SIE
Da war es wieder, dieses Gefühl. Vielmehr war es nicht, zumindest konnte sie nicht mehr daraus machen. Sie schaut sich um. Die Dunkelheit hält sie fest umschlossen. Ein paar Bäume hier und da, in einiger Entfernung leuchtet die nächste Straßenlaterne. Helligkeit kommt ihr jetzt ziemlich wichtig vor, also eilt sie darauf zu. Ihre Schritte beschleunigen sich. Sie hört das Klackern ihrer Absätze auf dem Asphalt, atmet schneller, schaut sich immer wieder ängstlich um. Niemand zu sehen. Du bildest dir das ein! Ihr Verstand hat eine sehr eindeutige Meinung, von der jetzigen Situation. Da ist nichts! Fahr deinen Puls runter und entspanne dich! Wenn du wieder klar denken kannst, wirst du sehen, dass es keinen Grund gibt sich zu fürchten! Keinen Grund außer der Dunkelheit. Eigentlich weiß sie natürlich, dass auf ihren Verstand immer Verlass ist, aber dieses Gefühl ist so real, dass sie es nicht einfach ignorieren kann. Wer würde das tun? Jetzt übernimmt der Fluchtreflex die Kontrolle. Sie lässt ihn gewähren. Das Licht kommt näher. Licht bedeutet Sicherheit. Mit aller Macht stürmt sie darauf zu, erreicht es endlich, fühlt sich wieder sicher, atmet erleichtert aus.
Die Menschen an der Bushaltestelle, die das Licht preisgegeben hat, schauen sie etwas zweifelnd an. Sie kann es ihnen nicht verübeln. Was würde sie wohl an ihrer Stelle denken? “Alles ok?” fragt eine ältere Dame besorgt? “Sie sind ja ganz außer Atem.” Zumindest ein bisschen Mitmenschlichkeit in der kalten Großstadtwelt. Sie bedankt sich für ihre Fürsorge und versichert ihr, dass alles in Ordnung ist. Wie sollte sie ihr im Notfall auch helfen können? Ihr Blick gleitet zurück in die Dunkelheit, aus der sie gekommen war. Nichts als alles verschluckende Schwärze. Wie ein schwarzes Loch saugt sie alles auf, was sich ihr nähert und gibt es nicht mehr preis. Auch ihren Verfolger nicht. Ich konnte ihn spüren. Er war da. Ich weiß es. Doch jetzt ist er weg. Der Bus kommt. Sie steigt ein. Sicherheit! Sie setzt sich hinter die freundliche alte Dame und spürt gedankenverloren, wie sich der Bus in Bewegung setzt. Ein letzter Blick aus dem Fenster. Der Bus biegt ab. Sie erstarrt. Im letzten Moment glaub sie einen Schatten gesehen zu haben. Einen Schatten, der eine Melone auf dem Kopf trug.
ER
Da war sie wieder. Er hatte sie deutlich gesehen. Seit ein paar Tagen schon, scheinen sich ihre Wege immer wieder zu kreuzen. Als würde mir das Universum etwas mitteilen wollen. Er erinnerte sich noch genau an den Tag, als sie ihm zum ersten Mal aufgefallen war. Wie jeden Morgen hatte er das Haus verlassen. “Vergiss den Müll nicht, Milton!” hatte ihm seine Frau hinterher gerufen. Natürlich hatte er ihn nicht vergessen, das hatte er seit Jahren nicht mehr, aber dieses Ritual hatten sie im Laufe der Zeit entwickelt und jetzt war es ihnen in Fleisch und Blut übergegangen, ganz egal wie lächerlich es war. So war das eben mit der Ehe. Die Ehe war eine Art Baukastensystem, aus dem man sich die Teile aussuchte, die am besten passten. Daraus entwickelten sich Rituale, die zusammenschweißten und die Banalität des Alltags erträglicher machten. Das meinte er auch gar nicht negativ. Es machte das Leben berechenbar, die Zukunft planbar und dieses völlig undefinierte Gefühl namens Glück irgendwie greifbarer. Milton war zufrieden. Ein kleines Haus, eine hübsche Frau, Sohn und Tochter. Die perfekte Kleinstadtidylle. So hatte er sich sein Leben immer vorgestellt und das Universum war gut zu ihm gewesen.
