Cover

Bahnsteig 3

“Sie glauben noch an Gut und Böse, dabei geht es nur um Profit oder Verlust! Sie glauben an Gesetze, aber es geht immer nur um Geld!”

 

Was zuvor passiert war hatte ich nicht mitbekommen, aber diese beiden Sätze erregten meine Aufmerksamkeit. Sie bilden den Auftakt zu einer Geschichte, die ich selbst nicht glauben würde, wäre es nicht meine eigene. Und alles begann mit nur zwei Sätzen.

 

Niemals werde ich diese Worte wieder vergessen können. Ich habe es versucht, das können Sie mir glauben. Anfangs hatte ich es wirklich versucht. Aber es war aussichtslos. Zusammen mit den zugehörigen Bildern verfolgen sie mich seither jeden Tag, jede Nacht, in meinem Alltag, in meinen Träumen. Bis heute. Denn heute ist der Tag, an dem ich meine Geschichte erzähle.

 

“Das ist doch keine Lösung, junger Mann! Jetzt stecken Sie schon die Waffe wieder weg!” Die alte Dame war resolut. Das musste man ihr lassen, naiv aber resolut. Überhaupt war sie die Einzige, die das sich anbahnende Drama wahrgenommen hatte. All die anderen starrten stur geradeaus, nur auf sich fokussiert oder komplett in Gedanken versunken. Keine Zeit für eine Abweichung vom normalen Ablauf. 8:10 Uhr. Der übliche Berufsverkehr hier am Bahnsteig 3. Doch die Dame gehörte nicht zu den Horden an Berufspendlern, die hier tagtäglich ankamen und abfuhren. Alle stets in Hektik, immer rennend um ihren Zug noch zu erreichen. Für mich hatten sie keine Zeit. Keiner von ihnen hatte mich je richtig wahrgenommen, mir mehr als einen flüchtigen Blick gegönnt.

 

Da war der Vater, der jeden Montag seinen Sohn in den Zug setzte, damit er zurück zu seiner Mutter kam. Am Wochenende brauchte sie Zeit für sich, da durfte er den Kleinen haben.

 

Da war der aufstrebende Anwalt, der in die Stadt zur Kanzlei fuhr und sich jeden Tag einredete, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er genug verdiente, um sich ein schickes Apartment in der City leisten und das Pendlerdasein beenden zu können. Glücklicherweise lässt er sein Umfeld an seinen Gedanken teilhaben. Die Menschen reden viel an Bahnsteig 3. Keiner will es wirklich, doch bis der erlösende Zug kommt, sitzen sie alle im gleichen Boot und versuchen irgendwie die Zeit tot zu schlagen.

 

Da war die Gruppe junger Studenten, die zur Uni mussten und sich ausmalten, wie die Zeit nach dem Studium sein würde. Sie kamen immer auf den letzten Drücker, waren immer kurz davor den Zug zu verpassen. Als wäre das eine Art Nervenkitzel, den sie brauchten um sich lebendig zu fühlen. Entweder hatten sie keinerlei Zeitgefühl, oder es war ihnen egal. "Zeit ist relativ", scherzten sie gerne, wenn es einmal schiefging. "Und wir haben relativ viel davon!"

 

Kein Wunder, dass niemand von ihnen bemerkte, was sonst noch geschah. Sie hatten einfach keinen Blick dafür. Die alte Dame dagegen war anders. Ich hatte sie jetzt schon einige Wochen beobachtet. Sie war stets aufmerksam, betrachtete ihre Umgebung mit prüfendem Blick, nahm sich Zeit, traf wohlüberlegte Entscheidungen. Ich gebe zu, anfangs war mir der Unterschied nicht aufgefallen. Für mich war sie wie alle anderen. Aber da hatte ich vorschnell geurteilt. Je mehr Zeit ich mir nahm, sie aufmerksamer zu beobachten, desto klarer wurde mir, dass sie nicht den hier üblichen Mustern folgte. Sie war nie hektisch, rannte nie panisch zur letzten offenen Zugtür, schien es nie übermäßig eilig zu haben. Man konnte fast meinen, sie wäre zum Vergnügen hier. Dieses Mal mal jedoch, war es sicher kein Vergnügen. Der junge Mann schien zu allem entschlossen. Er würde sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Hier und heute.

