von Michael Bübl
Der Todesschlosser von Wien
Leichen hinter verschlossenen Türen
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Copyright by Michael Bübl
EU - 2017
Internet: www.wunderschlosser.com
Mail: michael@buebl.com
Das sind die furchtbarsten Erlebnisse des Wiener Schlossermeisters Michael Bübl. Immer wieder wird er zu Einsätzen als Schlüsseldienst gerufen, die an Dramatik und Grauen die Grenze des Ertragbaren erreichen. Hinter so mancher verschlossener Türe liegt ein toter Mensch, der auf seine Entdeckung wartet. Das hier sind deren traurigen Geschichten.
Impressum
Vorwort
Inhalt
Einleitung
Der Schlüsseldienst ist der Erste
Besser tot als delogiert
Jänner der 14te - 06:00h
Aus dem Fenster gefallen
Achtzig Plus
49 Jahre Arbeit für die Armut
Die Bohrmaschine
Er wollte der Pate sein
Das ätzende Wannenbad
Der Tod der Diva
Bruder erschossen - passt schon
Drei Jahre in der Wohnung
Noch eine Mumie
Grillen bis zum Tod
Freiwillig gehe ich nicht
Sonnenbad im Jänner
Im Kühlhaus
Kirmet der Frosch
Sommer – Sonne - Leiche
Klopf klopf hier ist die Polizei
Ostern das Fest der Auferstehung – nicht für alle
Späte Reue des Bauern
Aller schlechten Dinge sind drei
Selbstmord Live!
Säure sollte man nicht trinken
Eingeschriebene Briefe - 17 Minuten später tot
Veschweisste Stahltüre
Tür auf und Schuss
Saufen bis zum Ende
Der gerissene Gürtel
Schwanger mit 14 - ein Todesurteil
Diogenes von Ottakring
Drei Wochen in der Abstellkammer
Die falsche Diagnose
Freitod – meine einzige Freiheit
24ter Dezember
Weitere Angebote
Wien, Wien du allein.... die Hauptstadt der tiefschwarzen Seele
Echte Wiener haben seit jeher eine starke morbide Neigung und wollen im tiefsten Inneren nichts anders als endlich tot sein. Sie wollen „ES“ endlich hinter sich haben. Dieses freundschaftliche Verhältnis zum herbei gesehnten Tod schlägt sich in Literatur und der Musik nieder, allbekannt im „Wienerlied“, in welchem es sich immer um Elend und das herbei gewunschene endgültige Ende dreht. Der echte, der geborene Wiener ist der Erfinder des schwarzen Humors, die witzig sarkastische Behandlung des Todes und des damit verbundenen Leids.
Nach den ersten Worten am Telefon ahnt man schon von der bevorstehenden Nervenbelastung eines Auftrags. Der Schlosser wird vom Anrufer, meist ein besorgter Verwandter, mit Informationen überschüttet, die sofort die Alarmglocken läuten lassen, und nur wenige Schlüsse zu lässt. Aus vernünftigen Gründen scheiden alle aus, bis auf einen einzigen. Der Vermisste oder Gesuchte kann nur tot sein. Furchtbar und unangenehm wird eine Türöffnung, wenn ein Mensch tot hinter der Tür auf seine Entdeckung wartet. Der Schlosser ist oft der erste, der den Toten zu Gesicht bekommt, lange vor den Einsatzkräften von Rettung und Polizei.
Der Anblick einer Leiche ist grausig und abscheulich, es verändert die Persönlichkeit. Viele Menschen sterben nicht friedvoll und nicht selig. Die Leichen sind entstellt und oft verstümmelt, diese Bilder verfolgen den Schlosser lange, lange Zeit. Wenn man dann noch weinende und kollabierende Angehörige um sich hat, erleichtert dies nicht den Tag.
Schlüsseldienst beliebter als Feuerwehr und Polizei
Bei Angehörigen, welche den Tod ihres Familienmitglieds bereits ahnen, ist der Schlüsseldienst immer erste Wahl. Sie vermeiden möglichst jeglichen Kontakt und jedes Einschreiten der Behörden. Die betroffen Personen legen gerade in diesen Situationen besonderen Wert auf Diskretion und unauffälliges Verhalten aller Beteiligten.