Er hatte also gerade den Müll in die Mülltonne geworfen, als er sie entdeckte. Zunächst nur ihr perfekt symmetrisches Gesicht, überzogen mit einem glänzenden Schweißfilm, der im Licht der aufgehenden Sonne schimmerte wie Tau auf einer grünen Wiese. Das lange blonde Haare zu einem im Takt ihrer Schritte wippenden Pferdeschwanz zusammengebunden, war sie auf ihn zu gejoggt. Er konnte den Blick einfach nicht von ihr abwenden. Vor allem nicht, als die Bäume den Blick auf den Rest ihres Körpers frei gaben. Hauteng anliegende Laufkleidung betonte jeden ihrer körperlichen Reize noch einmal zusätzlich. Sie lief an ihm vorbei, drehte kurz den Kopf und schenkte ihm ein Lächeln, das sich direkt in sein Hirn brannte. Vor lauter Aufregung hatte er den Mülltonnendeckel losgelassen, der ihm auf die Finger der anderen Hand fiel und ihn schmerzhaft in die Realität zurückholte. Seitdem war sie ihm nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Ihre Wege hatten sich seitdem immer wieder gekreuzt. Es war fast, als wüssten seine Beine ganz genau, wohin sie zu laufen hätten, ohne dass er sie bewusst steuerte. Faszinierend.
Heute war es allerdings anders als sonst. Er hatte sie schon von Weitem entdeckt. Inzwischen schien sein Unterbewusstsein ihre Bewegungen ganz genau aus der großen Masse herausfiltern zu können. Sie war ihm irgendwie verändert vorgekommen. Ganz so als stimmte etwas nicht. Machte sie sich Sorgen? Ging es ihr nicht gut? Er war ihr gefolgt, bis sie in den dunklen Park abgebogen war. Dort war es sogar für ihn unheimlich um diese Zeit, wie musste sie sich dann erst fühlen? Gentleman der er nun einmal war, hatte er all seinen Mut zusammengenommen und ihr hinterher gegangen. Immer wieder drehte sie sich wie aus dem Nichts um und scannte die Dunkelheit. Sie konnte ihn nicht erkennen, da war sich Milton sicher. Er hatte kurz überlegt, sie anzusprechen und seine Hilfe anzubieten, doch das war ihm dann zu aufdringlich vorgekommen. Dann war sie losgespurtet als wäre der Teufel hinter ihr her. Milton schaute sich erschrocken um. Wenn sie so losrannte, musste sie Angst haben. War jemand hinter ihr her? Verfolgte sie jemand? Er konnte niemanden sonst erkennen, aber das musste ja nichts heißen in dieser Finsternis. Todesmutig rannte er hinter ihr her, immer mit einem Angriff rechnend. Dann hatte sie endlich das Ende des Parks erreicht. Im Licht der Straßenlaternen konnte er sie wieder deutlicher erkennen. War das Angst auf ihrem Gesicht? Er schaute sich um, aber niemand war zu sehen, der dafür als Ursache in Frage käme. Vorsichtig näherte auch er sich nun dem Ausgang des Parks und sah sie in den Bus steigen. Er ließ den Bus vorbeifahren und machte sich auf den Heimweg. Glück gehabt! Anscheinend war sie nur spät dran und hätte fast den Bus verpasst. Dieser beruhigende Gedanke, ließ auch bei Milton alle Anspannung aus den Gliedern weichen. “Wein!” schoss es ihm durch den Kopf. Eine gute Flasche Rotwein würde dem Abend mit seiner Frau das I-Tüpfelchen verleihen.