 

Ich habe schon eine Menge erlebt an diesem Bahnsteig. Wer wie ich tagtäglich die Menschen beobachtet, kommt nicht daran vorbei vieles wahrzunehmen, was man später am liebsten möglichst schnell wieder aus seinen Erinnerungen löschen möchte. Doch genau das waren die Erinnerungen, die sich am längsten hielten. Wie in einem immer wiederkehrenden Traum, wurden sie regelmäßig aufgefrischt. Wie oft hatte ich mir gewünscht, in solchen Momenten einfach die Augen schließen zu können, um all das Elend auszublenden. Aber ich konnte es nicht. Ich musste einfach hinsehen. Ich hatte keine Wahl. Dieser Morgen war allerdings anders. Ich spürte von Anfang an, dass er etwas Besonderes war. Die Zeit war reif.

 

Ich konzentrierte mich wieder auf die alte Dame. Mir war schnell klar, was sie vorhatte. Genauso klar, wie ich vor Augen hatte, was der Mann gleich tun würde. Ich hatte schon viele Versuche gesehen, einen Menschen davon abzuhalten, sich das Leben zu nehmen. Bahnsteige üben eine gerade magische Anziehungskraft auf solche Personen aus. Dieser Mann jedoch, war bewaffnet. Wozu? Ein Selbstmörder mit Waffe, das war neu. Neu und völlig unnötig, denn Bahnsteig 3 eignete sich perfekt für solche Vorhaben. Hier gab es viel Durchgangsverkehr. Mehrmals am Tag rasten die Züge einfach an den wartenden Menschen vorbei. Schnellzüge verbanden Großstädte und Metropolen. Für kleine Milchkannen wie diese hatte ein Schnellzug keine Zeit. Warum auch? Als hiesiger Einwohner müsste man froh, geradezu dankbar sein, dass überhaupt noch Züge verkehrten. Seit Jahren war nichts in den Erhalt des kleinen Bahnhofs investiert worden. Der Zahn der Zeit nagte unnachgiebig an jeder Ecke. Soweit ich es mitbekommen hatte, hielten es die meisten nur für eine Frage der Zeit, bis er endgültig geschlossen werden würde. Mit kleinen Bahnhöfen war eben kein Geld zu verdienen. Was aus den Menschen wurde, die Tag für Tag auf ihn angewiesen waren, schien keine Rolle zu spielen. Vielleicht hatten mich die Worte des jungen Mannes deshalb aus meiner Lethargie gerissen. Weil sie wiederspiegelten, was alle dachten, mich eingeschlossen. Worte, so einfach und direkt, so auf den Punkt, so wahr. Worte aus denen die pure Verzweiflung und Hilflosigkeit sprach. Verzweifelte Menschen waren die gefährlichsten. Sie hatten nichts mehr zu verlieren. Der alten Dame schien das egal zu sein. “Vielleicht weil sie alt ist?” dachte ich. “Weil sie auch nichts mehr zu verlieren hat?”

 

Die beiden hätten unterschiedlicher nicht sein können. Er über 1,80 Meter groß, die Kleidung zerschlissen, ungepflegt, keine 30 Jahre alt. Sie klein und schmächtig, gut gekleidet, sehr auf ihr Äußeres bedacht, das Rentenalter schon seit gut einem Jahrzehnt erreicht. Dennoch schien ein unsichtbares Band die beiden regelrecht aneinander zu ketten und keiner schien in der Lage oder auch nur gewillt, dieses Band zu zerschneiden und den Weg in das unabwendbare Ende frei zu geben. Aber wozu hatte er die Waffe dabei? Wollte er noch andere mit in den Tod nehmen? Oder sollte sie lediglich zur Abschreckung dienen?

 

Meine Gedanken mäanderten vor sich hin. Erinnerungen flackerten auf, verbanden sich zu Ideen, Ideen zu Überlegungen und dann verloren sie sich wieder im Nebel meiner Konfusion. Eine Erkenntnis brach sich Bahn, kämpfte sich durch ein Dickicht nutzlosen Wissens, bis sie meine Aufmerksamkeit erlangt hatte. In diesem Moment sah ich die Szene mit anderen Augen, spürte die Verbundenheit mit den beiden Protagonisten, erkannte wie sehr unsere Unterschiede uns einten, wie sehr unsere Schicksale miteinander verwoben waren. Ich spürte eine Energie, die mir bis dahin unbekannt war. Meine Zeit war gekommen. Ich wollte etwas tun, wollte helfen, musste helfen. Doch ich war gefangen. Gefangen im Hamsterrad meines Seins, das sich unaufhörlich im Kreis drehte. 60 Sekunden in der Minute. 60 Minuten in der Stunde. 24 Stunden jeden Tag. Sieben Tage die Woche. Ich wollte rufen, doch kein Laut ertönte. Der junge Mann hatte die Waffe auf die ältere Frau gerichtet. Es war offensichtlich, dass sie nicht näher kommen sollte. Sie sollte keine Gelegenheit haben, ihn aufzuhalten. Niemand sollte ihn aufhalten. Was also konnte ich tun? Ich wollte mich auf den Bewaffneten stürzen, doch es hielt mich an meinem angestammten Platz. Meine Möglichkeiten waren begrenzt. Mein Verstand arbeitete fieberhaft, während ich weiter die Szene beobachtete.