Aus leicht nachvollziehbaren Gründen ist Aufsehen nicht gerade das, was ein betroffener Angehöriger mag, wenn Sohn oder Tochter tot in der Wohnung liegt. Kein Mensch mag sensationshungrige Schaulustige, herbeigerufen durch Blaulicht, Folgetonhorn und ein Dutzend Männer und einen stundenlangen Einsatz inklusive einer Flut an Formularen und Unterschriften in dieser furchtbaren Zeit.
So kommt es, dass der Schlüsseldienst diese unschöne Aufgabe übernimmt und absolut diskret und unauffällig behandelt. Professionelle „Selbstmord Schlosser“, wie ich es bin, verzichten auf Kastenwägen und Firmenaufschrift, es soll ja alles im kleinen Rahmen bleiben, je weniger Menschen von einen Einsatz dieser Art Kenntnis erhalten, desto besser hat der Helfer gearbeitet. Dies ist der latente Wunsch des Anrufers.
Ein weiterer und nicht zu unterschätzender Aspekt für eine diskrete Abwicklung ist die wirtschaftliche Entwertung eines Objektes mit aufgefundener Leiche. Eine Wohnung, in dem ein Mensch getötet wurde, ist kein zu Hause mehr. Niemals wieder kommt ein Gefühl der Heimeligkeit auf, was ja auch verständlich ist. Die Wohnung muss verkauft oder abgegeben werden. Dies ist mit einem Suizidfall mehr als schwierig, in vielen Fällen sogar unmöglich. Jeder potentielle Käufer springt sofort ab, sollte er davon erfahren. Und das tut er immer, denn die Nachbarschaft übernimmt liebend gerne die Funktion der Informanten.
Wirtschaftliche Not gibt es seit jeher. Der Unterschied zu früher liegt im Empfinden. Man hatte früher das Gefühl viele teilen das selbe Schicksal, man war nicht allein in seiner Armut. Das Ertragen der Not wurde durch das Kollektiv einfacher. Armut war sichtbar und allgegenwärtig. Die modernen Zeiten, die Stadtplanung und die Entstehung der Shopping-Kultur warfen der Unterschicht den Mantel des Unsichtbaren über. Vornehmlich besteht das Umfeld ausschliesslich aus Wohlhabenden und eher dem Reichtum Zugehörenden als deren Kontroverse. Menschen in Lumpen oder Menschen ohne ausreichende kosmetische Zahnbehandlung sind aus dem öffentlich zugänglichen Teil des Strassenbildes vollkommen verschwunden. Auf den Autobahnen bewegen sich schwere Limousinen, die wackeligen Rostlauben mit einfach gekleideten Leuten haben sich in Luft auf gelöst. Auf deutsch: Wo sind all die armen Leute hin? Niemand ist mehr arm, allen geht es gut! So der politische Tenor. Die Realität ist eine andere, denn Unsichtbarkeit schliesst Existenz nicht aus. Armut, Not und Elend sind präsenter denn je, aber perfekt versteckt. Arme Menschen leben neben und zwischen uns in Tarnkappen gehüllt. Nur Menschen mit Zutritt zum Verbotenen, und das ist schon die Kenntnis, wissen vom Heer der schwer Bedürftigen, von der Armee der gänzlich Mittellosen. Für alle anderen bleibt das moderne Elend unsichtbar, der tatsächliche Zustand der Gesellschaft bleibt dem Bürger vorenthalten, er soll nichts vom Gespenst Armut und der tatsächlichen Macht der Herrscherschicht erfahren. Schmutzige Kriege wurden immer im Geheimen geführt.