GEDANKEN
Der Ausdruck in ihrem Gesicht war einfach herrlich. Diese Angst, diese Verzweiflung! Sie wusste gar nicht, wie ihr geschieht. Und alles so authentisch. Es tut gut sie so zu sehen, gibt mir noch einmal einen Extra-Kick für die nächsten Herausforderungen. Die Reise ist nicht nicht zu Ende, meine Liebe. Das war erst der Anfang. Ich kichere leise in mich hinein, als ich mir diese rasante Flucht noch einmal vor Augen rufe. Die Nachtsichtkamera hat ganze Arbeit geleistet. Damit lässt sich arbeiten.
Vorsichtig lege ich die Kamera zur Seite und mache mich wieder ans Werk. Wie kann eine so hübsche Frau nur so unordentlich sein? Aber gut, da helfe ich ihr natürlich gerne. Ich sammle die Wäschestücke ein und werfe sie in die Waschmaschine. Buntwäsche. Anschließend stelle ich das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine. Als beide Maschinen laufen setze ich meine Erkundungstour fort. Nicht dass ich erwarte etwas neues zu entdecken. Ihre Wohnung, ihre Einrichtung, ihre Kleiderschränke: all das kenne ich mehr als gut. Da macht es mir nicht aus, ihr auch ein bisschen im Haushalt unter die Arme zu greifen.
Ich platziere die Kamera auf einem Regal und richte sie passend aus. So habe ich sie perfekt im Bild, wenn sie später nach Hause kommt. Nachdem ich sichergestellt habe, dass die Kamera nicht zu sehen ist, stelle ich das Radio an, setze ich mich auf die braune Ledercouch und warte. Die Wäsche ist sicher bald fertig. Dann muss ich sie nur noch schnell aufhängen und meine Arbeit ist getan. Zufrieden verlasse ich kurz darauf ihre Wohnung und freue mich schon auf ihr Gesicht, wenn sie meine Hilfe entdeckt.
ANJA
Völlig erschöpft erreicht sie schließlich ihr zu Hause. Der Puls hatte sich langsam wieder beruhigt und der Rest des Abends war ohne weitere Zwischenfälle verlaufen. Langsam begann sie zu glauben, sich doch alles nur eingebildet zu haben. Warum würde ein Verfolger sonst so leicht abzuschütteln sein? Und überhaupt, wo waren die Beweise? Sie hatte nichts vorzuweisen, als ein ungutes Gefühl. Jetzt war sie erst einmal zu Hause. Eine große Mütze Schlaf würde ihr gut tun und ihre Nerven wieder beruhigen. “My Home is my Castle!” flüsterte sie vor sich hin und schloss die Tür auf. Die seit Wochen defekte Deckenleuchte zwang sie, die ersten Schritte im Dunkeln zurückzulegen. “Wäre ne klasse Idee, die Birne endlich auszutauschen!” erteilte sie sich selbst den Auftrag. “Sonst brech ich mir irgendwann noch was.” Langsam tastete sie sich weiter vorwärts in Wohnzimmer und betätigte den Lichtschalter. Es blieb dunkel. Und sofort kehrte dieses Unwohlsein zurück. Ein bitterer Geschmack machte sich in ihrem Mund breit. Sofort erinnerte sie sich an einschlägige Filme, in denen der Mörder immer die Glühbirnen aus den Lampen schraubte und im dunklen Zimmer auf sein Opfer lauerte. “Ist da wer?” rief sie ängstlich in den Raum und ärgerte sich gleichzeitig, das filmische Klischee zu erfüllen. Natürlich antwortete niemand, aber ihre Gedanken drehten sich nur noch um potentielle Axtmörder in ihrer Wohnung. Die konnten hinter jeder Ecke lauern. Eiskalt lief es ihr den Rücken hinunter. Nur mit Mühe vermochte sie es, das Zittern ihrer Beine wieder soweit unter Kontrolle zu bringen, dass sie sich weiter bewegten. Ich brauche Licht! Irgendwo muss hier doch der Lichtschalter sein! Dann spielten ihre Beine nicht mehr mit. Zitternd ließ sie sich an der Wand hinab gleiten und umklammerte ihre Knie. Gegen die Tränen war sie machtlos. So sehr sie sich auch dagegen wehrte, ihre Fantasie ließ nicht locker. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie in die Dunkelheit und wartete auf den Angriff ihres Mörders. Da war er! Sie konnte den Schatten deutlich sehen! Voller Verzweiflung sprang sie auf und krachte mit dem Kopf gegen das massive Bücherregal über ihr. Die Sinne schwanden und sie fiel langsam in die Dunkelheit. Den Aufprall spürte sie schon nicht mehr.
“Anja, wach auf! Komm schon! Aufwachen!” hörte sie von Ferne. Sie kannte diese Stimme irgendwoher. Langsam kehrte sie ins Reich der Lebenden zurück. Vorsichtig öffnete sie die Augen und schaute der Person ins Gesicht. Erleichtert atmete sie aus. Es war ihre Schwester. Endlich war sie nicht mehr allein.
“Was ist denn passiert, Anja?” Eine gute Frage. Vorsichtig schüttelte sie den Kopf und versuchte ihre Gedanken wieder zu sortieren.
“Ich … Ich weiß es nicht genau”, stammelte sie vor sich hin. “Es war so dunkel. Ich hatte Angst.”
“Angst? Wovor denn?”
“Da war jemand. Hier! In meiner Wohnung!” Zweifel im Gesicht ihrer Schwester. “Bitte, Anna! Du musst mir glauben!” flehte sie weiter. “Ich erfinde das nicht!”
“Ok, erzähl mal!” forderte ihre Schwester sie auf. Ob sie ihr glauben würde? Andererseits, was hatte sie für eine andere Wahl? Wenn ihr einer helfen konnte, dann Anna. Klar, sie hatten ihre Differenzen gehabt. Eine Untertreibung eigentlich. Sie beide verband eine sehr bewegte, nicht unbedingt angenehme, Vergangenheit. Anja hatte ihrer Schwester den Freund ausgespannt, was dieser ziemlich sauer aufgestoßen war. Ihre Rache war erbarmungslos gewesen und hätte ihren damaligen Freund fast das Leben gekostet. Aber gut, das war Vergangenheit. Anna war damit durchgekommen, ohne die geringsten Probleme bekommen zu haben. Sie fand das natürlich nicht gerecht, aber es hatte Anja beeindruckt. Und wer weiß, wie mir das nochmal von Nutzen sein wird? Also vertraute sie sich ihrer Zwillingsschwester an und erzählte ihr von all den kleinen Details, die ihr in den letzten Wochen aufgefallen waren. Von den unguten Gefühlen, beobachtet zu werden, besonders wenn sie öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs war. Von ihren Ängsten in der Dunkelheit. Von den Veränderungen in ihrer Wohnung, die sie nicht selbst vorgenommen hatten. “Was meinst du, Anna? Reicht das, um zur Polizei zu gehen?”
Der Gesichtsausdruck ihrer Schwester hatte sich von überrascht über entsetzt zu nachdenklich gewandelt.
“Ich glaube das ist nicht so einfach, Anja. Ich meine, was willst du denen erzählen?”
“Na das Gleich wir dir.”
“Eben. Ich glaube dir natürlich, weil du meine Schwester bist und ich weiß, welche Überwindung dich das gekostet hat. Aber die Polizei braucht Beweise, keine Gefühle. Die suchen DNA, Fingerabdrücke, Tatwaffen, alles was irgendwie greifbar ist.”
“Ich verstehe. Du meinst, selbst wenn mich jemand verfolgt hat, dann war es in der Öffentlichkeit, wo auch Dutzende andere Menschen jeden Tag ihre Spuren hinterlassen. Und Mann mit Melone ist jetzt auch nicht gerade eine super genaue Beschreibung. Aber hier! Hier in meiner Wohnung könnte die Polizei doch fündig werden, oder? Ich lasse hier so gut wie nie jemanden rein Vielleicht finden sie ja Fingerabdrücke und DNA?”
“Möglich ist das natürlich”, musste Anna zugeben. “Wenn der Kerl schlau ist, wird er aufgepasst haben. Aber wer sagt, dass das ein intelligenter Stalker ist? Ich will ehrlich zu dir sein: Ich bin kein Fan der Polizei, wie du weißt. Allerdings ist es dein Leben und wenn er tatsächlich hier in der Wohnung war, besteht auch die Chance, dass die Polizei Beweise dafür findet. Ich würde es zwar auf meine Art regeln, aber das ist für dich vielleicht nicht das Richtige.”
Anja hatte sich entschieden. “Also rufen wir die Polizei! Er muss heute hier gewesen sein, also sind die Spuren noch frisch!” Ihre Schwester nickte zustimmend und reichte ihr das Telefon.
GEDANKEN
Die Polizei? Wie erbärmlich! Hältst du mich wirklich für so naiv? Komm schon! Das kann doch nicht dein Ernst sein! Du hattest eine faire Chance, aber was tust du? Du brichst die Regeln und beleidigst meine Intelligenz. Hättest du nur auf deine Schwester gehört. Natürlich habe ich diese Möglichkeit vorausgesehen. Aber lass die Herrschaften nur suchen. Sie werden dir nicht weiterhelfen können. Nur du kannst das Rätsel lösen, Anja. Nur du allein. Aber ich gebe zu es ist schon ein bisschen amüsant dabei zuzusehen, wie du deine komplette Wohnung auf den Kopf stellen lässt, deine intimsten Geheimnisse offenbarst. Ich sehe dir an, wie unangenehm das für dich ist. Es wäre nicht nötig gewesen. Aber wenn du es so willst … Dein Wunsch sei mir Befehl! Bringen wir das Spiel auf ein neues Level!
MILTON
Milton war aufgeregt. Es kam nicht alle Tage vor, dass er sich mit einer Frau traf. Mit einer Frau, die nicht seine Ehefrau war. Er war sein ganzes Leben sehr korrekt gewesen, was das betraf. Kein Flirt auf der Arbeit, kein Chat im Internet, keine Ambitionen sich irgendeiner andere Frau zu nähern. Er konnte es sich auch nicht wirklich erklären, was sich geändert hatte. Bei dieser Frau war einfach alles anders. Sie könnte die eine sein. Die eine, die seinem Leben auf seine alten Tage noch einmal eine völlig neue Richtung gibt. Nicht dass er unzufrieden war. Er und seine Frau führten eine glückliche Ehe und er konnte sich nicht beschweren. Nur jünger wurde er eben auch nicht. Und wenn er ganz ehrlich zu sich selbst war, fand er die ganze Situation auch unglaublich aufregend und spannend.
Tatsächlich war ihre Beziehung von Anfang an voller Geheimnisse gewesen, was nicht zuletzt an ihrer unbekannten Identität lag. Aber heute würde sich das ändern. Heute würde das Geheimnis gelüftet werden. Voller Vorfreude stieg er aus dem Bus und folgte der Wegbeschreibung. Milton hatte keine Ahnung, wie sie es geschafft hatte, ihm diesen Zettel zu zustecken, aber das spielte auch keine Rolle. Er hatte ihn gestern entdeckt und jetzt war es endlich soweit. Gleich würde er vor ihrer Tür stehen und … Ja und dann? So genau hatte er das noch nicht durchdacht. Aber er hatte eine Flasche seines besten Rotweins dabei. Was konnte da noch schiefgehen?
“Zum Beispiel ein Polizeieinsatz!” schoss es ihm durch den Kopf, als er das Großaufgebot der Polizei sah, das sich vor dem Wohnhaus versammelt hatte. Was war hier nur los? Hoffentlich war nichts Schlimmes passiert. Zielsicher gesellte er sich zu der gaffenden Menschentraube, die sich gebildet hatte. So konnte er das Geschehen unbemerkt beobachten. Es dauerte nicht lange, da hatte er sie entdeckt. Offenbar schien sie relativ aufgebracht mit den Polizisten zu diskutieren. Definitiv war heute kein guter Tag für ihre erste echte Begegnung. “Aber das ist ja kein Problem”, flüsterte Milton vor sich hin. “Ich weiß ja jetzt wo du wohnst.” Dann machte er sich auf den Heimweg. Seiner Frau würde der Wein auch vorzüglich munden.
ANJA
War er das? Für einen kurzen Moment nur hatte sie das Gefühl gehabt, den Mann mit der Melone gesehen zu haben. Dort drüben zwischen all den Schaulustigen. Inzwischen wünschte sie sich, sie hätte auf ihre Schwester gehört und nicht die Polizei gerufen. Wieso müssen die auch gleich mit so einem riesen Tamtam hier auftauchen. Ist doch logisch, dass jetzt jeder wissen will, was los ist! Sie wusste nicht genau, was sie sich erwartet hatte, aber zumindest nicht das. Vielleicht ein, zwei einfühlsame Polizisten, die ihre Not verstanden und sie ernst nahmen. Vielleicht eine Polizistin, die nachfühlen konnte, wie es sein musste als Frau solche Ängste ausstehen zu müssen. Diskretion eben. Aber das schien ein Fremdwort zu sein. Das Spurensicherungsteam umfasste mehrere Personen, vor dem Wohnhaus parkten inzwischen zwei Autos von der Polizei und ein Kleinbus.
Anja hatte ein bisschen frische Luft schnappen wollen und war vor die Tür gegangen. Ein Fehler wie sie schnell festgestellt hatte, wollte doch gleich jeder von ihr wissen, was genau los war. Also war sie zurück in die Wohnung geflüchtet. Was hätte sie ihnen auch sagen sollen? Natürlich machte das alles keinen guten Eindruck von ihr als Nachbarin. Das war eine ruhige Wohngegend. Mit Polizei und Verbrechen hatten sie hier nichts zu tun. Doch jetzt war alles anders.
Natürlich war ihre Wohnung übersät mit Fingerabdrücken und DNA-Spuren. Anna und sie hatten selbst Proben abgeben müssen, damit klar war, welchen Spuren ausgeschlossen werden konnten. Anja hoffte nur, dass all die Unannehmlichkeiten sich lohnten. Verzweifelt suchte sie den Blick ihrer Schwester, die das Geschehen mit einer stoischen Ruhe betrachten konnte, die ihresgleichen suchte. Endlich trafen sich ihre Blicke und sie verstand. Wortlos ging sie die paar Schritte auf Anja zu und nahm sie in den Arm. “Alles wird gut”, flüsterte sie ihr zu. “Es ist bald vorbei.”
Sie sollte recht behalten. Kurz darauf verließen die Leute der Spurensicherung ihre Wohnung und Oberkommissar Schnauzbart, so hatte sie ihn aus naheliegenden Gründen genannt (wie sollte man sich auch den Namen Landolf Begrang merken können?), baute sich vor ihr auf. “So, Frau Schmidt”, polterte er los, “wir sind soweit mit der Sammlung der Beweismittel durch jetzt. Ihre Fingerabdrücke und DNA-Spuren haben wir gleich am Anfang ins Labor geschickt. Die ersten Tests sind gelaufen und wie zu erwarten war sind das überwiegend Spuren von ihnen und ihrer Schwester. Bis jetzt haben wir keine anderen Spuren gefunden. Keine Beweise für einen Eindringling. Nichts. Tut mir leid, Frau Schmidt, aber falls jemand hier war, hat er sich wohl gut vorbereitet.”
“Falls jemand hier war? Natürlich war jemand hier! Glauben Sie mir etwa nicht?”
“Das habe ich nicht gesagt, Frau Schmidt. Ich sage nur, dass wir außer Ihrer Aussage keinerlei Beweise für eine dritte Person in Ihrer Wohnung gefunden haben. Und Beweise sind nun einmal das, woran wir uns halten müssen. Stalker hinterlassen normalerweise gerne einen Beweis für ihre Anwesenheit. Etwas von dem sie denken, dass es sie mit dem Opfer verbindet. Hier fehlt das alles. Natürlich nehmen wir Ihre Sorge ernst. Aber außer Ihrem Gefühl haben wir im Moment nichts, mit dem wir arbeiten können. Und außer Ihnen und ihrer Schwester, scheint niemand in der Wohnung gewesen zu sein. Wir werden die nächsten Tage die Polizeipräsenz hier in der Nähe erhöhen. Vielleicht geht uns Ihr Mann mit der Melone ja noch ins Netz. Dann könnten wir ihn zumindest verhören. Und falls Ihnen noch irgendetwas Ungewöhnliches auffällt oder wieder einfällt, zögern Sie nicht uns anzurufen!”
Anja nickte nur und sah dem Polizisten ratlos hinterher. Was für ein Reinfall. Hätte sie nur auf Anna gehört. Dann wären ihr zumindest die mitleidigen und überwiegend neugierigen Blicke ihrer Nachbarn erspart geblieben. “Tut mir Leid, Anja”, versuchte ihre Schwester sie zu trösten. “Auch wenn es keine Beweise zu geben scheint, ich glaube dir!” versicherte sie ihr. Das tat gut.
“Danke, Anna! Es tut gut zumindest eine Person zu haben, die mich nicht für verrückt hält. Ich hätte auf dich hören sollen. Das mit der Polizei war echt eine Schnappsidee. CSI gibts eben nur im Fernsehen.”
“Mach dir nichts draus! Du hast getan, was du für richtig gehalten hast. Beweise oder nicht. Ich bin sicher, dieses britische Schwein taucht bald wieder hier auf. Dann werden wir ihn eben alleine dingfest machen!” versuchte sie ihr zum Abschied lächelnd Mut zu machen. Sie bedankte sich für die Unterstützung und schloss die Tür hinter ihr zweimal ab.
“Hier bin ich sicher! Zusammen sind wir stark!” sagte sie sich mantraartig vor. Die Erkenntnis, die sich gerade ihren Weg aus Unterbewusstsein zu bahnen begann, blieb ihr vorerst noch verschlossen. Sie würde schon bald Einzug in Anjas Träume halten.
GEDANKEN
Das war Runde 1, meine liebe Anja. Du hast ganz passabel mitgespielt. Nicht wirklich eine Herausforderung. Dazu bist du einfach zu berechenbar. Da gab es nicht viele Variablen zu berechnen. Polizei oder nicht. Auf beide Situationen war ich vorbereitet. In gewissem Sinne hast du mir sogar einen Gefallen getan. Natürlich konnten die keine Beweise finden. Ich bin ja nicht blöd. Stalking hat das Potential zum perfekten Verbrechen, gerade weil sich der Großteil in deiner Fantasie abspielt. Beweise hinterlassen nur Amateure. Ich spiele in der Königsklasse! Und wer wird dir jetzt noch glauben?
Der Mann mit der Melone … Wie putzig. Selbst wenn dein angeblicher Stalker hier noch auftaucht, selbst wenn er dabei der Polizei über den Weg läuft wird sich nichts ändern. Der arme Milton könnte einem echt leid tun. Warum musstest du ihm aber auch so den Kopf verdrehen? Er hat doch Frau und Kinder! Ach stimmt, das warst ja gar nicht du. Und eigentlich ist er ja selbst schuld, wenn er jeder gutaussehenden Frau einfach hinterher rennt. Vielleicht lernt er ja was draus. Mal sehen, was seine Frau dazu sagen wird.
Aber für dich, liebe Anja, beginnt der Spaß gerade erst. Ich bin sehr gespannt, ob und wann du zu einem wahren Gegner für mich heranwachsen wirst. Runde 1 hast du jedenfalls haushoch verloren. Total verängstigt. Von Gegenwehr keine Spur. Das kannst doch sogar du besser, oder? Aber wie sagt man so schön: Man wächst mit seinen Herausforderungen! Und die werde ich dir bescheren. Fang an zu kämpfen und wachse daran oder geh zu Grunde!
Ganz egal, wie du dich entscheidest, eines kann ich dir versichern: Ich werde da sein und dich beobachten!
ENDE DER ERSTEN RUNDE
Tag der Veröffentlichung: 01.04.2018
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