 

“Warum sollte ich?” rief der Mann. “Es hat doch alles keinen Sinn mehr! Da kann ich es doch auch gleich hinter mich bringen!”

“Erzählen Sie es mir. Mit den Sinnlosigkeiten des Lebens kenne ich mich aus.”

“Was weißt du schon, alte Frau?” rief er. Vom Sie zum Du. Er wurde persönlicher. Kein gutes Zeichen. “Ich habe mein Leben lang versucht, alles richtig zu machen. Ich war fleißig, ich war nett, ich war hilfsbereit. Ich habe mich an die Regeln gehalten. Und jetzt? Jetzt stehe ich vor dem Nichts! Den Job verloren, weil der Konzern sich nach der Übenahme neu im Weltmarkt positionieren muss. Vertrieben aus meiner Wohnung, weil das jetzt eine Gegend für Besserverdienende wird und ich sie mir nach den ganzen Verbesserungs- und Modernisierungsmaßnahmen nicht mehr leisten kann. Und was kann ich dagegen machen? NICHTS! Es ist alles rechtens.”

“Das klingt grausam. Da haben Sie recht. Aber es gibt sicher auch Gutes in ihrem Leben, oder? Menschen, die sie lieben. Menschen für die es sich zu leben lohnt?”

“Das ist ja das Schlimme! Meine Frau und mein Sohn leiden auch darunter, aber sie sind viel zu großartig, als dass sie sich jemals beklagen würden. Weißt du, was das für ein Gefühl ist? Nicht mehr für die da sein und sorgen zu können, die man liebt? Sie verlassen sich auf mich, und ich … Ich kann sie nur enttäuschen. Das ist nicht das, was ich mir für sie vorgestellt habe. So sollte das nicht laufen! Und jetzt? Jetzt kommst du und tust so, als würdest du verstehen, was ich durchmache. Willst mir erklären, wie man damit klarkommt. Schau dich an! Astreiner Ledermantel. Der hat sicher einiges gekostet. Ordentliche Schuhe, auch nicht billig. Deine Rente scheint mehr als ausreichend zu sein. Wahrscheinlich hast du mehr Geld für dich allein, als ich für meine ganze Familie! Was weißt du schon vom echten Leben und wie sinnlos es ist? Lass mich in Ruhe! Ich habe keine Zeit für sowas!” Es konnte nicht mehr lange so weiter gehen. Noch immer richtete er die Waffe auf die alte Frau. Versteckt, so dass sie niemand sehen konnte. Der junge Mann hatte sich in Rage geredet. Nicht laut und bösartig genug, als dass es jemandem aufgefallen wäre. Doch die Zeichen waren eindeutig. Und sie alle flüsterten nur ein Wort: Tod!

 

Betroffen schluckte die Dame kaum merklich, doch ich konnte in seinem Gesicht sehen, dass er es bemerkt hatte. Seine Mimik veränderte sich. Mit zittriger Stimme sprach sie wieder zu ihm. “Junger Mann, Sie haben recht. Ich habe mitnichten das Gleiche durchgemacht wie Sie. Weder habe ich meinen Job verloren, noch hat mich irgendein Miethai aus reiner Gewinnsucht aus meiner Wohnung vertrieben. Ich muss auch für niemanden außer mir sorgen und meine Rente ist tatsächlich nicht so schlecht.”

