Cover

Prolog

Eine frische Brise wirbelte feinen Sand und verdorrte Gräser durch die Luft und sie atmete tief ein. Nicht mehr lange und sie konnte den Versuch wagen. Sie ging hinter den Paletten in Deckung, um ihre Waffen zu prüfen und fluchte. Wenn es hart auf hart kam, würde die Munition nicht reichen. Sie musste sparsam damit umgehen. Sie spähte zum Eingang des Bunkers. Im orangenen Licht der untergehenden Sonne sah sie zwei Männer in weißen Schutzanzügen und Atemmasken über den Platz gehen. Sie trugen eine silberfarbene Box mit dem schwarz-gelben Warnzeichen für Biogefährdung. Wieder eine Ladung mit virusverseuchtem Fleisch, das in die Verbrennungsanlage in die große Halle gebracht wurde. Das war ihre Chance, wenn sie zurückkamen, musste sie sie überwältigen. Sie lehnte sich an das raue Holz und schloss die Augen. Haltet durch, ich hol euch da raus!

Sie hörte, wie die Türen der Halle zugeschlagen wurden und machte sich bereit. Die beiden erreichten den Eingang, einer der Männer schob eine Zugangskarte in das Terminal und gab den Code ein. Jetzt! Sie verließ den Schutz der Paletten und schlich sich von hinten an. Diese Idioten, wie konnte man nur so leichtsinnig sein. Sie erreichte die beiden, als sie den Aufzug betreten hatten, der sich direkt hinter der Tür befand. Dann ging alles sehr schnell. Mit dem linken Arm umschlang sie den einen Mann und hielt ihm die P8 unter das Kinn, während sie den anderen mit einem sauberen Stich ihres Messers in den Kehlkopf erledigte. Sie drehte die Klinge um 90 Grad in der Wunde, gurgelnde Geräusche entwichen seiner Kehle und Blut spritzte ihr in kleinen, pulsierenden Fontänen entgegen und besudelte ihre Kleidung. Hinter ihr schloss sich die Stahltür automatisch.

„Schön brav sein“, zischte sie, als sie dem Mann die Waffe an den Kopf hielt. „Du und ich, wir haben heute noch viel vor.“

 

***

 

Einige Monate zuvor

 

18. September, 11:03 Uhr

Obdachloser greift Passanten an

Horror-Attacke in Belgien: In der belgischen Kleinstadt Lier bei Antwerpen wurde heute ein Obdachloser von der Polizei erschossen, nachdem dieser einen Passanten tätlich angegriffen hatte.

Laut den Aussagen einer Zeugin hatte der offenbar angetrunkene oder unter Drogen stehende Angreifer sich in das Gesicht des Opfers verbissen und begonnen, es zu verspeisen. Die verständigte Polizei traf nur wenige Minuten später am Tatort ein. Nachdem der Obdachlose nicht auf die Aufforderungen der Beamten reagierte, feuerte einer von ihnen einen Schuss auf die Beine ab. Da dies nicht zu einer Reaktion führte, gaben die Polizisten weitere Schüsse ab, einer davon traf den Angreifer in den Kopf. Er starb sofort, das Opfer wurde mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus gebracht. Große Teile des Gesichtes wurden stark in Mitleidenschaft gezogen, der junge Mann liegt derzeit im künstlichen Koma. Wann die Ermittler ihn vernehmen können, ist noch ungewiss, ebenso, was den Angreifer zu seiner Tat verleitet hatte. Die Kripo geht bis dato von einer durch Kokain ausgelösten Psychose aus. Genaueres soll eine Obduktion ergeben.

 

20. September, 18:39 Uhr

Blutiger Zwischenfall in belgischem Krankenhaus

Lier, Belgien: In Belgien kam es heute zu einem blutigen Zwischenfall in einem Krankenhaus. Ein aus dem Koma erwachter Patient soll eine Pflegerin angefallen und sie, unter anderem durch Bisswunden, schwer verletzt haben. Der Täter floh, nach den Vermutungen des Klinikpersonals, über das Treppenhaus. Die Krankenschwester liegt auf der Intensivstation, es ist nicht sicher, ob sie die Nacht überleben wird. Gerüchten zufolge soll der Täter nur zwei Tage zuvor selbst Opfer eines tätlichen Angriffs geworden sein, dazu wollte die hiesige Kriminalpolizei jedoch keine Angaben machen.

 

22. September, 07:15 Uhr

Tödliche Krawalle in Belgien

Belgien: In mehreren Städten kam es zu schweren Ausschreitungen. Der Grund, warum die Menschen auf die Straßen gehen, ist bis dato nicht bekannt. Augenzeugen zufolge bekämpfen sich die Menschen mit bloßen Händen. Ganze Straßenzüge und Stadtteile sind im Ausnahmezustand. Die Polizei versucht vor Ort gegen die Unruhen vorzugehen, allerdings kommt sie kaum gegen die Menschenmassen an. Wir halten Sie auf dem Laufenden.

 

23. September, 06:49 Uhr

Krawalle breiten sich aus

Die Krawalle, von denen gestern nur Belgien betroffen war, breiten sich auf die Nachbarstaaten aus und haben  auch Deutschland erreicht. Bisher ist von mehreren Tausend Todesopfern die Rede. Die Polizei hat das Militär um Unterstützung gebeten, Erfolge sind allerdings nicht zu verzeichnen. Mittlerweile geht man nicht mehr von politischen Beweggründen aus. Unser Reporter berichtet von Menschen, die wie im Wahn auf andere losgehen. Gerüchte wurden laut, dass es sich hierbei um eine Art hochansteckende virale Erkrankung handelt, welche die Hirnhaut und den Hirnstamm angreift und dadurch starke Psychosen auslöst. Dies wurde allerdings noch von keiner offiziellen Seite bestätigt. Religiöse Gruppen und Verschwörungstheoretiker reden von einem möglichen Weltuntergang. Die Regierung warnt jedoch vor unnötiger Panikmache und rät den Menschen in ihren Häusern zu bleiben, bis die Unruhen eingedämmt sind.

 

23. September, 14:12 Uhr

Kommt jetzt die Zombieapokalypse?

Berlin: Seit mehreren Stunden hält sich das hartnäckige Gerücht, die Infizierten seien nicht mehr am Leben, sondern würden als Untote durch die Straßen ziehen. Unser Reporter,  sowie mehrere Augenzeugen, berichten von Verletzungen, die eigentlich tödlich sein müssten, zumindest aber die Betroffenen für eine Weile außer Gefecht setzen sollten. Allerdings würden diese sich daran nicht stören und gehen in geschlossenen Gruppen auf die Bevölkerung los. Im Internet kursieren Videos, die Gestalten zeigen, die teilweise ihre Innereien hinter sich herziehen. Ob es sich hierbei möglicherweise um Fälschungen handelt, ist nicht bekannt. Von offizieller Seite werden diese Gerüchte als lächerlich und unhaltbar eingestuft. Des Weiteren bereiten sich die Menschen in den noch nicht betroffenen Gegenden mit Hamsterkäufen auf die Seuche vor und legen sich Wasservorräte an. Das Strom- und Wassernetz ist landesweit überlastet. Plünderungen und Übergriffe stehen an der Tagesordnung. Mittlerweile wurde der Katastrophenschutz eingeschaltet. Die Regierung warnt ausdrücklich davor, das Haus zu verlassen und Verwandte aufzusuchen. Im Bundestag wird derzeit über eine mögliche Evakuierung der Städte diskutiert.

 

Aufbruch ins Ungewisse

Einige Monate zuvor

25. September bis 27. September

 

„Jenny! Jennifer!“

„Was ist denn?“ Jenny warf das Geschirrtuch auf die Arbeitsplatte der etwas herunter gekommenen Küche und betrat das Wohnzimmer, woher die Rufe ihres Bruders Chris kamen, bei dem sie seit knapp zwei Jahren wohnte. „Gibt‘s was Neues?“

„Da, schau dir das an!“ Er nickte in Richtung des Fernsehers – die Nachrichten liefen. Sie schaute auf die Uhr über der Küchentür. Kurz vor Neun, die Abendnachrichten waren längst vorbei. Wieder eine Sondersendung.

„Es wird jetzt evakuiert“, meinte er und winkelte die Beine an, um ihr Platz zu machen.

Sie ließ sich neben ihn auf das Sofa fallen.

„Es werden im Laufe der Woche Busse geschickt, die die Menschen zu provisorisch errichteten und gut bewachten Notunterkünften bringen sollen“, sagte die Nachrichtensprecherin gerade. „Diese werden zumeist in Kleinstädten errichtet. Teilweise kann es infolgedessen zu vorübergehenden Enteignungen von Häusern und Grundstücken kommen. In den Städten wird es nicht mehr lange sicher sein, die Rote Zone breitet sich weiter mit erschreckender Geschwindigkeit aus, etliche Großstädte im Norden wurden bereits überrannt. Seit den Mittagsstunden verbreitet sich die Seuche akut. Die Evakuierung beginnt in den Städten, da dort aufgrund der enormen Bevölkerungsdichte eine potenziell höhere Infektionsgefahr besteht,“ Jenny und Chris tauschten einen unruhigen Blick, „anschließend wird sie auf die umliegenden Gemeinden erweitert. Bitte packen Sie nur das Nötigste ein. Aus Platzgründen sind pro Person maximal zehn Kilo Gepäck gestattet, das entspricht etwa einer kleinen Reisetasche oder einem großen Rucksack. Sie werden in den Unterkünften mit allem Nötigen versorgt, nehmen Sie daher nur Ihre persönlichen Dokumente und ein paar Kleidungsstücke mit. Die genauen Termine der Räumung werden voraussichtlich morgen im Teletext und im Internet auf den Seiten Ihrer Gemeinde veröffentlicht. Die Sammelpunkte für die Busse werden durch Schilder markiert. Der Katastrophenschutz bittet ausdrücklich davon abzusehen, mit dem eigenen Wagen die Städte zu verlassen. Das würde zu Staus führen, welche die Evakuierung erheblich behindern würden. Weitere Tipps, die Sie unbedingt beachten sollten, finden Sie auf unserer hier eingeblendeten Homepage. Dort können Sie ebenfalls einen offiziellen Prospekt des Katastrophenschutzes einsehen. Weiterhin wurde eine bundesweite Notfallhotline eingerichtet, die ab sofort für Sie geöffnet ist. Über die aktuellen Entwicklungen halten wir Sie natürlich weiterhin auf dem Laufenden. Das war Sarah Lehmann mit einer Sondersendung. Wir melden uns heute regulär um 22:00 Uhr wieder, bis dahin bleiben Sie bitte in ihren Wohnungen und Häusern und warten Sie auf weitere Informationen. Guten Abend.“

Chris schnaubte. „Das wird niemals funktionieren.“

„Die wissen schon, was sie tun.“

Pff“, machte er.  „Niemals wird das glatt gehen! Hier hat es noch nie eine so groß angelegte Evakuierung gegeben. Ich sage dir, es wird alles aus dem Ruder laufen. Es wird Massenpaniken geben und die Leute werden sich gegenseitig tot treten, wenn erst einmal akute Gefahr besteht und sie realisiert haben, dass es hier um ihr Leben geht.“

„Du bist zu dramatisch, Chris.“

„Du scheinst es auch noch nicht kapiert zu haben.“ Er kratzte sich am Hintern und trat ihr dabei in die Seite. Sie verzog das Gesicht.

