt.

Rebecca musste fast zurücklächeln. Sie zuckte mit der Schulter und schüttelte den Kopf.

»Hatten Sie heute schon Imagination?«, fragte der Kreativtherapeut. 

»Nein.« Rebecca sah ihn prüfend an. »Aber ich kenne das. Aus anderen Kliniken.«

»Gut.« Seine Augen blitzten sie weiter freundlich an.

Sie konnte in ihnen keinen Schimmer jener Resignation entdecken, die sie schon so oft gesehen hatte: 'Unheilbar. Ein hoffnungsloser Fall.' 

»Kennen Sie den 'Sicheren Ort'?«, fragte er. 

Rebecca zögerte. »Ja«, sagte sie dann. Aber ich habe keinen, fügte sie in Gedanken hinzu. 

»Möchten Sie versuchen, Ihren sicheren Ort zu malen?«

»Ich weiß nicht, ob ich das kann.« Sie wandte den Blick ab. Es war zu gefährlich, sich in Freundlichkeit zu verirren. 

»Versuchen Sie es einfach!« Das Interesse des Therapeuten ruhte unbeirrt auf ihr. »Sie können sich erst mal umsehen und schauen, was Sie dafür brauchen.« 

»In Ordnung.« Sie musste wegkommen von diesem Blick, raus aus dieser übermütigen Wärme, bevor sie ihr noch glaubte.

Abrupt drehte sie sich um und strich langsam mit den Fingern am Regal entlang. Ölkreide, Pastellkreide, Buntstifte, Aquarell, Acryl, Wasserfarben ... hier gab es alles. Weißes Papier in allen Größen, buntes Papier, Seidenpapier, Transparentpapier ... Kleber, Scheren, Spitzer. Scheren und Spitzer – sie würde es sich merken. Beim Aufnahmegespräch hatte man ihr alle scharfen Gegenstände abgenommen, sogar die Nagelschere. 

Der sichere Ort. Ihr sicherer Ort. Ein Ort, an dem sie sicher war. Rebecca unterdrückte ein bitteres Lachen. So einen Ort gab es nicht. Vermutlich wussten das auch die Psychologen. Sonst hätten sie wohl kaum eine Imagination erfunden, in der es um den sicheren Ort ging. Wenn es diesen Ort tatsächlich gäbe, müsste Rebecca ihn nicht phantasieren. Sie würde einfach hingehen. Und wäre in Sicherheit.

Rebecca stützte den Kopf in die Hände und starrte auf das weiße Blatt vor ihr. Sie wollte an keinen geschlossenen Ort. Wäre sie an einem abgeschlossenen Ort, bekäme sie nicht mehr mit, was um sie herum passierte. Und dann wäre sie hilflos ausgeliefert. Wenn jemand kam. Und es kam immer jemand. Dann wäre sie gefangen, an ihrem eigenen Ort. 

Rebecca drückte ihren Daumen fest in die Spitze des Bleistifts. Keine Mauer, keine Wand und kein Versprechen konnte ihr Sicherheit bieten. Die Bleistiftspitze brach.

'Es gibt keinen sicheren Ort', sagte eine eisige Stimme in Rebecca, 'nicht in dieser Welt und nicht in deiner Vorstellung. Es gibt ihn nicht'.

Rebecca steckte den Stift in den Spitzer und begann, ihn langsam zu drehen. Sie musste etwas anderes malen. Zerbrechliche Sicherheit. 

 

 

Charlotte starrte auf ihren Teller. Vollkornbrot mit Käse. Und Butter. Ab und zu sah sie eine Träne auf dem Porzellan aufschlagen. Sie kämpfte mit ihnen wie mit dem Brot auf ihrem Teller. Zusammen versuchte sie, beides herunterzuwürgen, und scheiterte doch. Es war zu viel. Zu viel Brot. Zu viele Tränen. Sie zog ein durchweichtes Taschentuch hervor und putzte sich die Nase.

»Kann ich etwas für dich tun?« Ein mitfühlender Blick von der anderen Seite des Tisches richtete sich auf sie. Die kleine Julie saß ihr gegenüber.

Charlotte schüttelte den Kopf und unterdrückte ein Aufschluchzen. 

»Das ging mir am Anfang auch so«, berichtete Julie tröstend. »Es wird besser, glaub mir.«

Charlotte hatte keine Stimme für eine Antwort. Sie kämpfte gegen die Schluchzer und gegen die Übelkeit. Ihr Nicken ging in ein Kopfschütteln über.

Wie sollte es je besser werden, wenn man sie zwang zu essen? Der Nahrungsbrei, salzig durch die Tränen, quoll in ihrem Mund, das Brot dehnte sich auf ihrem Teller ins Unendliche. Wieder einmal führte sie Krieg. Gegen das Essen, gegen die Trauer, gegen sich selbst  – und gegen ihren Willen. Und ab heute führte sie den Kampf mit den Fesseln eines Gewichtsvertrages.

 

 

Maja schnappte sich eine Cocktailtomate von Rebeccas Teller und warf sie sich in den Mund. 

»Hey, was soll das?«, protestierte Rebecca. »Ich hab voll lange nach den Dingern im Salat gefischt!«

»Sorry, ich hol dir eine Neue!«

Noch bevor Rebecca etwas sagen konnte, war Maja bereits aufgesprungen und flitzte zum Buffet. Rebecca beugte sich wieder über ihren Salat, doch wenig später war Maja zurück und präsentierte ihr mit einer Verbeugung eine einzelne Tomate auf einem großen Teller. 

»Du bist verrückt.« Rebecca musste grinsen. 

»Klar.« Maja ließ sich gut gelaunt auf ihrem Stuhl nieder. »Wäre ich sonst hier?«

»Dir geht es heute Abend aber gut«, hörte Rebecca eine fremde Stimme munter sagen.

Als sie aufgeschreckt herumfuhr, sah sie eine ältere Frau, die an ihrem Tisch aufgetaucht war.

»Ja«, strahlte Maja. »Ich hab gelesen, es soll nicht gut sein, wenn man dauernd depressiv ist. Also hab ich mir gedacht, ich mache mal eine Ausnahme!«

Die Frau lachte und hängte ihre Handtasche über den freien dritten Stuhl.

»Darf ich vorstellen?«, fragte Maja. »Sophie, das ist Rebecca, Rebecca, das ist Sophie. Ihr habt euch bisher immer verpasst.«

»Hallo«, nuschelte Rebecca und versuchte, ein Salatblatt herunterzuschlucken.

Seit das Abendessen begonnen hatte, versuchte sie, sich gegen die sie umgebenden Eindrücke abzuschirmen, aber sie spürte, dass es ihr immer weniger gelang. Die Geräusche und Gesprächsfetzen des übervollen Speisesaals schienen sich zu einer Wand aus Lärm aufzubauen. Und Majas nervöse Überdrehtheit wirkte darin wie ein Wirbel, der all die Eindrücke in eine chaotische Bewegung versetzte.

»Freut mich, dich kennenzulernen«, sagte die andere Tischnachbarin lächelnd. 

Sophies Blick war fast ebenso strahlend wie der von Maja, und Rebecca registrierte mit diffusem Erstaunen, wie jugendlich Sophie dadurch aussah, trotz all der Runzeln in ihrem Gesicht. 

»Und, was hast du heute gemacht?«, erkundigte sich Maja bei der neuen Tischnachbarin, während sie auf ihrem Stuhl herumwibbelte.

»Ich hatte heute nur Krankengymnastik, gleich nach dem Frühstück. Und dann bin ich für den Rest des Tages ausgeflogen.« Sophie schraubte den Deckel der Mineralwasserflasche ab und goss sich ein Glas sein. »Es war schön, mal rauszukommen.«

»Ja, denn langsam musst du dich daran gewöhnen«, erklärte Maja mit gespieltem Ernst. »Immerhin wirst du bald entlassen. Nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn du nicht mehr wüsstest, was man draußen so macht.«

»Nein, ich glaube, die Gefahr besteht nicht.« Sophie rührte in ihrem Wasser, um die Kohlensäure zu vertreiben.

Rebeccas Blick hing an dem kreisenden Löffel, der die Umgebungsreize noch mehr zu beschleunigen schien.

»Das ist meine erste Reha in 68 Jahren«, meinte Sophie gelassen. »Da hatte ich genug Zeit zu lernen, was Alltag ist. So«, sie stand auf, »und jetzt werde ich mir etwas zu essen holen.«

»Tu das«, ermutigte sie Maja. »Ich mach mich jetzt auf, Fritzi und ich haben ein Date.« Sie zwinkerte ihren Tischgenossinnen zu und war mit einer wirbelnden Bewegung verschwunden. 