Miete muss man zahlen, sonst fliegt man raus, und man fliegt wirklich raus. Raus auf die Strasse, die Jahrezeit spielt keine Rolle. Der Schlüsseldienst wird bei Delogierungen auch Räumung genannt als „Amtshelfer“ beauftragt. Manche Kollegen sehen dies als Art Missbrauch des Handwerks. Die persönliche Einstellung zum politischen System spielt nach einigen Räumungen weniger eine Rolle, es macht keinen Unterschied, ob man kapitalistisch oder sozialistische Charakterprägung sein Eigen nennt. Hängen bleiben nur die hässlichen Bilder von gänzlich mittellosen Menschen, die das schützende Dach übern Kopf verlieren. Ich habe einige Räumungen mitgemacht und kann es nicht mehr ertragen, die Schreie, die Polizei, mitunter rohe Gewalt gegen die Delinquenten, die pure Not und nackte Verzweiflung in die harte kalte Welt gebrüllt und geschluchzt. Billiger Handlanger an Front für fette Schreibtischtäter in luxeriösen Hightecbüros zu sein, die mit Milliardengewinnen noch ausgefeiltere Finanzsysteme auf Eliteuniversitäten entwickeln, um noch mehr Menschen in Armut und totale Abhängigkeit zu stürzen, um noch höhere Renditen zu erzielen, das ist nicht mein Weltbild. Für ein paar Euros die unterste Drecksarbeit für die Vergewaltiger der Erde zu spielen, das hat ein Handwerksmeister nicht notwendig. Für ein paar Euros, deren Löwenanteil sowieso in Steuern und Abgaben verpufft, direkt anzusehen und direkt am Schlachtfeld dabei zu sein, wenn der Kapitalismus seine hässlichste Fratze zeigt und seine versklavten Teufel gegen schutzlose Zivilisten in den Krieg ziehen, nein das habe ich nicht notwendig. Mit ferngesteuerten juristischen Panzern gegen waffenlose Elendsbürger, zu diesen Befürwortern zählt kein religiöser Mensch, der Glauben an Schöpfung und die Macht Gottes in sich trägt.
Niemand ist so abgebrüht, es sei denn er so innerlich verroht, dass er unfähig gemacht wurde, Gefühle zu empfinden. Niemand ist so abgebrüht, dass ihm Delogierungen nicht nahe gehen und an seinem Gemüt zerren. Man nimmt das Elend der anderen mit zu sich nach Hause, denn man ist ja ein Teil des Systems. Räumungen spielen sich meist nach selben Muster ab. Gerichtsvollzieher, Möbelpacker, Zeugen und der Schlüsseldienst treffen einander bei besagter Wohnung. Manchmal, aber selten ist noch ein Vertreter des Gläubigers anwesend, dies ist jedoch wie gesagt eher selten, denn Banken oder Versicherungen interessiert ausschliesslich das Ergebnis, nicht der Ablauf. Gilt die Partei als aggressiv wird Polizeischutz angefordert. Der Gerichtsvollzieher klopft oder schellt. Öffnet der Säumige nicht, so gibt der Vertreter des Gesetzes das Kommando: „Schlosser fangen Sie an!“ Der Schlüsseldienst bohrt oder bricht das Schloss auf, oder sperrt mit Dietrich die Wohnung auf. Der Gerichtsvollzieher betritt die Räume und befiehlt den Anwesenden das Objekt zu verlassen, sie hätten 10 Minuten Zeit. Viele verschwinden sofort, sofern sie überhaupt noch anwesend sind. Es ist ungeheuer peinlich Hab und Gut zu verlieren, ein strategischer Schachzug der Superreichen. Andere sind nicht gewillt die Wohnung zu verlassen und wehren sich mit Hand und Füssen dagegen, wörtlich. Sie schreien und beissen, sie klammern sich am Türstock fest oder schütten kochendes Wasser den Eindringlingen entgegen. Das ist Angelegenheit der Polizei. Die Widerspenstigen werden mit Gewalt aus dem Objekt gezerrt und gestossen, meist folgt die Anzeige wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt auf den Fuss. Der Mieter darf sich der Anordnung des Gerichtsvollzieher nicht widersetzen, er muss gehen. Anklagen und Anzeigen wegen Ehrenbeleidigung, Beamtenbeleidigung, gefährliche Drohung, Verfahrensverschleppung sind ebenso die Folge eines aufmüpfigen Bürgers. Hiebe und Schläge gegen Schlosser und alle anderen sind keine Seltenheit, der Schlüsseldienst oder die Möbelpacker sehen darüber hinweg, solange keine Waffengewalt im Spiel ist. Ab und zu blitzen Messer, Schlagstöcke, Baseballschläger, oder andere, verbotene Waffen auf und werden auch eingesetzt, hin und wieder kracht auch Schuss aus Pistole oder Gewehr. In seltenen Fällen treffen die Projektile sogar einen Schlosser oder einen der anderen, dieses Ereignis wird dann mit viel Glück im Lokalblatt erwähnt, wenn einige Millimeter des wertvollen Informationsträgers frei sind. Jedoch es gibt eine andere Variante in der Vielzahl der täglichen Räumungen und von diesen handelt diesen Geschichten, denn in die zensierten Einheitsmedien schaffen diese menschlichen Dramen es nie.
Ein einheitliches Guten Morgen gehaucht in die klirrend kalte Winterluft vereint die kleine Gesellschaft der anwesenden Männer und zeugt von ihrer Zusammengehörigkeit. Ausgestossener Atem bildet graue Wölkchen und vereinigt sich zu einer grossen grauen aufsteigenden Dampfwolke über der Gruppe, um sich auch sofort wieder im frostigen Nichts aufzulösen. „Alle da? Fangen wir an!“ Die Männer sehen sich um und nicken einheitlich. Der Trupp setzt sich in Bewegung in Richtung Zielobjekt, zur befohlenen Räumung einer Wohnung und kommt vor der Tür mit dem kaum lesbaren Schild 12 wieder zum Stillstand. Der Gerichtsvollzieher kontrolliert noch mal die Richtigkeit, indem er die Nummer mit seinen Unterlagen vergleicht. Mietrückstand, Fristenversäumung, das übliche Dilemma eben. Dann schlägt er heftig mit einer Münze an die abgeschlagene Tür und wartet einige Sekunden, bis er seine Schläge lauter und heftiger wiederholt. Der Gerichtsbeamte liest den Namen der betroffenen Partei in einer Lautstärke ab, die es ermöglicht ihn auch hinter der Holztür ohne Probleme zu verstehen. Die ersten neugierigen Nachbarn öffnen die Türen und gucken bei vorgelegter Kette eingeschüchtert und gebückt durch den schmalen Spalt. Andere begnügen sich mit einem Blick durch den Spion. Deutlich hört man das metallische Geräusch der kratzenden kleinen Sichtschutzklappen aus allen Ecken und Richtungen. Aus Wohnung 12 ertönt kein Mucks. Nichts ist zu hören. Kein Geräusch, kein Flüstern. Wie tot. Wie wahr. „Schlosser fangen Sie an!“ Der Befehl! Ich packe meinen Zylinderstempel aus der Werkzeugtasche aus, setze ihn auf das Schloss und mit einem einzigen Ruck entferne ich den gesamten Schliesszylinder. Mit einem grossen Schraubzieher schiebe ich den Riegel zur Seite und die Tür öffnet sich einige Millimeter. Sie hängt ein wenig schief in den Angeln und mit einem knarrenden Geräusch gleitet sie langsam wie von selbst weiter auf. Zentimeter für Zentimeter gewährt sie mehr Einblick ins Wohnungsinnere. Erst nur eine Handbreit, dann immer weiter, bis die Schwerkraft nicht mehr gegen den Reibungswiderstand ankommt und die Tür stecken bleibt. Sie ist zu drei Viertel offen, genug um ausreichend Eindruck vom stattgefunden Drama zu erahnen. Ein See geronnenen Blutes wenige Zentimeter hinterm Staffel. Schwarz und klebrig. Viel Blut, mehr als von einem einzigen Menschen. Keiner der Männer spricht ein Wort, sehen einander nur an. Das düstere Ganglicht reicht nicht aus, um den dunklen Vorraum gänzlich auszuleuchten. Der Gerichtsvollzieher blickt mich an, ich gebe ihm mit einem kaum wahrnehmenden Nicken mein selbstverständliches Einverständnis und er greift nach einer Taschenlampe in meiner Werkzeugtasche. Der Beamte richtet den starken Strahl in die Wohnung und weicht schockiert mit weit aufgerissen Augen bis zur hinteren Wand zurück. Er erbricht sich augenblicklich und lautstark in eine gusseiserne Basena, wie sie in vielen alten Häusern in Wien noch zu finden sind. Der Vertreter der Hausverwaltung nimmt dem Gerichtsbeamter die Taschenlampe aus der Hand und stösst mit dem eisernen Gehäuse der Lampe die Tür vollständig auf. Nun haben alle am Gang stehenden Männer Einblick in die Substandardwohnung, ohne Strom und ohne Wasser. Der Lichtkegel trifft auf eine Gruppe sitzender Personen. Erstarrt vor Schreck bleibt der Hausverwalter stehen und leuchtet die am Boden sitzenden Menschen frontal an. Die Sitzgruppe wirft einen bizarren Schatten an die Wand. Der Gerichtsbeamte übergibt sich einstweilen geräuschvoll weiter. Auch ich kann mich dem schaurigen Bild nicht entziehen. Im rückwärtigen Teil des kleinen Raumes sitzt eine Frau. Links und rechts von ihr kauern zwei kleine Kinder. Die Gesichter fest in der Seite ihrer Mutter vergraben. Die Mutter breitet ihre Arme wie schützende Flügel über die ganz jungen Menschen. Der ganze Raum ist überflutet mit Blut. Die Kinder weisen tiefe Schnittwunden an der Unterseite beider Handgelenke auf, exakt beim Puls. Die Hände waren beinahe abgetrennt, mit solch Kraft wurde den Kindern die Wunden zugefügt. Die Mutter weist ähnliche Schnittwunden an beiden Händen auf. Blut, Blut, alles voll. Die Kleidung, der Boden, die Gesichter. Einfach alles. Der Gerichtsbeamte hat seine Übelkeit überwunden und ringt gestützt bei geöffnetem Gangfenster um Luft. Alle anderen stehen und glotzen, wie Wachsfiguren. Ich schlucke kräftig, bin als einziger zu überhaupt einer Reaktion fähig. Ich greife zu meinem Mobiltelefon und verständige Polizei und teile meinem Gegenüber mit, um welcher Art Einsatz es sich handelt. Der Polizeibeamte ist dankbar über meine Information, er wird ohne Umschweife sogleich das Spezialteam anfordern, wir sollen warten. Geistesgegenwärtig entwende ich dem Hausverwalter die Lampe und schliesse die Wohnungstür bis auf einen winzigen Spalt. So warten wir. 20 Minuten später erscheint das angeforderte dreiköpfige erfahrene Untersuchungsteam der Polizei. Wortlos, nur durch Kopfzeichen begrüssen wir einander. Ich zeige mit der Lampe auf die betreffende Tür. Der Dienstälteste, ein Mann in Zivil öffnet sie erneut und weicht ebenso erschrocken zurück. Ich erhasche wiederum einen weiteren ungewollten Blick auf die getötete Familie. Mir wird ebenfalls flau, habe mich aber im Griff. Die Möbelpacker sind unterdessen gegangen. Niemand ist dies aufgefallen. Ich montiere eigenständig einen neuen Schliesszylinder, bevor mir der Polizist diese Bitte anträgt. Die Schlüssel und eine Visitenkarte übergebe ich unaufgefordert dem Mann mit dem schwarzen Aktenkoffer, es ist der Einsatzleiter und verschwinde still. Keiner spricht ein Wort, die Nachbarn haben ihre Türen wieder geschlossen. Das ganze Haus steht unter Schock, die Neugier ist dem Entsetzen gewichen. Ich sehe auf die Uhr, es ist nun 6 Uhr 42 an einem eiskalten Wintertag in Wien, einer kalten trostlosen europäischen Hauptstadt. Ich setze mich ins Auto, starte den Motor und lasse mir nach wenigen Minuten die warme Luft durch die Gebläseöffnungen ins Gesicht strömen. Welch guter Morgen! Einige Tage später werde ich auf aufs Präsidium gebeten, um mir die üblichen Routinefragen zu diesem „Fall“ zu stellen. Der Polizist ist freundlich, aber distanziert. Es liegt an der Dramatik dieses Suizids. Die Untersuchungen hätten es eindeutig bewiesen. Es war ein erweiterter Doppelmord mit anschliessendem Selbstmord. Die 31jährige Frau hatte zuerst ihre 5 jährige Tochter getötet, sofort danach ihren 7jährigen Sohn durch Öffnen der Pulsadern getötet. Im sofortigen Anschluss hatte sie sich selbst ebenfalls die Pulsadern aufgeschnitten. Alle drei Personen sind am Fundort gestorben. Der Grund für die Tat war mit hoher Wahrscheinlichkeit die bevorstehende Räumung, es wurde ein Abschiedsbrief gefunden, in dem dies angedeutet wurde. Das Auseinanderreissen der Familie bedingt durch die nahende Trennung von ihren Kindern war für die junge Mutter eine zu grosse Bürde. Mit dem Blut vereinigten sich auch ihre Seelen und werden für immer vereint bleiben. Die Frau hatte zwei Brüder, zu denen sie jedoch keinerlei Kontakt gepflegt hatte.
Es war die sechste Räumung an diesem Tag. Bis jetzt keine besonderen Vorkommnisse. Die ersten fünf Klienten meines Auftraggebers waren einsichtig und bedauerten ihre finanzielle Not selbst am meisten. Fast entschuldigten sie sich für die entstandenen Umstände und Kosten. Ja, man soll es nicht glauben, aber viele Schuldner sind einsichtig und verstehen die Vermieter und deren Nöte. Wir, das waren ein Gerichtsbeamter, der Hausverwalter, zwei Zeugen und ich glaubten, es ginge in diesem angenehmen Klima weiter. Alle Mieter öffneten bisher selbst und waren zur Zwangsschlüsselübergabe freiwillig bereit. Die Schlösser wurden trotzdem von mir getauscht, Sie wissen ja wie das ist mit der Vorschrift. 12 Adressen mit säumigen Schuldnern standen insgesamt auf der Liste. Schon sahen wir uns am frühen Nachmittag den Bürokram dieser Fälle während des Mittagessens endgültig zu erledigen. „Herr L. bitte öffnen Sie, wir haben uns angekündigt!“, sprach der Gerichtsvollzieher in die Gegensprechanlage. „Die Tür ist offen!“, war die Antwort und das schnarrende Surren gab den Weg frei. „Ist irgend so ein Börsenheini, der mit seiner Firma einen gewaltigen Crash hingelegt hat, da geht es um Milliarden“, flüsterte mir Richard, der Gerichtler im Vertrauen zu. Das Haus war ein traumhafter Neubau im Architektenstil. Sechs Stockwerke hoch, im jedem Stock nur eine Wohnung. Und weiter oben, im sechsten plus ein Stock, noch ein Penthouse, dort mussten wir hin. „Schönes Haus“, staunte ich laut und war beeindruckt vom Lichtspiel und dem ganzen Ambiente. „Sehr schönes Haus, exklusiver geht es kaum mehr, teuer ist dagegen billig!“, scherzte der Eigentümer, der ausnahmsweise zu uns gestossen ist. „Nichts für uns!“, meldete sich ein ansonst schweigender Zeuge zu Wort. Ich machte mir bereits Sorgen und Gedanken über die Wohnungstüre, Kinderspiel wird das keines, ist es nie in solch Prachtbauten. Die ewige Sorge des Schlossers, davon wissen die wenigsten. Wir erreichten das Penthouse durch einen eigenen Fahrstuhl und wie üblich war mein erster Blick auf die Eingangstüre. Sie stand einen Spalt offen, dafür entsandte ich ein kurzes Stossgebet, denn für diese Sicherheitsschleuse wäre der halbe Tag draufgegangen. Extrem massiv mit mehreren mechanischen Schlössern gesichert. Wären diese zu Öffnen gewesen, hätte ich Unterstützung eines Kollegen anfordern müssen, ein gewaltiger Zeitverlust. Ein kurzes Anklopfen, welches gleichzeitig ein Öffnen ist und unser kleiner Trupp betrat das Luxusapartment. Die Wohnung war mehr als beeindruckend, Vollholz- und Marmormöbel, garantiert Einzelanfertigungen, standen in einem einzigen riesigen sonnendurchflutenden Raum, allesamt kostspieliges Designerstücke. Dazwischen standen wie zufällig Kunstwerke aus Stein und andere Skulpturen. Die rückwärtige Wand war gänzlich aus Glas und der hochglanzpolierte Steinboden verband sich mit dem Horizont zu einer einzigen atemberaubenden Silhouette. Ein kurzes Raunen ging durch die kleine Menge. In der Mitte der durchsichtigen Wand war eine Öffnung eingebracht, eine Art französischen Balkons, gesichert durch ein glänzendes Chromgitter, etwa hüfthoch. Auf dieser Balustrade aus Edelstahl sass ein gepflegter junger Mann im Massanzug und italienischen Schuhen, kaum älter als 30 Jahre. Die Füsse liess er locker ins Zimmer baumeln, hinter ihm war der Abgrund. Er begrüsste uns freundlich mit einem „Hallo allerseits, es ist also soweit!“ „Guten Tag Herr Doktor“, antwortete der Eigentümer „ich hoffe es geht Ihnen gut in Anbetracht der ähhh delikaten Umstände!“ Der Mann wirkte ungemein locker und entspannt im seinem Armani Dress. Wir dachten, er wird jeden Moment herabsteigen, seinen Aktenkoffer schnappen und mir den Schlüssel übergeben. Vielleicht wird er noch ein oder zwei Worte wechseln und sich dann höflich verabschieden. „Schlosser!“ rief der Börsenguru plötzlich, „ich nehme an, Sie müssen wahrscheinlich einen Schliesszylinder tauschen, hier ist der Schlüssel. So tun Sie sich leichter“, sprach er weiter und warf mir den Schlüsselbund quer durchs Zimmer zu. Ich fing ihn ohne Probleme. Von der Eingangstür konnte ich genau zum Klienten sehen, der noch immer auf dem Geländer sass und irgendwie amüsiert wirkte, aufgrund des Spektakels zu seinen Ehren. Jeder im Raum tat seine auferlegte Pflicht. Der Eigentümer inspizierte das Penthouse, der Gerichtsvollzieher machte Notizen auf seine Unterlagen, die Zeugen standen schweigend und sahen nur zu. Ich, der Schlosser begann die Zylinderschraube zu entfernen und vertiefte mich einige Sekunden in meine Arbeit. Als ich aufblickte und zum Chromgitter hinblickte, sass er nicht mehr auf der Eisenstange. Plötzlich war der Mann weg, unser Klient war mit einemmal verschwunden. Weg, einfach weg. „Hat wer den Herrn Doktor gesehen?“, rief ich in den Raum, „ich bin fast fertig hier!“ Die Männer blickten sich im Raum herum und guckten auch in die anderen Zimmer. Verdutzte Gesichter. „Also hier ist er nicht raus!“, sprach ich laut „Bei der Tür rausgeflogen wird er wohl nicht sein, das hätte ich ja wohl oder übel gemerkt!“, scherzte ich. Das war für viele Wochen mein letzter Scherz. Als der Gerichtsvollzieher zum offenen Fenster ging und rein aus Routine nach unten blickte, traf den Beamten beinahe der Schlag. Sieben Stockwerke weiter unten lag der Gesuchte. Er hatte sich vor wenigen Sekunden vor unser aller Augen aus dem Fenster fallen lassen. Doktor L. lebte noch wenige Minuten, starb jedoch vor Eintreffen der Rettungskräfte. Wir erledigten die noch anstehenden Aufträge ohne ein einziges Wort zu wechseln und verabschiedeten uns an diesem Tag ebenfalls schweigend und ohne Mittagsessen.
Schwere Zeiten hat es immer schon gegeben, dennoch muss irgendwas heutzutage völlig falsch laufen in unserem Staat. Das steinalte Ehepaar im folgenden Drama hat nahezu das gesamte Leben hinter sich gebracht. Wie viele Jahre hat man noch mit 83?
Den zweiten Weltkrieg, die Verbrechen der Nazis, die Not und das Elend der Nachkriegszeit, die kargen Jahre des Wiederaufbaus, Armut und Einschränkungen. Sie haben Kinder gross gezogen in schwersten Zeiten und verbrachten ihr Dasein in dieser ärmlichen Kleinsiedlung. Das alles haben sie überlebt und mit all dem sind sie fertig geworden. Und nun erschiessen sie sich kurze Zeit vor ihrem biologischen Ende, dieser Umstand macht verdammt nachdenklich. Die heutige Zeit ist schwerer und unmenschlicher als all die schwierigen Perioden der Vergangenheit, das hat der Suizid dieses alten Ehepaars bewiesen. Wenn sich zwei so alte Menschen, die soviel Schlechtes in ihrem Leben durchmachten mussten selbst richten, dann sagt dies viel über unsere Gegenwart aus.
Dieser Auftrag führte mich in eine abgewohnte Reihenhaussiedlung aus den fünfziger Jahren am Rande der Stadt. Einfache ungeschmückte Häuser mit spitzen Dächern und gleichem Aussehen, die ganze Gasse links und rechts. Wo vor geraumer Zeit unzählige spielende Kinder die Strasse unsicher machten, rührt sich kein Lebensgeist mehr. Nur ein alter gebrechlicher Mann trottet gedankenverloren mit seinem winzigen Hund auf dem Gehsteig, er nimmt von seiner Umwelt keine Notiz. Einst war diese ärmliche Siedlung eine Errungenschaft in der kargen Nachkriegszeit, nun nach Jahrzehnten ist der soziale Glanz und an manchen Häusern die Fassade abgefallen. Das Leben ist entwichen. Wie sehr das Leben gegangen war, das sollte ich wenig später nach meinem Eintreffen in die „Ahornsiedlung“ erfahren. Ein etwa 50 jähriges Paar winkten mich zu Haus 11a. Sie erkannten mich als Schlüsseldienst schon aus der Ferne trotz meines Zivilfahrzeuges. Offensichtlich fahren nicht viele fremde Autos durch diese Wohnstrasse. „Ein Nachbar hat vor etwa einer Stunde einen lauten Knall gehört aus dem Haus meiner Eltern. Er hat mich angerufen, ich wohne ja nicht weit. Wir sind sofort hergefahren, aber niemand öffnet und mein Schlüssel sperrt nicht. Meine Eltern sind ganz sicher zu Hause, wo sollen sie denn sonst sein. Sind beide über 80ig Jahre!“ Diese kurze Einführung in die Sachlage gab mir der aufgeregte Mann. Seine Frau stand schweigend neben ihm und war noch nervöser. „Mal sehen, warum der Schloss nicht sperrt!“, sagte ich und griff nach dem Schlüssel. Zwei Sekunden später war alles klar, ein Schlüssel steckte auf der Innenseite. „Soll es schnell gehen oder langsam? Bei schnell wird das Schloss beschädigt, ist aber kein Problem. Ich montiere einen neuen Zylinder, kostet kein Haus!“, fragte ich das Paar. „Bitte, machen Sie schnell, so schnell es geht. Ist völlig egal, wenn was kaputt wird. Ich mag nur rasch wissen, was mit Mama und Papa ist!“ Ein Griff in meine Tasche zum passenden Werkzeug. Zylinderstempel aufsetzen und raus mit dem Schloss. Kurz noch mit dem Schraubenzieher drehen, und die Türe ist offen. Mit dem Fuss gebe ich der Tür einen leichten Stoss. Der Anblick, der sich in diesem Moment bietet ist grausig! Etwa drei Meter entfernt am Ansatz eines mit einer einzigen Glühbirne beleuchteten Treppenaufgangs liegt eine dürre Gestalt in einem weissen Nachthemd. Die gesamte Tapetenwand
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 26.12.2016
ISBN: 978-3-7396-9043-8
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