Ein Grinsen flog über das Gesicht des Mannes. Er holte schon Luft, doch sie sprach einfach weiter: “Ich war noch ein junges Mädchen damals. Es war noch früh am Morgen, als sie in unsere Wohnung eindrangen. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht, als würden sie der Welt etwas Gutes tun. Wir hatten keine Chance. Sie schlugen meinen Vater, sie schlugen meine Mutter. Sie schlugen mich. Ich hatte ihnen nichts getan, aber sie schlugen mich. Sie schleppten uns aus unseren vier Wänden und steckten uns in ein Lager. Mein Vater durfte nicht bei uns bleiben. Ich flehte ihn an nicht wegzugehen, aber ich hatte ja keine Ahnung. Ich war so naiv. Ich schrie, riss mich von meiner Mutter los, rannte hinter meinem Vater her, wollte ihn noch einmal zum Abschied in die Arme schließen. Ich rannte allen Rufen, allen Befehlen zum Trotz immer weiter. Vater schrie ich solle stehenbleiben, Mutter ebenso, aber ich rannte weiter. Ich sah es nicht kommen. Wie hätte ich das auch? Aber meine Mutter hatte es kommen sehen. Sie wusste was passieren würde. Schließlich hatte sie mich eingeholt und stieß mich zur Seite. Dann krachten die Schüsse, sie schrie auf. Mein Vater riss sich los, stürzte zu meiner blutenden Mutter. Die nächste Salve streckte auch ihn nieder. Ich konnte nichts tun. Sie brachten mich einfach weg. Ich war nur ein kleines Mädchen, einer nicht lebenswerten Rasse. Es war eine andere Zeit damals. Ich habe das bis heute niemandem erzählt, nur Ihnen jetzt. Meine Mutter hat mir das Leben gerettet. Sie starb, ich durfte leben. War das fair? Es war so sinnlos. Und glauben Sie mir, junger Mann. Mit jedem Jahr, das ich älter wurde, verstand ich ein bisschen mehr, was wirklich geschehen war. Und ja, am einfachsten wäre es gewesen, es einfach hinter mich zu bringen. Es ist nicht so, dass ich nicht daran gedacht hätte. Aber ich habe beschlossen, nicht den einfachen Weg zu gehen. Ich habe beschlossen, jede Minute meines Leben so sinnvoll wie möglich zu gestalten. Meine Mutter hat mir dieses Leben geschenkt. Was wäre ich für eine Tochter, wenn mir das egal wäre und ich es einfach wegwerfen würde?“

 

Das hatte gesessen. Der junge Mann war still und nachdenklich geworden. In seinem rechten Auge glaubte ich, eine sich bildende Träne zu erkennen. “Wissen Sie, die Zeiten haben sich geändert”, sagte die ältere Dame schließlich. “Ich habe einiges dazu gelernt in meinem Leben. Es geht nicht um Geld. Das geht es nie. Zeit ist wichtig. Zeit ist das neue Geld! Es geht um Zeit und darum wie wir sie nutzen. Geld ist nur ein Mittel, das erfunden wurde, um die Menschen von den wichtigen Dingen im Leben abzuhalten, um sie in verschiedene Schubladen stecken und unter Kontrolle halten zu können. Das will nur keiner hören. Was wirklich wichtig ist, ist die Zeit, die wir mit den Menschen verbringen, die wir lieben. Zeit die uns Erinnerungen beschert, die kein Geld der Welt kaufen könnte. Was Sie verlieren, wenn Sie das hier durchziehen, sind nicht Ihre Probleme, sie verlieren die Möglichkeit jemals wieder Zeit mit ihrem Sohn und ihrer Frau verbringen zu können. Was sie vorhaben ist endgültig. Sie rauben sich und ihrer Familie die Möglichkeit schöne Erinnerungen zu schaffen, die sie alle durch schlechte Zeiten bringen werden.”

 

Schweigen. Die alte Frau hatte alles gegeben. Der Moment der Entscheidung war gekommen. Hatte es ausgereicht? Hatte sie ihn überzeugt? Leben oder Tod. Es stand auf Messers Schneide. In solchen Situationen sind es Kleinigkeiten, die am Ende den Ausschlag geben. Vielleicht konnte ich doch noch etwas tun? Noch hatte ich Zeit. Aber ebenso hatte er noch immer den Finger am Abzug.

 

Ich spürte meine inneren Zwänge, gegen die ich eigentlich machtlos war. Sie trieben mich an, sie machten mich zu dem, was ich war. Sie definierten, ja rechtfertigten meine Existenz. Und trotzdem: Wollte ich den jungen Mann retten, musste ich all das verleugnen, musste mehr werden als ich war. Noch einmal blickte ich auf die Szene, sah die alte Frau mit der Herz zerreißenden Geschichte, sah den verzweifelten jungen Mann, der nie etwas falsch gemacht hatte und einfach nur ein Zeichen brauchte, dass es sich lohnte weiterzumachen. In diesem Moment traf ich eine Entscheidung. Ich nahm all meine Konzentration zusammen, versuchte meine Arme meinem Willen zu unterwerfen. Sie reagierten nicht. Ich versuchte es weiter, spürte den Druck und kämpfte dagegen an. Ich spürte Schmerz, zum allerersten Mal. Ignorierte ihn. Wollte schreien, doch blieb stumm. Und dann geschah das Unfassbare. Meine Arme begannen sich meinem Willen zu unterwerfen. Die Schmerzen wurden unerträglich, die Zeit wurde knapp. Ich durfte jetzt nicht aufgeben.