Sophie seufzte. »Sie ist ein liebes Ding, diese Maja«, sagte sie wie zu sich selbst. »Aber immer himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt, immer Extreme.« Sie lächelte Rebecca offen an. »Aber wir sind ja alle nicht ohne Grund hier, nicht wahr?« Dann verschwand Sophie mit einem freundlichen Nicken in Richtung Buffet.

Rebecca stand ebenfalls auf. Sie musste dem machtvollen Chaos aus Geräuschen und Bildern entkommen. Rebecca unterdrückte den Impuls, sich die Hände auf die Ohren zu drücken und die Augen zuzukneifen. Stattdessen trug sie ihr Gedeck zu dem bereitstehenden Geschirrwagen und steuerte dann rasch auf den Ausgang zu. Direkt daneben standen die Station-1-Tische. Die Essstörungspatienten mussten noch sitzen bleiben. Eine Stunde lang, hatte Maja berichtet. Ein Schütteln fuhr durch Rebeccas Körper. Gut, dass sie dieses Mal wenigstens von dem Thema verschont blieb. 

 

 

»Ja?« Die Schwester steckte den Kopf durch die Tür, und Julie wich einen Schritt zurück.

»Ich habe Ihnen jemanden gebracht, die Neue, Charlotte.« Julie sprach beinah flüsternd. »Es geht ihr nicht gut.«

Die Sätze zogen an Charlotte vorbei, und erst in ihrem Nachhall begriff sie, dass Julie von ihr gesprochen hatte. Im Anschluss an das Blitzlicht, das das Abendessen beendet und bei dem Charlotte kein Wort hervorgebracht hatte, war sie von Julie zum Schwesternzimmer begleitet worden. 

'Keine Diskussionen', hatte Bine eingewendet, als Charlotte nicht hatte gehen wollen. 

Zusammengesunken auf einem der Stühle vor dem Schwesternzimmer spürte sie nun nichts außer einer großen Leere. 

»Frau Ewers?« Der Blick der Schwester bohrte sich über Julie hinweg in Charlotte. »Kommen Sie herein!«

Die barsche Stimme der Schwester ließ die Aufforderung wie einen Befehl klingen. Begleitet von einem ausufernden Gefühl der Sinnlosigkeit erhob sich Charlotte und trat ins Schwesternzimmer. 

»Setzen Sie sich!« Die Schwester deutete auf einen Stuhl.

Charlotte erinnerte sich daran, dass ihr dort der Blutdruck gemessen worden war. Die Untersuchung lag ungefähr 36 Stunden zurück. Sie hatte das Gefühl, schon jetzt viel zu lange in dieser unwirklichen Welt zu sein. Charlotte rutschte auf die harte Sitzfläche, ohne zu wissen, was sie hier sollte. Es gab nichts zu sagen, denn hier drinnen konnte ihr niemand helfen.

Die Schwester hatte einen Hocker herangezogen und sich vor ihr niedergelassen. »Ich bin Schwester Doris«, stellte sie sich vor. »Möchten Sie mir sagen, was los ist?«

Charlotte schüttelte den Kopf, dann zuckte sie mit den Schultern. »Ich weiß nicht«, sagte sie leise. Sie alle waren Teil dieser Welt. Niemand würde sie verstehen.

Einen Moment lang betrachtete Schwester Doris sie schweigend, dann fragte sie: »Sind Sie das erste Mal in einer Klinik, Frau Ewers?«

»Ja.« Charlotte blickte erschreckt auf.

Allein der Gedanke daran, mehr als ein Mal an einem Ort wie diesem zu sein, war furchterregend. Sie sollte auch jetzt nicht hier sein. In dieser Klinik wollten sie ihr alles nehmen, was sie noch hatte, ihre Selbstbestimmung, ihren Halt ...

»Am Anfang ist es immer schwer.« Schwester Doris bemühte sich, Freundlichkeit und Geduld in ihre raue Stimme fließen zu lassen. »Sie müssen erst mal alles kennenlernen, das therapeutische Team, Ihre Mitpatientinnen und -patienten, die Räume ...«

Charlotte schluckte. Auch wenn die anderen noch so sympathisch waren, sie wollte die

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Bildmaterialien: Covergestaltung: Vivian Tan Ai Hua
Tag der Veröffentlichung: 14.06.2013
ISBN: 978-3-7309-3239-1

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