„Es geht hier nicht um ein Hochwasser, bei dem man auf das Dach klettern kann oder um einen Tornado, der schnell wieder vorbei ist. Wir reden hier von Ausmaßen, die die Welt noch nie gesehen hat. Wenn es auch nur annähernd so ist, wie in Filmen, wird die Welt innerhalb von Tagen vor die Hunde gehen. Es wird keine Regierung mehr geben. Und keine Soldaten, die uns den Rücken frei halten.“

„Du zockst zu viel“, sagte Jenny müde. „Wir sind hier weder in einem deiner PC-Spiele, noch im Film. Das wird hier alles anders ablaufen.“

„Trotzdem.“

„Mann, bist du heute wieder schlagfertig“, gab sie genervt zurück.

Er warf ihr einen vernichtenden Blick zu.

„Ich finde es einfach nicht gut, mich in einen Bus zu setzen, mit nicht mehr als einer Unterhose im Gepäck, und darauf zu hoffen, dass andere alles für mich regeln.“

Das war typisch für Chris. Alles in Frage stellen und sich bei allen Erfahrungen und Überlegungen auf irgendwelche Filme und Spiele beziehen. Jenny hob resignierend die Schultern.

„Sie werden uns keine Wahl lassen. Ich bin sicher, dass sie bestimmte Maßnahmen einleiten, damit nicht jeder Dödel unkontrolliert durch die Gegend fährt und den Verkehr behindert“, sagte sie ohne jede Emotion.

Jenny legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Inzwischen hatte sie beinahe andauernd Kopfschmerzen. Seitdem vor knapp zwei Tagen in den Nachrichten von Untoten und Zombies die Rede gewesen war, konnte sie kaum noch schlafen. Wie die meisten anderen waren sie aufgebrochen, um Lebensmittel einzukaufen, doch sie hatten nur noch wenig bekommen. Die Regale sahen schon Minuten nach Öffnung des Ladens aus, als wären sie seit Wochen nicht mehr mit Nachschub versorgt worden. Sie atmete tief durch. Zwei Tage. Es verbreitete umso schneller, je mehr Infizierte es gab. Und das nicht nur in Europa, sondern auf der ganzen Welt.

Hierzulande wurde gleich von Anfang an der Katastrophenschutz eingeschaltet, der mit dem Militär zusammen arbeitete, um an vorderster Front das Problem zu bekämpfen. Jedoch mit nur mäßigem Erfolg. Nicht nur, dass die Soldaten von der Situation überfordert waren, viele desertierten und versuchten zu ihren Familien zu gelangen. Jenny konnte es ihnen nicht verübeln. Sie musste oft an ihre Eltern denken. Seit fast zwei Jahren hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen und jetzt, als Chris und sie versucht hatten, sie zu erreichen, waren die Leitungen blockiert. Der Gedanke versetzte ihrem Herz einen schmerzhaften Stich und sie schluckte schwer. Sie hoffte, dass sie, wenn sie erst einmal im Flüchtlingslager angekommen waren, dort in einer Vermisstenkartei nach ihnen suchen konnten.

Als bekannt wurde, dass die Untoten zum Abschuss freigegeben waren, gelangte sie zur festen Überzeugung, dass die Welt am Ende war, auch wenn sie es vor Chris nicht zugeben wollte. Ein Schuss in den Kopf. Wäre das nicht absolut paradox, hätte sie wahrscheinlich darüber gelacht. Ja, es wurde in den Nachrichten tatsächlich erzählt, dass man diesen Menschen, was sie zweifellos einmal gewesen waren, das Gehirn zerstören musste, um sie unschädlich zu machen.  

„Und, was machen wir jetzt?“

Jenny blinzelte verwirrt und versuchte den Faden wieder aufzunehmen. „Was?“

„Die Evakuierung. Was machen wir jetzt?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich würde sagen, wir packen unsere Sachen und warten, bis sie die Termine herausgeben. Dann werden wir weitersehen.“

Er nickte.

„Gut“, meinte er. „Wir haben eigentlich auch keine andere Wahl. Die einzige Alternative wäre, hier zu bleiben.“

Jenny schnaubte.

„Also, ich möchte nicht unbedingt auf mich allein gestellt sein, wenn die Dinger erst einmal hier sind. Und hier sind wir sowieso nicht sicher. Wir wohnen im dritten Stock in einem Plattenbau mitten in der Stadt. Es gibt keinen Ort, der ungünstiger ist.“

„Ich weiß ja, dass unsere Möglichkeiten sehr begrenzt sind. Trotzdem sollten wir immer im Hinterkopf behalten: Wo viele Menschen sind, ist die Infektionsgefahr höher. Das haben sie so ähnlich sogar im Fernsehen gesagt. Und das Militär ist jetzt schon komplett überfordert.“

Chris stand auf und faltete die Hände über seinen fast kahl geschorenen Schädel. Sein Shirt spannte sich um seinen durchtrainierten Oberkörper, während er im Zimmer umher tigerte.

„Ich bin jedenfalls froh, wenn wir die ganze Scheiße überstanden haben“, meinte er leise.

Eine Weile sagten sie nichts. Jenny lauschte dem Lärm draußen auf der Straße, der zu ihnen herauf schallte. Viele Leute dachten nicht daran, die Ratschläge im Fernsehen zu befolgen, und zogen auf eigene Faust los, bevor es zu spät war. Vielleicht hätten sie das besser auch tun sollen. Vielleicht sollten sie es noch tun. Seit zwei Tagen wurde es im Haus immer ruhiger. Etliche Leute waren schon aufgebrochen, um zu irgendwelchen Verwandten auf dem Land zu fahren. Eigentlich keine schlechte Idee – wenn man denn Verwandte auf dem Land hatte. Sie musste an ihre Arbeit denken, die sie schon seit zwei Tagen nicht mehr besuchte. Ihre Stelle als Verkäuferin im Einkaufszentrum hatte sie nicht mehr besucht, seit die ersten seltsamen Nachrichten im Fernsehen kamen. Mit der Behauptung sich eine schlimme Erkältung eingefangen zu haben, hatte sie sich krank gemeldet. Sie hatte zu Hause bei ihrem Bruder sein wollen, wenn es schlimmer wurde. Was ihr zuerst noch übertrieben vorgekommen war, hatte sich im Nachhinein als weise Voraussicht entpuppt und sie war froh so gehandelt zu haben. Sie fragte sich, ob sie jemals wieder dort arbeiten würde.

Als es klopfte, schreckte sie hoch und hielt instinktiv den Atem an. Sie war ganz in ihren Gedanken versunken gewesen und sofort in Alarmbereitschaft. Ihr Nervenkostüm war schon deutlich in Mitleidenschaft gezogen.

„Leute, ich bin es!“, hallte es durch die Tür. „Macht mal auf!“

Jenny atmete erleichtert aus. „Das ist Steve“, sagte sie.

„Habt ihr es auch gehört?“, fragte er ohne Umschweife, als sie die Tür öffnete. Ihr Nachbar schob sich an ihr vorbei und setzte sich auf den einzigen Sessel in dem kleinen, vollgestellten Wohnzimmer.

„Die Evakuierung?“, fragte Chris. „Ja, wir haben gerade darüber gesprochen.“

„Ich habe schon gestern meine Sachen gepackt, ich bin bereit.“

„Hast du schon was von deiner Freundin gehört?“, fragte Jenny. „Bier?“

„Ja, ein Pils, bitte!“, rief er ihr hinterher, als sie in die Küche ging. „Von Melissa habe ich noch nichts gehört. Das Netz ist total überlastet. Vor ein paar Stunden ist eine SMS durchgekommen, das war es aber auch schon. Ich hoffe, dass wir uns in diesem Sammellager wieder treffen.“

Jenny hatte seine Freundin erst einmal durch den Türspion hindurch gesehen. Meistens fuhr Steve übers Wochenende zu ihr. Melissa wohnte ein ganzes Stück außerhalb der Stadt, was ihre Beziehung oft auf die Probe stellte. Jenny schnappte sich ein Bier und die Flasche Pepsi aus dem Kühlschrank und gesellte sich wieder zu den anderen. Chris lehnte sich nach vorne und holte unter dem Tisch eine Packung Tabak und Papers hervor.

Während des Abends schlief Jenny mehrmals auf dem Sofa ein und wurde öfter geweckt, weil die beiden Jungs Radau machten. Mitten in der Nacht fuhr in der Haltebucht der Bushaltestelle gegenüber ein orangenes Fahrzeug der Straßenmeisterei vor. Zwei Männer stiegen aus und stellten ein grünes Schild mit weißem Druck auf.

 „Dieses Schild haben sie vorhin im Fernsehen gezeigt“, erklärte Steve. „Das heißt, hier ist ein Sammelpunkt für die Evakuierung. Sieht aus, als hätten wir Glück.“

„Was habe ich noch alles verpennt?“, fragte sie, als sie sich wieder aufs Sofa setzte und sich in die Decke einwickelte.

„Die Evakuierungs- und Fahrpläne wurden online gestellt“, antwortete Chris. „In knapp zwei Stunden kommen die ersten Busse.“

„Dann sollten wir unseren Kram zusammenpacken.“ Sie gähnte.

Noch bevor sie sich aufraffen konnte, aufzustehen und sich fertig zu machen, hatte sich auf der Straße schon eine Ansammlung von Menschen gebildet. Nicht nach zwei, sondern nach drei Stunden kamen die ersten Busse. Obwohl die Schlange der anstehenden Transportmittel endlos lang schien, brach der Ansturm brach nicht ab. Immer mehr Menschen drängten sich unten auf den Straßen, Polizei und Feuerwehr versuchten das Chaos zu bändigen. Immer wieder sah man Fahrzeuge der Bundeswehr vorbei fahren. Jenny fluchte. Sie hätten sich beeilen sollen. Hätten sie sich gleich angestellt, wären sie nun schon längst auf dem Weg in die schützenden Mauern des Flüchtlingslagers.

„Sieht so aus, als wären hier eine Menge Leute von außerhalb“, meinte Steve.

„Kann ich mir gut vorstellen. In den Städten wird zuerst evakuiert. Die Leute vom Dorf wollen wohl nicht zurückgelassen werden“, antwortete Chris und warf Jenny einen Wanderrucksack auf das Sofa.

„Mach mal hinne, Schwester.“

Doch Beeilung war nicht nötig. Sie beschlossen zu warten, bis die Menschenmassen auf den Straßen sich lichten würden. Unter diesen Umständen hätte es wenig Sinn, sich schon jetzt dort anzustellen. Inzwischen hatte das Militär auch in ihrem Block Barrikaden errichtet und Lager aufgeschlagen. Der Platz für die Bürger schwand.

„Spätestens morgen früh stellen wir uns an. Wenn das so weiter geht, sind alle Busse weg und wir sitzen immer noch hier oben und warten“, sagte Chris.

Steve und Jenny stimmten ihm zu. Langsam wurde die Sache brenzlig. Im Fernsehen sagten sie, dass in manchen Städten die Evakuierung abgebrochen worden war, teils weil es Massenpaniken gab, teils weil die Zombies schon vorgerückt waren. Das normale Fernsehprogramm lief nicht mehr. In Dauerschleife zogen sich Infos über den Bildschirm, zwischenzeitlich schalteten sich die Nachrichten ein, wenn es Neuigkeiten gab. So wurde für manche Gebiete durchgegeben, dass sich die Menschen selbstständig zu den nächst gelegenen Notlagern aufmachen sollten. In Bayern und Baden-Württemberg hielt man jedoch an den Evakuierungsplänen fest.

 

Auch die zweite Nacht verbrachte Steve bei ihnen auf dem Sofa. Jenny war zwar irgendwann zu Bett gegangen, bekam aber kaum ein Auge zu. Die ganze Nacht über fuhren die Busse und der Lärm auf der Straße brach nicht ab. Sie wurde unruhig. Was, wenn sie keinen Bus mehr bekommen würden? Was, wenn vorher die Zombies kamen oder der Weg aus der Stadt hinaus aus anderen Gründen blockiert war? Sie hatte das Gefühl, sofort aufstehen zu müssen und irgendetwas zu unternehmen. Es war nicht ihre Art, einfach zu warten. Sie lag auf dem Rücken und starrte an die Decke. Alle paar Minuten schaute sie auf die Leuchtziffern ihres Weckers. Jede Minute zog sich scheinbar unendlich in die Länge. Obwohl sie sich schlapp und müde fühlte, pochte ihr Herz und sie kam innerlich nicht zur Ruhe. Im Zimmer war es kühl, dennoch schwitzte sie unablässig, als säße sie in einer Sauna. Es dauerte lange, bis sie endlich einschlafen konnte, doch schon knapp eine Stunde später, die sich für sie nur wie Sekunden anfühlte, riss Chris sie aus ihrem unruhigen Schlaf.

„Jenny, wach auf, wir müssen los“, sagte er sanft.

Sie blinzelte mehrmals und hob schützend die Hand vor ihre Augen. Licht fiel vom Flur durch die offene Tür in ihr Zimmer. Sie hörte Steve im Flur werkeln.

„Was ist denn los? Ist es schon so weit?“

„Ja, dort unten ist es ein klein wenig ruhiger geworden.“

Sie drehte sich auf den Bauch und zog die Gardine ein Stück zur Seite, um auf die Straße sehen zu können. Es waren nicht nennenswert weniger Leute dort unten, als am Tag zuvor, aber das war wahrscheinlich ihre letzte Chance, hier heraus zu kommen. Sie schaute auf den Wecker. Es war kurz vor drei. Sie stieg aus dem Bett und fröstelte. Obwohl sie fast nicht geschlafen hatte, war sie nun hellwach. Wahrscheinlich wurde mittlerweile reines Adrenalin durch ihre Venen gepumpt.

Im Spiegel an ihrem Schrank betrachtete Jenny sich. Ihre Augen waren geschwollen und ließen ihren sonst so frischen Teint grau und fahl wirken. Ihre ungekämmten Haare fielen ihr wirr ins Gesicht und bei genauerem Hinsehen konnte man den straßenköterblonden Haaransatz unter ihrer sonst heller gefärbten Mähne erkennen. Mit beiden Händen fuhr sie über ihr Gesicht, um die Durchblutung anzukurbeln und sich so wenigstens ein bisschen Farbe auf die Wangen zu zaubern. Mit wenig Erfolg. Mit ihren vierundzwanzig Jahren sah sie im Moment eher aus, wie eine alte, von Sorgen geplagte Frau. Sie stöhnte leidig und öffnete die Schranktür. Sie kramte eine Jeans heraus, dazu ein T-Shirt, Kapuzenpullover und eine Daunenweste. Eher wahllos zog sie weitere Kleidungsstücke hervor und verstaute sie in dem dunkelblauen Wanderrucksack, den sie sich vor vier Jahren gekauft hatte, als sie mit Chris, Steve und zwei weiteren Freunden eine Wanderung durch die Schweiz und Italien unternommen hatte. Ihre angespannten Nerven ließen ihre Finger zittern und hinderten sie daran, die Riemen festzuziehen. Hätte sie doch schon vorher ihre Sachen gepackt. Selbst wenn das nur eine Kleinigkeit war, überforderte es sie in diesem Moment. Sie beließ es dabei und ging ins Bad, um in aller Eile ihre letzten Sachen zusammenzutragen und sich fertig zu machen. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als das Anstehen und Gedränge überspringen zu können und einfach schon da zu sein. In Sicherheit.

 

Als sie ins Wohnzimmer kam, standen die anderen bereits fix und fertig da. Die Rucksäcke lehnten an der Wand neben der Tür. Keine fünf Minuten später brachen sie auf. Jenny ließ ihren Blick ein letztes Mal durch die Wohnung gleiten. Hatten sie wirklich alles Wichtige eingepackt? Waren alle Elektrogeräte aus? Hatten sie alle verderblichen Lebensmittel entsorgt? War das überhaupt noch wichtig? Irritiert schüttelte sie den Kopf und zog die Wohnungstür hinter sich zu.

Im Haus war es sehr ruhig, wahrscheinlich waren so gut wie alle ausgeflogen. Trotz ihrer Bemühungen leise zu sein, hallten ihre flüsternden Stimmen durch das Treppenhaus, das an die in den Verwaltungsgebäuden der Siebziger erinnerte. Wie immer roch es muffig nach abgestandener Luft und verbranntem Essen. Unwillkürlich versuchte sie leise aufzutreten, um weniger Geräusche zu machen. Sie wusste, dass es schwachsinnig war, aber es gab ihr das Gefühl vorsichtig zu sein und ihr Schicksal selbst in der Hand zu haben. Unten angekommen, stellten sie sich hinter einer Traube von Menschen an. Sie würden mindestens drei, vier Busse abwarten müssen, bis sie an die Reihe kamen.

Jenny konnte Menschenmengen nicht ausstehen. Der Geruch der fremden Leute löste bei ihr einen Würgereiz aus und jedes Mal, wenn jemand sie berührte, hatte sie das Bedürfnis um sich zu schlagen, sich Platz zum Atmen zu verschaffen. Immer mehr Menschen drängten nach vorne und die Abstände, in denen die Busse kamen, erschienen ihr immer länger. Immerhin standen Steve und Chris hinter ihr und schirmten sie wenigstens ein bisschen von den Fremden ab. Als der zweite Bus wegfuhr, brach weiter vorne eine Frau zusammen. Wahrscheinlich der Kreislauf. Sie war nicht die erste, aber wie bei den anderen, kümmerte sich kaum jemand um sie. Jeder hatte sein eigenes Päckchen zu tragen.

Einige Väter hatten ihre Kinder auf die Schulter genommen, manche Leute hatten sich auf ihre Taschen gesetzt. Angespannte und besorgte Gesichter dominierten und spiegelten das Empfinden der Leute wider.

 

Eine weitere Stunde verging und der nächste Bus war immer noch nicht da. Ab und an fuhr ein bereits voller an ihnen vorbei, der an anderen Sammelstellen die Leute abgeholt hatte.

Schon jetzt sah die Stadt merkwürdig unbewohnt aus. Die Fenster der Häuser starrten wie leere, seelenlose Augen in das Dunkel der Straßen, die nur schwach von dem orangenen Schein der Straßenlaternen beleuchtet wurden. Auch die Neonleuchten der sonst so gut besuchten Bar am Ende der Straße blieben aus. Jenny begann zu schwitzen. Vorhin hatte es leicht geregnet und sie hatte ihre Jacke übergezogen, doch nun hatte sie weder den Platz, noch die Lust, sich derer wieder zu entledigen. Sie setzte ihren Rucksack ab und stellte ihn vor sich auf den Boden. Nach beinah anderthalb Stunden kam endlich ihr Bus. Sie würden keinen Sitzplatz bekommen, aber sie würden es zumindest hinein schaffen. Das Gedränge begann erneut. Sie wurden von hinten nach vorne gedrückt. Vom Bus kam ein Zischen, gleich würden sich die Türen öffnen. Ein Feuerwehrmann musste die Leute nach hinten schieben, damit sie aufschwingen konnten. Die Menge strömte hinein und die drei kamen immer weiter nach vorne.

Plötzlich kam von irgendwo in ihrer Nähe ein Schrei. Jenny konnte förmlich spüren, wie die Stimmung von Erwarten und unterschwelliger Angst in reine Panik umschlug. Sie versuchte den Schrei zu orten, dann bemerkte sie, wie sich vorne links etwas tat. Die Menschen stoben auseinander, doch sie hatten keinen Platz, wo sie hin konnten. Manche wurden nach unten gezogen, viele kamen nicht mehr hoch. Jenny hatte nicht das Bedürfnis nachzusehen, was passiert war. Sie ahnte es bereits. Die Frau, die vorhin zusammengebrochen war, war infiziert gewesen. So musste es gewesen sein. Vielleicht eine von außerhalb, die in die Stadt gekommen war, um einen der Busse zu erwischen. Doch das war jetzt nicht wichtig. In ihr machte sich ein uralter Reflex breit. Lauf! Doch wohin? Hinter ihr, vor ihr, überall waren Menschen. Sie umringten sie wie eine zähe Masse, die nach ihr griff und sie umschlang, sodass sie ihre ganze Kraft aufwenden musste, um sich von ihren klebrigen Fängen zu lösen. Lauf! Sie drehte sich nach links und kämpfte sich, vom Grauen gepackt, durch die Menge. Ihr Herz verkrampfte sich und schnürte ihr, wahrscheinlich buchstäblich, die Blutzufuhr zu ihrem Hirn ab. Ihr wurde schwindelig, doch sie kämpfte sich weiter durch die schwitzenden Körper. Sie hoffte, dass Steve und Chris noch hinter ihr waren. Sie achtete kaum auf die Leute um sich herum, die versuchten noch in den Bus zu kommen oder das Weite suchten. Der Bus fuhr mit quietschenden Reifen los. Einer der Polizisten nahm Anlauf und sprang durch die noch offene Tür, doch das bekam sie nur aus den Augenwinkeln mit. Sie stolperte über etwas, das unter ihr lag und fiel der Länge nach auf den feuchten, kalten Boden. Jenny versuchte, sich mit den Händen abzufangen, trotzdem schlug sie mit dem Kinn hart auf den Pflasterstein auf. Sie spürte den Dreck unter sich und kleine spitze Steine, die sich selbst durch ihre dicke Kleidung in ihren Körper bohrten.

Nein, dachte sie. Du musst wieder hoch kommen, wenn du auf dem Boden bist, zertrampeln sie dich!

Sie versuchte aufzustehen, doch ihre Füße hatten sich in etwas verfangen. Sie trat um sich, doch es gelang ihr nicht, sich, von was auch immer, zu lösen. In Panik begann sie, sich auf dem Boden zu winden, dabei sah sie, dass ihre Knöchel von den Trägern eines Rucksacks umwickelt waren. Das war zu viel für sie, Tränen vernebelten ihren Blick, während sie weiter hilflos mit den Füßen strampelte. Ständig stolperte jemand über sie, trat ihr auf die Hände oder fiel über ihre Beine.  Das Gewicht ihres Rucksackes drückte sie unbarmherzig zu Boden. Plötzlich spürte sie, wie ihr jemand unter die Arme griff und sie hochzog. Chris und Steve hatten sie gepackt, auf die Beine gestellt und trieben sie weiter. Die Menge hinter ihnen hatte sich zerstreut. Als sie sich umdrehte, sah sie aus der Mündung einer schmalen Gasse weitere Untote auf sich zukommen. Wo kamen die nun auf einmal her? Ein Polizist zog seine Waffe und schoss auf einen blutigen Haufen aus Körpern zu seinen Füßen.

Der Schuss hallte zwischen den Fassaden der Häuser und ließ sie für einen Moment erstarren. Einige Leute robbten verletzt weg, hielten sich die blutenden Wunden. Sie war sich sicher, dass es Bisswunden waren. Jeder von ihnen würde innerhalb der nächsten Minuten oder Stunden daran sterben und Sekunden später als einer von ihnen wiederkommen. Der Polizist wusste das zu verhindern und schoss einem, und noch einem in den Kopf. Als er sich dem Dritten, einem kleinen Jungen, zuwandte, fiel jemand über den ausgestreckten Arm her, mit dem er zielte. Erst nach Sekunden bemerkte sie, dass das einer der Untoten sein musste. Wie normal er aussah. Nur sein blutverschmiertes Gesicht und eine Bisswunde an der Hand ließen auf einen Infizierten schließen. Der Schrei des Polizisten riss sie aus ihrer Trance. Chris und Steve, die ebenfalls einen Moment innegehalten hatten, zogen sie weiter.

„Los, wir müssen zurück ins Haus!“, rief Chris und sie rannten über die Straße. Reifen quietschten, als ein Polizeiauto gerade noch zum Stehen kam, doch das bemerkte sie kaum.

Mit zitternden Händen schloss Chris die Tür zum Treppenhaus auf. Zusammen sprinteten sie die Treppen hoch. Von außen klopften Menschen mit Fäusten an die Tür, doch je weiter sie nach oben kamen, desto leiser wurde es. Zweimal kam ihnen jemand entgegen, ansonsten schien das Haus wie ausgestorben. In der Wohnung angekommen, sackte Jenny auf die Knie. Ihr waren die Tränen ausgegangen. Sie atmete schwer und unregelmäßig, ihr Herz schlug schmerzhaft in der Brust. Von der Straße her konnten sie immer noch Schreie hören. Steve zog sie hoch und nahm sie in den Arm.

„Alles klar?“, fragte er, selbst noch nach Atem ringend.

Sie schluckte und nickte. Nun kam auch Chris und legte einen Arm um sie.

„Komm, setz dich hin und beruhige dich erst einmal.“

Er zog sie ins Wohnzimmer und sie ließen sich auf das zerfledderte Ledersofa fallen. Ein neuer Plan musste her.

„Das war ganz große Scheiße“, meldete sich Chris als erster zu Wort.

Jenny nickte. „Jetzt sitzen wir hier fest.“

Wieder war sie den Tränen nahe.

„Unsinn, wir machen uns jetzt selbst auf den Weg und fahren eigenständig zu diesem Flüchtlingszentrum.“

Sie schnaubte. „Und wie willst du das anstellen? Sieh mal aus dem Fenster, da unten ist der Teufel los. Da kommen wir keinen Kilometer weit. Und wer sagt dir, dass nicht schon jemand Infiziertes in einen der Busse gestiegen ist und gerade das ganze gottverdammte Zentrum ansteckt?“ Sie hatte die Fassung verloren und ihre Stimme überschlug sich beinahe.

„Sie hat recht“, mischte sich nun auch Steve ein. „Wir sollten uns jetzt gut überlegen, was wir tun. Fakt ist, hier können wir nicht bleiben. Wir können aber genauso wenig einfach hier raus spazieren. Zuallererst werde ich meiner Freundin eine SMS schreiben, dass sie in ihrer Wohnung warten und auf keinen Fall in einen der Busse steigen soll. Wie Jenny schon sagte, dort könnte es ebenfalls bereits zu einem Ausbruch des Virus gekommen sein. Was wir brauchen, ist ein Plan.“ Er stand auf und lief im Zimmer hin und her.

„Du hast gut reden“, sagte Jenny. „Wir sitzen hier knietief in der Scheiße. Wie, zum Teufel, sollen wir aus der Stadt kommen? Wenn wir uns wirklich alleine da durchschlagen wollen, brauchen wir jede Menge Sachen. Willst du die alle in deinem kleinen Ford transportieren? Das ist lächerlich. Da passt noch nicht einmal meine Kosmetiktasche rein! Ganz abgesehen davon, dass dir die Karre regelmäßig stehen bleibt und sie am anderen Ende der Straße parkt.“

Chris setzte sich. „Ja, mit deiner Kiste brauchen wir gar nicht erst loszufahren. Wir brauchen ein größeres Auto, etlichen Kram, Vorräte und so weiter. Dann wäre noch das klitzekleine Problem, einen Weg aus der Stadt heraus zu finden. Wenn es in den restlichen Teilen auch so aussieht, haben wir schlechte Karten.“

„Nun ja, ein Auto werden wir hier wohl irgendwo finden, viele Besitzer sind hier nicht mehr in der Stadt oder schon tot. Die Schwierigkeit wird sein, einen Schlüssel dafür aufzutreiben. Also wird das unsere erste Priorität sein. Oder hat einer von euch schon mal ein Auto geknackt?“

Steve ließ sich wieder auf das Sofa fallen. Schweißperlen standen auf seiner Stirn, seine dunklen, kurz gelockten Haare glänzten im Licht der matten Energiesparlampe. Obwohl er recht muskulös war, sah er neben Chris beinah schwächlich aus.

„Ich würde vorschlagen, dass wir möglichst schnell eine Lösung finden, bevor sich dort unten die Dinger weiter verbreiten und es dann kein Durchkommen mehr gibt. Hat jemand einen Vorschlag?“ Steve blickte erwartungsvoll in die Runde.

Jenny überlegte. Im Hinterhof stand immer ein alter Land Rover. Steve hatte sich schon mehrmals aufgeregt, weil der immer wieder zwei Parkplätze in Anspruch nahm. Ein schwarzer, bulliger Kasten mit Dellen und durchzogen von Rost. Sie konnte sich vorstellen, dass es darin so roch, wie in dem alten Golf ihrer Eltern. Sie versuchte sich an den muffigen Geruch der Sitze zu erinnern und an den des Duftanhängers, der ihn überdecken sollte. Wenn sie nur wüsste …

„Der Land Rover unten im Hof, wem gehört der noch mal? Jemandem hier aus dem Haus, oder irre ich mich?“, sagte sie langsam und in nachdenklichem Ton.

„Ha!“ Steve schlug sich mit der Hand auf den Schenkel. „Na klar, dieser haarige Typ, der ein Stockwerk unter uns wohnt.“

„Gut, das ist schon einmal ein Ansatzpunkt“, übernahm Chris das Wort. „Das Auto wäre optimal, notfalls könnten wir auch querfeldein fahren und es hat eine Menge Stauraum. Trotzdem brauchen wir dann immer noch den Schlüssel. Wir werden uns dafür strafbar machen müssen.“

Jenny hob fragend die Augenbrauen.

„Wir müssen in seine Wohnung einbrechen und den Schlüssel holen. Wobei es auch sein könnte, eigentlich ist es sogar wahrscheinlich, dass er seine Schlüssel mitgenommen hat. Wir haben ihn unten an der Haltestelle gesehen.“

„Was ist mit dem Ersatzschlüssel?“, warf Jenny ein.

 „Der könnte überall sein!“

Einen Atemzug lang schwiegen sie.

„Okay, das hilft jetzt alles nichts“, sagte Chris. „Steve und ich gehen runter in die Wohnung und suchen nach dem Schlüssel, und zwar jetzt. Jenny, du kannst solange hier ein paar Vorräte zusammen packen.“

„Das kannst du vergessen, Freundchen. Ich bleibe nicht alleine hier oben.“

„Stell dich nicht so an, was soll dir hier schon passieren? Es dauert doch nur ein paar Minuten.“

„Ich will aber nicht alleine hier oben bleiben“, sagte sie bockig.

Sie funkelte die beiden böse an. Sie wusste, dass sie sich wie ein Kind aufführte, aber der Trotz tat ihr gut.

„Du bist doch bescheuert, es ist doch viel gefährlicher, in eine fremde Wohnung einzubrechen, als hier oben zu warten, du blöde Kuh!“, rief Chris.

„Du bist selber blöd, du Arsch!“, gab sie zurück und trat vor Wut gegen die Kommode, die sie von ihren Großeltern geerbt hatten. „Wenn ich mit will, dann will ich mit und basta. Ihr könnt ja diese bescheuerten Weiber-Arbeiten machen. Ich will mich auch nützlich machen.“

Chris raufte sich den nicht vorhandenen Haarschopf. Beinahe hätte Jenny laut gelacht, man merkte ihm nicht an, dass er fast drei Jahre älter war als sie, denn sie führten sich beide auf wie Kleinkinder.

„Das darf doch nicht wahr sein“, presste er mit hochrotem Kopf hervor. „Fang nicht schon wieder damit an.“

„Hey!“, rief Steve, um Ruhe zwischen die Geschwister zu bringen. „Beruhigt euch mal! Dann bleibe ich eben hier und ihr beide geht da runter. Mir egal, aber beeilt euch. Wir haben für eure Kindereien hier keine Zeit.“

Nun war auch Steve sauer und die ohnehin schon angespannte Stimmung war völlig hinüber. Jenny grinste zufrieden und band ihre blonde Mähne zu einem Pferdeschwanz zusammen.

 „Also gut“, meinte Chris. „Wir zwei gehen den Schlüssel holen, Steve bleibt hier und trägt aus beiden Wohnungen Essen und anderen Kram zusammen.“

Steve nickte.

„Wir werden sehen, dass wir schnell wieder hier sind“, fügte Chris noch hinzu und ging zur Tür.

Steve folgte ihm und meinte: „Nimm die Feueraxt vom Flur mit, damit kannst du die Tür aufbrechen. Ich hoffe, das ist der einzige Grund, aus dem ihr sie braucht.“

 

Jenny bereute es mitgekommen zu sein, noch bevor sie das Treppenhaus erreicht hatten. Bei dem kleinsten Geräusch zuckte sie zusammen. Sie hielt sich etwas hinter Chris und klammerte sich an seinem Ärmel fest. Die Axt hing zusammen mit einem kleinen Feuerlöscher hinter einer Glaswand, die Chris, darauf bedacht, möglichst wenig Lärm zu verursachen, mit dem Ellbogen einschlug. Immerhin war zwischen ihnen und den Treppen eine gläserne Brandschutztür, die zumindest dorthin die Geräusche etwas dämmte. Jenny schaute durch die Scheibe. Draußen war alles ruhig. Leise öffnete sie die Tür und schaute nach oben. Niemand war zu sehen. Der raue Teppich auf den Stufen dämpfte ihre Schritte und sorgte zusammen mit ihren keuchenden Atemzügen für eine schaurige Stimmung. Sie bogen in den langen Korridor ein. Hinter jeder Wohnungstür, die sie passierten, stellte Jenny sich vor, schmatzende Fressgeräusche zu hören. Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie so diese Gedanken aus ihrem Kopf vertreiben und folgte Chris weiter, immer mit zwei Schritten Abstand. Als sie endlich die Wohnungstür erreicht hatten, dankte sie innerlich allen Göttern, dass niemand ihnen begegnet war.

Chris klopfte zögerlich an die Tür.

„Was machst du denn da?“

„Na, schauen, ob er Zuhause ist.“

„Er war unten an der Haltestelle, Blödmann, er ist nicht da.“

„Waren wir auch, und trotzdem stehen wir hier vor seiner Tür. Er könnte jetzt genauso gut dahinter stehen.“

„Jetzt mach einfach“, drängelte sie.

Chris presste genervt die Lippen zusammen, wie er es immer tat, wenn ihm etwas nicht passte.

„Okay, schau dich um, ich breche jetzt die Tür auf.“

Chris steckte die Klinge der Axt in die Türspalte, etwas unterhalb des Schlosses, und trat mit aller Kraft dagegen. Die Türe schwang auf und knallte an die dahinterliegende Wand. Er gab ihr ein Zeichen, die Tür zu schließen und aufzupassen, dass niemand sie überraschen konnte. Sie schaute sich um. Der Flur war in Braun- und Grüntönen gehalten und erinnerte sie irgendwie an die Wohnung ihrer Großeltern. Sie roch altes Essen und Schmutzwäsche.

Jenny lehnte sich an die Tür und beobachtete Chris, der mit erhobener Axt in die Zimmer lugte, als erwarte er, ihm würde Bigfoot persönlich entgegenspringen. Als er sicher war, dass sich außer ihnen niemand in der Wohnung befand, stellte er die Waffe im Flur neben die Garderobe und machte sich daran, die Schubladen der Kommode zu durchwühlen.

„Nichts“, sagte er nach einer Weile.

„Schau in den Küchenschubladen nach, wenn er dort nicht ist, würde ich im Wohnzimmerschrank schauen.“

Er nickte und begab sich in die Küche. Sie schaute durch den Türspion, während sie ihn in der Küche herumwerkeln hörte. Schon nach wenigen Minuten kam er wieder. In seiner erhobenen Hand hielt er einen Schlüsselbund. Sie musste grinsen. Bisher lief alles wie geschmiert. Er nahm die Axt wieder auf. Jetzt mussten sie nur wieder heil nach oben kommen, dann konnte es losgehen.

„Gut, lass uns hier verschwinden“, drängelte Chris und schob Jenny vor sich her.

Sie öffnete die Tür und schreckte zurück, als sie sich einem Mann gegenüber sah. Plötzlich ging alles schnell. Sie wurde zur Seite gestoßen, knallte an den Türrahmen und fiel an dem Mann vorbei in den Flur. In derselben Sekunde fiel etwas Großes direkt neben ihr zu Boden. Sie erkannte den Typen, dem der Land Rover gehörte. Aus einer Wunde zwischen Hals und Schulter sprudelte Blut. Unwillkürlich schrie sie auf und robbte von ihm weg. Chris hatte wohl mehr aus Reflex, als bewusst, reagiert und ihm die Klinge ins Fleisch geschlagen. Sie sah nach oben und beobachtete, wie sich seine Augen weiteten, als er erkannte, was er getan hatte. Sie fing seinen Blick ein.

„Chris, alles okay?“

Zögernd nickte er. Offenbar stand er unter Schock. Oder zumindest war er von seinem Handeln so überrascht, dass er vorübergehend nicht in der Lage war, sich zu bewegen. Mühsam rappelte sie sich auf. Sie war hart auf den Linoleumboden gekracht und ihre Hüfte schmerzte. Sie ignorierte es und ging neben dem Mann in die Hocke, um seinen Puls zu fühlen, jedoch ohne ein Lebenszeichen von ihm zu erwarten. Sie hatten tatsächlich gerade einen Menschen umgebracht. Und gleich würden sie ihn auch noch bestehlen. Tiefer konnte man nicht sinken. Ohne jede Vorwarnung, bäumte sich der Mann auf und schnappte nach Luft. Erschrocken wollte sie zurück springen, verlor aber das Gleichgewicht und fiel nach hinten. Erneut krachte ihr Steiß auf den harten Boden. Sie konnte förmlich sehen, wie Chris wieder zu sich kam und instinktiv nach ihrem Arm griff. Der Kerl sackte nach hinten und blieb reglos liegen.

„Scheiße, der lebt noch“, sagte Chris nüchtern und zog sie auf die Beine.

„Sei froh, dass du ihn nicht umgebracht hast.“

„Er wird sowieso sterben. Oder glaubst du etwa, jetzt würde noch ein Krankenwagen kommen? Ich habe ihm fast den Kopf abgeschlagen, er wird innerhalb von Minuten verbluten. Dann lieber kurz und schmerzlos.“

„Wir könnten“, ihre Stimme wurde ganz leise und sie konnte nicht glauben, dass sie darüber auch nur nachdachte, „etwas … nachhelfen.“ Noch während sie das aussprach, wunderte sie sich über ihre eigenen Worte. Hatte sie das soeben tatsächlich in Erwägung gezogen?

Chris antwortete nicht darauf, stattdessen sagte er: „Los, hilf mir den Typen in die Wohnung zu schaffen. Ich glaube nicht, dass es schlau ist, ihn hier draußen liegen zu lassen.“

„Was, wenn -“, Jenny überlegte, ob sie das wirklich aussprechen wollte. „Was, wenn sein Blut uns ansteckt mit … mit diesem Virus?“

Chris schnaubte. „Er wurde doch gar nicht gebissen.“

„Wer sagt uns, dass er nicht trotzdem infiziert ist? Dass wir es nicht alle sind?“

Er schaute sie irritiert an. „Durch die Luft oder was? Rede keinen Unsinn und pack mit an!“

Sie half ihm, den Mann in den Flur zu ziehen, wobei sie eine Blutspur hinterließen, die auf dem hellen Boden nur zu deutlich zu erkennen war. Der Kerl roch wie seine Wohnung, der ungepflegte Vollbart und seine Haare waren dunkel und wirr. Seine Augen huschten umher, doch er war kaum noch bei Bewusstsein und außer Stande sich zu bewegen. Wieder ging Jenny neben ihm in die Hocke, um nach der Wunde zu sehen, doch Chris umfasste ihr Handgelenk und zog sie nach oben.

„Gehen wir“, sagte er gehetzt.

Sie schlossen die Tür so gut es ging und schlichen wieder nach oben. Während des ganzen Weges dachte sie an den Sterbenden, der in seiner eigenen Wohnung lag, alleine, und langsam ausblutete. Normalerweise hätten die Nachbarn längst die Polizei gerufen und Chris, und wahrscheinlich auch sie, ständen mit einem Bein im Knast. Sie hatten einen Menschen getötet. Gequält verzog sie das Gesicht, das schlechte Gewissen drohte sie zu erdrücken. Sie wurde langsamer, brauchte eine Pause. Das war einfach zu viel. Chris, der sie immer noch am Handgelenk hatte, zog sie erbarmungslos hinter sich her. Auf seinem Gesicht war keine Regung zu erkennen.

Steve erwartete sie bereits am Eingang. Als er die blutverschmierte Klinge sah, erstarrte er kaum merklich, wartete aber, bis beide drinnen waren und die Tür geschlossen war, bevor er fragte: „Was ist passiert?“

Chris ging wortlos an ihm vorbei ins Bad, um die Blutspritzer abzuwischen und sich frische Klamotten anzuziehen. Jenny sah an sich hinunter. An ihrem Ellbogen hatte sie etwas abbekommen. Sie zog ein Taschentuch aus ihrer Jackentasche, nässte es mit Spucke und wischte es ab.

„Habt ihr den Schlüssel?“, fragte er weiter.

„Ja, den haben wir. Bis dahin hat auch alles super geklappt, wir sind rein, ich habe die Tür beobachtet, Chris hat den Schlüssel gesucht und auch schnell gefunden.“

In diesem Moment kam Chris mit nacktem Oberkörper aus dem Bad und warf wie auf Kommando den Schlüssel auf die Kommode, bevor er in seinem Zimmer verschwand.

„Hat er –“

Jenny nickte. „Wir wollten gerade wieder gehen, als der Typ plötzlich vor der Tür stand.“

„Der, der dort wohnt? War er nicht unten am Bus?“

„Anscheinend hat er den Bus auch nicht mehr bekommen, ich habe keine Ahnung. Bevor ich ihn abhalten konnte, hatte Chris ihm schon die Axt in den Hals gehauen.“

Steve verzog das Gesicht.

„Wir haben ihn in die Wohnung geschleift und sind schleunigst wieder zurück gekommen. Ich hoffe nur, dass ihn niemand findet, bevor wir hier weg sind.“

Dass sie ihn einfach zurück gelassen hatten, ohne ihm zu helfen, verschwieg sie wohlweislich. Sie hoffte, sie konnte das schreckliche Bild, das sich in ihr Gehirn eingebrannt hatte, irgendwann vergessen.

Steve hatte während ihrer Abwesenheit ganze Arbeit geleistet, Etliches zusammengetragen und in großen Rucksäcken sowie zwei Reisetaschen verstaut. Schlafsäcke und anderes Camping-Equipment standen sauber aufgeschichtet bereit. Wenn sie Pech hatten, mussten sie einige Nächte im Wagen verbringen. Allein wenn sie daran dachte, wie kalt es sogar in Sommernächten werden konnte, lief ihr ein Schauer über den Rücken.

 

Nachdem Chris zwei Zigaretten geraucht hatte, war er etwas ruhiger. Mittlerweile war die Sonne aufgegangen, doch es versprach ein trüber Tag zu werden. Der Himmel war wolkenverhangen und die Sonne schaffte es nicht, ihnen etwas Licht und Wärme zu schicken. Von den Lebenden war auf der Straße nichts mehr zu sehen, ein paar einzelne Untote wankten über den Bürgersteig – komisch, wie normal es Jenny gerade vorkam – aber alles in Allem hatte sich die Situation dort unten merklich beruhigt. Eine ganze Weile saß sie dort und beobachtete die Gegend. Und die Zombies. Sie sahen wie ganz normale Menschen aus. Ihr fiel es schwer zu begreifen, was sie da sah. Sie kamen ihr vor wie, ja, wie Betrunkene. Sie musste bei dem Vergleich glucksen, hatte aber gleich darauf ein schlechtes Gewissen. Das dort unten waren immerhin einmal Menschen gewesen. Wahrscheinlich waren sie noch gestern Abend mit ihrer Familie zusammen an einem Tisch gesessen. Sie fragte sich, ob wohl tief in deren Bewusstsein diese Erinnerung an ihr vorheriges Leben noch schlummerte.

 

Sie hatte nicht lange Zeit, sich auszuruhen. Um sich einen Überblick zu verschaffen, mussten sie in Steves Wohnung, wo die Fenster in den Hof wiesen. Nur wenige Minuten später waren sie auf dem Weg nach unten, jeder mit einer Schlagwaffe ausgerüstet, und bereiteten sich auf ihren ersten hautnahen Kontakt mit den Zombies vor. Am liebsten hätte Jenny diesen Zeitpunkt noch lange, sehr lange, hinausgezögert, doch sie wusste, dass ihre Chancen sanken, je mehr sie zögerten. Je länger sie warteten, desto mehr Infizierte gab es, desto mehr sank die Moral der Überlebenden. Der Rucksack war schwer, schon nach kurzer Zeit tat ihr der Rücken weh. Auf dem Weg zur Haustür begegnete ihnen keine Menschenseele. Unten im Flur ging es geradeaus zur Straße, um auf den Parkplatz zu kommen, mussten sie in die entgegengesetzte Richtung zum Hinterausgang gehen. Durch die Milchglasscheibe konnte sie schlurfende Gestalten erkennen, nach hinten hinaus gab es zum Glück klare Scheiben in der Türe. Dort sahen sie, was sie schon von Steves Wohnung aus gesehen hatten: einen einzelnen Zombie, der zwischen den parkenden Autos umher wandelte. Ohne zu zögern, taten sie, wie sie vorher besprochen hatten.

„Bereit?“ Steve steckte den Hammer in seinen Gürtel und umfasste den Türgriff. Chris und Jenny nickten.

„Eins. Zwei. Los!“

Steve riss die Tür auf und steuerte direkt auf den Wagen zu, sein eigenes und Teile von Chris Gepäck auf dem Rücken. Chris rannte mit der Axt auf den Zombie zu und spaltete ihm mit einem sauberen Schlag den Schädel. Dann warf er seinen Rucksack ab, direkt vor Steves Füße, der in der Zwischenzeit den Kofferraum geöffnet hatte, und wandte sich dem nächsten zu, der an der Einfahrt herumlungerte. Jenny war Steve dicht auf den Fersen, erstarrte aber, als sie die Untoten sah und verfiel kurzzeitig in Panik. Würde sich das jemals ändern? Würde sie jemals gefasst auf sie zugehen können und ihnen den Kopf einschlagen, mit einer Routine, als würde sie sich einen Donut kaufen? Sie wunderte sich, wie Chris das so einfach konnte.

„Jennifer!“, rief Steve und erinnerte sie daran, weiter zu laufen und ihm zu helfen, alles im Kofferraum zu verstauen. Während sie noch den Deckel zuschlug, startete Steve bereits den Wagen. Sie sprang auf den Rücksitz. Chris hatte den Zombie erledigt und sich einem weiteren zugewandt, der durch das Tor in den Innenhof gekommen war. Steve fuhr mit quietschenden Reifen aus der Parklücke, schaltete in den Vorwärtsgang und hielt unmittelbar neben Chris an, der einstieg und noch bevor die Tür ganz geschlossen war, gab Steve Gas. Sie passierten das Tor, preschten die Einfahrt hinaus und konnten gerade noch einem Auto ausweichen, das die Straße entlang raste. Als sie die Hauptstraße erreicht hatten, atmeten sie auf. Die erste Hürde war geschafft.

 

 

Hindernisse und Bekanntschaften

27. September bis 01. Oktober

 

Es begann wieder zu regnen, als sie in Richtung Stadtausgang fuhren. Sie hatten beschlossen die Autobahn zu meiden und München über die Bundesstraße zu verlassen. Je weiter sie fuhren, desto weniger Menschen sahen sie. Mehrere Autos kamen ihnen entgegen, manche überholten sie, aber im Gegensatz zu normalen Umständen, war der Verkehr kaum der Rede wert. Ihren Stadtteil hatte es offensichtlich als erstes und am schlimmsten getroffen. Sie sahen Menschen, die vor den Toten davon liefen, sich Wunden hielten, verzweifelt versuchten, vorbei fahrende Wagen zu stoppen. Zwei nebeneinander parkende Autos hatten Feuer gefangen und die Flammen drohten, auf weitere überzugreifen. Hier und da waren da Leute, die Elektrogeschäfte und andere Läden ausräumten. Dafür sahen sie ein paar Kilometer weiter überhaupt keine Zombies mehr. Ab und an überquerte jemand die Straße, einige kamen aus dem Supermarkt, andere packten ihre Autos. Offensichtlich hatte sich der Virus doch nicht so schnell ausgebreitet, wie sie zuerst befürchtet hatten. Trotzdem merkte man auch hier, dass etwas nicht stimmte. Jeder einzelne wirkte gehetzt, ängstlich und aufgebracht. Im Radio lief nur noch eine Dauerschleife, die ihnen keine neuen Informationen mehr brachte.

 

Hatten sie anfangs noch gehofft, es recht schnell aus der Stadt heraus zu schaffen, mussten sie bald feststellen, dass sie keine Chance hatten, an Tempo zuzulegen. Als sie auf die Bundesstraße auffuhren, stießen sie direkt an das Ende eines Staus. Steve fluchte und schlug mit den Handflächen auf das Lenkrad.

„Was ist da vorne los?“, wollte Jenny wissen und lehnte sich nach vorne, um durch die Frontscheibe etwas erkennen zu können. Blaulicht reflektierte sich an den Regentropfen, die auf die Scheibe prasselten.

„Ich steige aus und sehe mal nach“, sagte Chris und schnallte sich ab.

„Ich komme mit.“ Jenny machte Anstalten, die Türe zu öffnen.

„Hey, Moment! Was ist mit mir?“

„Du wartest hier“, meinte Jenny trocken. „Wir sind in fünf Minuten wieder da.“

Sie warf ihm feixend eine Kusshand zu. Es dauerte eine Weile, bis sie die Autos passiert hatten und an den Anfang des Staus gelangten. Schon von Weitem erkannten sie, dass es sich um ein Auto und einen Kleinbus der Polizei handelte. Unterwegs kamen ihnen einige Fahrzeuge entgegen, die gewendet hatten und wieder in die Stadt fuhren. Schließlich sahen sie, dass die komplette Straße abgesperrt war.

Was sollte das? Warum gaben sie den Menschen nicht die Chance aus der Stadt herauszukommen? Sich und ihre Familien zu retten?

Eine Menschentraube hatte sich um einige Polizisten versammelt.

„Bitte haben Sie Verständnis dafür. Die Straße wird für das Militär und die Fahrzeuge für die Evakuierung frei gehalten. Bitte warten Sie auf weitere Busse oder versuchen Sie es auf anderem Weg. Wir versichern Ihnen, dass zurzeit für Sie noch keine Gefahr besteht! Die Straßen in die Stadt wurden alle gesperrt, gebissene und infizierte Personen haben keine Möglichkeit, hier auf normalem Weg in die Stadt zu kommen.“

Laute Proteste brachen aus. Manche fingen an, die Polizisten zu beschimpfen. Kalter Wind blies Jenny den Regen ins Gesicht und sie musste die Augen zusammen kneifen, um das Szenario besser beobachten zu können.

„Von wegen, in der Stadt gibt es schon Tote!“, rief ein Mann. „Beinahe hat es meine Frau erwischt. Wenn Sie uns hier einsperren, sind wir bald tot.“ Andere Leute stimmten mit ein.

„Bitte steigen Sie wieder in ihre Wagen und fahren Sie nach Hause! Wir sind angewiesen, niemanden  passieren zu lassen. Bitte kehren Sie um, oder wir sind gezwungen Gewalt anzuwenden!“, wiederholte einer der Polizisten, wahrscheinlich schon zum hundertsten Mal.

Obwohl seine Stimme fest und bestimmend war, konnte Jenny sehen, wie er einem seiner Kollegen einen unsicheren Blick zuwarf. Sie wusste, dass sie sich nicht mehr sicher sein konnten, wie lange die Situation noch unter Kontrolle war. Wütende und verängstigte Menschen waren nicht zu unterschätzen.

„Das wird ja immer schöner“, schimpfte ein dicker Mann, der seine Mütze tief ins Gesicht gezogen hatte.

Chris nahm Jenny am Arm und zog sie zurück.

„Komm, gehen wir, ich habe genug gehört“, flüsterte er. „Das hat keinen Zweck, wenden wir, bevor es die anderen tun. Wir suchen uns einen anderen Weg aus der Stadt heraus.“

Jenny nickte. Ängstliche Gesichter schauten sie aus den Autofenstern heraus an. Wartend, hoffend. Sie ahnte, dass viele von ihnen in ein paar Tagen wohl nicht mehr am Leben sein würden.

Als sie wieder am Wagen ankamen, trommelte Steve bereits ungeduldig mit den Fingern auf dem Lenkrad.

„Und?“, fragte er, als sie eingestiegen waren.

„Du musst wenden, da gibt es kein Durchkommen. Sie haben die Straße gesperrt.“

Steve fluchte erneut. „Dann probieren wir es doch über die Autobahn. Und sobald wir hier raus sind, sollten wir volltanken. Wir haben nur einen halb vollen Tank“, meinte er mit einem Blick auf die Anzeige. „Sonst schaffen wir es nicht zu Lissy.“

Jenny fing Chris‘ Blick auf und wusste, dass er dasselbe dachte, wie sie.

„Steve“, begann sie zögerlich. „Wie genau hast du dir die Sache mit deiner Freundin vorgestellt?“

Er reagierte nicht. Den Blick auf die Straße geheftet, lenkte er das Auto in die entgegengesetzte Richtung.

„Ich meine, du kannst nicht sicher sein, dass sie deine Nachricht bekommen hat. Sie könnte trotzdem in einen der Busse gestiegen sein. Wie willst du sie dann finden? Sie könnte überall sein, in ihrer Wohnung, in dieser Notunterkunft, oder aber überall dazwischen …“

Steves Kopf schnellte herum. „Wie meinst du das?“

Er schaute wieder nach vorne, er hatte kurz die Kontrolle über den Wagen verloren und konzentrierte sich wieder auf die Fahrbahn.

„Willst du damit sagen, ich soll sie im Stich lassen?“

„Ich meine nur, die Wahrscheinlichkeit, dass wir sie finden, ist sehr gering. Ganz abgesehen davon, dass wir direkt auf die Rote Zone zufahren müssten – zu ihr zu fahren würde einen Umweg von zig Kilometern bedeuten.“

Sie wartete wieder einen Moment, um ihm die Möglichkeit zu geben, das sacken zu lassen.

„Vielleicht sollten wir uns erst einmal um uns kümmern.“

Ihr schwante, dass es ein schlechter Zeitpunkt war, das anzusprechen, aber wahrscheinlich gab es dafür gar keinen richtigen. Sie sah aus dem Fenster und bemerkte, dass es in diesem Teil der Stadt noch keine Zombies gab. Sie waren nun fast am Stadtrand und würden gleich das Autobahnkreuz erreichen.

„Ihr versteht das nicht. Ich kann sie nicht einfach sitzen lassen.“ Er zögerte kurz. „Sie ist schwanger.“

„Von dir?“, fragte Chris verdutzt.

Jenny schlug nach ihm. „Natürlich von ihm, du Idiot.“

Trotzdem war auch sie überrascht. Davon hatte er ihnen zuvor nichts erzählt. Sie fragte sich, wie lange er das schon wusste. Zugegeben änderte das die Situation, allerdings nicht unbedingt grundlegend. Es war nicht klug, wenn sie weiter durch die Gegend fuhren. Sie beschloss, nicht weiter nachzuhaken.

„Steve, verstehe das bitte nicht falsch, ich würde mir auch wünschen, dass alles einfacher wäre. Dass wir hinfahren, sie abholen und das gemeinsam in aller Ruhe aussitzen können. Aber du musst zugeben, dass das nicht die Realität ist. Sie wird sich bestimmt auch irgendwo versteckt haben oder vielleicht ist sie schon im Lager und ihr geht es gut. Wir müssen zusehen, dass wir in Sicherheit sind. Es ist nicht gut, wenn wir jetzt alles überstürzen. Tot nützt du ihr nichts. Glaub mir, ich kann verstehen, dass du schnellst möglich zu ihr möchtest, vor allem, weil sie mit deinem Kind schwanger ist, aber lass uns ein paar Tage warten und sehen, wie sich die Lage entwickelt. Bitte.

„Bist du auch ihrer Meinung?“

Chris drückte sich etwas unbehaglich in seinen Sitz. „Na ja, sie hat recht, das musst du einsehen.“ Steve warf ihm einen halb wütenden, halb verzweifelten Blick zu.

„Kumpel, du musst verstehen, wir wollen einfach nur, dass …“

Steve bremste abrupt und sie ruckten nach vorne. Er wollte gerade auf die Autobahn auffahren, als er hinter der Kurve den Stau sah.

„Nicht schon wieder“, stöhnte Chris. „Wenn es so weiter geht, dauert es bis morgen früh, bis wir überhaupt aus der Stadt raus sind. Die Zeit haben wir nicht, verdammt.“

Jenny beschloss, nicht weiter nachzubohren. Abwarten und Tee trinken, dachte sie. Erst einmal aus der Stadt herauskommen.

Schnell hatte sich auch hinter ihnen eine lange Schlange gebildet. Nahezu alle Autos, die Jenny betrachtete,  waren bis zur Decke vollgepackt. Niemand befolgte mehr die Anweisungen aus dem Fernsehen und Radio, auf die Busse wollte sich wohl keiner mehr verlassen. Das war nun die Quittung.

Jenny fror. Ab und an fuhren sie ein paar Meter weiter, aber es dauerte fast eine halbe Stunde, bis sie überhaupt auf die Autobahn kamen. Alle vier Spuren und der Standstreifen waren voll wartender Autos. Doch selbst, wenn sie noch hätten umkehren können, hätten sie es nicht getan. Sie mussten aus der Stadt hinaus und sie schätzte, dass es auf allen Straßen so aussah, die nach außerhalb führten. Mehrere Hubschrauber donnerten über sie hinweg in Richtung Stadt. Der Herbstwind fegte über ihr Auto und wirbelte Blätter durch die Luft. Das schlechte Wetter hinterließ bei allen eine gedrückte Stimmung.

„Vielleicht ist da vorne wieder eine Polizeisperre?“, meinte Chris und reckte sich, um etwas sehen zu können. Viele Leute waren ausgestiegen und liefen ein Stück nach vorne. Man konnte dort tatsächlich ein blaues Licht vermuten, aber es war zu weit vorne, um etwas Bestimmtes ausmachen zu können. Das konnte noch Stunden dauern. Man konnte es drehen und wenden, wie man mochte, sie saßen fest. Das gefiel ihr gar nicht. Es war genau so, wie sie es anfangs befürchtet hatte.

Diesmal machten sie sich nicht die Mühe, nach vorne zu laufen und zu fragen was los war. Ab und an stiegen sie aus und vertraten sich etwas die Beine. Von den anderen Leuten hörte man die abenteuerlichsten Gerüchte, von wegen, wenn alle wichtigen Politiker und einflussreiche Personen in Sicherheit wären, würde das Land mit Atombomben beschossen werden und das Militär wäre Schuld an der Katastrophe, da es mit biologischen Waffen experimentiert hätte. Letzteres würde Jenny gar nicht wundern, wenn es stimmte, doch sie glaubte nicht, dass auch nur eine dieser Behauptungen auf Tatsachen basierte. Nach einigen weiteren abstrusen Geschichten wollte sie sich das nicht mehr antun und blieb im Wagen sitzen. Und sie taten das Einzige, was sie konnten: sie warteten. Mehrere Stunden lang. Jenny war eingenickt und in einen unruhigen Schlaf gefallen, ehe sich durch einen Stoß durch einen der beiden geweckt wurde. Sie brauchte eine Sekunde, um sich zu orientieren. Draußen war es schon beinahe dunkel und es schüttete wie aus Eimern.

„Es geht weiter“, sagte Steve.

Sie wischte mit dem Ärmel über die angelaufenen Scheiben und schaute aus dem Fenster. Einige Leute stiegen wieder in ihre Autos. Vorne löste sich der Stau bereits. Sie kamen nur langsam voran und beschlossen, bei der nächsten Ausfahrt wieder abzufahren. Wenigstens hatten sie dann die Stadtgrenze hinter sich gelassen und würden auf den Landstraßen hoffentlich schneller voran kommen. Ab und an kamen im Radio wieder ein paar Neuigkeiten. Sie berichteten einerseits von der Ausbreitung der Seuche, andererseits von Fortschritten des Militärs. In einigen Städten und Landstrichen waren Brandbomben eingesetzt worden, um die Gefahr flächendeckend zu eliminieren. Zum wiederholten Male wurden die Bürger angewiesen, zugunsten ihres eigenen Schutzes nicht zu zögern, die Untoten zu töten, sollten sie welchen begegnen, sie sollten allerdings vorzugsweise das Haus nicht verlassen, wenn keine Hilfe von außen in Sicht war.

Steve sprach das Thema mit seiner Freundin nur noch einmal kurz an. Er erklärte sich bereit, noch eine Nacht abzuwarten, dann würde er losfahren und sie suchen. Ob sie mitkamen oder nicht. Sie beließen es vorerst dabei. Dass sie ihn noch zur Vernunft bringen konnten, bezweifelte sie stark. Irgendwie war das ja auch verständlich. Trotzdem war sie nicht gerade scharf darauf, sich auf dieses Abenteuer einzulassen. Ihre Vorstellung war es gewesen, aufs Land zu fahren, ein leer stehendes Haus zu übernehmen und sich dort mit ein paar Vorräten zu verschanzen, bis sich die Lage beruhigt hatte. Sie wusste nicht, ob es so einfach wäre, wie es klang. Derzeit entwickelte sich ihr Leben zu einem klassischen Zombiefilm, in dem die Protagonisten sich andauernd lächerlich leichtsinnig in Gefahr brachten.

Es dauerte noch eine ganze Weile, bis sie endlich die Abfahrt erreicht hatten. Doch wieder wurde ihnen ein Strich durch die Rechnung gemacht. Mehrere Autos waren ineinander gefahren und blockierten den Weg. Gepäckstücke lagen auf dem Grünstreifen neben den zerbeulten Wracks. Einige Männer waren aufeinander losgegangen und schlugen sich die Seele aus dem Leib, während die Frauen und Kinder weinend, schreiend und völlig aufgelöst daneben standen und den Kämpfenden unverständliche Worte zuriefen. Genervt atmete Steve aus und umfuhr einen Wagen, der auf dem Standstreifen abgestellt worden war. Immerhin lichtete sich nach ein paar Kilometern der Verkehr etwas. Sie hatten noch zwei weitere Ausfahrten passiert und wollten die darauffolgende nehmen, in der Hoffnung, dass dort etwas weniger los war, als bei den bisherigen, und sie dann umso schneller voran kämen. Als sie endlich abfuhren, war zwar noch genauso viel Verkehr wie zuvor, aber immerhin waren sie jetzt aus der unmittelbaren Nähe der Stadt weg gekommen. Sie fuhren eher ziellos durch ein Gewirr von Bundesstraßen und hatten keinen Plan, wo sie in dieser Nacht unterkommen konnten. Jenny befürchtete, dass sie die erste Nacht tatsächlich im Auto verbringen mussten.

Immerhin waren sie eine Weile gut vorangekommen – bis es sich wieder staute. Ein Stück weiter erkannten sie auch den Grund: ein silberner Wagen stand rechts auf der Fahrbahn. Das Warnlicht blinkte und der Kofferraum war offen. Davor stand eine blonde, schlanke Frau und versuchte gestikulierend eines der vorbeifahrenden Autos anzuhalten. Ohne Erfolg.

Jenny tippte Steve auf die Schulter.

„Komm, halte an, wir können die Frau doch nicht dort alleine stehen lassen.“

Steve seufzte. Ohne zu blinken fuhr er rechts ran. Hinter ihnen hupte es und ein Transporter rauschte an ihnen vorbei. Knapp hinter dem Wagen kam Steve zum Stehen. Die Frau kam auf sie zu und Steve ließ das Fenster hinunter.

„Worum geht‘s?“, fragte er unvermittelt.

Sie lehnte sich ans Auto. Sie war hübsch, Mitte dreißig und elegant gekleidet. Ihre hellblaue Bluse hatte sie in den Bund ihrer Markenjeans gesteckt, ihre goldenen Ohrringe passten perfekt zu dem Chanel-Emblem auf ihrer Sonnenbrille, die sie in ihr lockiges Haar geschoben hatte.

„Danke fürs Anhalten!“, sagte sie, merklich erleichtert. „Es hat meinen Reifen erwischt.“ Sie verzog das Gesicht. „Bitte denkt jetzt nicht, dass ich eine der Tussis bin, die ihren Reifen nicht wechseln können. Ich gehöre zu der Sorte, die keinen Wagenheber einpacken.“

„Ich denke, da können wir helfen“, sagte Steve und stieg aus.

Jenny und Chris folgten ihm. Gott sei Dank hatte es aufgehört, stark zu regnen, sodass  sie sich nur Kapuzen und Caps überzogen, als sie das Auto verließen.

Während die beiden Jungs den halben Kofferraum ausräumten, um an den Wagenheber zu kommen, erzählte die Frau, die sich als Alex vorstellte, dass sie auf dem Weg zu ihrer Schwester und deren Familie war. Sie hatten sich am vorherigen Tag einer kleinen Gruppe angeschlossen, die am Waldrand ein Camp aufgeschlagen hatten, als sie nicht mehr in die Stadt gelassen wurden. Ihre Schwester hatte sie in der Nacht über ihr Handy erreicht und sie gebeten, zu ihnen zu kommen.

„Ein paar Stunden später habe ich mich dann auf den Weg gemacht“, beendete sie ihre Erzählung. „Wie sieht es aus, kommt ihr mit? Sie haben sicher nichts dagegen und ich denke, dort wären wir vorerst in Sicherheit, zumindest bis wir die Lage einschätzen können.“

Jenny fand, dass sich das ziemlich vernünftig anhörte. Von offizieller Seite hatten sie derzeit keine Hilfe zu erwarten. Die Menschen waren auf sich allein gestellt, so viel stand fest. Vielleicht konnten sie dort auf Unterstützung hoffen. Sie drehte sich zu den anderen um, die mittlerweile ihre Arbeit an dem Mercedes beendet hatten.

Sie sah, wie Steve mit sich kämpfte, als sie von Alex Angebot erzählte. Jenny hoffte, dass er nicht ausflippen würde, das war eine seiner weniger schönen Eigenschaften. Reizbarkeit und ungezügelte Wutausbrüche.

„Na klar“, presste er zwischen den Zähnen hervor. „Dann lassen wir uns dort nieder und leben glücklich bis an unser Lebensende, oder was?“ Steve war etwas laut geworden. Alex drehte sich ein wenig von ihnen weg, damit sie das unter sich klären konnten. Ihr war sein Benehmen sichtlich unangenehm.

„Ich sage euch etwas: Wir fahren los, holen meine Freundin und sie“, er nickte in Richtung Alex, „sagt uns den Weg und wir treffen uns dort.“

Jenny spürte, wie die aufsteigende Wut in ihr aufquoll und an die Oberfläche drängte.

„Steve, jetzt vergiss endlich deine blöde Freundin!“, rief sie aufgebracht. „Bei dem Verkehr kommst du nicht weit. Bis du bei ihr ankommst, ist sie längst über alle Berge. Oder denkst du etwa, sie hockt in ihrer Wohnung und wartet, bis ihr Ritter auf dem weißen Pferd kommt und sie rettet? Sie hat wahrscheinlich den ersten Bus genommen und hockt längst in einem dieser Flüchtlingslager und schlürft ihre heiße Hühnerbrühe. Mann, denk doch mal nach! Wenn wir unnötig in der Gegend herumfahren, sind wir so gut wie tot. Wir sind sicherer, wenn wir uns außerhalb irgendwo verstecken.“

„Du!“ Steve ging wutentbrannt auf sie zu und wollte sie packen. Erschrocken wich sie zurück, doch Chris ging dazwischen, packte ihn am Kragen und riss ihn zurück.

„Wage es nicht, meine Schwester anzufassen, oder ich poliere dir die Fresse!“, rief er und baute sich vor ihm auf.

Steve richtete sich auf und schlug mit der flachen Hand gegen das Auto. Seiner Wut war ein nachdenklicher Gesichtsausdruck gewichen. Sein innerlicher Kampf hatte getobt, und wer wusste es, vielleicht hatte die Vernunft gesiegt?

„Gut, wir kommen mit und schauen uns mal um, aber ich fahre weiter und suche sie, da könnt ihr machen, was ihr wollt.“

Er hob den Wagenheber auf. „Wo geht‘s lang?“

Alex holte aus dem Seitenfach der Fahrertür ein zusammengefaltetes Blatt Papier hervor.

„Noch ein paar Kilometer weiter die Straße entlang, dann geht es rechts von der Bundesstraße ab. Dort fahren wir direkt auf ein Dorf zu, davor müsste es irgendwo auf der linken Seite einen Feldweg geben, der in den Wald führt. Mein Schwager meinte, ab da geht es eine ganze Weile den Berg hinauf, mehrere Minuten lang. Wir müssten quasi auf sie stoßen. Ich denke, wir haben knapp eine halbe Stunde zu fahren.“

Steve gab mit einem Nicken sein Einverständnis. Chris, der sich ganz aus der Sache rausgehalten hatte, drehte auf den Fersen um und folgte Steve zum Auto. Jenny schüttelte den Kopf und sah den beiden nach. Sie verstand nicht, wie die beiden so gut befreundet sein konnten. Sie waren grundverschieden. Steve war ein aufbrausender, fast aggressiver Typ, für den seine Arbeit das Hauptgesprächsthema war und der immer den Ton angab, während Chris der ausgeglichene war, der Ärger gerne aus dem Weg ging und nicht daran dachte, einen richtigen Beruf zu lernen. Ihm reichte die Kohle, die er schwarz auf Baustellen und bei anderen Jobs verdiente. Sie lächelte und wandte sich Alex zu.

„Hast du was dagegen, wenn ich bei dir mitfahre?“

Alex schüttelte den Kopf. „Ganz und gar nicht, ich kann etwas weibliche Unterstützung gut gebrauchen.“

 

 

- Ende der Leseprobe -

 

Wie es weitergeht, erfahrt ihr bald, wenn The Undead: Der Anfang vom Ende (Band 1) als Taschenbuch und E-Book erscheint.

 

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Impressum

Texte: Anne Reef
Bildmaterialien: Cover: S. Nikolay; Hintergrundbild © Kwest - Fotolia.com; Überschriften: Dirty Ego, © misprinted type
Lektorat: Simone Nikolay / Fantastic Shades Verlag
Tag der Veröffentlichung: 06.06.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Meinen Eltern, die Zombies nicht ausstehen können, meinen Schwestern, die ich von ihnen überzeugen konnte und meinen besten Freundinnen, die ohnehin alles verschlingen, was mit Zombies zu tun hat. Wenn ich bei einer Zombieapokalypse jemanden retten würde, dann euch.

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