 

“Was meinen Sie, junger Mann? Hat ihr Sohn nicht verdient, mit Mutter und Vater aufwachsen zu dürfen?”

“Nennen Sie mich nicht immer ‘Junger Mann’! Meine Name ist Hugo.”

“Ok, also Hugo. Was meinen Sie? Das könnte ein Wendepunkt in Ihrem Leben sein. Denken Sie nicht, dass Sie der Welt noch einiges zu geben haben? Etwas, was kein Mensch sonst ihr geben kann?” Er schien nicht überzeugt. Sie würde es nicht schaffen. Aber ich, ich konnte helfen. Davon war ich überzeugt. Ich hatte meine Arme nach oben gerissen. Die Schmerzen waren unerträglich, doch ich hielt sie in der richtigen Position. Die bekannten Kräfte zerrten unerbittlich an ihnen. Ich wusste nicht, wie lange ich dem Druck noch würden standhalten können.

 

“Guck mal, Mama! Die Uhr ist ja kaputt. Es ist doch 8:25 Uhr!” Die Stimme des kleinen Jungen, ließ ihn aufmerken. Er blickte kurz auf. Sah mich direkt an. Endlich!

 

“Ich habe meinem Sohn gerade erst die Uhr beigebracht”, sagte Hugo. “Meine Frau und ich, wir waren beide so stolz auf ihn. Und er grinst immernoch jedes mal wie ein Honigkuchenpferd, wenn er eine Uhr sieht und uns sagen kann wie spät es ist. Und wenn du dann in sein stolzes Gesicht schaust, geht dir das Herz auf. Sie haben recht, alte Frau. Das ist es, was zählt.”

 

Er steckte die Waffe weg, ging auf die alte Dame zu und umarmte sie. “Vielen Dank! Sie haben mich vor einer großen Dummheit bewahrt. Es war wirklich fünf vor zwölf!” Lächelnd deutete er auf die Bahnsteiguhr. Der Schmerz wurde übermächtig. Ich spürte ein Knacken, dann wurde es dunkel um mich.

 

Es dauerte eine ziemliche Weile, bis ich wieder zu mir kam. Der Bahnsteig war verschwunden. Eine analoge Uhr wie mich konnte man dort nicht mehr gebrauchen, eine mit eigenem Willen schon gar nicht. Seitdem friste ich mein Dasein einsam in einer Abstellkammer. Ich habe mich oft gefragt, ob es das wert war. Und von Zeit zu Zeit hadere ich mit meinem Schicksal. Doch dann erinnere ich mich an diese gerade einmal 15 Minuten jenes Morgens. An Hugo und die alte Dame, deren Namen ich nie erfahren habe, an ihre beiden Gesichter, an ihre Geschichten, daran dass ich das Leben von zwei ehrlichen, guten Menschen gerettet habe. Dieses Gefühl macht alles wieder wett.



Auch für mich gibt es wieder Hoffnung. Mit ein bisschen Glück werde ich bald Bestandteil eines Bahnhofsmuseums. Eine gewisse alte Dame und ihr junger Geschäftspartner hatten die Idee, dass es Menschen vielleicht interessieren könnte, wie sich die Bahnhöfe mit der Zeit verändern. Ich bin sicher, das macht mir wieder mehr Spaß. Ein Museum. Das klingt nach einer wunderbaren Zeit, die auf mich wartet. Zumindest hätte ich dann wieder mehr zu erzählen, über Menschen, über das Wetter, über die Zeit oder den Lauf der Zeit. Doch egal wie es kommt, ich bleibe eine Mahnung und Erinnerung. Eine Mahnung für alle, die den richtigen Weg in ihrem Leben suchen. Eine Erinnerung für alle, die nicht wissen, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollen, für alle, die sich fragen, wie es weitergehen soll. Euch halte ich stets vor Augen, dass es noch nicht zu spät ist, etwas zu ändern, einen Fehler zu korrigieren. Noch ist Zeit dafür. Es ist erst Fünf vor Zwölf.

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 05.05.2016

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /