Plus C
Wenn aus Sauerstoff Kohlendioxid wird
Hugo Beag
Wenn früh am Morgen der Mann erwacht,
im Bett neben seiner lieben Frau,
wenn er ihr dann das Frühstück macht
ganz leise und lieb, ganz ohne Radau,
Wenn ihr freudig Lächeln er dann sieht,
Dann wird aus Sauerstoff Kohlendioxid.
Wenn der selbe Mann tags drauf,
ihr grundlos auf die Nase schlägt,
Sie durch gebrochne Nase schnauft,
ihm zum Trost die Tasche trägt,
Es tut so gut, er tut ihr weh,
Dann kommt zum Sauerstoff ein C.
Wenn die Kinder aus dem Haus,
grün und blau geschlagen sind,
wenn die Mutter voller Graus,
ist für all das Elend blind,
Wenn sie weiß, sie wird nie frei,
dann wird Sauerstoff zu CO2.
Wenn das letzte Mensch verottet,
der letzte Atem vergangen ist,
Wenn das letzte Tier verschrottet,
niemand mehr den Mensch vermisst,
Wenn kein Blut mehr aus den Wunden troff
wird nur aus CO2 wieder Sauerstoff.
Für meine allerliebsten CO2-Produzenten
Vielen Dank!
Es gibt Dinge im Leben, die sich immer wieder wiederholen. Die Menschen lernen einfach nichts. Man muss es ihnen immer wieder vor Augen führen. Es gibt Dinge, die darf man nicht vergessen. Das sind wir unseren Freunden und Familien schuldig. Wir sind es ihnen schuldig uns zu erinnern, zu lernen uns zu verbessern, sie niemals zu vergessen, egal wie traurig es uns macht, ob es schmerzhaft ist oder Freude schenkt.
Und ganz egal, wer wir sind, was wir sind, woher wir stammen, ob reich, ob arm, ob dumm ob schlau, eines dürfen wir nie vergessen. Aus Sauerstoff Kohlendioxid zu machen, ist keine Leistung auf die wir stolz sein müssen, dadurch sind wir anderen nicht überlegen.
Damit wir nicht vergessen haben sich Menschen seit Anbeginn der Zeit Geschichten erzählt. Diese hier ist meine …
Nach Atem ringend sprang er auf. Die weit aufgerissenen Augen suchten seine Umgebung ab, doch er konnte nichts erkennen. Rauch! Rauch! Überall nur Rauch. Er konnte kaum atmen, erkannte die Gefahr, wollte fliehen, doch nicht allein. “Alina! Alina, wo bist du?” Er griff auf ihre Bettseite konnte sie jedoch nicht finden. Wo konnte sie hin sein? “Alina!” Keine Reaktion. Die Gedanken rasten nur so in seinem Kopf. Hatte er doch zu lange gezögert, zu lange geglaubt, dass alles gut werden würde? Dann endlich hörte er ein Husten. “Rashid, ich bin hier! Wir müssen hier raus!”
“Bleib wo du bist! Ich komme zu dir. Vielleicht können wir durch ein Fenster entkommen.”
“Beeil dich! Bashir ist bei mir. Sein Fuß ist eingeklemmt. Hilf uns!”
Bashir! Bitte nicht.
Mit flinken Schritten bewegte er sich auf die Stimme seiner Frau zu, immer auf das Schlimmste gefasst. Schließlich hatte er sie erreicht. “Wo ist er?”
“Dort drüben. Da ist das Haus schon eingestürzt.” Und tatsächlich lag ein größerer Stein auf Bashirs Bein. Mit dem Mut der Verzweiflung warf er sich dagegen, nahm all seine Kraft zusammen und versuchte ihn anzuheben. Millimeterweise schien er sich zu bewegen. “Schnell zieh ihn raus!” Geschickt griff Alina ihren Sohn bei den Armen und zog ihn behutsam unter dem Stein hervor. Sie sah die Tränen in seinen Augen, doch der kleine Mann war tapfer, gab keinen Mucks von sich. “Ok, und jetzt raus hier!” Rashid griff sie bei der Hand und zog sie zielstrebig hinter sich her, immer auf der Hut vor den Gefahren, die von oben drohten. Sein Plan war nicht zu verwirklichen. Die Fenster waren unerreichbar. “Zur Tür! Schnell!” Rashid ging die Optionen durch. Viele Möglichkeiten hatten sie nicht mehr. Er konnte nur hoffen…
Schließlich erreichten sie dir Tür. Das Feuer hatte ihr schon stark zugesetzt. War das wirklich die einzige, die beste Chance? Würde er so seine Familie retten, oder würde er ihren Tod besiegeln? Rashid schüttelte die Gedanken ab. Er hatte keine Zeit, keine Wahl. Er bedeutete Alina ihm auf jeden Fall zu folgen. Er sah ihr angsterfülltes Gesicht im Schein der Flammen die auf sie zu rasten. Sie drückte seine Hand noch fester und nickte. Das war sein Zeichen. Rashid nahm all seinen Mut zusammen und rannte auf die Tür zu. Gleich würde er wissen, ob das Schicksal ihm wohlgesonnen war. Nur wenn die Tür genug von ihrer eigentlichen Stabilität verloren hatte, hätten sie eine Chance. Andernfalls würde er einfach abprallen und das Flammenmeer wäre das Ende. Sein Ende. Das seiner Frau. Das seines kleinen Sohnes.
Und dann krachte er mit der Schulter gegen die Tür. Zu seiner Erleichterung zersprang sie wie erhofft und ebnete Weg in die Freiheit. Er stolperte. Er fiel. Sprang sofort wieder auf. Zog Alina und Bashir hinter sich her in die Freiheit. Sie waren am Leben. Sie hatten es geschafft. Erleichtert atmete er tief ein …
… und begann sofort zu würgen. Erschrocken schaute er sich um. Sein Zimmer. Sein Bett. Alles stand in Flammen. Es schien als wolle der Albtraum einfach nicht enden. Doch Rashid erkannte schnell, dass dies kein Traum mehr war. Das war die Realität, grausame Realität. Benzingeruch schwängerte die Luft. Vor dem Fenster lagen die Scherben auf dem Boden. Die Flammen hatten sich schnell ausgebreitet. Rashid musste rasch handeln. Warum schon wieder? Wo konnte er hin? Ein Sprung aus dem Fenster kam nicht in Frage. Der dritte Stock war zu hoch. Blieb nur der Weg durchs Treppenhaus. Höhere Überlebenschancen, wenn auch keine guten. Er traf eine Entscheidung und rannte los. Das Treppenhaus war nicht weit. Aber er konnte nicht einfach weg. Nicht ohne Moritz. “Moritz! Moritz, komm her!” Aber Moritz kam nicht. Verzweifelt rannte Rashid durch die Feuersbrunst, trat Türen ein, verbrannte sich die Hände. Dann hörte er ihn. Ein Maunzen, ganz leise, ganz schwach. So schnell ihn seine Füße trugen folgte er dem Maunzen. “Keine Angst, Moritz! Bin gleich bei dir.” Miau! Ungläubig, ängstlich, verzweifelt. Dann sah er ihn. Durch die brennende Tür eines brennenden Zimmers. Durch ein Meer von Flammen. Der kleine Fellknäuel hatte sich in die hinterste Ecke geflüchtet, aus er er jetzt nicht mehr raus konnte, ohne sich die Pfoten zu verbrennen. Fassungslos erkannte Rashid, dass er keine Chance hatte, seinen kleinen Katzenfreund zu erreichen. Es wäre sein sicherer Tod gewesen. Und so war es Moritz sicherer Tod. Es war einfach aussichtslos und Moritz hatte das schon vor ihm erkannt. Miauuu! Trauer. Verzweiflung. Abschied? “Es tut mir leid!” Der kleine Kater machte sich ganz klein, als ob ihn die Flammen dann nicht erreichen könnten. Mit seinen großen Augen schaute er ein letztes Mal zu Rashid. Miau… Dann Kreischen, die Flammen hatten ihn erreicht. “NEIN!!!” Rashid musste sich abwenden. Übelkeit stieg in ihm auf, die Beine wurden weich. Nicht schon wieder! Seine Beine gaben nach. Der Geruch von verbranntem Fell raubte ihm den Atem. Er konnte nicht mehr. Gab auf und legte sich auf den Boden. Schloss die Augen und hieß die Flammen willkommen.
Eine Hand an seiner Schulter ließ ihn wieder hochschrecken. “Alles ok bei Ihnen? Können Sie aufstehen?” Ein Feuerwehrmann. Rashid nickte. “Dann los!” Auf den Feuerwehrmann gestützt schleppte sich Rashid Richtung Treppenhaus. Drei Stockwerke, noch zwei, noch eins. Dann war es geschafft. Das Feuer lag hinter ihnen. Ein Krankenwagen wartete schon auf sie. Die Polizei hatte die Gegend abgesperrt. Mehrere Feuerwehrwagen waren mit den Löscharbeiten beschäftigt. Die üblichen Verdächtigen hatten sich versammelt um zu gaffen und großflächig nutzlos im Weg herum zu stehen. Die ersten Presseleute trafen ein. Bleibt mir bloß vom Leib!
Der Feuerwehrmann verließ ihn bevor er sich bedanken konnte, dann spürte er die Sauerstoffmaske auf seinem Gesicht und zwang sich ruhig zu atmen. Der Sauerstoff tat gut. Gab ihm neue Kraft, während der Sanitäter ihn untersuchte und ihm mitteilte, dass er ihn gern mit Krankenhaus nehmen würde. Rashid nickte dankbar und ließ sich auf die Trage legen. Kurz bevor die Türen sich schlossen, erhaschte er einen letzten Blick auf die Umgebung, spürte den alles durchdringenden Blick, der ihm entgegen geschleudert wurde, schaute fragend zurück. Was er sah ließ ihn schaudern. In diesen Augen loderte der blanke Hass, wie die Flammen in diesem brennenden Haus. Dann waren die Türen zu und der Krankenwagen setzte sich in Bewegung.
“Sie hatten großes Glück, Herr Aziz. Ein bisschen später und Sie wären vielleicht nicht mehr aufgewacht.” Wäre vielleicht nicht das Schlechteste gewesen! Dann hätte ichs hinter mir gehabt. “Sie haben nur leichte Verbrennungen und eine leichte Rauchvergiftung. Sie können uns bald wieder verlassen.” Rashid nickte. “Danke, Doktor.” Er verstand Deutsch wesentlich besser, als er es selbst sprechen konnte. Zumindest das hatte der Sprachkurs schon gebracht. Deutsch war keine leichte Sprache, aber ihm war klar, dass es keine Alternative dazu gab. Zumindest konnte er sich in den meisten Situationen gut verständlich machen. Aber das war ihm natürlich nicht genug. Wollte er aktiv am gesellschaftlichen Leben teilnehmen, eventuell sogar einen Job bekommen, musste er die Sprache gut beherrschen. Schließlich sollte das seine neue Heimat werden und in seiner Heimat sollte man sich mit den Menschen unterhalten können. Das war sein nächstes Ziel gewesen. Besser Deutsch sprechen. Sich besser integrieren. Eine Zukunft aufbauen. Rashid war dankbar für die Chance die er hier erhalten hatte und er wollte den Menschen hier zeigen, wie glücklich ihn das machte. Die meisten, die er kannte, schätzten sein Bemühen. Leider gab es auch Ausnahmen, wie er jetzt erfahren hatte. Wieder einmal hatte er alles verloren. Wieder einmal würde er bei Null anfangen. Aber immer noch besser als Bürgerkrieg.
“Herr Aziz?” Die Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Ein Polizist. “Können Sie bitte kurz mitkommen? Wir müssen Ihnen noch einige Fragen stellen. Dann bringen wir Sie in ihre neue Wohnunng.” Rashid nickte. “Danke!” Noch so ein Vorteil in diesem Land. Wo er herkam waren Polizisten nie auf deiner Seite. Die deutsche Polizei dagegen war tatsächlich voll von guten Menschen. Auf seiner weiten Reise hatte Rashid mit vielen Polizisten aus den verschiedensten Ländern zu tun gehabt. Nicht alle hatte er in angenehmer Erinnerung. Doch für die deutschen Polizisten fand er nur lobende Worte. Sie waren gut organisiert und stets bemüht angemessen zu reagieren, trotz all des zusätzlichen Stresses, den die Flüchtingswellen brachten. Sie lächelten, waren freundlich und als rechtschaffener Mensch hatte man nichts von ihnen zu befürchten. Sie hielten sich genauso an die Gesetze, wie sie es von anderen erwarteten. Er konnte die Menschen nicht verstehen, die das nicht zu schätzen wussten.
Der Polizist, ein Herr Schröter, führte ihn in ein ruhiges Zimmer, stellte ihm einige Fragen und versicherte ihm, dass alles getan würde, um die Täter zu finden. Rashid wollte nur wissen, ob er ihm sagen könnte, wer der Feuerwehrmann war, der ihn aus den Flammen gerettet hatte, doch da konnte ihm der Polizist leider nicht weiterhelfen. “Ok, das war dann alles. Draußen wartet noch eine Frau vom Sozialamt auf sie. Sie wird Ihnen dann wegen der neuen Wohnung weiterhelfen. Ich schicke sie rein.” Der Polizist verabschiedete sich und ließ ihn alleine zurück.
Die große blonde Frau betrat den Raum und begrüßte ihn freundlich. “Guten Tag, Herr Aziz. Schade, dass wir uns wegen solcher Umstände, so schnell wieder sehen. Lassen Sie mich zuerst sagen, wie schrecklich leid es mir tut, dass Sie das durchmachen müssen. Es ist eine Schande, dass es auch in unserer Stadt solche Menschen gibt. Ich möchte Ihnen noch einmal versichern, dass Sie hier willkommen sind und ich weiterhin mein Möglichstes tun werde, um Ihnen zu helfen.” Rashid kannte die Vorurteile, die einige in Deutschland hatten. Die Araber würden die deutsche Kultur nicht respektieren, gar zerstören, hätten ein ganz anderes, grausames Menschenbild und würden am liebsten alle deutschen Frauen verschleiern und in die Küche verbannen. Natürlich war er nicht so. War nie so gewesen. Für ihn war seine Frau immer ein gleichberechtigter Partner gewesen, auch wenn das in ihrer Kultur vielleicht nicht üblich war. Natürlich nur in den eigenen vier Wänden. In der Öffentlichkeit passte man sich besser an, wollte man keine Schwierigkeiten bekommen. Ja, er war anders erzogen worden. Und ja, es war ungewöhnlich für ihn, dass Frauen hier die gleichen Rechte hatte wie Männer. Aber er hatte nie ein Problem damit gehabt. Kamen Deutsche nach Syrien hatte er immer erwartet, wurde generell von ihnen auch erwartet, dass sie die Gepflogenheiten des Landes achteten. Jetzt wollte er in Deutschland leben. Natürlich galten dann auch für ihn “deutschen Regeln”. Deshalb hatte auch kein Problem damit, aufzustehen und der Frau vom Sozialamt die Hand zu geben. “Vielen Dank, Frau Mosch. Das bedeutet mir viel.”
Der Tag hatte so gut begonnen gehabt. Schon früher am Morgen, hatte er einen Termin bei Frau Mosch gehabt. Das Gespräch war sehr erfreulich verlaufen. Selbst in der jetzigen Situation, hinterließ es noch ein positives Gefühl. Rashid hatte zwar alles verloren, was er gehabt hatte, aber das war nicht sonderlich viel gewesen. Außerdem hatte er gelernt, mit dem zufrieden zu sein, was einem das Überleben lässt. Jetzt würde er wieder einen Neuanfang wagen, in seiner ersten eigenen deutschen Wohnung. Leider hatte er noch keine Arbeitserlaubnis, doch Frau Mosch meinte, dass das sicher noch kommen würde. Als Informatiker hatte er durchaus gute Chancen auf dem hiesigen Arbeitsmarkt und würde dann schnell selbst für seinen Lebensunterhalt sorgen können. So sehr Rashid es auch schätzte, dass sich der deutsche Staat um seine Bürger und Flüchtlinge wie ihn gut zu kümmern versuchte, so sehr wünschte er sich auch, nicht auf Hilfe von anderen angewiesen zu sein. Und ihm war klar, dass seine Steuern dann wieder dazu beitragen konnten, die Kosten zu decken die er verursacht hatte. Aber bis dahin war noch ein gutes Stück Weg zurückzulegen. Frau Mosch hatte ihn zwar für sein gutes Deutsch gelobt, doch er wusste genau, dass er noch viel lernen musste.
Die nette Frau vom Sozialamt hatte ihm heute morgen Bilder von seiner neuen Wohnung gezeigt. Nichts Besonderes, aber ausreichend für ihn. Jetzt wollte sie ihn sogar hinfahren, aber Rashid hatte dankend abgelehnt. Er wusste wo die Wohnung lag und zog es vor zu Fuß zu gehen. Er liebte es an der frischen Luft zu laufen und Zeit zum Nachdenken zu haben und so schaute er kurz ihrem Auto nach und machte sich dann auf den Weg. Er war zuversichtlich und freute sich auf sein neues Leben.
Natürlich hatte er auf ein gutes Leben in Deutschland gehofft. Er hätte nur nie erwartet, tatsächlich am Ende hier zu landen. Die politischen Gegebenheiten hätten eigentlich dafür sorgen müssen, dass er irgendwo in Europa strandet. Aber nicht überall waren Fremde so willkommen, auch wenn er natürlich viele Diskussionen mitbekam, ob die “Willkommens-Kultur” nicht auch Grenzen haben sollte. Wer sich ein bisschen informierte wusste, dass nirgendwo auf dieser Welt das Paradies war. Seine Flucht hatte ihm sehr deutlich gezeigt, dass das stimmte. Wirklich willkommen waren sie nirgendwo. Und auch Deutschland hatte in der Vergangenheit nicht immer den besten Ruf, was seine Fremdenfreundlichkeit betrifft. Umso überraschter war er, als er zum ersten Mal deutschen Boden betreten hatte. Dutzende Menschen hatten sich am Bahnhof versammelt, um sie willkommen zu heißen. Nirgendwo sonst auf der Welt war das geschehen. Und auch wenn er wusste, dass so viele Flüchtlinge natürlich eine Belastung darstellten, war er froh dass doch viele zu verstehen schienen, dass ihnen keine Wahl blieb, wenn sie so etwas wie “leben” wollten. Die Menschen beklatschten sie. Freiwillige aller Altersschichten opferten ihre Freizeit und ihren Schlaf, um sie zum Beispiel mit Lebensmitteln zu versorgen. Sein deutscher “Erstkontakt” war eine junge blonde Schülerin gewesen, die ihm lächelnd eine Banane in die Hand gedrückt und ihm einige nette Worte gesagt hatte. Zumindest glaubte er das, schließlich hatte er damals kein Wort verstanden. Als er Stunden später mit dem Bus weiter transportiert wurde, stand sie immer noch dort und versorgte weitere Flüchtlinge. Wirklich bemerkenswert.
Leider hatte er bei dieser Gelegenheit auch verstehen gelernt, woher so manches Vorurteil stammte. Im Gegensatz zu ihm gab es tatsächlich einige Männer in seiner Gruppe, die sich geweigert hatten, etwas von den Frauen anzunehmen. Idioten! Dafür hatten sie hinterher Hunger! Und nicht nur das. Sie warfen ihm auch noch vor, seine Herkunft zu verraten. Meine Herkunft? Es waren Situationen wie diese, die vielerorts zu Gewaltausbrüchen unter den Flüchtlingen führten. Konnte man die anderen nicht einfach in Ruhe lassen? Meine Herkunft … Dass ich nicht lache. Meine Herkunft, meine Heimat… In meiner Heimat hat man meine Stadt bombardiert. Andernorts ist Giftgas eingesetzt worden. Ein Bürgerkrieg lebt davon, dass keine Seite wirklich Rücksicht nimmt … Darauf kann ich beim besten Willen nicht stolz sein, oder? Hier war man freundlich zu mir, da werde ich als Gast erst recht freundlich sein!
Leider war es ihm nicht vergönnt, diese beiden Trottel schnell los zu werden. Aber er hatte sie wieder und wieder auflaufen lassen. Bei einer anderen Gelegenheit war er in eine Bäckerei gegangen. Da die beiden zu feige waren, sich zu verständigen, waren sie ihm natürlich einfach hinterher getrottet. In der Bäckerei hatten sie dann eine Szene gemacht, weil natürlich auch Frauen die Kunden bedienten. Das hatte wirklich kein gutes Bild bei den anderen Kunden abgegeben. Er hatte alle Mühe gehabt, die beiden zum Schweigen zu bringen und vor die Tür zu schicken. Ganz kleinlaut hatte er sich dann in die Schlange gestellt. Verstanden hatte er damals noch nichts, aber die Blicke waren eindeutig. Er konnte nur entschuldigend nicken, ihnen aber nichts verübeln. Zum Glück war die Verkäuferin sehr freundlich und geduldig, sodass er schließlich mit Brötchen und Kuchen zurück zur Erstaufnahme kam. Da die beiden anderen sich weigerten etwas davon zu essen, blieb mehr für ihn. Ihr Pech! Glücklicherweise wurden sie schnell weiter verteilt. Er hatte sie nie mehr gesehen und war froh darum.
Rashid musste sich kurz schütteln,
um wieder in der Gegenwart anzukommen. Ich
sollte auf der Straße besser aufpassen, wenn ich so in Gedanken
versunken bin. Inzwischen war
er schon eine ganze Weile unterwegs und hatte nicht wirklich darauf
geachtet wohin er ging. Jetzt musste er sich erst einmal wieder
orientieren. In der Nähe entdeckte er eine Bushaltestelle. Das
würde ihm sicher weiterhelfen. Im schlimmsten Fall musste er
eben wieder in die andere Richtung zurück. Er hatte ja nichts
weiter vor. Er wollte gerade über die Straße gehen, als
einen leisen Schrei hörte. Als er sich umdrehte, sah er die
ältere Frau auf dem Boden liegen. Sofort lief er zu ihr. “Alles
ok?” Die Frau schaute ihn nur groß an. “Es geht
schon, danke! Ich muss nur da rüber zur Haltestelle und hatte
diese Unebenheit übersehen.” Rashid verstand nicht alles,
aber das machte nichts. “Ich helfe Ihnen”, sagte er und
half der Frau beim Aufstehen. Vorsichtig und langsam half er ihr über
die Straße, wo sie sich auf die Bank an der Bushaltestelle
setzen konnte. “Der Bus kommt gleich. Alles ok?” Ein
Lächeln umspielte ihre Lippen. “Ja. Vielen Dank. Ich
wünschte es gäbe mehr Meschen wie Sie.”
Rashid
lächelte nur und ging weiter. Für etwas so
Selbstverständliches gelobt zu werden, machte ihn sehr verlegen.
Inzwischen wusste er wieder, wo er war. Wirklich verlaufen hatte er
sich nicht. Flink bog er auf einen Waldweg ein als ihm kurz darauf
das Blut in den Adern gefror. Da war er wieder, der lodernde Hass,
manifestiert in den Augen des jungen Mannes. Was hatte er diesem
Menschen getan? Rashid wusste es nicht, aber er wusste um die Gefahr
in der er schwebte. Nur wenige Meter trennten sie beide und er machte
Anstalten, langsam und grinsend auf ihn zu zu gehen. Rashids Gedanken
rasten. Was konnte er tun? Er war kein Schwächling, aber war es
wirklich intelligent, sich diesem Schläger zu stellen? Die Frage
erübrigte sich schneller, als er gedacht hatte, als zwei weitere
Gestalten ihr Versteck hinter den Bäumen verließen und
sich zu ihrem Kumpel gesellten. Alle drei waren komplett schwarz
gekleidet, nur die Augen waren zu erkennen. Es war offensichtlich,
dass sie sich gut vorbereitet hatte und wussten, was sie wollten.
Rashid war niemand, der sich regelmäßig schlug. Er war
Streitereien immer aus dem Weg gegangen. Und diesem Credo wollte er
auch jetzt folgen. Schritt für Schritt bewegte er sich rückwärts
wieder aus dem Waldweg heraus. Vielleicht konnte er zurück zur
Bushaltestelle? Wenn es dort etwas belebter war, würde man ihm
vielleicht helfen. Oder auch
nicht. Zivilcourage ist ja auch nicht ungefährlich. Und es würde
schon einiges an Überwindung kosten, sich diesen Dreien in den
Weg zu stellen. Aber was war
die Alternative? Tiefer in den Wald? Was wenn sie sich im Wald
auskannten? Zuzutrauen wäre es ihnen. Andererseits … Ich
komme aus dem Krieg. Da ist man es gewohnt, durch unwegsames Gelände
zu fliehen. Das könnte ein kleiner Vorteil für mich sein.
Doch noch bevor er ihn realisiert hatte, war der potentielle Vorteil
dahin. Sie hatten ihm diesen Ausweg genommen und kamen nun schneller
auf ihn zu. Ihre Augen ließen keinen Zweifel. Das sollte nicht
gut für Rashid ausgehen.
“Was wollt ihr von mir? Was hab ich
euch getan?”
“Du gehörst nicht hierher!”
“Aber
ich tu doch niemandem etwas!”
“Du gehörst nicht
hierher!” erklang der Chor der drei Schläger erneut.
Rashid erkannte, dass er mit Verhandlungen nicht weiterkommen würde.
Kampf oder Flucht. Mehr Optionen gab es nicht. Ein Kampf kam nicht in
Frage. Also Flucht. Ich bin
relativ fit und die scheinen sich sonst nicht sonderlich viel zu
bewegen. Und vielleicht …
Er kam nicht dazu, den Gedanken zu Ende zu führen, weil sich
seine Gegenüber mit barbarischem Geschrei auf ihn stürzten
und direkt auf ihn einschlugen. Das hatte ihn überrascht. Doch
zum Glück hatten sie sich nicht abgesprochen. Sie schlugen nur
unkoordiniert auf ihn ein. Im Gegensatz zur rohen Gewalt seiner
Widersacher war Rashid ziemlich wendig. Er steckte einige Fausthiebe
ein, konnte sich dann jedoch geschickt aus dem Pulk herausdrehen. Die
drei schauten ihn geradezu verdutzt an. Rashid nahm die Beine in die
Hand und begann zu rennen. Die Straße war nicht mehr weit.
Autos von links und von rechts. Aber Rashid verringerte seine
Geschwindigkeit nicht. Seine Verfolger waren ihm noch dicht auf den
Fersen und ihm war klar, dass sie ihn nicht erreichen durften. Sie
waren sportlicher als er gedacht hatte und kamen tatsächlich
näher, wie ihm ein kurzer Blick über die Schulter verriet.
Einer von ihnen hatte sich abgesetzt und würde ihn bald
eingeholt haben. Wie aus dem Nichts bog ein kahlköpfiger alter
Mann mit seinem Hund zwischen den Bäumen in den Waldweg ein.
Rashid konnte ihn nicht rechtzeitig sehen, streifte ihn und geriet
ins Straucheln. Der Hund bellte und wollte hinterher, doch der Mann
hielt ihn fest. Er checkte kurz die Lage, drehte sich dann weg und
ging schnell zurück in den Wald. Nur unter größter
Anstrengung konnte Rashid einen Sturz vermeiden, bevor er wieder
beschleunigen konnte. Der Zwischenfall hatte seine Verfolger wieder
etwas näher kommen lassen. Viel Zeit blieb ihm nicht mehr. Er
mobilisierte seine letzten Kräfte und rannte direkt auf die
Straße zu. Noch zehn Meter, fünf, zwei. Da spürte er
die Hand auf seiner Schulter, zuckte kurz zusammen bevor er aus
vollem Lauf, die Richtung wechselte und nach links rannte. Er schlug
einen weiteren Haken und rannte dann direkt auf den Wald zu. Sein
Verfolger hatte mit so einem Manöver nicht gerechnet und schaute
ihm ungläubig nach, während der überschüssige
Schwung ihn unaufhaltsam auf die Straßen schob. Das Quietschen
der Bremsen und den dumpfen Aufprall bekam Rashid nicht mehr mit. Er
wagte er nicht, sich noch einmal umzudrehen. Die blanke Todesangst
trieb ihn tiefer und tiefer in den Wald.
Erleichtert lehnte Rashid an einem Baum. Zweimal war er jetzt schon dem Tod von der Schippe gesprungen. An einem einzigen Tag. Er hatte keinen Zweifel daran, dass seine Angreifer auch für das Feuer verantwortlich waren. Diese Augen waren unverwechselbar. Er kannte diesen Ausdruck, hatte ihn oft genug gesehen. Menschen die vom puren Hass gelenkt wurden. Es war sinnlos mit ihnen reden zu wollen. Sie wollten nur eines: seinen Tod. Jetzt nach all den Wochen, all den Strapazen, all den Verlusten, jetzt als er wirklich gedacht hatte, endlich angekommen zu sein. Angekommen in seiner neuen Heimat. Angekommen in seinem neuen Leben. Ausgerechnet jetzt holte ihn seine Vergangenheit ein: Verfolgung, Hass, Tod. Als hätte er davon nicht genug gehabt. Deswegen bin ich doch hier. Weil ich das alles hinter mir lassen wollte! Doch offensichtlich war das nicht möglich. Irrationalen Hass gab es wohl überall. Kopfschüttelnd stand er auf und überlegte, was er tun konnte. Was tat man in so einer Situation? Sollte er zu Polizei gehen? Was sollte er ihnen sagen? “Drei maskierte, nicht zu erkennende Gestalten haben mich angegriffen. Ob ich sie wiedererkennen würde? Schwer. Höchstens diese hasserfüllten Augen…” Das war doch lächerlich und aussichtslos. Und wofür? Für wen? Früher hätte er das sicher gemacht. Für den Schutz seiner Familie hätte er alles getan. Nichts und niemand war ihm wichtiger gewesen als Alina und Bashir. Und trotzdem hast du versagt. Du wolltest es nicht wahrhaben, dachtest es wäre noch genug Zeit. Und jetzt sind sie tot. Hättest du nicht gezögert, wären sie vielleicht noch am Leben! Selbstvorwürfe. Tag für Tag warf er sich vor, seine Frau und seinen Sohn nicht gerettet zu haben. Es war nicht fair. Wenn schon, dann hätte es ihn treffen müssen. Er war verantwortlich gewesen. Sie hatten ihm geglaubt, ihm ihr Leben anvertraut. Und er … Er hatte sie enttäuscht. Er hatte die Gefahr unterschätzt und dann war es zu spät. Plötzlich musste alles ganz schnell gehen. Alle Planungen waren umsonst gewesen, als die Truppen vor der Stadt standen, als die Häuser in sich zusammenfielen, als alle merkten, dass es eng wurde. Plötzlich hatten alle schnell aus der Stadt gewollt, plötzlich waren sie alle auf der Flucht. Und so tat er, was er nie tun wollte. Er wandte sich an einen dieser dubiosen Schleuser. Geld hatte er genug und er hatte gehofft, dass das einen Unterschied machen würde, dass es dadurch sicherer werden würde. Der Schleuser hatte keine Problem damit gehabt, ihm ein Vielfaches, des normalen Preises abzuknöpfen. Verbunden mit dem Versprechen, dass sie nicht in überfüllten Verkehrsmitteln landen würden. Und er hatte sich auf sein Wort verlassen. Was hatte er auch für eine andere Wahl gehabt? Natürlich war das naiv gewesen und natürlich landeten sie am Ende in exakt dem gleichen komplett überfüllten Boot wie alle anderen. Und dann? Beschweren? Klar hatte er sich beschwert. Und wurde ausgelacht. “Boot oder Tod?” Das war die Wahl, die man ihm gelassen hatte. Und so hatte er sich mit dem Boot Zeit erkauft. Wenn er nur gewusst hätte, wie wenig davon …
Er hatte alles so gut geplant gehabt. Geld war vorhanden und ebenso gute Kontakte, die ihn und seine Familie sicher bis nach Europa hätten bringen können. Sogar die Flugtickets waren schon bezahlt. Doch dann war der Krieg gekommen. Schneller als erwartet hatte er ihr Dorf erreicht. Und eine Woche länger warten war über Nacht einfach keine Option mehr. Das Dorf zerbombt, das Haus niedergebrannt, die Straßen nicht mehr sicher. Und so hatte plötzlich alles ganz schnell gehen müssen. Es war sogar erstaunlich gut gegangen. Bis zu dieser schicksalhaften letzten Überfahrt nach Lesbos. Was genau passiert war, wusste er nicht. Das überfüllte Boot war ins Schlingern gekommen. Dann ein Schrei, ein Platschen, Entsetzen. Bashir war über Bord gegangen, Alina hinterher gesprungen. Und er? Er hatte alles versucht, die anderen zur Umkehr zu bewegen. Sie mussten sie doch wieder einsammeln. Sie konnten doch nicht seine Frau und seinen Sohn dort im Wasser treiben lassen. Aber genau das hatten sie getan. Und schließlich hatte ihn jemand KO geschlagen. Er war an Land wieder zu sich gekommen. Hatte erst dann realisieren können, was geschehen war. Er hatte alles verloren, was ihm wichtig gewesen war. Er war allein.
Und jetzt? Jetzt saß er hier einsam im Wald und sah sich wieder dem Schicksal gegenüber. Wieder wurde sein Leben bedroht. Wieder konnte er nichts dagegen tun. Wieder war er sich keiner Schuld bewusst. Und doch war eines anders. Er musste niemanden mehr beschützen. Sein eigenes Leben war ihm nicht so wichtig. Er konnte sich der Situation stellen, musste sich ihr stellen. Niemals durfte er zulassen, dass solche Trottel, sein Leben, seine Entscheidungen, seine Freiheit beeinflussten. Rashids Entscheidung stand fest. Nichts und niemand würde seinen Plan zum Wanken bringen. Er würde weiterleben, ohne dauernd vor Augen zu haben, dass es Menschen gab, die Angst vor allem hatten, was ihnen neu und fremd war. Das war deren Problem, nicht seines. Trotzig und entschlossen stieß er sich vom Baum ab und stapfte durch den Wald in die Richtung die er vorhin schon hatte nehmen wollen.
Er war noch nicht weit gekommen, da nahm er ein Bellen wahr und sah einen Hund auf sich zu kommen. Er erkannte sofort, dass es der gleiche Hund war, der ihm noch vor Kurzem bei seiner Flucht in die Quere gekommen war. Schwanzwedelnd sprang er an ihm hoch und bellte ihn an. Rashid hatte keine Angst vor Hunden und begann gleich ihn zu streicheln. “Braver Hund!” Seinem Schlabbern nach freute er sich über das Lob. Herrchen folgte mit gehörig Abstand dahinter, das Radio am Fahrrad laut aufgedreht.
"Bei einem schweren Brandanschlag ist heute das städtische Flüchtlingsheim fast vollständig abgebrannt. Glücklicherweise stand es aufgrund geplanter Renovierungsarbeiten fast vollständig leer. Ein letzter Bewohner, der das Heim diese Woche verlassen sollte, kam mit leichten Verletzungen davon. Handelte es sich um einen bewussten Anschlag auf diese Person, oder gingen der beziehungsweise die Täter von einem leeren Gebäude aus? Die Polizei geht von einem fremdenfeindlichen Motiv aus und hat eine Sonderkommission eingerichtet. Die weiteren Hintergründe sind noch völlig unklar. Es bleibt die Frage, wie so ein Anschlag unbemerkt am hellichten Tag stattfinden konnte. Wir halten Sie über die Ermittlungen auf dem Laufenden..."
“Bello, lass den Mann in Ruhe!”
Das Herrchen war inzwischen, leicht außer Atem, auch
eingetroffen.
“Schon gut. Ich mag Hunde.” Rashid
lächelte dem Mann freundlich zu. Der schien ihn erst nicht zu
erkennen, doch dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Die
Situation war ihm sichtlich peinlich.
“Sie sind das…
Schön dass die sie nicht erwischt haben.”
“Ja.
Schön.”
“Hören Sie! Es tut mir leid, dass
ich ihnen nicht geholfen habe. Aber was hätte ich schon tun
können? Ein alter Mann gegen drei junge Schläger?”
“Ich
mache keine Vorwürfe. Wie heißt die Art Hund? Hab ich
schon öfter gesehen, aber ich weiß den Namen nicht.”
Rashid lächelte noch immer, während er weiter den Hund
streichelte. Das schien den Mann etwas aus dem Konzept zu
bringen.
“Das … Das ist ein Dackel”, kam die
Antwort gestottert. “Ehrlich. Ich hab nichts gegen Menschen wie
Sie. Sie müssen ja auch irgendwo hin.”
“Alles ok.
Sie müssen sich nicht rechtfertigen. Das ist mein Problem, nicht
Ihres.”
“Ach hören Sie doch auf! Natürlich
ist es auch mein Problem! Solche Idioten sind eine Schande für
unsere Gesellschaft. Die halten sich für was Besseres, ohne
jemals was für die Gesellschaft getan zu haben. Alles was die
können ist Sauerstoff in Kohlendioxid zu verwandeln und dafür
wollen sie auch noch bewundert werden! Aber wir? Wir gucken einfach
zu und lassen sie machen. Es ist zum Kotzen!”
Rashid nickte.
“Sie haben Angst. Ich verstehe das. Es ist nicht leicht, seine
Gesundheit zu riskieren für jemand, den man nicht kennt. Jemand
den man vielleicht nie mehr wieder sieht. Und vielleicht haben Sie
Familie. Die wollen Sie nicht in Gefahr bringen. Ich verstehe
das.”
“Warum sind Sie so nett? Ich wünschte meine
Landsleute wäre genauso.”
“Das sind viele. Schau
her. Sie haben mich aufgenommen, als ich nichts hatte. Ich bekomme
Essen, ein Zimmer und ich kann nichts dafür geben. Ich weiß,
Sie und viele andere bezahlen dafür, dass Flüchtlinge wie
ich Hilfe erhalten. Ohne das … Und gucken Sie! Wer sonst hat
uns aufgenommen? Alle diskutieren nur. Die Deutschen haben gehandelt.
Dafür bin ich dankbar.”
“Sie sind ein
bemerkenswerter Mensch. Ein guter Mensch. Verlieren Sie das nicht.
Menschen wie Sie können wir hier gut gebrauchen. Jetzt muss ich
aber weiter. Es war schön, mit ihnen gesprochen zu haben. Ich
hoffe, die Zukunft wird gut für Sie.” Rashid lächelte
den Mann weiter an. “Vielen Dank. Und passen Sie gut auf ihren
Hund auf.” Jetzt grinste er auch.
“Mach ich. Komm
Bello. Frauchen wartet auf uns.”
Rashid schaute den beiden noch eine Weile nach. Dann waren sie im Wald entschwunden. Er mochte den Wald. Ihm gefiel es in Deutschland. Es war so anders hier, als in seiner Heimat. Üppige Vegetation, Wälder, Felder, Wiesen. Und gleichzeitig große Städte, Autobahnen, Züge, Flughäfen. Es gab genug zu Essen, alles war gut organisiert und verlässlich. Den Menschen hier ging es gut, auch wenn er sich manchmal fragte, warum das nicht alle erkannten. Naja. Ganz fair ist das auch nicht. Ich habe einen anderen Hintergrund, einen anderen Blickwinkel. Wer vor dem Bürgerkrieg fliehen muss, alles verloren hat und wochenlang täglich mit dem Tod rechnet, der hat allen Grund zufrieden zu sein, wenn er hier in Sicherheit ist. Ich wünsche ja echt niemandem, dass er das durchmachen muss.
Er konnte sich noch gut an all die Strapazen erinnern. Zustände, die er dem zivilisierten Europa nie zugetraut hätte. Natürlich waren die Flüchtlinge zu Tausenden angekommen. Und natürlich stellte das jedes Land vor enorme Herausforderungen. Da konnte nicht alles reibungslos funktionieren. Mit so einer Situation hatte man einfach nicht so viel Erfahrung. Andererseits war es ja auch nicht so, dass all die Menschen völlig überraschend wie aus dem Nichts an den europäischen Grenzen auftauchten. Die Konflikte, die Fluchtursachen, die Fluchtrouten waren schon ewig bekannt gewesen. Die Flüchtlinge waren teilweise Wochen und Monate unterwegs. Aber aus einem ihm nicht verständlichen Grund hatte man in Europa so getan, als würde sich das Problem von alleine lösen. Zum Teil tat es das ja auch. Tote gab es unterwegs genug. Und als sie dann alle ankamen, waren die Zustände teilweise extrem und dramatisch. Die Menschen lebten und schliefen im Matsch, Wind und Wetter ausgesetzt, in überfüllten Lagern ohne ausreichend Toiletten. Aber irgendwo mussten sich die Leute ja erleichtern… Dann gab es nicht genug zu essen. Kinder hungerten, nicht in der dritten Welt, in Europa. Die Nerven lagen blank. Es reichte ein kleiner Funke und die Lage eskalierte. Anderswo wurden Grenzen geschlossen, die Meschen dann dort zusammen gepfercht, von der Polizei und Soldaten mit Wasserwerfern zurück getrieben. Es war als wollte Europa zeigen, dass es hier nicht lebenswert sei und es keine Grund gäbe, hierher zu kommen. Während man gleichzeitig überall auf der Welt um gut ausgebildete Arbeitskräfte warb, die dann den heimischen Wirtschaften fehlten. Das war die andere Seite von Europa, aber schließlich hatte jede Medaille zwei Seiten. Lange genug hier herum gelungert. Ich sollte langsam nach Hause.
Der Wald lichtete sich und die ersten Häuser kamen wieder in Sicht. Es konnte nicht mehr weit sein. Hier in der Nähe musste seine neue Wohnung sein. Voller Vorfreude verließ Rashid den Wald und ging auf das Wohngebiet zu.
Ein dumpfer Schmerz. Dann sah er den Boden näher kommen und riss die Arme nach vorne um sich abzufangen. Es gelang ihm gerade so, aber die Glasscherbe, die wohl aus einer alten zerbrochenen Bierflasche stammte, bohrte sich schmerzhaft in seine Handfläche. Mit schmerzverzerrtem Gesicht drehte er sich auf den Rücken und betrachtete seine Hände. Der erste Blutstropfen trat aus der Wunde und lief langsam seine Hand, dann seinen Arm hinunter. Rashid konnte nicht anders, als den Tropfen ungläubig zu beobachten. Was sollte das? Was war passiert? Ein Schatten fiel auf ihn. Ließ ihn aufblicken und erschaudern. Die Augen hatten ihn gefunden.
“Wage es nicht aufzustehen! Du bist genau da, wo Abschaum wie du zu sein hat! Am Boden. Im Dreck. Das ist dein Platz! Und jetzt, jetzt haben wir eine Rechnung zu begleichen!” Das diabolische Lachen ließ Rashid das Blut in den Adern gefrieren.
Plötzlich war wieder einmal alles ziemlich schnell gegangen. Eben noch das abgrundtiefe Hass-Lachen, jetzt das bewusstlose Gesicht neben ihm. Wie aus dem Nichts war ein großer Ast hinter irgendeinem Baum hervor geschwungen und hatte ihn ausgeknockt. Jetzt lag er neben ihm hier auf dem Boden. Regungslos, ungeschützt, darauf wartend dass er sich rächte. Doch Rashid konnte nicht. Er suchte die Bäume nach seinem Retter ab, konnte aber niemanden erkennen. Wie er gekommen war, so war er jetzt auch wieder entschwunden. Unsichtbar. Rashid schüttelte den Kopf. Heute war wirklich ein außergewöhnlicher, ein merkwürdiger Tag. Wenn er das alles jemandem zu erzählen versuchte, wer würde ihm glauben? Was sollte er jetzt tun? Ein bisschen war er versucht, dem Maskierten die Verschleierung vom Gesicht zu reißen. Schließlich sind wir hier in Deutschland. Hier trägt man sein Gesicht in aller Öffentlichkeit und unvermummt! Doch irgendwie fand er nicht so richtig den Mut dazu. Stattdessen stand er langsam auf und machte sich weiter auf den Weg. Die Schnitte in der Hand schmerzten und er wollte sie so schnell wie möglich auswaschen. Weit konnte es ja nicht mehr sein. Aber dann erblickte er ein kleines italienisches Eiscafe. Ein Kaffee wäre jetzt genau das Richtige. Den hatte er sich verdient. Und zumindest die Hände könnte er dort waschen.
Das Café machte auf den ersten Blick schon einen guten Eindruck. “La Familia” war auch ein hübscher Name. Alles war sauber und gepflegt. Die Menschen saßen an kleinen Tischen und unterhielten sich. Und obwohl es relativ voll war, hielt sich die Lautstärke doch in Grenzen. Es gefiel Rashid auf Anhieb hier. Freundlich grüßte er die Menschen die im Freien saßen und ihn ansahen und betrat das Café. Der Mann hinter der Theke begrüßte ihn sofort. “Herzlich Willkommen im La Familia. Setzen Sie sich ruhig wo sie möchten. Was darf es sein?” Rashid war durchaus leicht überrascht, aber es war offensichtlich, dass der Mann seinen Job hier liebte. Und so eine Herzlichkeit schien den Italienern wohl im Blut zu liegen. “Einen Espresso, bitte!” sagte er daher und setzte sich in den Nähe der Theke. “Ein Espresso. Kommt sofort.” Und schon war er verschwunden. Rashid nutzte die Zeit, um die Leute zu beobachten. Das Café hatte eine ganz besondere Atmosphäre, das war ihm gleich aufgefallen. Er hatte es zunächst nicht näher definieren können, aber jetzt kam ihm langsam, was es so besonders machte. Seine Besucher. Sie verteilten sich über fast alle Generationen, vom Kleinkind bis zu seiner Großmutter, vom Schüler bis zum Geschäftsmann, der hier für einen Kaffee in der Mittagspause Halt machte. Alle bunt durcheinander gewirbelt, als wäre es das Normalste der Welt. Dabei wusste er nur zu genau, dass die verschiedenen Alters- und Gesellschaftsgruppen eigentlich am liebsten unter sich blieben. Hier machten sich Eltern Gedanken um den Umgang ihrer Tochter. Zwei Tische weitere erzählte eine rüstige alte Dame von ihrer, nun ja recht offenherzigen Nachbarin, deren anscheinend wesentlich jüngerer Lebensgefährte, den sie im Urlaub kennengelernt hatte, sich am Ende als schwul herausgestellt hat. Was sie jetzt dummerweise jedem erzählen musste, ob er es hören wollte oder nicht.
“Das glaubt ihr nicht!” hörte er sie erzählen. “Ich konnte es ja erst selbst nicht glauben. Also ich mein, das ist doch was Privates, oder? Nicht nur, dass ich sie nicht eingeladen hatte, ewig bei mir rum zu sitzen, nein dann muss ich mir auch noch ihre Männergeschichte anhören. Mal ehrlich: Die Frau ist 80! Ist ja schön, dass da überhaupt noch was läuft. Ob man da einen so jungen Kerl braucht, ist ne andere Frage, aber ok. Ich will ja nicht urteilen. Was andere Leute im Schlafzimmer treiben, geht mich nichts an. Aber dann will ich es auch nicht wissen. Von niemandem! Ich frag ja auch nicht meinen Enkel, ob und was da mit seiner Freundin läuft. Und da fände ich es wesentlich normaler. Das ist wenigstens Familie. Aber wenn mir eine praktisch Fremde erzählt, dass sie ja schon irgendwie gemerkt hätte, dass das mit dem Sex nicht so toll gewesen wäre. Aber er hätte eben noch nicht so viel Erfahrung gehabt. Das könne ja vorkommen. Echt die benimmt sich, als wäre sie 20 oder so. Der Kerl war vielleicht 30 Jahre jünger als sie. Also ehrlich, warum der überhaupt mit ihr … Das will ich mir gar nicht vorstellen. Hätte ich auch nie, wenn sie mir nicht auf die Nase gebunden hätte, dass das stattgefunden hat! Das will doch niemand hören. Aber sie war ja auch schon ihr ganzes Leben lang soooooo eine Schönheit! Was soll man dazu sagen, wenn man einigermaßen nett bleiben will? Ich kann ja keine alte Frau mehr erziehen. Egal ich schweife ab. Auf jeden Fall hat er ihr jetzt gebeichtet, dass er schwul ist. Und einen passenden Kandidaten hat er wohl auch schon. Dabei hätte sie ihn ja nicht weggeschickt. Schließlich ist das ja inoperabel. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie oft ich das Wort ‘inoperabel’ in diesen Gespräch gehört habe. Diese Frau ist echt einzigartig. Und ganz wichtig: Wenn sie ein Buch über ihr Leben schreiben würde, das würde ja ein Bestseller! Bestseller. Noch ein Wort, dass sie für mich unerträglich anzuhören gemacht hat. Und sie würde das ja nur nicht machen, weil sie viel zu bescheiden ist und nicht möchte, dass die Menschen etwas über ihr Leben erfahren! Hallo??? Was erzählt sie mir denn gerade??? Ist das nicht ihr Bestseller-Leben? Ach ich könnte mich so aufregen. Tu ich ja auch. Entschuldigt bitte, aber das war echt eine traumatische Erfahrung, das könnt ihr euch gar nicht vorstellen… ‘Nein meine liebe Eusebia Bauch, das muss echt nicht sein. Du kommst bei mir nicht mehr rein. Dich wird man ja nicht mehr los! Tut mir leid. Ich habe wichtigeres zu tun, als mir Ihre Geschichten anzuhören. Sauerstoff zu Kohlendioxid, das kriege ich auch hin und bilde mir nichts drauf ein!’ Das hätte ich ihr gerne gesagt. Aber sowas macht man ja nicht, oder? Was denkt ihr?”
Rashid musste schmunzeln. Er konnte die alte Dame nur zu gut verstehen. Er hätte auch eine Menge zu erzählen, aber wen interessierte das schon? Am Ende versuchten doch alle nur möglichst gut über die Runden zu kommen. Es konnte doch nicht jeder so super interessant sein, dass es alle erfahren mussten. Mal ehrlich! Wir sind doch langweilig. Wir leben einfach. Arbeit, Essen, Trinken, Fortpflanzung. Wir alle tun das mehr oder weniger. Und wir atmen alle. Warum nur denken alle, dass das etwas Besonderes ist? Ob das am Internet lag? Heute konnte ja jeder jeden Mist einfach irgendwo hochlanden, posten, bloggen und sich einbilden, dass es die Welt interessierte. Die Gesellschaft hatte sich verändert. Die Welt war im Wandel und der machte alles anders, aber eben auch nicht zwangsläufig besser.
Aus dem Augenwinkel sah Rashid, wie Luigi
seinen Espresso auf die Theke stellte. Er wollte gerade aufstehen,
als er zurückgepfiffen wurden. “Bleib ruhig sitzen. Du
bist Gast hier. Houston wird ihn dir gleich an den Tisch bringen.”
Und tatsächlich tauchte kurz darauf die Bedienung auf. Rashid
war kurz versucht, sie zu fragen, wie es zu diesem ungewöhnlichen
Namen gekommen war, hielt sich dann aber doch lieber zurück.
Rashid war für die Menschen hier sicher genauso ungewöhnlich,
wie Houston für ihn. “Danke!” lächelte er sie
daher nur an, ohne auch nur die geringste Reaktion damit bei ihr
auszulösen. Sie schien das komplette Gegenteil von Luigi zu
sein. Aber gut, sie schien schon lange hier zu arbeiten. Die anderen
Gäste kannten sie schon eine Weile, zumindest schloss er das aus
der Vertrautheit, die sie umgab und den Witzen die sie sich an den
Kopf warfen.
Der Kaffee duftete wunderbar. Er griff gerade zur
Tasse, als ihm auffiel, dass er vor lauter Begeisterung über die
Atmosphäre und die ihn umgebenden Gespräche komplett
vergessen hatte, sich die Hände zu waschen. Schnell machte er
sich auf den Weg zur Toilette und drehte das Wasser auf. Der kalte
Strahl brannte, als er auf seine Wunde traf, die Blut und Schmutz
verflüchtigten sich langsam. Eine kleine Narbe würde sicher
zurück bleiben, aber nichts Dramatisches. Zufrieden kehrte er zu
seinem Tisch zurück, hielt dabei der alten Dame mit der
schlimmen Nachbarin noch die Tür zu den Toiletten auf und setzte
sich wieder. War das nicht die gleiche Frau gewesen, der er über
die Straße geholfen hatte? Er war sich nicht sicher und nippte
an seinem Espresso. Vielleicht konnte er sie besser sehen, wenn sie
wieder an ihm vorbei kam.
Der Espresso war wirklich vorzüglich.
Davon brauchte er unbedingt einen zweiten. Doch Luigi war nicht zu
sehen. Weit konnte er ja nicht sein. Wieder sah er von Tisch zu
Tisch, beobachtete die Leute, genoss es Teil dieses Moments zu sein.
Da tauchte Luigi an seinem Tisch auf. “Der war wirklich
fantastisch. Du hast den Dreh raus, Luigi.”
“Danke.
Das hat mir mein Vater noch beigebracht. Kaffee ist eine Kunst. Die
Menschen schätzen das nur zu wenig.”
“Stimmt
wohl. Wir haben verlernt zu genießen. Alles muss immer nur
schnell gehen. Das Leben ist hektisch geworden.”
“Recht
hast du. Du bist neu hier, oder? Ich kann gut mit Gesichtern und du
warst noch nie hier, oder?”
“Ja stimmt. Ich hab bis
heute im alten Flüchtlingsheim gewohnt. Jetzt komme ich hier in
eine Wohnung.”
“Das Heim, das abgebrannt wurde?”
“Ja
genau. War ziemlich knapp heute, aber ich hatte Glück. Mehrmals
heute schon. Es scheinen nicht alle so gut auf mich zu sprechen sein
hier im Ort.”
“Ich bin sicher das geht nicht gegen
dich. Die hassen alles was anders, alles was fremd ist. Halten sich
für was Besseres. Idioten wenn du mich fragst. Aber ernst nehmen
muss man sie leider.”
“Die gibt es wohl
überall.”
“Stimmt wohl. Aber hier, meine Gäste,
die sind alle in Ordnung. Da passt du wunderbar rein. Du wirst dich
schnell hier zurecht finden. Ganz sicher.”
“Ich werd
mir Mühe geben. Ich bin Rashid.” Ein freundschaftlicher
Händedruck. “Luigi, wie du ja weißt. Willkommen in
der Gegend. Noch ein Espresso?”
“Gerne. Danke.”
Luigi war gerade auf dem Weg zurück
hinter seinen Tresen, als er auf einmal laut aufschrie. “Alle
runter! Los schnell! Houston komm rüber! Schneller! Ruf sofort
die Polizei!” Es war ihr anzusehen, dass sie nicht wirklich
verstand, was hier vor sich ging. “Was ist den los,
Luigi?”
“Nicht fragen, anrufen. Wie haben ein großes
Problem an der Backe, Houston. Wir haben echt ein Problem!”
Das konnte doch nicht sein Ernst sein. So ein abgedroschener Spruch! Rashid wollte schon anfangen zu lachen, aber diese Lachen blieb ihm im Halse stecken.
Es kam nicht selten vor, dass Insa einfach in ihrer Küche saß und die geblümte Tapete anstarrte. Alles änderte sich so schnell, da war die Tapete eine Art Ruhepol für sie geworden, so unruhig sie auch für andere erscheinen mochte. Die meisten fanden sie einfach grässlich, so altmodisch, oder retro wie die Leute jetzt oft sagten. Sie störte das nicht. Insa war gern altmodisch. Sie hatte auch ein Recht darauf, schließlich kämpfte sie sich jetzt schon über 70 Jahre durch diese Welt. Eine Welt, die Tag für Tag komplizierter wurde und sich immer mehr veränderte, so schnell, dass sie einfach nicht mehr mitkam. Und so suchte sie immer wieder Bekanntes und Vertrautes, an dem sie sich fest verankern konnte. Wie eine alte Tapete, die man heutzutage nirgendwo mehr bekam. Wie das schöne, angenehme Licht einer 100-Watt-Glühbirne, die zwar Strom fraß ohne Ende, aber ihrer Stimmung einfach gut tat. Und nicht zuletzt war da ihr immer wiederkehrender wöchentlicher Alltagstrott. Die Woche war komplett geplant und wiederholte sich ein ums andere Mal. Was anderen Langeweile brachte, bot ihr Stabilität und Freunde. Auch davon gab es nicht mehr viel in dieser modernen Welt. Schnelles Geld, schneller Erfolg, schneller Sex, das waren die Gradmesser dieser Zeit. Und von allem am besten möglichst viel und mit möglichst wenig Einsatz. Es war einfach eine andere Zeit. Sie hatte sich damit abgefunden und wusste, dass es kein zurück mehr gab, aber genauso wusste sie auch, dass nicht alles sich zum Guten veränderte, wie es einem heute alle verkaufen wollten. Viel Gutes blieb auf der Strecke und die Menschen taten so, als sei das völlig normal.
In ihrem Alter durfte man natürlich
nicht von der “guten alten Zeit” sprechen. Dieses
allgemeine “früher war alles besser” ging ihr
genauso auf die Nerven wie den meisten anderen. Außerdem war es
einfach falsch. Früher war es anders, das stimmte. Aber alles
besser? Warum? Die Menschen waren doch damals auch nicht besser als
heute? Und mal ehrlich, hätten sie damals die gleichen
Möglichkeiten gehabt wie heute, wäre es sicher ganz ähnlich
gelaufen. Die Menschen waren das eigentliche Problem, die Menschen
und ihre Einstellung. Zufriedenheit war ein Fremdwort, damals wie
heute.
Hatten die Menschen vergessen was in Europa vor 1945 alles
passiert war? War das “die gute alte Zeit” von der alle
sprachen? Sicher, für manche war das so, es gab genug die sich
nach solchen Zeiten sehnten. Aber das lag weniger an der glorreichen
Realität von damals, als vielmehr an der mangelnden
Denkfähigkeit ihrer Befürworter. Und
mal ehrlich, die meisten von euch hätten damals nichts zu lachen
gehabt. Insa selbst war ein
Kind dieser Zeit. Sie hatte sie nicht bewusst miterlebt, war aber im
Nachkriegsdeutschland aufgewachsen, immerhin mit der Möglichkeit
vieles aus erster Hand zu erfahren. Sie hatte aber auch feststellen
müssen, dass viele nicht gern über die Vergangenheit
sprachen. Lieber konzentrierte man sich auf all das Positive, das nun
mit dem Aufbau bevorstand. Und es wurde ja auch besser. Zumindest für
die auf der richtigen Seite. Das Leben war anders damals, aber die
Menschen waren nicht besser oder schlechter. Sie hatten etwas, das
man ganz zynisch als “großen Vorteil” bezeichnen
konnte. Sie hatten einen schrecklichen Krieg überlebt. Alles lag
in Schutt und Asche. Es konnte nur aufwärts gehen und dafür
musste man dankbar sein. Das kannten die Menschen heute nicht mehr.
Sie wussten nicht wie es ist, nichts zu haben. Sie haben ihren
Wohlstand und jetzt die Angst, etwas davon abgeben zu müssen.
Deswegen auch die Angst vor dem Fremden, vor Menschen denen es
schlechter geht, die jetzt auch ein Stück vom Kuchen haben
möchten. Herrschte erst einmal eine solche Atmosphäre,
brauchte man nur noch jemanden der zündelt, um das Fass zum
explodieren zu bringen. Und davon gab es ja leider genug, die mit
dumpfen Parolen Hass schürten und einfache Lösungen für
alle Probleme anboten. Mit Hass und Wunschdenken war immer leichter
zu punkten als mir Realismus und Sachlichkeit.
Und dann gab es tatsächlich noch einen großen Unterschied zwischen früher und heute: Die Geschwindigkeit. Der Fortschritt hatte die Welt richtig in Fahrt gebracht. Das musste ja nicht zwangsläufig schlecht sein, doch jeder wusste was passierte, wenn es bei hohen Geschwindigkeiten zum Unfall kam und sie konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass genau ein solcher Unfall der Welt bevor stand und dass man nichts unversucht ließ ihn zu verhindern, indem man das Gaspedal voll durch trat. Scheinbar waren sich alle einig, dass das eine gute Idee wäre.
Insa war nicht grundsätzlich gegen Fortschritt. Vieles fand sie sehr praktisch und erstaunlich. Sie liebte ihr neues Smartphone mit all seinen Möglichkeiten. Natürlich brauchte sie ein bisschen länger um alles zu verstehen, aber am Ende fand sie sich ganz gut zurecht in der neuen Welt der Apps und des Internets, auch wenn das alles wohl Neuland für sie bleiben würde, solange sie noch lebte. Nachdem sie sich endlich von ihrem alten Röhrenmonster hatte trennen könne, verstand sie auch, warum es so wichtig war, dass ihr neuer Fernseher “HD-Ready” war, auch wenn das jetzt schon wieder veraltet war. Für ihre Augen war das Bild allerdings noch brillant genug. Was sie nicht verstand war die Schnelligkeit, mit der die Menschen um sie herum, diese technischen Gerätschaften inzwischen austauschten. Ihr alter Fernseher war über 20 Jahre alt und würde noch immer funktionieren. Neue Geräte gingen viel schneller kaputt oder wurden unbrauchbar, was natürlich ganz praktisch war, wenn man sowieso immer das Neueste brauchte. Aber all das produzierte jede Menge unnötigen Müll. Inzwischen gingen die Hersteller anscheinend sogar noch weiter. Erst kürzlich hatte sie sich für einen dieser neuen Bluray-Player interessiert und deshalb bei einem großen Online-Händler nach Erfahrungen und Bewertungen recherchiert. Natürlich war das immer mit Vorsicht zu genießen, aber einige Kommentare zeichneten ein düsteres, für sie unverständliches Bild. Offenbar gingen die Hersteller dazu über, ihre Geräte mit immer neuerer Software auszustatten und regelmäßig upzudaten. Das klang ja generell nicht schlecht. Aber inzwischen gab es immer öfter Fälle, dass alte Geräte keine Updates mehr erhielten und deshalb neue Filme nicht mehr abspielen konnten. Wem auch immer man jetzt die Schuld dafür zuschieben wollte, das war es gar nicht, was sie so sehr schockiert hatte, schließlich ging es den Unternehmen ums Geld verdienen und das Modell dahinter war natürlich geradezu genial einfach. Aber das wirklich verrückte war, wie die Menschen damit umgingen. Für die einen war es völlig selbstverständlich, dass man dann eben ein neues Gerät kaufte. “Weil mein altes Gerät immer öfter bei neuen Filmen streikte, habe mir dieses Gerät gekauft und bin zufrieden…” Solche und ähnliche Kommentare gab es zuhauf. Und das neue Gerät hatte sonst keine weiteren Vorteile, es konnte nur auch die neuen Filme abspielen. Es gab natürlich auch Menschen, die sich darüber aufregten. Aber die ernteten oft nur absolutes Unverständnis für ihre Bewertungen. Da war man plötzlich innovationsfeindlich und geizig, weil man ein funktionierendes Gerät nicht einfach entsorgen wollte, weil ein neues ja nur ein paar Euro kostete. Nur, dass das neue günstige Gerät nicht bald das gleiche Schicksal ereilte, diese Garantie war keiner bereit zu geben. Und wieder verstanden offenbar viele nicht, dass einem das wichtig war. Die Werbung hatte ganze Arbeit geleistet. Immer das Neueste brauchte man, ob man es brauchte oder nicht. Insa hielt sich für relativ modern, aber das würde sie nie verstehen. Zumindest hatte sie einen netten Kommentar hinterlassen, damit derjenige wusste, dass er nicht allein war. Das war im Internet ja kein Problem.
Jetzt starrte sie wieder auf ihre schöne Tapete. Der Tag hatte sie schon ein bisschen angestrengt und sie wollte sich nachher noch mit ihren Freundinnen zum Kaffee treffen. Ein bisschen Zeit war noch, um sich zu entspannen. Mit Musik ging das natürlich viel besser und so schaltete sie ihr altmodisches Radiogerät an. Das war ihr dann doch lieber als irgendwelche selbst zusammengestellten MP3-Playlists und an diese ganzen neuen Streaming-Dienste hatte sie sich noch nicht ran getraut. Aber auf der Liste hab ichs noch. Man kann ja nicht alles auf einmal lernen. Eine alte Frau ist ja kein D-Zug! Sie musste Grinsen, doch dann war es wie weggeblasen.
“Bei einem schweren Brandanschlag ist heute das städtische Flüchtlingsheim fast vollständig abgebrannt. Glücklicherweise stand es aufgrund geplanter Renovierungsarbeiten fast vollständig leer. Ein letzter Bewohner, der das Heim diese Woche verlassen sollte, kam mit leichten Verletzungen davon. Handelte es sich um einen bewussten Anschlag auf diese Person, oder gingen der beziehungsweise die Täter von einem leeren Gebäude aus? Die Polizei geht von einem fremdenfeindlichen Motiv aus und hat eine Sonderkommission eingerichtet. Die weiteren Hintergründe sind noch völlig unklar. Es bleibt die Frage, wie so ein Anschlag unbemerkt am hellichten Tag stattfinden konnte. Wir halten Sie über die Ermittlungen auf dem Laufenden…”
Das durfte doch nicht wahr sein. Die Welt war doch voller Idioten. Sie konnte es einfach nicht anders ausdrücken. Diesen Trotteln war wirklich gar nichts klar, auf dieser Welt. Die waren blind vor Hass und Egoismus. Sie merkten nicht mal, dass sie mit solchen Feuern praktisch ihr eigenes Steuergeld verbrannten. Naja. Wenn sie überhaupt Steuern zahlen, aber die Sozialleistungen werden auch nicht besser, wenn ständig Brände gelöscht und Häuser renoviert werden müssen. Günstiger Wohnraum wird das jetzt erst einmal nicht mehr entstehen und dann verkauft die Stadt das an einen privaten Investor und der denkt natürlich nur an Gewinnmaximierung. Es war zum Heulen manchmal. Aber soweit konnte man ohne Hirn eben nicht denken. Es tat ihr in der Seele weh, dass so etwas hier, in ihrer Stadt, passieren konnte. Mit jetzt gemischten Gefühlen, dachte sie an die Ereignisse des heutigen Tages zurück. Auf dem Weg zum Bus war sie gestürzt. Irgend so ein dämlicher Säufer hatte seine Flasche mitten auf dem Weg entsorgt. Die Sonne hatte ihr so seltsam ins Gesicht geschienen, dass sie sie nicht hatte sehen können. Zumindest hoffte sie, dass sie sich das nicht nur einredete, um nicht zugeben zu müssen, dass ihr Augenlicht langsam nachließ. Auf jeden Fall war sie mit vollem Schwung auf die Flasche getreten, weggerollt und schmerzhaft gestürzt. Es war ihr zum Glück nichts weiter geschehen, aber sie musste zugeben, dass es ihr schon ziemlich schwer gefallen war, wieder auf die Beine zu kommen. So langsam machte sich das Alter leider immer mehr bemerkbar. Was sie dann hatte erleben müssen, hatte ihr wieder einmal bewusst gemacht, dass die Zeiten sich geändert hatten. In ihrer eigenen Jugend war man gerannt, wenn ein älterer Mensch stürzte, damit man ihm möglichst schnell wieder aufhelfen konnte. Es war fast eine Ehre. Und heute? Naja. Es wäre zu kurz gegriffen, es auf die Jugend zu schieben, das wusste sie. Auch wenn es tatsächlich zwei Jugendliche gewesen waren, die als erste an ihr vorbei gelaufen waren. Komplett in schwarz gekleidet gingen sie ihres Weges, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. Das war sie ja gewohnt, vor allem in öffentlichen Verkehrsmitteln. Aber es hatten sie tatsächlich noch zwei andere Personen passiert. Nicht direkt, aber doch in Sichtweite auf der anderen Straßenseite. Und die waren keine Jugendlichen mehr. Aber auch das war ja nicht überraschend, oder? Irgendwoher mussten die es ja haben. Wie die Eltern, so die Kinder. Wenn sie vorgelebt bekamen, dass man anderen nicht helfen musste, dann kamen sie in den seltensten Fällen von alleine auf die Idee. Genauso waren es ja auch nicht nur junge Menschen, die nicht aufstanden im Bus. Wenn sie ehrlich war, war auf die sogar noch eher Verlass, als auf die Generation ihrer Kinder. Wie konnte eine ganze Generation nur so bei der Erziehung versagen? Naja. Auch damals waren es eben andere Zeiten gewesen. Vielleicht sind das die Werte, die uns die Einwanderer streitig machen? Sie fand diesen Gedanken lustig und traurig zugleich. Zufälligerweise war es nämlich ein, zumindest für sie, arabisch aussehender Mann gewesen, der ihr schließlich aufgeholfen hatte. Auch wenn er noch nicht perfekt deutsch sprach, hatte sie doch an der Wärme in seiner Stimme erkannt, dass es ihm wirklich ein Bedürfnis war, ihr zu helfen. Und er war nicht weiter gegangen bevor er sie nicht sicher in den Bus hatte einsteigen sehen. Das war noch Hilfsbereitschaft, die man bei ihren Landsleuten immer öfter vergebens suchte. Zum Glück gab es auch da Ausnahmen. Die junge Frau, die ihr sofort ihren Sitzplatz angeboten hatte. Und natürlich ihren Enkel, der all das verkörperte, was sie sich von der heutigen Jugend wünschte. Es gab schon noch nette und hilfsbereite Menschen. Man musste nur wesentlich intensiver suchen als früher.
Insa hielt sich selbst für eine durchaus moderne Rentnerin. Klar, sie konnte nicht auf allen Gebieten mithalten, aber sie bemühte sich immerhin. Sie war der festen Überzeugung, dass man nie zu alt für Veränderung war. Man lernte sein Leben lang, musste sich sein Leben lang anpassen. Das war es, was das Leben ausmachte, oder? Das Leben war ein einziger großer Wandel und mit manchem kam man besser zurecht, mit anderem weniger. Aber was das nicht völlig normal?
Was Insa wirklich störte, waren nicht die Veränderungen, die die Moderne mit sich brachten. Es war nicht die Geschwindigkeit, mit der diese sie manchmal überrollten. Immer wenn sie etwas störte, waren es Menschen. Oder genauer gesagt, das Verhalten von Menschen. Freundlichkeit war immer möglich. Auch wer in Eile war, musste sich nicht wie der letzte Trottel aufführen. Aber die Menschen hatten verlernt geduldig zu sein. Warum konnte man nicht eine Minute an der Kasse warten? Warum musste man ihr die Einkäufe schnell in den Wagen werfen? Musste man wirklich genervt schnaufen, nur weil sie in bar zahlen und ihn Kleingeld aufbrauchen wollte? Zumal sie gerne jemandem den Vortritt ließ, der nur wenige Artikel hatte. Was es da zuviel verlangt, ein “Danke” zu erwarten? Offensichtlich war dafür keine Zeit, wenn man es eilig hatte. Das war es, was sie aufregte. Wenn die Menschen alles als Entschuldigung für schlechtes Benehmen benutzen wollten. “Ich muss nicht freundlich sein, ich habs eilig!” Wie sehr sie diese Einstellung verabscheute. Was unterschied den Menschen denn noch vom Tier? Waren es nicht gerade Eigenschaften wie Freundlichkeit? Ja das stimmt wohl. Nur dass sich früher die Menschen den Tieren überlegen gefühlt haben. Heute kann sich teilweise das schlimmste Raubtier noch als freundlich ansehen, wenn man so manche Menschen als Definitionsgrundlage heranzieht.
Leider war ihre eigene Familie da keine Ausnahme. So sehr sie ihren Enkel auch liebte, so sehr hatte sich ihr Sohn als Enttäuschung erwiesen. Er war einer von denen, die nie zufrieden sein konnte, weil sie der in ihren Augen absolut verständlichen Meinung waren, dass ihnen viel mehr zustand, als ihnen das Leben bisher beschert hatte. Und so hatte er kein Fettnäpfchen ausgelassen, um sein Leben immer tiefer in die Abwärtsspirale zu zwingen. Dabei hätte es ihm so gut gehen können. Jetzt war das einzige, das er zustande gebracht hatte, sein Sohn und zu dessen durchaus gelungener Persönlichkeit hatte er ganz bestimmt absolut nichts beigetragen. Im Grunde genommen, war er ein Waschlappen. Sie konnte sich nicht daran erinnern, ihn zu so einem erzogen zu haben, aber sie dachte oft darüber nach, ob und was sie wohl bei der Erziehung falsch gemacht hatte und was sie vielleicht hätte anders oder besser machen müssen. Natürlich hatte sie Fehler gemacht. Alle machten Fehler. Aber am Ende war doch irgendwann jeder ab einem bestimmten Zeitpunkt für seine Entscheidungen und deren Folgen selbst verantwortlich, oder? Natürlich sah ihr Sohn das anders. Die ganze Welt hatte sich gegen ihn verschworen wie es aussah. Er hatte alles richtig gemacht, aber dennoch war doch sein jetziges Leben die Summe seiner Entscheidungen, auch wenn das damals natürlich nicht absehbar gewesen war. Das passiert eben, wenn man sich mit den falschen Leuten einlässt. Zumindest kannst du nicht behaupten, dass ich nichts gesagt hätte. Sie erinnerte sich ganz genau. Es war ein Mittwoch gewesen. Sie hatte gerade Kaffee aufgesetzt und sich ein Stückchen Kuchen vom Bäcker geholt gehabt, als ihr Sohn mit seiner Neuen, diesmal wirklich der Richtigen, vorbei gekommen war. Oh Mann, was war das für eine dämliche Schickse gewesen. Kaum Stoff am Körper, Silikon in den Brüsten und wenn man nach ihren Äußerungen urteilen wollte, auch noch an anderen Stellen, die normale Menschen fürs Denken benutzten. Natürlich hatte sie ihr eine Chance geben wollen, aber diese Frau hatte wirklich nichts als dumme Sprüche von sich gegeben. Offensichtlich war Insas Filterkaffee nicht gut genug für sie. Caroline (oder Kärolain wie sie sich ausgesprochen haben wollte) hatte ihm wirklich nicht gut getan. Sie lebte in einer absoluten Fantasiewelt, in der die ganze Welt nur ihr zu Füßen lag. Und genau diese Ansprüche übertrug sie auch auf Gunnar. Für seinen Job in einem Autohaus, war er doch nun wirklich total überqualifiziert. Das war doch nun wirklich nichts Repräsentatives, das man guten Gewissens in der Öffentlichkeit erzählen konnte. Wie würde sie denn da vor ihren Freundinnen dastehen, wenn sie so jemanden heiratete? Dass der Job gutes und sicheres Geld einbrachte, das sie nach bestem Wissen und Gewissen mit vollen Händen ausgab, reichte nicht aus. Selbst die angebotenen Gehaltserhöhungen waren nicht genug. “Willst du wirklich dein Leben lang in einem Autohaus sitzen?” hatte sie ihn gefragt? “Die Welt hat sich doch weitergedreht. Heute sind Banken und Börsenmakler angesagt. Da verdienst du das gleiche Geld, wenn du gut bist sogar noch viel mehr, und hast das Ansehen noch dazu. Das schuldest du dir, Gunnar. Du hast der Welt etwas zu geben, warum willst du das an einem kleinen Schreibtisch im Autohaus verstecken? Das wäre doch so eine Verschwendung!” Schnelles Geld, schneller Erfolg, schneller Sex. Und ihr naiver Gunnar war ihr auf den Leim (oder aufs Silikon) gegangen. Genau das hatte er hören wollen. Das machte es Caroline noch einfacher, ihn zu manipulieren, bis sie ihn da hatte wo sie ihn haben wollte. Er kündigte seinen Job, bewarb sich bei einer Bank, arbeitete mehr, für den gleichen Lohn und das Prestige eines Bänkers. Natürlich hatte Caroline sich das so nicht vorgestellt. Das erträumte Einkommen ließ auf sich warten. Aufstiegsmöglichkeiten gab es kaum für Einsteiger wie Gunnar. Das Leben war nun gar nicht mehr schön und das ließ sie Gunnar gnadenlos spüren. Aber er kam einfach nicht los von ihr. Wie oft hatte sie ihm zugeredet, sie doch endlich zu verlassen, wenn sie ihn mal wieder betrogen hatte und er am Boden zerstört war, zerfressen vom Stress auf der Arbeit und der Angst vor dem Jobverlust. Doch alles Reden war sinnlos, wenn der andere einfach nicht hören und verstehen wollte.
Bis zu diesem Punkt hatte Insa noch Gefühl gehabt, dass sich alles wieder einrenken konnte und Gunnar noch die Möglichkeit hatte, sein Leben wieder auf die Reihe zu bekommen. Doch dann schlug das Schicksal erbarmungslos zu. Zuerst bekam er den Auftrag einen Kredit zu kündigen. Sein alter Chef (und Freund) war mit den Raten in Rückstand gekommen und da kannten die Banken in der Finanzkrise kein Pardon. Gunnar tat seine Pflicht, aber es brach ihm das Herz. Ganz im Gegenteil zu Caroline. Es törnte sie total an, dass ihr Gunnar nicht mehr nur der Gutmensch war, das Weichei. “Komm mach mir ein Kind!” war ihre Reaktion darauf gewesen, dass er ihr sein Herz ausgeschüttet hatte. Wie konnte Gunnar sich dagegen wehren?
Was dann folgte war das Einzige, das Insa bereit war Caroline zu Gute zu halten. Schließlich war ihr süßer Enkel das einzig Gute und Sinnvolle, was je aus ihrer Schwiegertochter heraus gekommen war. Er konnte ja nichts dafür, dass er der Anfang vom Ende war. Natürlich war Caroline komplett überfordert mit einem Baby, das Aufmerksamkeit wollte, das sie daran hinderte von einer Party zur nächsten zu hüpfen, das sie fett gemacht hatte. Sie hasste ihren Sohn dafür und sie hasste Gunnar, der ihr das angetan hatte. Als er dann auch noch seinen Job in der Bank verlor, weil die sich verspekuliert hatte, war das der eine Tropfen zuviel. Das Fass war übergelaufen. Das hatte sie nicht verdient. Über Nacht war sie verschwunden und hatte sich nie mehr blicken lassen. Zumindest war sie konsequent und hatte nie Unterhalt eingefordert. Was sie nicht mehr mit ansehen musste war, wie sie Gunnar damit praktisch das Genick gebrochen hatte. Seit diesem Tag war sein Lebenswille erloschen. Das war der Startschuss in sein Dasein als Dahinvegetierender. Sicher, er hatte sich noch eine Zeit lang über Wasser gehalten, aber in der Wirtschaftskrise fand er keinen Job. Zu alt, zu teuer. Ein Jahr später der Absturz auf Hartz 4, gefolgt vom Umstieg auf billigen Wein im Tetra Pak. Fernsehen und saufen waren von nun an die einzig verbliebenen lohnenden Beschäftigungen für ihn. Für Dinge wie Erziehung fühlte er sich nicht zuständig. Schließlich schuldete ihm das Leben zuerst noch etwas. Es tat Insa im Herzen weh, an diese Zeit zurück zu denken. Ach hätte ich doch nur mehr getan. Aber was hatte ich für eine Chance? Ich war doch nur seine Mutter. Gegen eine aufgetakelte, durchtriebene Schickse war ich einfach chancenlos. Sie hoffte nur, dass Caroline mindestens genauso zu leiden hatte. Sie hatte es nicht besser verdient. Sie konnte ihr nur Pest an den Hals wünschen, auch wenn sie wusste, wie falsch das war. Du hast meinen Sohn vernichtet. Und ich wünschte ich hätte die Möglichkeit, es dir heimzuzahlen! Oh ja, ich wüsste schon, was ich mit dir machen würde. Ich würde dir alles nehmen, wirklich alles, was dir etwas bedeutet. Und es wäre gar kein Problem, weil du die Einzige wärst, die leiden müsste, schließlich hast du dir nie viel aus Menschen gemacht! Du bist Abschaum und ich wünschte ich könnte dich aus der Gosse spülen, denn die wäre noch zu gut für dich!
Mit einem leisen Seufzer holte sich Insa aus ihrer Blümchentapeten-Vision wieder in die Realität zurück. Sie mochte es nicht, sich so sehr zu echauffieren. Dann fühlte sie sich immer so alt, hatte sie sich doch geschworen, nie so zu werden wie die Alten ihrer Jugend. Daran versuchte sie sich immer wieder selbst zu erinnern. Aber leider merkte sie auch, dass das Alter einfach wunderlich machte. Manchmal strömten Gedanken durch ihren Sinn, die sie einfach nicht verstand. Wo kamen die her? Warum tauchten sie plötzlich auf? Wie wurde man sie wieder los? War das einfach das Schicksal alter Menschen? Das wollte sie nicht hinnehmen. Insa kannte genug alte Menschen. Deren Verhalten, deren Ansichten und deren Engstirnigkeit war tatsächlich auch etwas, das sich über all die Jahrzehnte nicht verändert hatte. Es war beinahe lustig, aber natürlich gaben sie nicht zu, dass sie sich in genau die Personen verwandelt hatten, die sie in ihrer Jugendzeit so sehr verabscheut hatten. Die Realität lag eben im Auge des Betrachters und Insa war ehrlich mit sich selbst. Es war zwecklos zu leugnen, dass sie selbst von Zeit zu Zeit solche Anwandlungen hatte. Warum also nicht dazu stehen? Überhaupt war das dann meistens gar kein Problem mehr. Niemand nahm einem seine Schrulligkeiten übel, wenn man sie einräumte und sich bemühte, dass sie nicht überhand nahmen. Die Menschen schätzten das Bemühen. Sie merkten, dass man ihnen dadurch einen Wert zumaß, den sie selten verspürten, weil der Alltag oft einsam, rau und kalt war. Ein bisschen Freundlichkeit konnte da so viel bewirken, erforderte aber, dass man sich selbst zurück nehmen konnte, schließlich musste einer den ersten Schritt machen. Es war kein Zufall, dass die meisten Griesgrame und Miesepeter (und natürlich Griesgraminnen und Miespeterinnen, schließlich war man emanzipiert) in ihrem Alter, genau das nie taten. Sie warteten darauf, dass man nett und freundlich auf sie zu ging, sie mit Höflichkeit überschüttete und den ganzen Tag hofierte. Wie konnte irgendwer diese Anforderungen erfüllen? Selbst wenn er nicht bemerkte, wie missmutig und launisch jede Kleinigkeit gemustert und kommentiert wurde von der Kleidung, über die Frisur bis hin zur Körperhaltung. Ganz ehrlich, solche Menschen hatten es verdient unglücklich zu sein, denn sie investierten wirklich soviel Energie in dieses Ergebnis, dass es geradezu eine Verschwendung wäre, wenn sie es nicht erhielten. Insa hatte nur ein Problem bei der ganzen Sache. Fast alle ihre Freundinnen waren so und wenn sie die ganze Zeit darüber nachdachte und ihnen das vorhielt erginge es ihr auch nicht besser. Man kann die Menschen selten ändern. Aber man immer seine eigene Einstellung so anpassen, dass es einem maximal gut gehen kann. Das war tatsächlich ihre feste Überzeugung. Was brachte es, den ganzen Tag über die Fehler anderer nachzudenken. Davon wurden sie ja auch nicht weniger. Wenn man Gesellschaft wollte, musste man wohl oder übel auch die Schwächen der anderen akzeptieren oder es eben ganz sein lassen. Es zwang sie ja niemand, sich mit diesen Menschen abzugeben. Aber wenn sie nicht den ganzen Tag einsam und verlassen in ihrer Wohnung sitzen und die Blümchen auf ihrer Tapete zählen wollte, musste sie andere so akzeptieren wie sie waren. Das tat sie und deshalb hatte sie bei allem was man auch bemängeln könnte doch eine Menge Spaß mit ihren “alten Ladies”, wie sie gern nannte. Und genau diesen Spaß wollte sie auch heute wieder haben. “Also los, Insa. Hör auf, die Wände anzustarren, und fang an dich fertig zu machen. Du bist schließlich nicht mehr die Jüngste. Und wir wollen die Ladies ja nicht warten lassen, oder? Auch wenn die Einsamkeit die Zeit dehnen kann, gilt das nur für dich und nicht für den Rest der Welt!” Ein Lächeln umspielte das faltige Gesicht der alten Dame, als sie sich im Spiegel betrachtete. “Eigentlich bist du ja schon noch ein Hingucker. Hast dich gut gehalten für dein Alter! Und jetzt los! Kaffee und Kuchen warten!”
Insa konnte es gar nicht erwarten, ihre Damenrunde endlich wieder zu sehen. Wer wusste schon wie lange das noch möglich war in der jetzigen Besetzung. Sie hatten schon die eine oder andere an den Tod verloren. Ein Thema über das alle ungern sprachen und das sie deshalb fast immer ausklammerten. Das war auch gar nicht so schwer, wenn man seinen Kaffee nicht pur trank. Und wenn dann noch der ein oder andere Piccolo dazu kam, standen sie den jungen Mädels in nichts mehr nach. Naja. Außer vielleicht bei den Männern. Aber auch da gab es ja Ausnahmen. Leider wusste sie von diesen viel mehr, als ihr lieb war und sie hatte das Gefühl zu platzen, wenn sie es nicht endlich wieder los werden konnte. Endlich waren alle da.
“Also los, Insa! Wir sind alle da.
Was musst du uns denn so Dringendes erzählen?”
“Ja
das muss ich, sonst krieg ich die Bilder glaub ich nie mehr aus
meinem Kopf.”
“Na denn. Wir warten. Enttäusch uns
nicht!”
“Das glaubt ihr nicht! Ich konnte es ja erst
selbst nicht glauben. Also ich mein, das ist doch was Privates, oder?
Nicht nur, dass ich sie nicht eingeladen hatte, ewig bei mir rum zu
sitzen, nein dann muss ich mir auch noch ihre Männergeschichte
anhören. Mal ehrlich: Die Frau ist 80! Ist ja schön, dass
da überhaupt noch was läuft. Ob man da einen so jungen Kerl
braucht, ist ne andere Frage, aber ok. Ich will ja nicht urteilen.
Was andere Leute im Schlafzimmer treiben, geht mich nichts an. Aber
dann will ich es auch nicht wissen. Von niemandem! Ich frag ja auch
nicht meinen Enkel, ob und was da mit seiner Freundin läuft. Und
da fände ich es wesentlich normaler. Das ist wenigstens Familie.
Aber wenn mir eine praktisch Fremde erzählt, dass sie ja schon
irgendwie gemerkt hätte, dass das mit dem Sex nicht so toll
gewesen wäre. Aber er hätte eben noch nicht so viel
Erfahrung gehabt. Das könne ja vorkommen. Echt die benimmt sich,
als wäre sie 20 oder so. Der Kerl war vielleicht 30 Jahre jünger
als sie. Also ehrlich, warum der überhaupt mit ihr … Das
will ich mir gar nicht vorstellen. Hätte ich auch nie, wenn sie
mir nicht auf die Nase gebunden hätte, dass das stattgefunden
hat! Das will doch niemand hören. Aber sie war ja auch schon ihr
ganzes Leben lang soooooo eine Schönheit! Was soll man dazu
sagen, wenn man einigermaßen nett bleiben will? Ich kann ja
keine alte Frau mehr erziehen. Egal ich schweife ab. Auf jeden Fall
hat er ihr jetzt gebeichtet, dass er schwul ist. Und einen passenden
Kandidaten hat er wohl auch schon. Dabei hätte sie ihn ja nicht
weggeschickt. Schließlich ist das ja inoperabel. Ihr könnt
euch gar nicht vorstellen, wie oft ich das Wort ‘inoperabel’
in diesen Gespräch gehört habe. Diese Frau ist echt
einzigartig. Und ganz wichtig: Wenn sie ein Buch über ihr Leben
schreiben würde, das würde ja ein Bestseller! Bestseller.
Noch ein Wort, dass sie für mich unerträglich anzuhören
gemacht hat. Und sie würde das ja nur nicht machen, weil sie
viel zu bescheiden ist und nicht möchte, dass die Menschen etwas
über ihr Leben erfahren! Hallo??? Was erzählt sie mir denn
gerade??? Ist das nicht ihr Bestseller-Leben? Ach ich könnte
mich so aufregen. Tu ich ja auch. Entschuldigt bitte, aber das war
echt eine traumatische Erfahrung, das könnt ihr euch gar nicht
vorstellen… ‘Nein meine liebe Eusebia Bauch, das muss
echt nicht sein. Du kommst bei mir nicht mehr rein. Dich wird man ja
nicht mehr los! Tut mir leid. Ich habe wichtigeres zu tun, als mir
Ihre Geschichten anzuhören. Sauerstoff zu Kohlendioxid, das
kriege ich auch hin und bilde mir nichts drauf ein!’ Das hätte
ich ihr gerne gesagt. Aber sowas macht man ja nicht, oder? Was denkt
ihr?”
Sie starrte in komplett entgeisterte Gesichter. “Und
das erzählt sie dir einfach so? Aus dem Nichts?”
“Ja.
Ich mein, sie wohnt im gleichen Haus wie ich, aber sonst haben wir
nicht viel miteinander zu tun gehabt bisher.”
“Ist ja
unglaublich. Ich mein, wenn sie dir das erzählt, wem dann
noch?”
“Eben. Und ohne das alles beurteilen zu wollen.
Ich meine, Mädels mal ehrlich, wir würden zu nem jungen
heißen Kenianer wohl auch kaum Nein sagen, oder? Aber wenn es
so schiefgeht, wäre mir das dermaßen peinlich, dass ich
alles täte, aber doch nicht rum erzählen, dass er jetzt
lieber mit Männern rummacht.”
“Da hast du recht.
Mit beidem!” Gelächter. Die Runde war doch schon etwas
angeheitert.”Aber dann hätten wir jetzt auch nicht so viel
zu lachen!”
“Stimmt auch wieder. Also sollten wir ihr
dankbar sein. Und ihm!” Insa hob ihre Tasse. “Auf die
alte Frau und ihren Kenianer!”
“Auf die alte Frau und
ihren Kenianer!” schallte es ihr entgegen.
“Übrigens
auch ein super Filmtitel, oder?”
“Aber sicher!”
Und noch mehr Lachen. Insa fühlte sich richtig wohl hier. Kein
Gedanke mehr daran, dass ihre Freundinnen vielleicht manchmal zuviel
meckerten. Na gut. Der Alkohol
ist sicher auch nicht ganz unschuldig daran.
“Ok
Mädels. Lacht kurz ohne mich weiter. Ich muss man für alte
Omas.”
“Aber dass du uns ja anständig bist da
drin!” prusteten sie ihr hinterher. “Ok, manchmal wurde
es ein bisschen zu albern”, dachte sie gerade, als ihr ein
freundlicher Mann die Tür aufhielt. Irgendwie kam er ihr bekannt
vor, aber jetzt hatte sie erst einmal Wichtigeres zu erledigen.
Was dann geschah, sollte sie den Rest ihres Lebens nicht mehr schlafen lassen. Angst! Pure Angst erfasst sie, als sie die Mark und Bein durchdringende Stimme hörte, die keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit ihrer Worte ließ.
“Hallo meine verehrten Ausländer-Freunde. Heute ist ihr Glückstag. Sie haben die einmalig Chance endlich einmal Stellung für ihn Land zu beziehen. Wir beide hier, haben eine ganze Menge Molotow-Cocktails. Sehr heiß und sehr zuverlässig. Die werden gleich zum Einsatz kommen. Ich habe zwei Angebote an alle Anwesenden. Angebot Eins gilt für alle Deutschen. Verlassen Sie den Ort und verschwinden Sie. Sie haben hier nichts verloren. Ich garantiere, dass Ihnen nichts passieren wird, trotz ihrer verräterischen Haltung! Angebot Zwei geht an alle, denen etwas an diesem Etablissement liegt. Unter den Gästen befindet sich eine Person arabischer Herkunft, mit der ich, nun ja, gerne sprechen würde. Bringt mir den Araber und ich schnapp mir ihn, meinen Kumpel und alle Brandsätze und verschwinde von hier. Dann können Sie alle mit dem weitermachen, was sie eben so gemacht haben im Moment. Das sind Ihre Optionen, verehrte Gäste. Die feurige Alternative ist Ihnen bekannt. Sie haben 60 Sekunden Bedenkzeit. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.”
Was sollte sie nur tun? Sie war völlig bewegungsunfähig. Zitternd vor Angst kauerte sie sich vor der Toilette an die Wand und umklammerte ihre Knie so fest sie konnte, als würde davon ihr Leben abhängen. Dann meldete sich die Stimme erneut.
“Die Zeit ist um. Wir warten auf Ihre Entscheidung!”
Stille. Das Knarren der Eingangstür. Geht tatsächlich jemand raus? Die Tür fiel wieder zu. Erneut gespenstische Stille. Jetzt hörte sie Glas zersplittern, entsetzliche Schreie folgten. Dann brach die Hölle los.
Die Tränen wollten nicht mehr aufhören. Sie hatten sich Bahn gebrochen und jetzt gab es kein Halten mehr. Einen wirklichen Grund kannte sie gar nicht. Es war nicht einfach nur so ein Gefühl. Ein Gefühl, das ihr sagte, dass es angebracht war. Sie weinte nicht ohne Grund. Sie hatte sich so stark gefühlt, aber jetzt? Jetzt schien sie plötzlich zu zerbrechen. All die Probleme hatte sie weit weg verbannt gehabt. Aber sie kamen immer wieder zurück, suchten sie in ihrem Träumen heim. Und in ihren Träumen war alles ganz eindeutig. Sie konnte sich dem nicht entziehen. Sie hatte sich dem Schmerz nie gestellt, den andere vielleicht ihretwegen hatten. Zu oft hatte sie versprochen, was sie nicht halten konnte. Das schien sich jetzt zu rächen. Jetzt traf der Schmerz sie mit voller Wucht. Sie konnte sich nicht mehr belügen. Gab es noch Hoffnung? Konnte sie auf Vergebung hoffen? Konnte sie sich selbst vergeben?
Wie hatte sie nur so naiv, so dämlich sein können? Alles war so offensichtlich gewesen. Aber sie hatte alle Anzeichen ignoriert, hatte sie nicht wahrhaben wollen. Es kann nicht sein, was nicht sein darf! Und dennoch war es wahr. Nicht nur, dass sie enttäuscht von sich selbst war, sie hatte ihre Prinzipien verraten. Prinzipien deren Fehlen sie anderen nicht selten vorgeworfen hatte. Und jetzt hatte sie die Gewissheit, dass genau diese Menschen in Wirklichkeit im Recht gewesen waren. Es war so peinlich, so demütigend, so traurig. “Aber ich wäre nicht Isabella Mosch, wenn ich nicht bereit wäre, die Konsequenzen zu tragen. Es gibt noch etwas, das ich tun kann, wenn nicht sogar tun muss. Vielleicht hat das noch einen Effekt. Ich kann die Vergangenheit nicht ändern. Die Zeit bleibt nicht stehen. Auch wenn ich mir das wünschen würde. Es wird Zeit, reinen Tisch zu machen. Die Wahrheit ist schmerzhaft, aber ich muss mich ihr stellen. Und andere auch. Das ist die einzige Möglichkeit.”
Die Tränen hatten ihr Make Up auf ihrem Kopfkissen verteilt, wie gemacht für einen Rohrschach-Test. Ein Blick tief in ihre eigene Seele. Doch was sie sah, machte ihr Angst. Ihr Spiegelbild bestätigte das. Aus dem fröhlichen hübschen blonden Mädchen, war ein ernstes, nachdenkliches Wesen geworden. Die Leere in ihren Augen war beängstigend und spiegelte genau das wieder, was sie jetzt fühlte. Sie hatte sich immer gesagt, dass er ihr nichts anhaben könnte. Nur sie selbst konnte sich zerstören. Nun war es soweit. Sie würde nie mehr dieselbe sein. Sie hatte sich geschworen, sich niemals zu verlieren und das würde sie auch nicht. Sie würde für sich und ihre Prinzipien Stellung beziehen. “Du kannst mich nicht aufhalten. Alle sollen wissen, was du bist!” Sie schrie die Worte ihrem Spiegelbild geradezu entgegen. Sie sah wirklich schrecklich aus. Die Augen rot und verheult. Das Make Up übers Gesicht verteilt. Aber das machte jetzt nichts. Das war genau das, was sie jetzt brauchte. Ein Bruch mit dem Bisherigen. Im Spiegel sah sie die Schere, drehte sich um und nahm sie. Ohne weiteres Zögern ging sie an die Arbeit. Von ihren langen blonden Haaren blieb nur zerzaustes Stückwerk. Zufrieden mit ihrem Werk, rammte sie die Schere mit der Spitze voran in die Matraze und stürmte aus dem Haus. “Zeit zu gehen!”
Der Tag hatte ganz normal, geradezu
langweilig begonnen. Aufstehen, Zähne putzen, ab zur Arbeit.
Kurz vor dem Abitur konnte man immer ein bisschen Geld gebrauchen und
so war Isabella froh um den Job, die sie vor einiger Zeit in der
Bäckerei ergattert hatte. Dort sprang sie inzwischen regelmäßig
für ein paar Stunden ein, wenn es ihre Zeit erlaubte. Ihr gefiel
es, mit Menschen in Kontakt zu kommen und sich nützlich machen
zu können. Sie mochte einfach Menschen und hoffte, dass sich das
später auch in ihrem Beruf wiederspiegeln würde, was auch
immer das dann sein mochte. Psychologie, Medizin, Jura? Sie hatte
sich schon viele Gedanken über die Zeit nach der Schule gemacht,
doch je mehr sie darüber nachgedacht hatte, desto
unentschlossener, fast unsicherer war sie geworden. Was wenn die
Noten nicht gut genug waren? Was wenn sie das Studium nicht schaffte?
Was wenn sie später trotz allem nicht gut genug war, für
die Menschen, denen sie helfen wollte? All diese Berufe erforderten
Entscheidungen, teilweise sehr schnelle, Überzeugung,
Selbstbewusstsein und Durchsetzungsvermögen, alles Dinge, die
Isabella nicht in die Wiege gelegt zu sein schienen. Sie liebte die
Harmonie, liebte es, wenn alle an einem Strang zogen. Sich
durchsetzen und die eigene Entscheidung durchdrücken, das war
nicht wirklich ihre Welt. Genaugenommen war das mit ihr größte
Schwäche. Eigentlich gab es nur zwei Personen, bei denen ihr all
das gelang. Das waren ihre Eltern. Warum das so war, war ihr nie
wirklich klar geworden. Allerdings war ihr natürlich klar, dass
sie dabei nicht immer fair war. Wahrscheinlich eine Art
Überkompensation, wenn sie schon mal die Möglichkeit hatte,
aus sich herauszugehen. Sie schätzte das, auch wenn sie sich
nicht sicher war, ob ihre Eltern das wussten. Sie mussten ein
komisches Bild von ihrer Tochter haben, vor allem in letzter Zeit. Es
war auch einfach erstaunlich manchmal, wie unterschiedlich sie
Situationen wahrnahmen und wie konträr dann ihre Meinungen
plötzlich waren. Das musste ja zu Streit führen, wenn jeder
seine Position für die Richtige hielt und fest davon überzeugt
war, dass die andere Seite das doch verstehen musste. Gerade gestern
erst war es wieder gewesen. Dass sie aber auch immer auf den gleichen
Themen herumreiten mussten. Es war ganz offensichtlich, dass sie ihr
nicht wirklich zutrauten gute Entscheidungen zu treffen. Und auch
wenn sie ja selbst davon auch nicht wirklich überzeugt war,
ihren Eltern gegenüber war sie das. Und wenn sie ehrlich war,
objektive Argumente konnten sie da nicht erschüttern. Aber wie
konnte so ein Streit auch überhaupt mit Objektivität
geführt werden? Das war einfach unmöglich. Den einen ging
es um ihre Tochter. Und egal was sie ihnen auch vorwerfen wollte,
Isabella wusste, dass ihre Eltern es immer gut mit ihr meinten. Sie
waren gute Menschen, die nur ihr Bestes wollten. Aber genau das
machte die Situation ja auch so schwierig. Wie sollte sie gegen gut
gemeinte Ratschläge von Menschen argumentieren, die sie liebten?
Natürlich wurde es dann emotional, vor allem weil die Thematik
ja selbst voller Emotionen steckte. Es war ja auch ein viel
untersuchtes und verarbeitetes Phänomen. Papa wollte eben immer
sein “kleines Mädchen” beschützen, ganz egal,
wie alt es inzwischen geworden war. Irgendwie fand sie das ja auch
süß und putzig, aber manchmal war es einfach nur lästig.
Ihr Vater hatte so eine hohe Meinung von ihr, wie sollte da je jemand
auftauchen, der zu diesem Idealbild passte? Sein Ideal vom
Schwiegersohn. Das war unerreichbar, da war sich Isabella sicher. Und
ganz ehrlich, Papa. Auch wenn du das anders siehst, es ist nicht so,
dass ich eine riesige Auswahl hätte. Die Kerle stehen nicht
wirklich Schlange bei mir und ich sollte froh sein, dass sich
überhaupt wer für so ein unscheinbares Mauerblümchen
wie mich interessiert. Hast du mal diese ganzen Tussies in der Schule
gesehen? Die kriegen die ganzen Jungs ab. Nicht jemand wie ich!
Aber er war unbeirrbar geblieben. “Das mag ja sein, Isabella.
Aber willst du dich wirklich deswegen unter Wert verkaufen?”
“Ich
will mich gar nicht verkaufen! Ich will einfach nur nicht mehr allein
sein! Und dann ist da endlich mal ein Junge der sich für mich
interessiert und dir ist er nicht gut genug. Nur dass er ja auch
nicht für dich gedacht ist. Für mich muss er gut sein. Nur
das zählt!”
“Ich verstehe dich ja. Nur genau das
bezweifle ich eben, dass er gut für dich ist…” Und
dann war die Situation einmal mehr eskaliert, weil sie beide nicht
aufhören konnten, wenn sie einmal in Fahrt waren. Sie beide
wussten, dass es ab diesem Moment sinnlos wurde und eigentlich nicht
mehr um Argumente ging. Konnte es auch gar nicht, weil keiner von
ihnen beiden in der Lage war, die Argumente des anderen so zu
verstehen, wie sie gemeint waren. Aus jedem Satz wurde ein
persönlicher Angriff gemacht und das Ganze endete erst, wenn
einer von ihnen wutentbrannt aus dem Zimmer rannte. Ihre Mutter war
dann meist gar nicht mehr zugegen. Sie wusste immer, was kommen würde
und zog sich mit einer Tasse Tee und ihrem Buch irgendwohin zurück.
Sie wollte auf keinen Fall in die Verlegenheit kommen, für einen
von ihnen Partei ergreifen zu müssen.
So konnte man es natürlich auch machen, um Problemen aus dem Weg zu gehen. Aber gut, jeder hatte eben seine Art. Auf jeden Fall hassten sie anscheinend ihren Freund und er war definitiv nicht gut genug für sie. Was auch immer dieses “gut genug” in der Realität bedeuten mochte. Für ihn war sie wohl definitiv gut genug. Zumindest gab er ihr das Gefühl wichtig zu sein. Wichtig für ihn. Und er schien sie zu mögen. So falsch konnte das doch nicht sein, oder? Natürlich hatten auch ihre Eltern ein paar Punktsiege davon getragen. Sein Freundeskreis schien nicht gerade der Beste zu sein. Und Freunde prägen einen natürlich. Aber taten Freundinnen das nicht auch? Hatte er nicht auch eine Chance verdient, von jemandem zum Positiven beeinflusst zu werden? Schließlich hatte sie relativ schnell klar gestellt, dass sie keine Zeit mit seinen Freunden verbringen würde und er hatte das akzeptiert. Richtig nett behandelten sie ihn auch nicht. Warum man mit so Leuten befreundet sein will, hatte sie ihn daraufhin gefragt. Sie wären ja mehr so Kumpels, mit denen man so abhängt, hatte er gemeint. Und jetzt wären sie neidisch, weil er so eine tolle Freundin hätte. Das hatten sie ihm wohl nicht zugetraut und jetzt versuchten sie eben auf ihre Art damit umzugehen. Isabella fand es zwar immer noch komisch, hatte es aber auf sich beruhen lassen. Es machte einfach keinen Sinn, jetzt auch noch mit ihrem Freunde eine neue Front zu eröffnen. Irgendwann und irgendwo und mit irgendwem musste man ja auch zur Ruhe kommen können. Er war ihre Ruheoase. Daran sollte sich nichts ändern. Und daran würden auch ihre Eltern nichts ändern.
“Arbeit! Arbeit! Arbeit! Jetzt krieg mal den Kopf wieder in die Realität!” schalt sie sich. Vor lauter Versinken in ihre Gedanken war sie stehen geblieben. Wie lange, das machte ihr ein kurzer Blick auf ihre Uhr schmerzhaft bewusst. Oh nein! Es ist schon wieder passiert! Ein totaler Blackout. Da hatte sie schon einige Busse verpasst und musste jetzt rennen, wenn sie wenigstens den nächsten Bus noch erwischen wollte. Da an der Ecke war er schon zu sehen. Das muss doch wer mitbekommen haben? Hat sich keiner gewundert, das ich einfach so in der Gegend rum stehe? Wie ignorant die Menschen geworden sind! Egoistisch und ignorant! Isabella rannte so schnell sie konnte und hoffte, dass die Menschen an der Haltestelle einfach langsam genug einstiegen, bis sie da war. Es wurde knapp. Aber sie hatte Glück. Jemand half gerade einer alten Dame über die Straße, die offensichtlich auch den Bus erreichen wollte und der Busfahrer war so nett zu warten. Da hatte sie genug Zeit noch einzusteigen.
Der Bus war richtig voll, aber wieder hatte sie Glück und wurde direkt auf einen freien Sitzplatz gespült. Erschöpft sank sie auf den Sitz und schloss kurz die Augen. Das war knapp. Zukünftig sollte ich besser aufpassen. Als sie die Augen wieder öffnete sah sie, dass auch die alte Dame es noch in den Bus geschafft hatte. Nett wie die Menschen nun mal waren, schien das aber niemand zu bemerken und so klammerte sie sich ängstlich und beinahe hilflos an die Haltestange. Isabella konnte es nicht fassen. Das ging mal wieder total gegen ihr Gefühl von Anstand. Aber da sich keiner erbarmte, stand sie auf und bot der Frau ihren Platz an. “Vielen Dank, junge Dame”, sagte sie mit dem typischen Lächeln, das nur alte Menschen draufhaben. “Schön zu sehen, dass es noch so nette junge Menschen gibt!” Das kam mit einer Lautstärke, dass der halbe Bus sich eigentlich umdrehen musste und genau das schien ihre Absicht gewesen zu sein. Isabella musste lachen. “Gern geschehen!” gab sie zurück. Und schob sich weiter nach vorne. Sie würde eh bald aussteigen müssen.
“Hi Oma!” ließ sie
plötzlich eine Stimme herum fahren. Und tatsächlich, das
war ihr Freund, der sich mit der alten Dame unterhielt, die jetzt auf
ihrem Platz saß. Das war seine Großmutter? Sie wusste
genau, wie sehr er seine Oma liebte. Die diese Frau tat er wirklich
alles, war fürsorglich, hilfsbereit und sprach immer voller
Hochachtung von ihr. Verbuche
ich alles als Plus-Punkte! Sie
war schon immer neugierig gewesen, hatte sich aber nie getraut ihn zu
fragen, ob er ihr seine Oma nicht einmal vorstellen würde. Aber
gut, jetzt wusste sie ja wer sie war. Sicher lief man sich früher
oder später wieder über den Weg. Doch noch ein anderer
Gedanke hatte sich in ihrem Kopf festgesetzt. Was
macht er denn hier? Er wollte doch beim Fußball-Training sein
und jetzt? Wo will er denn hin und warum hängt er stattdessen
mit seinen tollen Glatzen-Kumpels ab?
Hatte sie ihn falsch verstanden? Das musste es sein. Bestimmt hatte
sie sich im Tag geirrt und schließlich durfte er ja auch
machen, was er wollte. Sie kontrollierte ihn ja nicht. Aber ein
“Hallo” konnte sicher nicht schaden. Isabella begann sich
wieder in die andere Richtung durch die Menschenmassen zu quetschen,
als der Bus hielt und er verschwunden war. Sie sah die drei am
Fenster vorbei laufen. Hier?
Warum sollten die hier aussteigen? Hier ist doch nichts.
Achselzuckend schob sie sich weiter Richtung Tür. Noch drei
Stationen, dann musste sie auch raus. Bis dahin beobachtete sie noch
einmal die alte Dame. Sie schien mächtig stolz auf ihren Enkel
zu sein. Konnte sie auch, wenn man bedachte, was aus ihrem Sohn
geworden war. Sie hatte schon einige Stories gehört, die sie
immer wieder auf den Boden der Tatsachen geholt hatten, was das
Eltern-Thema anging. Trotz aller Differenzen hatte sie eigentlich
unheimlich Glück mit ihren Eltern gehabt. Es hätte sie
schlimmer treffen können.
Der Bus hielt wieder und Isabella
ließ sich von der Masse mit schieben. Sowas
von zu spät. Das wird nicht mehr oft gut gehen. Aber ok. Erst
mal sehen, was der Arbeitstag heute so bringt.
Sie hoffte nur, dass ihre Kollegin auch ohne sie, gut klar gekommen
war.
Der Tag brachte nicht viel. Kunden kamen nur sporadisch. Eigentlich waren sie überbesetzt heute. Aber so Tage musste es eben auch geben. Es war ja selten, dass sich die Kundschaft schön gleichmäßig verteilte. Vielleicht nachher gegen Feierabend wieder, wenn der ein oder andere noch etwas fürs Abendessen brauchte und sich nicht mit Discounter-Aufbackware zufrieden geben wollte. Bäckereien wie diese hatten es schwer gegen die Konkurrenz heutzutage. Schade eigentlich. Aber das war wohl der Lauf der Zeit und den konnte man bekanntlich nicht aufhalten. Es war müßig, sich darüber Gedanken zu machen. Die Welt veränderte sich immer rasanter. Sicher, nicht immer zum Besseren, aber was konnte man schon tun? Isabella war da sehr zwiegespalten. Auf der einen Seite war sie ein sehr engagierter Mensch, der sich gern einmischte, vor allem wenn es um Menschen ging. Flüchtlinge, Migranten, Benachteiligte, sie alle konnten sich ihrer Hilfe sicher sein. Und sie hatte absolut kein Verständnis, wenn jemand da nicht mit zog. Auf der anderen Seite fühlte sie sich total hilflos und allein gelassen, wenn es um die großen Themen der Politik oder der Wirtschaft ging. Am Ende war alles darauf ausgerichtet, größer und mächtiger zu werden. Genau das passierte und das Gebilde hatte inzwischen so viel Fahrt aufgenommen, dass es dem Versuch glich mit einem Fischerboot einen Tanker aufhalten zu wollen, wenn man sich dem entgegen zu stellen versuchte. Als kleines Rädchen im Getriebe war man einfach machtlos, womit sich auch dieses Wortbild als unzutreffend herausgestellt hätte.
Was also hatte man für Möglichkeiten? Gar keine. Isabella war nicht weltfremd. Aber das bisschen was man tun konnte, sollte man tun. Das war ihre Devise. Deswegen war sie damals auch am Bahnhof gewesen. Ihre Eltern waren wieder einmal dagegen gewesen. Solcher Aktionismus bringe doch nichts, meinten sie immer. Aber Isabella hatte es sich nicht nehmen lassen, die ankommenden Flüchtlinge zu begrüßen. Schließlich würde die andere Seite ja auch für “Begrüßungen” sorgen. Da sollten die Menschen wenigstens wissen, dass es durchaus viele gab, die sie hier willkommen hießen. Natürlich musste man auch hier zugeben, das nicht alles perfekt gelaufen war. Aber sie war zufrieden damit, dabei gewesen zu sein. Immerhin hatte sie das ein oder andere Lächeln in die Gesichter der Ankommenden gezaubert. Die meisten haben sich auch über die Lebensmittel gefreut, auch wenn nicht jeder eine Banane aus ihrer Hand entgegennehmen wollte. Da musste man schon drüber stehen und es nicht als Anlass für absurde Diskussionen nehmen, was für Leute man sich da ins Land holte. Am Ende reichte es womöglich nur einen einzigen Menschen zu beeindrucken, der dann seine Eindrücke an die anderen weitergeben konnte. Herzlichkeit, Offenheit, Ehrlichkeit. So sollten die Menschen Deutschland erleben. Denn genau so war sie auch. Leider hatte sie ihre Eltern einmal mehr nicht überzeugen können und war daher wutentbrannt aus der Wohnung gestürmt. Warum nur mussten sie immer alles so komplett anders sehen? War das jetzt falsch gewesen, dort am Bahnhof zu sein? War es falsch, die Straßen nicht irgendwelchen hirnlosen Fremdenfeinden und ihren Parolen zu überlassen? Und mal ehrlich. Was war denn groß passiert? Inzwischen war der Großteil der Flüchtlinge weiter verteilt worden. Es war doch fast keiner hier geblieben. War es wirklich zuviel verlangt, dass man es ihnen in dieser Zeit wenigstens ein bisschen besser gehen ließ? Später war sie sogar noch einen Schritt weiter gegangen und war selbst im Flüchtlingsheim gewesen. Naja. Sie hatte es versucht. Da kam man ja nicht so einfach rein. Aber nachdem es sich immer mehr geleert hatte, war es ihr doch gelungen mit dem ein oder anderen ins Gespräch zu kommen. Das waren wirklich ganz normale, vernünftige Menschen, die einfach nur leben wollten. Sie konnten nichts dafür, dass andere meinten Krieg spielen zu müssen. Sie hatten nur versucht ihre Familien zu retten. Leider nicht immer mit Erfolg. Einer der Männer war so niedergeschlagen gewesen, dass sie sich erkundigt hatte, was mit ihm los sei. Sie hatte erfahren, dass er auf der Flucht seine Frau und seinen Sohn verloren hatte. Beide waren ertrunken. So sah die traurige Realität aus. Dieses Schicksal war ihr nicht mehr aus dem Kopf gegangen und so hatte sie sich etwas einfallen lassen. Natürlich etwas spontan und ohne über die Realisierung nachzudenken, war sie ins Tierheim gefahren und hatte sich dort ein kleines Kätzchen organisiert. Als sie dann das nächste Mal wieder im Heim war, lief sie “zufällig” der armen Seele über den Weg und erzählte ihm, dass sie Hilfe brauchte, weil sie das Kätzchen nicht behalten konnte. Die Überrumpelungstaktik hatte funktioniert. Er musste ihr einfach seine Hilfe anbieten. Und sein Gesicht verriet ihr, dass er das Kätzchen lieben würde. “Sein Name ist Moritz!” hatte sie ihm zum Abschied zugerufen.
Ihre Kollegin riss sie aus ihrer Tagträumerei. “Hey! Komm mal wieder zu dir. Hör mal! Die Nachrichten. Da ist was passiert!”
“Bei einem schweren Brandanschlag ist heute das städtische Flüchtlingsheim fast vollständig abgebrannt. Glücklicherweise stand es aufgrund geplanter Renovierungsarbeiten fast vollständig leer. Ein letzter Bewohner, der das Heim diese Woche verlassen sollte, kam mit leichten Verletzungen davon. Handelte es sich um einen bewussten Anschlag auf diese Person, oder gingen der beziehungsweise die Täter von einem leeren Gebäude aus? Die Polizei geht von einem fremdenfeindlichen Motiv aus und hat eine Sonderkommission eingerichtet. Die weiteren Hintergründe sind noch völlig unklar. Es bleibt die Frage, wie so ein Anschlag unbemerkt am hellichten Tag stattfinden konnte. Wir halten Sie über die Ermittlungen auf dem Laufenden…”
“Sowas musste ja irgendwann
passieren. Warum sollte ausgerechnet unser kleines Städtchen
eine Ausnahme sein? Überall stecken sie die Flüchtlinge
hin. Klar dass das eskaliert!” Isabella starrte ihre Kollegin
fassungslos an. “Das ist nicht dein ernst, oder? Du willst
nicht allen Ernstes sagen, dass du das für normal hälst,
oder?”
“Normal, nicht normal, was macht das für
einen Unterschied? Die Menschen haben nun mal Angst vor Überfremdung.
Und manche bringen das wohl so zum Ausdruck. Natürlich würde
ich nie ein Haus anzünden, aber Gedanken macht sich ja jeder,
oder?”
“Gedanken? Was denn für Gedanken? Diese
armen Leute mussten ihre Heimat verlassen. Denkst du echt die wären
hier, wenn sie nicht müssten?”
“Sollen sie halt
keinen Krieg spielen. Ich mein, wenn wir uns hier alles gegenseitig
zerbomben würden gings uns auch schlechter… Aber wir sind
halt zivilisierter. Und ja ok, natürlich hilft man wenn jemand
in Not ist, aber diese Massen? Müssen die echt alle zu uns
kommen?” Das war jetzt definitiv zuviel für Isabella.
“Auf
dem Niveau diskutier ich nicht mehr mir dir. Das ist auch keine
Diskussion, das ist Stammtisch und zwar nach jeder Menge Alkohol.
Hast du überhaupt auch nur eine leise Vorstellung von den
Fakten, oder spielen die für dich keine Rolle? Weißt du
wie viele hundert Flüchtlinge zur Zeit unser schönes
Städtchen überfremden? EIN EINZIGER! Alle anderen sind
längst weg und waren nur ein paar Wochen bei uns. Aber gut. Das
kann einem schon Angst machen. Es ist auch echt ein riesen Aufwand
noch eine Person hier zu integrieren. Die gefährdet eindeutig
unsere abendländische Kultur, oder? Wahrscheinlich wird dieser
eine Flüchtling uns auch noch den Arbeitsplatz wegnehmen, sobald
er gut genug deutsch spricht. Also bringen wir ihm das nur nicht bei.
Ach nee, dann ist es ja so aufwändig sich zu verständigen,
weil er sich nicht integrieren will und nicht mehr bereit ist unsere
Sprache zu lernen. Das ist echt zum Kotzen! Und nur zur Sicherheit,
damit du es nicht falsch verstehen kannst. DAS WAR SARKASMUS!”
Vor
lauter Aufregung hatte sie gar nicht mitbekommen, dass die Bäckerei
inzwischen voller Kunden war, die sie etwas irritiert anschauten.
Aber jetzt war es sowieso zu spät. Isabella riss sich die
Schürze vom Leib und warf sie ihrer verdutzten Kollegin vor die
Füße. “Da bedien die Leute! Der da hinten ist sicher
empfänglich für deine Ideen. Vielleicht hat er ja ein paar
Bier für dich übrig, damit die Stimmung passt!” Damit
drehte sie sich um und ging durch die aufgebrachte Menschenmenge
Richtung Tür. Was ein
Spießrutenlauf! Sie
spürte tatsächlich den ein oder anderen Stoß und auch
die Stimmung schien sich immer mehr aufzuheizen. Warum nur? Sollten
nicht zumindest einige auf ihrer Seite sein? Aber es schien nicht so,
sondern wurde er unangenehmer. Erschrocken fuhr sie zusammen, als
sich plötzlich Arme um sie schlossen. Sie wollte sich schon
losreißen, als sie bemerkte, dass es sich im ihre Eltern
handelte, die sie abschirmte und zur Tür begleiteten. Na
toll! Das wird ja immer besser. Was ich mir da wohl nachher anhören
darf… “Erziehen
Sie mal ihre Tochter ordentlich. Das ist ja ne Frechheit!” Aber
die Worte prallten einfach an ihren Eltern ab und dann hatten die es
geschafft. Die frische Luft tat ihr gut. Jetzt wartete sie auf den
Tadel. Und wartete, und wartete. Nichts dergleichen geschah. Sie lief
einfach zwischen ihren Eltern wortlos die Straße entlang. Es
dauerte eine Weile bis sie begriff wohin sie unterwegs waren. Aber
dann sah sie die Rauchschwaden. Das Flüchtlingsheim. Fragend
schaute sie ihre Eltern an. Ihre Gesichter waren voller Wärme
und Liebe. Dann sagte ihr Vater endlich etwas. “Ich weiß
nicht, ob es so geschickt war, deine Kollegin mitten in der Bäckerei
vor all den Leuten zur Schnecke zu machen. Den Job kannst du jetzt
glaub ich vergessen.”
“Schon klar. Tut mir leid, dass
ihr das jetzt auch abkriegt. Aber das hat mich so aufgeregt…
Wie kann man nur ernsthaft so dämliche Sachen von sich
geben?”
“Da hast du recht. Aber mach dir mal keine
Sorgen um uns. Wir halten das schon aus. Eigentlich wollte ich dir
nur sagen, dass wir stolz auf dich sind.”
Isabella war
gelinde gesagt erstaunt. Das hatte sie jetzt nicht erwartet. Sie
dachte zurück, aber es wollte ihr eigentlich keine Gelegenheit
einfallen, die so geendet hatte. “Ich .. Ich verstehe nicht.
Was wollt ihr mir damit sagen? Wart ihr nicht immer für
Zurückhaltung und so? Ich mein deswegen streiten wir uns doch
laufend!” Jetzt mischte sich auch ihre Mutter ein. “Das
ist nicht ganz richtig, Isabella. Der Grund für die ganzen
Streitereien war, dass ihr beide so stur und so dämlich manchmal
seid, dass ihr einfach nicht zuhören könnt. Es gibt einen
ganz einfachen Grund, warum ihr euch laufend streitet. Ihr habt
einfach keine Ahnung, wovon der andere spricht. Ihr denkt das zwar,
aber in Wirklichkeit geht es immer um Dinge, die keiner von euch
wirklich denkt oder sagt. Du steigerst dich dann total in etwas rein
und kommst nicht mehr raus aus der Situation ohne das Gefühl zu
haben, dein Gesicht zu verlieren oder deine Prinzipien zu verraten.
Wie auch immer du es nennen willst. Und das, meine Liebe, hast du
ganz offensichtlich von deinem Vater geerbt. Er ist nämlich
keinen Deut besser. Ich weiß nicht, was du von mir denkst, aber
der einfache Grund dafür, dass ich euch immer allein gelassen
habe ist, dass ich aus der Situation raus wollte. Egal was ich auch
gesagt hätte, einer von euch hätte sich angegriffen gefühlt
und gedacht, ich würde für den Anderen Partei ergreifen.
Stattdessen hab ich aus sicherer Entfernung einfach zugehört.
Ihr wart ja so laut, dass es nicht schwer war. Es hat zwar doch eine
ganze Weile gedauert, aber schließlich konnte ich deinen Vater
davon überzeugen, dass es so nicht weitergehen konnte. Naja. Ich
hab ihn ausgetrickst und einfach eure Streitereien mitgeschnitten.
Und rate mal, was herauskommt, wenn man sich tatsächlich auf
eure Fakten konzentriert?” Schweigen. “Ganz einfach. Ja
ihr seid natürlich nicht immer einer Meinung und ihr sehr
bestimmte Dinge verschieden, aber in den wichtigen Fragen stimmt ihr
total überein. Ihr streitet euch, obwohl ihr euch eigentlich
einig sein solltet. Und damit ist jetzt Schluss!” Isabella war
sprachlos. So hatte sie ihre Mutter noch nie reden hören. Sie
war immer so zurückhaltend, so sanft gewesen. Und sie musste
zugeben, dass sie wirklich kein allzu gutes Bild von ihrer Mutter
hatte. “Ok…” Mehr brachte sie jetzt nicht heraus.
“Es ist ganz einfach, Isabella. Deine Mutter hat recht. Wir
waren immer auf der gleichen Seite, wir alle! Was denkst du, was
deine Mutter den ganzen Tag macht? Sie schöpft alle
Möglichkeiten aus, um Menschen zu helfen. Wer frisch hier
ankommt, hat doch keine Chance sich in der deutschen Bürokratie
zurecht zu finden. Das fällt ja sogar den Deutschen schwer, von
denen abgesehen, die nur ihre Rechte, nicht aber ihre Pflichten
kennen. Aber sie hat geschafft. Sie hat Rashid eine neue Wohnung
besorgen können, sonst müsste er jetzt wieder in irgendeine
Notunterkunft.”
“Rashid?”
“Na der
letzte Bewohner des Heimes. Deine Mutter ist seine Betreuerin beim
Sozialamt.” Isabella schluckte nur.
“Und ich hab die
ganze Zeit gedacht euch ist das alles egal und ihr kümmert euch
um nichts. Ich fühle mich schrecklich.”
“Ist
schon ok. Wir haben dich so erzogen, dass du Stellung beziehst. Wir
wollten immer, dass unsere Tochter sich um andere sorgt und hilft
wenn sie kann. Wir haben nur oft andere Methoden als du.”
“Aber
ihr fandet das doch alles total lächerlich, was ich gemacht
habe.”
“Nicht lächerlich. Es ging immer nur
darum, dass wir beide der Meinung waren, dass es nicht um so große
Show-Gesten gehen sollte. Wirkliche Hilfe und wirkliche Integration
findet im Alltag statt. Da muss man Stellung beziehen. Da muss man
den Menschen ins Wort fallen. Da muss man lernen, nicht einfach weg
zu sehen oder zu hören. Der Alltag zählt am Ende. Und wir
wollten immer das Ende von blödem Geschwätz und dummen
Sprüchen oder Witzen sein und unserer Umgebung dadurch klare
Signale senden. Und deswegen können wir auch gar nicht anders,
als stolz auf dich zu sein. Dir geht es nicht um große Gesten.
Dich stört einfach die Ungerechtigkeit und du hälst nicht
mit deiner Meinung hinterm Berg, wenn jemand sich abfällig über
andere äußert, auch wenn es Nachteile für dich hat.
Wir haben einen wunderbaren, selbstbewussten Menschen groß
gezogen, der bereit ist für das Richtige einzutreten. Das ist
das größte Geschenk, das du uns machen kannst.”
Isabella schluchzte nur und nahm ihre Elten in den Arm.
“Allerdings”,
setzte ihre Mutter dann an, “waren wir in der Bäckerei,
weil wir dir etwas sagen müssen. Und es tut mir jetzt schon
leid, aber es wird dir sicher nicht gefallen.”
Isabella wurde bleich. Wie sonst sollte
man auf so eine Ankündigung auch reagieren? “Was ist los?
Na sagt schon!”
“Es hat einen Grund, warum wir dich
hierher gebracht haben. Lass uns noch ein Stückchen näher
ran gehen. Vielleicht fällt es dir selbst auf.” Isabella
ließ sich ohne Widerstand führen. Ihre Gedanken rasten.
Was konnte das alles zu bedeuten haben? Sie dachte doch nicht etwa,
dass sie etwas mit dem Brand zu tun hatte? Das konnte doch nicht
sein. “Ihr denkt nicht ernsthaft, dass ich irgend etwas damit
zu tun habe, oder?” Ihre Gesichter wurden ernst. Eine Antwort
gab es aber erst mal nicht. “Hey Leute! Echt jetzt. Das ist
nicht lustig!”
“Nein, ist es nicht. Und nein,
natürlich glauben wir nicht, dass du beteiligt warst.
Aber…”
“Aber was?” Isabella verstand die
Welt nicht mehr. Inzwischen waren Sie so nahe an die Absperrung
heran, wie es ging. Polizisten hier, Feuerwehrleute dort, Reporter
überall. Was soll das
alles? Ich bin heute Morgen ganz normal aufgestanden und zur Arbeit.
Ich war doch gar nicht hier!
Aber dann kam ihr ein ungeheuerlicher Gedanke. Nein, das konnte nicht
sein. Das hätte sie doch gemerkt. “Ich hatte ein paar
Aussetzer in letzter Zeit. Hat es damit was zu tun?” Ihre
Eltern wirkten überrascht.
“Aussetzer?”
“Naja,
ihr wisst schon. Wenn man so total in Gedanken versunken ist, dass
man irgendwie alles um sich herum vergisst und nichts mehr wahrnimmt.
So Aussetzer halt. Ich kann mich an die Zeiten dazwischen nicht
wirklich erinnern dann. Bisher war das nur nervig, aber jetzt? Hab
ich vielleicht tatsächlich Mist gebaut in der Zeit? Ich trau mir
ja einiges zu. Aber das? Ich mein das kann doch nicht sein,
oder?”
“Jetzt erst mal ganz ruhig. Wir wissen auch
nicht wirklich, was los ist. Nach dem Anschlag ist die Polizei
aufgetaucht und hat nach dir gefragt. Irgendwer will dich hier
gesehen haben. Um das alles zu klären sollten wir dich hierher
bringen.” Fassungslosigkeit.
“Das muss ein großes
Missverständnis sein.”
“Davon gehen wir ja auch
aus, Isabella. Aber wir müssen jetzt mit der Polizei
zusammenarbeiten.”
“Müssen wir wohl!” Hätte
ich doch nur nichts über die Aussetzer gesagt. Wer weiß,
was die da draus machen werden?
“Du
wartest jetzt erstmal hier mit deiner Mutter. Ich schau mal, ob ich
jemanden finde, der für uns zuständig ist.”
Hand in Hand mit ihrer Mutter, starrte Isabella ins Leere. Wie konnte sich alles nur so komisch entwickeln? Es kam ihr so unwirklich vor. Aber eine Erklärung musst es ja geben. Hoffentlich keine schlechte. Sie ließ ihren Blick schweifen, beobachtete die vielen Menschen, die hier hin und her wuselten. Nicht weit von ihr entfernt gab ein Feuerwehrmann ein Interview. Kurzentschlossen zog sie ihre Mutter hinter sich her und näherte sich der Szenerie, bis sie das Gespräch besser verstehen konnte.
“… Brandursache haben wir
eindeutige Beweise gefunden. Es scheint sich um einen sogenannten
Molotow-Cocktail zu handeln. Allerdings hätte der nicht so einen
großen Schaden angerichtet. Es deutet einiges darauf hin, dass
im ganzen Gebäude Brandbeschleuniger verteilt wurden. Der
Bewohner hatte großes Glück, dass wir so schnell hier sein
konnten. Ein paar Minuten später und er wäre ebenso
verbrannt wie seine Katze. So konnte mein Kollege ihn gerade noch aus
dem brennenden Gebäude …” Isabella hörte schon
nicht mehr hin. Die Augen weit aufgerissen, arbeitete es in ihrem
Kopf immer weiter. Bilder stiegen vor ihren Augen auf. Die brennende
Katze brannte sich tief in ihr Gedächtnis ein und würde sie
noch lange in ihren Träumen verfolgen. “NEIN! Das kann
nicht sein. Nicht Moritz! Der war doch nur wegen mir hier.” Die
Tränen kannten kein Halten mehr. “Das kann doch alles
nicht wahr sein. Was ist das für ein Albtraum?”
“Noch
ein Grund mehr, warum keiner von uns glaubt, dass du etwas damit zu
tun hattest. Weder würdest du Menschen noch Tiere in Gefahr
bringen. Es tut mir so leid.” Aber das half ihr jetzt auch
nicht weiter.
Ihr Vater kam in Begleitung eines Polizisten auf sie
zu. Nun war es also soweit. Das Verhör stand an. Isabella
schüttelte nur den Kopf. “Das kann doch alles nicht wahr
sein!” sagte sie immer wieder vor sich hin, wie um sich zu
versichern, dass doch alles gut werden würde. Doch ganz tief im
Inneren wusste sie nur zu gut, dass es das ganz sicher nicht mehr
werden würde.
Der Polizist stellte sich als Kommissar
McTaylor vor. Neben ihm saßen noch zwei Personen. Ein Kommissar
Kaufmann und ein Protokollant namens Scholz. “So Frau Mosch.
Dann wollen wir mal. Oder ist Ihnen Isabella lieber?” Sie
schaute kurz zu ihren Eltern.
“Isabella ist ok.”
“Gut.
Da sie noch nicht volljährig sind, dürfen ihr Eltern auch
anwesend sein, wenn Sie das möchten. Ebenso steht ihnen
natürlich ein Anwalt zu. Wir rufen ihnen einen, wenn sie keinen
eigenen haben und sie einen verlangen.”
“Schon ok.
Fangen wir an. Ich will endlich wissen, was eigentlich los ist.”
“Wie
Sie möchten. Für Protokoll: Frau Mosch verzichtet vorerst
auf einen Rechtsbeistand. Ok, Isabella. Schildern Sie uns doch bitte
Ihren Tag bis jetzt möglichst genau.”
Isabella seufzte.
“Ok. Also da gibts nicht viel zu berichten. Ich bin
aufgestanden, hab gefrühstückt und bin dann zur Arbeit.
Sagen Sie mir bitte, warum Sie mich das fragen? Verdächtigen Sie
mich? Ich war nicht mal den der Nähe des Flüchtlingsheimes.
Den ganzen Tag nicht. Wie kommen Sie auf mich?”
“Das
lassen Sie bitte unsere Sorge sein. Haben Sie etwas gegen
Ausländer?”
“Wie bitte? Nein natürlich
nicht. Ich habe sie sogar hier am Bahnhof begrüßt, als sie
in den Zügen ankamen. Das ist doch lächerlich!”
“Isabella
bitte! Beruhigen Sie sich!”
“Ich WAR ruhig, bevor ich
solche blöden Fragen über mich ergehen lassen musste. Und
Sie können mich jetzt doch Frau Mosch nennen.” Trotz kam
zwar sicher nicht gut an, musste aber jetzt sein.
“Ich will
ganz ehrlich sein, Frau Mosch. Wir haben einen Augenzeugen, der sie
hier kurz vor dem Brand gesehen hat. Machen Sie es uns also doch
bitte nicht so schwer.” Isabella war fassungslos.
“Einen
Augenzeugen? Dann schicken Sie ihn bitte zum Augenarzt, denn ich war
nicht hier.”
“Und das soll ich Ihnen glauben,
weil…?”
“Weil es die Wahrheit ist?”
“Wir
haben uns erkundigt. Sie kamen zu spät zur Arbeit. Ist das
richtig?”
“Ja, schon. Aber das macht mich nicht zur
Brandstifterin!”
“Das vielleicht nicht, aber dann gab
es heute noch eine Auffälligkeit. Einen Streit, nicht
wahr?”
“Ja, aber was hat das mit der Sache zu
tun?”
“Worum ging es in dem Streit?”
“Um
den Brand. Meine Kollegin meinte, dass es ja dazu kommen musst, wenn
man die Ängste der Leute vor Überfremdung nicht ernst
nehmen würde.”
“Und das sahen Sie
anders?”
“Natürlich hab ich das anders gesehen!
Ich hab sie zur Schnecke gemacht, weil sie so einen Stuss redet. Wie
kann man denn nur so ignorant sein und nur an sich selbst denken? Das
sind doch Menschen in Not! Die sterben zu Hause, die sterben auf dem
Weg hierher, und jetzt soll es auch noch normal sein, dass sie hier
sterben? Das kann doch nicht sein. Also hab ich sie
angeschnauzt.”
“Vor allen Leuten?”
“Vor
allen Leuten. Nicht sonderlich intelligent, ich weiß. Ich hatte
nicht mitbekommen, wie sich der Laden gefüllt hatte.”
“Frau
Mosch, machen Sie so etwas öfters? Streit in der Öffentlichkeit,
vor ihren Kunden?”
“Nein. Natürlich nicht. Dann
hätte ich die längste Zeit den Job gehabt.”
“Das
war heute also eine Ausnahme.”
“Ja, eine Ausnahme. Es
brennt ja auch nicht jeden Tag ein Flüchtlingsheim in unserer
Stadt.”
“Schön dass Sie das auch so sehen. Kommen
wir noch einmal zurück zu heute Morgen. Ihrer Aussage zu Folge
haben sie also ein lückenloses Alibi bis jetzt?” Jetzt
musste Isabella schlucken. “Frau Mosch? Haben sie ein
lückenloses Alibi für den Vormittag?”
“Naja
fast.”
“Erklären Sie mir das ‘fast’!”
“Ich
hatte einen Aussetzer.”
“Einen Aussetzer?”
“Ja.
Ich war auf dem Weg zum Bus so in Gedanken, dass ich die Zeit
vergessen habe und wohl kurzzeitig etwas weggetreten war. Da habe ich
nicht viel von meiner Umgebung mitbekommen.”
“Sie
meinen so wie in der Bäckerei, als Sie die Kunden nicht
bemerkten?”
“Nicht ganz so, aber ähnlich,
ja.”
“Passiert Ihnen so etwas öfter?”
“Ab
und zu.”
“Und sie wissen dann nicht, was in der Zeit
passiert ist?”
“Nein, weiß ich nicht. Normal
mache ich einfach weiter, womit ich eben beschäftigt war.”
“Ok,
ich fasse das nochmal zusammen. Sie haben also von Zeit zu Zeit
Aussetzer unbestimmter Dauer, an deren Ende Sie sich nicht an die
Geschehnisse erinnern können. So einen Aussetzer hatten Sie auch
heute, zufälligerweise zur fraglichen Zeit, und dann noch einmal
während eines Streits mit ihrer Kollegen. Eines für Sie
total untypischen Streits, wie Sie selbst gesagt haben. Also
irgendwie klingt das für mich nicht nach einem so ganz normalen
Tag. Erkennen Sie das Dilemma in dem wir uns befinden, Frau
Mosch?”
“Äh nein. Ich verstehe nicht was Sie
meinen.” Der Kommissar hatte sich erhoben und stand ihr nun
direkt gegenüber, schaute ihr direkt in die Augen, als er weiter
sprach.
“Dann will ich es Ihnen erklären. Wir bekamen
einen Anruf, dass jemand einen Anschlag auf das Heim ausführen
würde. Nur deswegen waren wir so schnell vor Ort. Der Anrufer
hat sie namentlich genannt und von einen irren Blick in Ihren Augen
gesprochen. Ich kann es Ihnen nachher vorspielen. Für uns sieht
es so aus: Sie hatten einen Aussetzer, ok. Während dieser Phase
kamen sie zum Heim und steckten es in Brand. Dann wurde Ihnen klar,
was sie getan haben. Sie kamen leicht zu spät zur Arbeit und
inszenierten bei der ersten sich bietenden Gelegenheit besagten
Streit, damit sie keinesfalls mit dem Anschlag in Verbindung gebracht
werden würden. Leider haben wir aber einen Augenzeugen. Und wir
haben das hier gefunden! Erkennen Sie das wieder?”
Isabella
starrte ungläubig auf die geöffnete Hand des Kommissars.
Natürlich erkannte sie das Armband mit ihrem Namen darauf. Und
das alles ließ nur einen einzigen möglichen logischen
Schluss zu.
“Ich muss Sie um einen Gefallen bitten!”
sagte sie daher leise. Dann erzählte sie die unglaubliche
Geschichte, die ihr im Kopf herum spukte.
“Was halten Sie von der Sache,
Kaufmann? Das ist eine der wahnwitzigsten Geschichten, die ich je
gehört habe.” Kaufmann nickte zustimmend. “Seh ich
genauso. Entweder hält die Kleine uns für total beschränkt,
oder es ist tatsächlich die Wahrheit. Immerhin macht sie
eigentlich einen ganz vernünftigen Eindruck.”
“Allerdings
wäre sie nicht die erste verrückte Soziopathin, der man es
nicht ansieht und die es gelernt hat, andere um den Finger zu
wickeln.”
“Auch wieder wahr. Das heißt, sie
könnte auch die Eltern schon entsprechend manipuliert haben. Ihr
Leben lang. Schließlich fangen wir alle als Psychopathen an,
wenn wir Babies sind. Irgendwann lernen wir es nur unser latentes
inneres Psychopathen-Baby unter Kontrolle zu halten.”
“Mensch
Kaufmann! An Ihnen ist ja ein Psychologe verloren gegangen. Also was
machen wir mit ihr?”
“Wenn es schiefgeht fällt
alles auf uns zurück. Wenn sie recht hat und wir ihr nicht
glauben auch. Mal ehrlich, wir können nur verlieren.”
“Tolle
Aussichten! Trotzdem müssen wir eine Entscheidung treffen.”
“Sie
sind der Chef, Mac!”
“Vergessen Sie das nicht! Und
hören Sie auf mich so zu nennen! Ich werd es auf meine Kappe
nehmen.”
Isabella wartete nun schon eine ganze Weile, aber sie war ganz ruhig. Sie konnte die Probleme der Polizisten durchaus verstehen. Es konnte ihnen nicht leicht fallen, ihr zu glauben. Und sie hatten auch keinen Grund dazu. Alles was sie hatte, war ihre Ehrlichkeit und sie wusste weiß Gott, dass sich die nicht immer lohnte. Jetzt schien McTaylor wieder zu ihr zu kommen.
“Ok, Frau Mosch. Sie haben uns da
eine unglaubliche Geschichte aufgetischt. Entweder sind sie extrem
dumm, oder extrem schlau. Und beides gilt auch für mich, je
nachdem, wie ich mich entscheide. Haben Sie nicht irgendetwas, um mir
die Entscheidung zu erleichtern? Kommen Sie, bieten Sie mir was an!”
Isabella schaute ihn traurig an und schüttelte den Kopf.
“Hören
Sie, alles was ich ihnen anbieten kann ist diese Geschichte, die
meiner Meinung nach wirklich die Wahrheit ist. Ich weiß nicht,
was während meines Blackouts passiert ist, also besteht eine
gewisse Wahrscheinlichkeit, dass ich das tatsächlich gewesen
sein kann und mich der Anrufer tatsächlich dabei beobachtet hat.
Ich glaube das nicht, aber wenn Sie das glauben, kann ich nichts
dagegen sagen. Ich habe nicht viele Fakten auf meiner Seite. Nur …
Nur wenn ich Recht habe, wenn ich unschuldig bin, dann wollte jemand,
dass dieser arme Mann stirbt und dann wird er es heute
höchstwahrscheinlich noch einmal probieren. Ich weiß, wer
dahinter steckt. Und ich kenne die einzige Person auf die er hört
und die das beenden kann. So hätten wir wenigstens die Chance,
ein Blutbad zu verhindern. Mit der Polizei wird er sich sicher nicht
einlassen. Jetzt liegt es an ihnen, das Risiko abzuwägen.”
“Oder
du willst einfach abhauen.”
“Oder ich will einfach
abhauen. Naja. Verkabeln sie mich, schießen sie mir nen
GPS-Chip in den Arm, was auch immer sie wollen. Ich will nur
verhindern, dass noch mehr Schlimmes passiert.”
“Sie
gucken zu viele Krimi-Serien, junge Frau. Aber gut. Ein Mikro werden
wir Ihnen organisieren. Wir hören dann alles, was Sie sagen und
wenn es die Situation erfordert oder sie Hilfe rufen, können wir
schnell eingreifen.”
“Abgemacht! Danke.”
“Danken
Sie mir, wenn wir das alle überlebt haben! Kaufmann!
Organisieren Sie die Verkabelung von Frau Mosch. Wir lassen uns drauf
ein!”
Isabella war schon ein bisschen überrascht, dass man ihr die Geschichte geglaubt hatte. Aber manchmal geschahen eben noch Wunder. Als sie zu ihren Eltern ging, war sie schon voll auf die nächsten Schritte konzentriert. “Wir haben jetzt keine Zeit für Fragen. Ich denke nicht, dass ich das war, aber wenn ich es nicht war, dann weiß ich wer. Ich muss noch schnell nach Hause, wir treffen uns im LaFamilia. Haltet einfach die Augen offen, ok? Und passt auf euch auf!” Noch bevor einer der beiden antworten konnte, rannte sie los. Der wahre Grund, warum sie noch nach Hause wollte, war nämlich ein anderer, total banaler. Sie brauchte einen Moment allein. Allein mit sich und ihren Gefühlen. Es dauerte nicht lange, dann war sie zu Hause angekommen. Sie schloss die Tür auf rannte in ihr Zimmer und warf sich auf ihr Bett. “WARUM? Wie konnte ich nur so blöd sein?” Immer wieder hämmerten ihre Fäuste auf die Matratze, während sie ihren Tränen freien Lauf ließ und allen Frust und die Enttäuschung in ihr Kissen schrie.
Jetzt war es soweit. Sie hatte die Zeit
gebraucht. Aber jetzt war sie wieder vollkommen klar im Kopf, auch
wenn es vielleicht nicht so aussah. Sie wollte nicht mehr das liebe,
nette Blondchen von nebenan sein. Diese Zeiten waren vorbei. Zuerst
würde sie es bei ihm zu Hause versuchen. Aber sie musste
vorsichtig sein. Bei seinem Vater in der Wohnung war er garantiert
nicht. Dahin trieb es ihn höchstens zum Schlafen. Also würde
er irgendwo in der Nähe rumhängen. Wahrscheinlich nicht
allein.
Isabella rannte die Straßen entlang. Die Menschen um
sie herum beachteten sie gar nicht. Das war ihr auch ganz recht,
versuchte nicht daran zu denken, was wohl die Polizisten gedacht
haben mochten, also sie zu Hause gewesen war. Zumindest waren sie
nicht aufgetaucht und hatten versucht sie zu “retten”.
Schienen doch ganz fähige, vernünftige Menschen zu sein.
Das war beruhigend, denn ab jetzt würde alles mehr oder weniger
improvisiert geschehen müssen. Sie hatte Glück. In eingier
Entfernung erkannte sie ihren Freund auf einem Kinderspielplatz. Wie
passend! Er und sein Kumpel
waren komplett in schwarz gekleidet. Wo
ist der dritte? Sie sind immer zu dritt!
Sie beschloss noch einige Minuten zu warten, aber die beiden machten
nicht den Eindruck noch jemanden zu erwarten. Sie zog die Kappe
tiefer ins Gesicht und beschloss näher heran zu gehen, bis sie
verstehen konnte was die beiden zu besprechen hatten.
“So ein Schwein! Hast du das
gesehen? Dieses Schwein! Der hat Rudi eiskalt auf die Straße
geschmissen. Direkt vor ein Auto. Ein Wunder, dass er überlebt
hat.” Da ist also Nummer
Drei!
“Glück?
Was heißt hier Glück, Hanno? Glück wäre gewesen,
wenn er einfach gestorben wäre. Es ist ein Wunder, dass sie ihn
so am Leben erhalten können! Selbst wenn er jemals wieder zu
sich kommt, ist alles an ihm Matsch! Jeder Knochen, alles ist hin!
Und du redest von Glück! Spinnst du?” Da
ist aber einer sauer.
“Das
schreit nach Rache. So leicht lass ich diesen Araber nicht davon
kommen.”
“Jetzt komm mal wieder runter, Hanno! Denk
doch mal nach! Vielleicht haben wir uns da übernommen? Du weißt
doch, wies bei denen abgeht. Die kriegen das Kämpfen und den
Hass auf uns schon als Baby eingetrichtert. Vielleicht ist der ne
Nummer zu groß für uns?”
“Du willst ihn
davon kommen lassen? Wer sagt dir, dass wir dann nicht die nächsten
sind?”
“Der kennt uns doch gar nicht!” Der
Faustschlag kam total unerwartet.
“Du jämmerlicher
Feigling. Ihr beide habt immer gesagt, wie wichtig es ist unsere
abendländische Kultur zu verteidigen. Ihr habt mich auf diesen
Weg gebracht! Und jetzt willst du kneifen? Du hast sie ja nicht mehr
alle! Das ist Krieg und wir werden den jetzt beenden!”
“Und
wie?”
“Ganz einfach. Ich weiß wo er hin will.
Isabellas Mutter arbeitet beim Sozialamt und hat ihm ne Wohnung
beschafft. Ich bin zufällig an die Adresse gekommen.”
Trotz der Entfernung konnte sich Isabella seinem diabolischen Grinsen
nicht entziehen. Es ließ sie schaudern. Wer
ist dieser Kerl? Das kann doch nicht mein Freund sein. Wie kann der
sich so gut verstellen? Aber
sie hatte keine Zeit über diese Fragen nachzugrübeln, denn
die beiden schienen sich auf den Weg zu machen.
“Ich bin
nachher mit meiner Oma verabredet. Die ist mit ihrer Rentner-Gruppe
in dieser schäbigen Multikulti-Kneipe. Wenn du sie siehst, sag
ihr, dass ich das heute nicht schaffe. Wir treffen uns dann da. Du
bist für die Munition verantwortlich. Ich versuch ihn schon
vorher aufzuspüren. Wenn das nicht klappt räuchern wir ihn
in seiner neuen Wohnung aus, wie einen Hering.” Ein Nicken und
die beiden trennten sich.
Isabella war klar, an wen sie sich halten musste. In sicherem Abstand folgte sie ihrem Freund, immer in der Hoffnung, dass er sich nicht plötzlich umdrehen und sie erkennen würde. Sie konnte immer noch nicht fassen, wie sehr sie sich in ihm getäuscht hatte. Ihre Eltern hatten recht gehabt. Sie hatten erkannt, was für Isabella verborgen geblieben war. Er musste ein unheimlich guter Schauspieler sein. Oder ich bin einfach ein naives kleines Mädchen, das sich leicht täuschen lässt! Egal wie. Sie musste die Vergangenheit jetzt hinter sich lassen und sich voll und ganz auf ihre Aufgabe konzentrieren. Hanno war schnell. Es fiel ihr immer schwerer ihm zu folgen. Wenn das so weiterging hätte er sie bald abgehängt. Dazu durfte es nicht kommen. Auf keinen Fall. Sie sah ihn in einiger Entfernung abbiegen. Offensichtlich wollte er am Waldrand entlang. Ob er dort sein Opfer erwartete? Isabella dachte kurz über ihre Möglichkeiten nach. Er war zu schnell für sie. Sie konnte nicht die ganze Zeit hinter ihm her rennen. Also beschloss sie ein Risiko einzugehen und rannte zielstrebig in den Wald. Vielleicht half ihr diese Abkürzung, ihm wieder näher zu kommen. Ab und an meinte sie Hanno in einem kurzen schwarzen Flackern zwischen den Bäumen am Waldrand zu erkennen. So schnell sie konnte rannte sie weiter, immer auf der Hut, nicht in einen Ast zu laufen, oder über eine Wurzel zu stolpern. Für Verfolgungen war sie definitiv nicht die Richtige, aber das spielte jetzt keine Rolle. Sie spürte das Adrenalin durch ihre Adern rauschen und ignorierte die Schmerzen, die sich langsam in ihren Muskeln breit machten.
Es dauerte nicht lange, da hörte sie weitere Geräusche aus dem Wald. Sie blieb hinter einem Baum stehen und versuchte die Lage zu erfassen. Wer war noch hier? Jedes unerwartete Auftauchen konnte die Situation gefährlicher machen. Sie zwang sich ganz ruhig zu atmen und den Wald vor ihr systematisch abzuscannen. Dann sah sie ihn. Leider kein völlig unerwartetes Auftauchen. Dort vorne lief Rashid. Sie erkannte ihn deutlich. Das war der gebrochene Mann, der sich so gut um Moritz gekümmert hatte. Und der jetzt direkt in die Falle lief. Sie wollte schreien, ihn warnen, war sich aber nicht sicher, ob ihn das nicht erst recht unaufmerksam und verwundbarer für Hannos Angriff machte. Denk nach, Isabella! Denk nach. Du musst dir was einfallen lassen, sonst passiert ein Unglück! Kurz entschlossen rannte sie hinter Rashid her. Es war nicht mehr allzu weit. Sie konnte sehen, wie er den Wald verließ und fast direkt zu Boden sackte. Hanno hatte ihn erwischt. Mit zitternden Knie schob sie sich langsam näher heran.
“Wage es nicht aufzustehen! Du bist genau da, wo Abschaum wie du zu sein hat! Am Boden. Im Dreck. Das ist dein Platz! Und jetzt, jetzt haben wir eine Rechnung zu begleichen!”
Sie hörte die Worte. Sie wusste, dass er es ernst meinte. Sie sah das völlig benommene, verängstigte Gesicht des Syrers, der mit dem Leben abgeschlossen hatte. Er hatte keine Chance. Es gab keine Zeugen, es war eine ruhige Ecke. Das war das Ende.
Nein! Das lass ich nicht zu! Isabella schaute sich um. Sie brauchte eine Waffe, irgendetwas was der Wald hergab. Viel war nicht zu finden und die Zeit war knapp. Sie griff sich den erstbesten Ast, der nicht irgendwo verklemmt oder festgewachsen und rannte zum Waldrand. Hinter einem Baum blieb sie in Deckung, schätzte die Entfernung ab und hoffte, dass er in Reichweite war. Dann holte sie Schwung und schlug mit dem Ast hinter dem Baum hervor. Sie spürte wie sie Hanno traf, sah wie er zu Boden fiel. Erschrocken über sich selbst, rannte sie davon. Weder Hanno noch Rashid sollten wissen, wer das gewesen war.
Als sie außer Sicht war, hatte sie wieder Zeit zum Durchatmen. Das war knapp gewesen. Was wohl passiert wäre, wenn sie nicht rechtzeitig da gewesen wäre? Daran wollte sie gar nicht denken. Sie zitterte am ganzen Leib. So etwas war sie einfach nicht gewohnt, wollte sie auch nicht gewohnt sein. Sie war niemand, der auf Menschen einschlug. Worte waren ihre Waffen. Ja, die konnten auch verletzen, das wusste sie. Doch jetzt hatte sie zum ersten Mal in ihrem Leben körperliche Gewalt angewendet. Nicht einmal als Kind hatte sie sich irgendwie mit anderen geschlagen. So war sie einfach nicht, aber die Situation hatte es erfordert. Und eines wusste sie jetzt mit absoluter Gewissheit. Er war der Schuldige. Und er hatte sie monatelang belogen und benutzt. Sie wollte es nicht, aber die Tränen waren schon wieder da. Sie wischte sie weg und versuchte trotzig den nächsten Schritt zu planen. Hanno würde nicht aufhören. Auf sie würde er nicht wirklich hören. Da musste sie ihn schon schocken. Aber es gab eine Person, die wirklich noch Einfluss auf ihn haben konnte. Diesen guten Einfluss brauchten sie jetzt, sonst würde der Tag blutig enden. Er würde sich nicht einfach festnehmen und abführen lassen, das stand fest. Und dann war da ja noch sein Kumpel, der im unpassendsten Moment auftauchen konnte und sie hatte keine Ahnung, was er alles an “Munition” besorgt hatte. Nein, sie war sich sicher, dass es einen anderen Weg, einen besseren Weg gab. Und der hieß “Oma”. Durch die schicksalhafte Begegnung im Bus würde Isabella sie wiedererkennen. Sie würde sie finden und mit ihr reden können. Vielleicht hatten sie so eine Chance, Hanno zum Aufgeben zu bewegen. Und da sie am Spielplatz gelauscht hatte, wusste sie auch, wo sie Hannos Oma finden würde. Zeit die Beine in die Hand zu nehmen. So schnell sie konnte, rannte Isabella in Richtung des netten, kleinen Cafés in dem auch sie mir ihren Eltern schon viele schöne Stunden verbracht hatte. Ein Ort der Begegnung und des Zusammentreffens. Im wahrsten Sinne des Wortes heute! Noch zwei Querstraßen, einmal rechts abbiegen, dann sah sie es. Und erstarrte. Wie ist das möglich? Ich hab ihn doch KO geschlagen. Mensch Isabella, du schlägst echt wie ein Mädchen. Die Szenerie war unübersichtlich. Zwei schwarz gekleidete Gestalten standen vor der Glasfront des “La Familia” und riefen den Gästen etwas zu. Sie konnte zwar die Worte nicht verstehen, aber die Bedrohung war greifbar. Beide hielte brennende Geschosse in der Hand. Das würde nicht gut enden. Sie musste etwas unternehmen. “Zeit für Plan B!”
“Hallo, Kommissar McTaylor! Beeilen Sie sich. Und bringen Sie Feuerwehr und Rettungswagen mit! Ich werde versuchen sie hinzuhalten so lange ich kann!” Damit riss sie sich das Mikro vom Körper, warf es wutentbrannt zu Boden und rannte los. Ein einziger Gedanke schoss ihr durch den Sinn: “Er oder Ich. Nur einer von uns wird das überstehen.”
Manchmal musste man einfach abwarten. Das Leben hielt immer wieder Überraschungen bereit. So auch heute. Er war noch gar nicht richtig wach geworden, da spürte er schon, dass der Tag heute ein Besonderer werden würde. Er verspürte eine Vorfreude, eine Energie, die ihn nicht oft befiel. Voller Elan wischte er sich den letzten Rest Schlaf aus den Augen und schwang die Beine aus dem Bett. Natürlich musste er sich bei all dem Hochgefühl trotzdem bemühen leise zu sein. Ein einziger Ton könnte seinen Erzeuger wecken, der dann wieder nur rumpöbeln würde. Das kannte er zur Genüge. Aber mit ein bisschen Glück, würde heute ein besserer Tag werden. Überhaupt hatte er für heute ja einiges geplant. Alles war auf diesen Moment ausgerichtet. Heute würde es passieren. Es wurde auch wirklich Zeit. So konnte es ja nicht weitergehen. Jetzt war nur noch wichtig, alles so sauber zu erledigen, dass tatsächlich nichts schiefgehen würde. Alles war vorbereitet. Es gab kein Zurück mehr. Das wollte er auch nicht. Er hatte sich entschieden und würde den Plan jetzt auch durchziehen. So weit war er noch nie gegangen. Dieser Tag würde alles verändern. Ihm war natürlich bewusst, dass nicht jeder seine Tat gutheißen würde. Aber wenn man es genau nahm, war es sogar fast human. Ein minimal invasiver chirurgischer Eingriff sozusagen. Und dennoch ein klares Statement. Was aus ihm dann werden würde, spielte keine Rolle. Er rechnete nicht wirklich damit, unbescholten aus der Nummer wieder heraus zu kommen. Musste er ja aber auch nicht. Manchmal musste der Altar der Freiheit eben mit Blut getränkt werden. Opfer waren notwendig, sonst verstanden die Menschen nicht. Es wäre nicht sein Blut. Für ihn blieb sicher eine humanere Option reserviert. Aber definitiv würde er ein Gesprächsthema sein. Die Titelseiten waren ihm sicher, ebenso wie die Nachrichten. Es würde sich gelohnt haben. Dass einige dann von ihm enttäuscht sein würden, verletzt wären, sich Vorwürfe machten, das war nun wirklich nicht sein Problem. Jeder Mensch hatte zwei Gesichter. Die meisten trauten sich nur nicht, auch ihrer dunklen Seite etwas Raum einzuräumen. Feiglinge! Er war anders. Er hatte seine Entscheidung getroffen. Nichts und niemand würde ihn aufhalten. Gewissermaßen wartete er schon sein Leben lang darauf, dass diese dunkle Seite endlich befreit wurde, dass er all die gesellschaftlichen Zwängen endlich über Bord werfen konnte, endlich er selbst sein durfte. Dann würde er niemandem mehr etwas vorspielen müssen. Jeder würde ihn so sehen, wie er wirklich war. Wunderbare Zeiten standen bevor. Jetzt galt es nur noch die letzten Schritte in Angriff zu nehmen, sicherzustellen dass alles wie geplant ablief, alles und jeder zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein würde. Er war bereit.
Auf leisen Sohlen schlich er sich durchs Wohnzimmer. Sein versoffener Vater schnarchte auf der Couch, der Fernseher lief. Solange der nicht ausgeschaltet wurde, würde er weiter schlafen. Den Schlaf des Unwissenden. Auch du wirst überrascht sein. Es wird mir eine Freude sein, dann nicht mehr hinter dir her wischen zu müssen! Er schnappte sich seine Jacke und schlich weiter zur Tür. Die Nachbarn hatten einander entdeckt und würden gleich alle Welt daran teilhaben lassen, wie glücklich sie miteinander waren. Die zweite Möglichkeit seinen Vater aufzuwecken. Doch er hatte Glück. Die Tür fiel ins Schloss, ohne dass er die genervte Stimme hörte, die ihm so sehr auf den Keks ging. Er rannte die Treppen hinunter, hinaus in die frische Luft des Morgens. Frei!
Hanno hatte wirklich die Schnauze voll vom Zusammenleben mit seinem Vater. Er war der Prototyp des Opfers. Immer beleidigt und die Schuld bei anderen suchend. Jemand der nichts mehr mit seinem Leben anfangen wollte, der immer nur dachte, die Welt schulde ihm etwas. Das war so erbärmlich. Alles was er von ihm zu hören bekam, waren Vorhaltungen, weil er es zu nichts gebracht hatte. Schließlich hätte ja jeder Trottel heute seine eigene Doku-Soap. Selbst wer nichts anderes zu Stande brachte als sich viel zu früh schwängern zu lassen, erlangte so eine Art Berühmtheit. Und was hatte sein Sohn schon zu Wege gebracht bisher in seinem Leben? Nicht mal regelmäßiges Geschirr spülen. Hanno spürte die Wut ins sich aufsteigen. Er wollte nie so werden. Sein Vater würde sich noch wundern. Er würde sich einen Namen machen. Und was für einen.
Es gab ja auch nicht wirklich etwas, womit er seinen Vater beeindrucken konnte. Gute Noten in der Schule zählten nicht. Leistungen im Sport? “Wozu machst du das, wenn du nie gut genug für die Profis wirst?” Solche Sprüche musste er sich dann anhören. Er hatte ihm sogar von seiner Freundin erzählt, wollte sie ihm stolz vorstellen. Aber die einzige Reaktion seines Vaters war zu lachen. Das kriegen ja schließlich alle hin. Er solle sich bloß aufpassen und sich kein Kind andrehen lassen. Auf mehr legten es die Frauen ja nicht an. Und während er sonst alles einfach schlucken konnte, hatte ihn das tatsächlich getroffen. Auch wenn er es natürlich nicht wirklich Liebe nennen würde, zumindest von seiner Seite aus, Isabella war keine so schlechte Partie und es hatte ihn schon mit einem gewissen Stolz erfüllt, dass sie zusammengekommen waren. Natürlich war sie für ihn eher eine Art Statussymbol. Aber auf seinen Sportwagen war man ja auch stolz, oder? Außerdem liebte er es, sie “Blondie” zu nennen. Sie regte sich dann immer ein bisschen auf, was sie in seinen Augen nur noch attraktiver machte. Aber gut. Sie war definitiv zu wichtig und wertvoll für ihn, um sie seinem Vater vorzustellen und ein Risiko einzugehen.
Vor dem Haus warteten seine Kumpels Rudi
und Kalle. Wie besprochen hatten sie alles nötige besorgt. Heute
würden sie ein hübsches Feuerchen machen und alles
Ungeziefer ausräuchern. “Na Jungs, alles klar? Seid ihr
bereit?”
“Bereit wenn du es bist, Hanno!”
“Klar,
ohne mich seid ihr ja auch zu feige!” foppte er sie.
Er war
nicht immer so selbstbewusst gewesen. Es hatte eine ganze Weile
gedauert bis die beiden ihn akzeptiert hatten. Aber mit der Zeit
hatten sie kapiert, dass er hatte was ihnen fehlte. Den Mut, das auch
zu tun worüber sie nur sprachen. Sprüche waren das eine,
aber sie änderten eben nichts. Seit Hanno dagegen die Führung
übernommen hatte, waren die Planungen nicht einmal mehr ins
Stocken geraten. Er trieb sie an, er zeigte ihnen den Weg, er führte
sie. Und ja, er genoss es, dass sie ihn, wenn auch nur heimlich,
ihren Führer nannten. Kritische Zeiten erforderten eben manchmal
auch drastische Maßnahmen. Und man musste schon aus einem
bestimmten Holz geschnitzt sein, um das genau das auch zu tun. Hanno
war aus diesem Holz. Er war hart. Er war fokussiert. Er war
unnachgiebig. Und ganz nebenbei hatte er, was vielen dann oft fehlte:
den nötigen Intellekt um innerhalb gegebener Grenzen zu agieren
und nicht größenwahnsinnig zu werden.
“Also gut.
Packen wir es an. Zeigen wir dem Ungeziefer, wem diese Stadt gehört
und wo sein Platz ist.” Die beiden anderen stimmten in sein
Gegröle mit ein. Er wusste genau, wie er von ihnen bekam was er
wollte. “Jawoll, mein Hanno!” riefen sie im Gleichklang.
“Weg mit dem Ungeziefer! Holen wir uns zurück, was uns
gehört!”
Voller Tatendrang maschierten sie los.
Hanno war nicht als der geborene Führer, auf die Welt gekommen. Es steckte viel Arbeit in der Person, die er geworden war. Er war das perfekte Beispiel dafür, was man erreichen konnte, wenn man nur wollte. Wenn man sich nicht in seinem Elend suhlte. Wenn man nicht der ganzen Welt die Schuld gab, sondern anfing, das Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Sein ganzes Leben war die Summe seiner eigenen getroffenen Entscheidungen, davon war er fest überzeugt. Jeder Schritt, jedes Wort, jeder Tritt und jeder Schlag hatten ihn an diesem Tag an diesen Punkt geführt. Und auch wenn es sonst keiner war, er war stolz auf sich. Er hatte gelernt, seine eigenen Leistungen selbst bewerten und einschätzen zu können. Dazu brauchte er niemand sonst. Er war nicht abhängig vom Lob und den Launen anderer, nicht seiner Lehrer, seine Mitschüler, der Gesellschaft und schon gar nicht seiner Eltern. Sie hatten ihn im Stich gelassen, jeder auf seine Art. Sein Vater war alles, aber niemand auf dessen Meinung man auch nur einen Pfifferling geben sollte. Was brachte er schon zu Stande? Seine größten Leistungen bestand wohl darin, jedes Glas bis zu letzten Millimeter auffüllen zu können, ohne das es überläuft, sowie die Tatsache, dass er es regelmäßig schaffte, nicht an seiner eigenen Kotze zu ersticken, wenn er mal wieder völlig breit auf der Couch vor dem Fernseher einschlief. Immerhin rauchte er nicht, sonst wäre die Wohnung längst abgebrannt. Ok, dann sind es sogar schon drei Großartigkeiten! Sowas wie ein vernünftiges Gespräch gab es mit ihm nicht. Konnte es ja auch nicht, denn er hatte alles was man ihm sagte, schneller vergessen, als er seine Beschimpfungen loswerden konnte.
Und dann war da ja noch seine Mutter. Was sollte er wohl von ihr halten? Sie hatte ihn verlassen, hatte ihm deutlich gezeigt, wie wenig er in ihren Augen wert war. Auf jeden Fall viel zu wenig, als dass sie bei ihm geblieben wäre, oder ihn wenigstens mitgenommen hätte. Nein das wäre auch zuviel verlangt gewesen. Schließlich hatte sie es verdient, auch mal zu leben, anstatt immer nur für andere da sein zu müssen. Man hat dich ja bestimmt gezwungen, nicht zu verhüten, oder? Und na klar, das Leben mit deinem neue Italo-Liebhaber ist bestimmt super aufregend jetzt! Dummerweise hatte er nämlich herausgefunden, dass seine liebe Frau Mutter tatsächlich noch ein Kind in die Welt gesetzt hatte. Schließlich hatte sie ja so viel zu geben und wenn man leben wollte, machte erst ein Kind das alles perfekt. Das richtige Kind muss es natürlich sein! Was sollte er von all dem halten? Er konnte sich traurig in die Ecke setzen und heulen, aber das änderte nicht das Geringste. Stattdessen hatte er einen anderen Weg gewählt. Einen Weg, der sein eigener war. Einen Weg in eine bessere, eine glückliche Zukunft. Einen Weg der seinem lodernden Hass Nahrung gab und der allen zeigen würde, was es bedeutete, sich mit ihm anzulegen. Einen Weg, der Erfolg haben würde, auf dem er sich einen Namen machen würde, auf die eine oder andere Weise.
Es war nicht so, dass Hanno keine Schwächen gehabt hätte. Er war sich dessen durchaus bewusst. Das war einer der Gründe, für seine Beziehung mit Isabella. Man musste seine Grenzen kennen und akzeptieren. Wer in der Geschichte zurück schaute, konnte klar erkennen wie fatal falsche Einschätzungen und Größenwahn enden konnten, wenn nicht gar enden mussten. Selbst die größten Reiche, waren so gefallen. Eine große Idee reichte eben nicht aus. Früher oder später tendierten alle großen Führer dazu, ihre eigene Größe über die des Reiches zu stellen. Der Anfang vom Ende. Und auch wenn Hanno natürlich bewusst war, dass er nicht der Führer eines angehenden Weltreiches war, auch wenn er vielleicht bekannte Denkansätze verfolgte, war es ihm doch wichtig, von Beginn an die Weichen entsprechend zu stellen und sich konsequent nur mit Menschen zu umgeben, die ihn im Leben weiterbringen konnten.
Es war offensichtlich, dass er nicht mit einer starken Mutterfigur aufwarten konnte. Aber genauso wenig, würde er zulassen, dass die unnatürliche Zurückweisung seiner Mutter ihm schadete. Wenn ihn dieses Erlebnis eines bewirkt hatte, dann eine Stärkung seiner Entschlossenheit und eine Bestätigung seiner Ziele.
In Hannos Leben gab es zwei wichtige Frauen, denen er bestimmte für ihn wichtige Funktionen zugeordnet hatte und entsprechend Beachtung schenkte. Da war natürlich zuallererst seine Oma. Wenn es jemanden gab, der der Rolle der starken Mutter nahe kam, dann war sie das. Ihre wichtigste Aufgabe war es, ihm immer wieder die überragende Bedeutung von Familie vor Augen zu führen. Auch wenn er selbst Pech gehabt hatte, was ein perfektes Familienleben anging, war er doch überzeugt davon, dass das Konzept “Familie” stabil und zukunftsfähig war. Die Menschen hatte nur verlernt, sich entsprechend zu verhalten. Familie war ein Synonym für Stabilität. Genau jene Stabilität, die der modernen Gesellschaft fehlte. Für den ehrlichen Beobachter war es absolut offensichtlich. Stabile Familien waren das beste Fundament für ein großes Reich. Sie förderten Geborgenheit, soziale Erziehung und Engagement, Frieden und Kontrolle, Einheit. Familien unterstützten sich, hielten sich den Rücken frei, schufen ein extrem wichtiges Zugehörigkeitsgefühl, das sich weiter verwenden und ausbauen ließ. Familien vereinfachten Bedingungslosigkeit. Bedingungsloser Gehorsam, bedingungslose Unterstützung bis hin zur bedingungslosen Selbstverleugnung. Seine Oma war perfekt für seine Tests. Im Moment war das alles noch nur ein Spiel. Doch Hanno wusste, der Tag würde kommen, an dem sich herausstellte, ob seine Paradigmen in der Realität Fuß fassen konnten, oder nicht. Und seine Oma war das zentrale Element. Sie konnte von ihrer Einstellung und Sicht auf die Welt nicht weiter von Hanno entfernt sein und trotzdem hatte er es geschafft, dass sie noch immer voller Stolz von ihm erzählte. Am Ende war er eben Familie und es konnte nicht sein, was nicht sein durfte. Um ihr Bild von ihrem Enkel aufrecht zu erhalten, ignorierte sie all das, was sie sonst störte. Und Hanno ließ keine Gelegenheit aus, die Grenzen weiter auszuloten. Er wusste was ihr wichtig war, wusste womit sie vor anderen prahlte. Er war bereit bestimmte Erwartungen zu bedienen. Und offenbar war sie im Gegenzug bereit, die Realität zu ignorieren. So funktionierte Manipulation. Das würde in Zukunft noch wichtig werden. Oma erfüllte ihre Rolle perfekt. Dieser Tag würde zeigen, ob und wo es eine Grenze gab für diese herzensgute Frau, die nie einer Fliege was zu Leide tun würde.
Isabella dagegen, hatte er eine ganz andere Rolle zugedacht. Auch von ihr hatte er viel gelernt. Aber am Ende war sie nichts als eine große Enttäuschung für ihn gewesen. Isabella war “das Volk” für ihn gewesen. Wollte er ein großer Führer werden, musste er das Volk hinter sich bringen. Ein Führer ohne Volk war nichts wert. Er kannte Isabella schon ein bisschen, sie, ihre Einstellung und ihre Ideale. Sie war die perfekte Wahl gewesen. Zum einen fristete sie ein Dasein als Mauerblümchen. Das machte es relativ leicht für ihn, denn sie war wirklich sehr dankbar, dass sich jemand für sie interessierte. Außerdem lief er natürlich auch nicht Gefahr, dass sie gleich einen anderen hatte, wenn er sie in eine bestimmte Richtung drängen wollte. Gleichzeitig hatte er das perfekte Übungsobjekt für seine Manipulationstechniken. Wenn er es tatsächlich schaffte, Isabella gegen ihre Eltern auszuspielen und für seine Sache zu gewinnen, hatte er es geschafft. Eigentlich reichte es sogar, wenn sie einfach von ihrem hohen moralischen Ross herunter käme. “Das Volk” war immer nichts weiter als eine Ansammlung von Weg-Guckern. Aber die Sache hatte nicht geklappt. Isabella weigerte sich einfach über bestimmte Dinge zu reden. Und ohne sie auf die Missstände hinzuweisen, war es unmöglich sie umzustimmen. Leider hatte sie sehr überzeugende Druckmittel für die er extrem anfällig war. Aber das war wohl das Los aller Männer. Auch wenn sie es nicht zugeben wollten, am Ende regierten doch die Frauen die Welt solange die Männer unfähig waren, sich von diesem Joch zu befreien.
Inzwischen waren sie an ihrem Ziel
angekommen. Keine Menschenseele
weit und breit. Genau wie geplant.
Hanno hatte alles genau durchdacht. Der Zeitpunkt war exakt so
gewählt, dass nichts schiefgehen konnte. Wo
kein Zeuge, da kein Kläger, da keine Anklage!
Jetzt war seine Zeit gekommen. Er trat aus dem Schatten, in dem sie
sich versteckt hatten um alles noch einmal genau zu beobachten. Er
war bereit. Es zog ihn immer weiter ins Licht. Er hatte keine Angst.
Zeit sein wahres Gesicht zu zeigen. Nicht einmal seine Kumpels hatten
eine Vorstellung davon, wie er wirklich war. Egal wie direkt er es
ihnen auch sagte, sie hörten nicht richtig zu, verstanden es
nicht. Für sie war es noch immer ein Spiel, ein Streich, eine
Art Aufnahmeritual für ihn. So hatte es alles angefangen. Sie
hatten die Idee mit dem Feuer ins Spiel gebracht, als er angefangen
hatte, sich mit ihnen abzugeben. Er wusste es nicht genau, aber
wahrscheinlich dachten sie noch immer, dass sie jederzeit aufhören
und aussteigen konnten. Ja, ganz bestimmt war es so. Es war fast zu
einfach gewesen. Menschen waren so leicht zu manipulieren, wenn man
ihnen das gab, was sie erwarteten und sich wünschten. Es war zum
Totlachen. Bekamen sie was sie wollten, waren sie blind für den
Rest, der im Hintergrund geschah. Es war wie bei einer Zaubershow.
Die meisten legten es geradezu darauf an. Sie wollten betrogen
werden, weil sie dann in ihrer eigenen kleinen Welt bleiben konnten,
in der sie wie Könige ihre Fantasie ausleben konnten. Er würde
sie nicht enttäuschen. Er würde zu dem werden, was sie sich
nie trauen würden. Es war Zeit. “Ok Jungs. Ihr habt alles
dabei?” Sie nickten beide.
“Gut, dann gebt her das
Zeug! Zuerst den Kanister!” Mit dem Benzinkanister machte er
sich auf den Weg zum Flüchtlingsheim, sich immer aufmerksam
absichernd, dass niemand ihn beobachtete. Leider war er da der
Einzige. Ich glaubs ja nicht.
Wie dämlich sind die denn?
Ein Pfiff und er hatte ihre Aufmerksamkeit. Mit eindeutigen Gesten
bedeutete er ihnen, sich gefälligst wieder zu verstecken. Erst
als sie wieder unsichtbar im Gebüsch verborgen waren, ging er
weiter. Wäre ja noch
schöner, wenn wir ausgerechnet jetzt, wegen so einer Dummheit
auffliegen würden. Mit
flinken Schritten rannte er auf das Gebäude zu. Besessen von der
Idee es gleich brennen zu sehen, betrat er es und öffnete den
Kanister. Jetzt galt es gründlich zu sein. Vorsichtig zog er
eine Benzinspur hinter sich her, die Treppen hoch und dann von Zimmer
zu Zimmer. Er war leise, machte nicht das geringste Geräusch.
Nur deswegen bemerkte es es überhaupt, das Schnarchen. Er
schaute sich um, lugte in ein Zimmer nach dem andere, dann sah er ihn
auf dem Bett liegen. Na sieh
mal einer an. Ein fauler Araber. Schläft hier den Schlaf der
Gerechten, während die Deutschen für ihn das Geld
verdienen! Ich könnte kotzen. Am liebsten würde ich ihm
gleich eine rein hauen. Aber ich hab noch eine viel bessere Idee! Der
wird Augen machen! Eiskalt
kippte der den Kanister um, hörte das leise Plätschern und
sah zu, wie die klare Flüssigkeit sich im Zimmer verteilte. Dann
verließ er das Gebäude genauso leise und unauffällig
wie er gekommen war.
Bei seinen Kumpels angekommen, kannte das
Grinsen kein Ende mehr. “Und?” wollten sie wissen? “Wie
liefs?”
“Alles bestens. Das ganze Haus ist geradezu in
Benzin ertränkt.” Sie schienen zufrieden. “Super! Du
bist echt würdig, unser Führer zu sein!”
“Oh
ja, Jungs. Das bin ich. Und es kommt noch besser. Heute machen wir
Geschichte!”
“Geschichte?” fragten sie
ratlos?
“Und wie! Ratet mal was ich im Heim gefunden habe!
Eine Ratte von Ausländer, selig schlummernd. Die Gelegenheit
konnte ich mir nicht entgehen lassen.” Mit weit aufgerissenen
Augen schauten sie ihn an. “Wie meinst du das? Was hast du
getan?”
“Nicht was habe ich getan! Was werde ich tun?
Ich werde die Sache jetzt zu Ende bringen, wie besprochen.”
“Du
meinst … Ernsthaft? Aber da ist jemand drin!”
“Umso
wichtiger, dass alles gut funktioniert. Sonst entkommt er am Ende
noch unbeschadet. Also los Jungs! Jeder ein Molotow-Cocktail, jeder
ein Fenster! Bei drei!” Hanno ließ ihnen keine
Gelegenheit zu widersprechen. Auf drei zündete er die Lunten an
und rannte er los. Die beiden anderen waren so überrascht, dass
sie ohne weiteres Nachdenken einfach hinterher spurteten. Als sie
nahe genug waren, um ihre Ziele sicher treffen zu können,
bremsten sie ganz leicht ab, und warfen ihre brennenden Geschosse auf
das Gebäude. Sie flogen wie berechnet durch die anvisierten
Fenster, zerbrachen und ließen die Hölle losbrechen.
Sekunden später schon, waren sie wieder sicher im Gebüsch
versteckt. Noch immer völlig ungläubig starrten seine
beiden Jünger Hanno an, sahen wie er ein Armband aus der
Jackentasche zog und es zunächst im Gestrüpp zerriss, bevor
er es beinahe achtlos fallen ließ. Dann sah er ihnen direkt in
die Augen. “Rudi, du rennst jetzt da vorne zur Telefonzelle und
meldest der Polizei, was hier passiert ist! Keine Fragen. Mach genau
was ich dir sage! Du nennst nicht deinen Namen. Du sagst nur, dass du
hier eine junge blonde Frau gesehen hast, die gerade das
Flüchtlingsheim in Brand gesteckt hat. Dann legst du sofort auf.
Wir trennen und jetzt und treffen uns in einer Stunde wie geplant am
Treffpunkt. Los jetzt!”
Auf seinen Befehl, rannten sie
auseinander. Er vergewisserte sich, dass Rudi tatsächlich
anrief, dann verschwand auch er.
“Bei einem schweren Brandanschlag ist heute das städtische Flüchtlingsheim fast vollständig abgebrannt. Glücklicherweise stand es aufgrund geplanter Renovierungsarbeiten fast vollständig leer. Ein letzter Bewohner, der das Heim diese Woche verlassen sollte, kam mit leichten Verletzungen davon. Handelte es sich um einen bewussten Anschlag auf diese Person, oder gingen der beziehungsweise die Täter von einem leeren Gebäude aus? Die Polizei geht von einem fremdenfeindlichen Motiv aus und hat eine Sonderkommission eingerichtet. Die weiteren Hintergründe sind noch völlig unklar. Es bleibt die Frage, wie so ein Anschlag unbemerkt am hellichten Tag stattfinden konnte. Wir halten Sie über die Ermittlungen auf dem Laufenden…”
Inzwischen hatten sie alle die Meldung in
den Nachrichten verfolgt. Als sie sich wie verabredet wieder trafen,
waren die beiden anderen allerdings kreidebleich. Warum
sind sie nur so schwach? Die haben echt Angst, das zu tun wovon sie
immer reden. Aber ich hab eben niemand sonst im Moment.
“Was
sollte das, Hanno? Es war nie die Rede davon, jemanden umzubringen!”
Ein Anflug von
Empörung?
“Erzählt
mir doch nichts. Ihr redet doch seit ich euch kenne von nichts
anderem!”
“Ja. Wir reden. Aber du … Du hast ein
Haus abgefackelt, in dem jemand geschlafen hat. Das ist
Mord!”
“Korrektur 1: Das ist wenn dann fahrlässige
Tötung. Wer soll mir nachweisen, dass ich wusste, dass jemand
drin war? Und Korrektur 2: Mitnichten haben ICH das Haus abgefackelt.
Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, und das tut sie nie,
flogen drei Molotow-Cocktails gleichzeitig durch drei verschiedene
Fenster, geworfen von drei verschiedenen Personen.” Er deutete
nacheinander auf jeden von ihnen und dann auf sich selbst. “Eins,
zwei, drei.”
“Ja, aber …”
“Kein
aber. Ihr wolltet es so. War es nicht eure Idee? Redet ihr nicht
immer davon, dass endlich mal jemand was gegen das Ausländerproblem
tun muss? Jetzt haben wir angefangen was zu tun, also heult hier
nicht so mädchenhaft rum. Ihr wolltet einen Anführer, jetzt
habt ihr einen!” Beide schluckten nur.
“Von jetzt an
ist es vorbei mit dem ganzen sinnlosen Gerede. Ab heute wird etwas
unternommen! Seid ihr dabei, oder nicht?”
“Haben wir
eine Wahl?”
“Nein, natürlich nicht. Das heißt,
natürlich habt ihr die. Was wäre ich für ein Führer,
wenn ich euch nicht frei entscheiden ließe. Es liegt bei euch.
Ihr könnt mir folgen, oder gemeinsam mit mir ins Gefängnis
gehen. Wir vertrauen einander, oder wir verlieren alle. Ich vertraue
euch, aber wenn ich mich in euch getäuscht haben sollte, bin ich
bereit die Konsequenzen zu tragen, ohne euch Vorwürfe zu machen.
Seid ihr das auch? Entscheidet! Weiter nach meinem Plan oder
Gefängnis? Ich lege mein Schicksal in eure Hände.”
Damit hatten sie nicht gerechnet. Sie schauten sich kurz an. Wortlose
Kommunikation. Dann ein Nicken und Rudi sprach weiter: “Mensch
Hanno! So hatten wir das doch nicht gemeint. Keiner von uns will dich
verraten. Wir bewundern dich. Du führst uns, und wir …
Wir folgen dir, wohin du uns auch führst.” Hanno konnte
sich ein Grinsen nicht verkneifen. Es war fast zu einfach, aber er
durfte sich natürlich nichts anmerken lassen.
“Dann
danke ich euch. Und lasst mich sagen, wie stolz es mich macht, euch
anführen zu dürfen. Gemeinsam wird uns so schnell keiner
aufhalten, wenn wir weiter vorsichtig und behutsam vorgehen.”
Er konnte sehen, dass er gewonnen hatte.
“Wir sind dabei,
Hanno. Hanno Lutter, wir folgen dir. Auf uns!”
“Auf
uns!”
“Nur eine Frage hätte ich noch. Was war das
vorhin mit dem Anruf und dem Armband? Das war nicht der eigentliche
Plan gewesen. Ich mein, ich weiß natürlich, wer die
Blondine sein soll, aber was genau hast du vor?” Hanno lachte
und lachte und lachte.
“Jungs, das ist das Beste überhaupt.
Das kam mir so plötzlich vorhin, als wäre es eine göttliche
Eingebung gewesen. Und es macht absolut Sinn, nach allem was wir
heute gesehen haben. Ihr erinnert euch doch noch, oder?”
“Was
genau meinst du? Ach klar, du meinst Isabella. Die stand da so
dämlich in der Gegend rum als wir an ihr vorbei kamen.”
“Ganz
genau. Und naja, ich kenn sie ja ein bisschen besser als ihr und
weiß, dass ihr das schon öfter passiert ist.”
“Was
ist ihr schon öfter passiert?”
“Na diese
Blackouts. Das ist ziemlich witzig. Und ziemlich gut für
uns.”
“Jetzt erklär schon!”
“Na
ganz einfach. Isabella kann sich hinterher an nichts erinnern.
Interessanterweise kann es sein, dass sie einfach die ganze Zeit
bewegungslos bleibt, oder aber wie ein Schlafwandler durch die Gegend
läuft und Dinge tut. An nichts davon kann sie sich erinnern,
wenn sie wieder zu sich kommt und von da an macht sie einfach weiter
wie gewohnt. Das heißt für uns, dass sie durchaus beim
Flüchtlingsheim gewesen sein könnte, wo sie der anonyme
Augenzeuge dabei beobachtet hat, wie sie das Feuer legt. Das Armband
sollte dann zusätzlich seine Wirkung entfalten.”
“Clever.
Gut dass du so schnell improvisieren konntest!” Und genau das
war es, was Hanno Kopfzerbrechen bereitete. Der Plan war gut gewesen,
so wie er war. Jede Änderung barg Risiken, die nicht in der
Kalkulation enthalten gewesen waren. Gut, die
Erfolgswahrscheinlichkeit lag noch immer bei fast 100 %, aber sie war
eben niedriger als nötig. Und das eigentliche Problem war, dass
er nicht die Zeit gehabt hatte, die Eventualitäten zu
durchdenken. Er konnte jetzt nicht mehr ausschließen, dass das
persönliche Moment nicht am Ende zu ihm zurückführen
würde.
“Ok Jungs. Nächster Schritt. Ich habe jetzt
erst mal die falsche Spur gelegt. Das sollte uns noch ein bisschen
freie Hand geben. Ich konnte die ganze Szene vorhin noch ein bisschen
beobachten. Irgendwie hat die Feuerwehr es geschafft, den Araber noch
rechtzeitig raus zu ziehen. Jetzt wird er im Krankenhaus sein. Da
kommen wir nicht an ihn ran. Aber früher oder später wird
er wieder rauskommen und dann müssen wir beenden, was wir
angefangen haben.”
“Aber sind wir jetzt nicht aus dem
Schneider und in Sicherheit? Es verdächtigt uns doch keiner.”
Feiglinge!
“Das
ist jetzt nicht euer Ernst, oder? Wir fangen gerade erst an. Wir sind
die Vorreiter einer neuen Generation hier. Wir müssen Erfolg
haben. Und zwar aufsehenerredenden Erfolg. Jetzt ist nicht die Zeit,
sich wieder auf die faule Haut zu legen. Jetzt setzen wir ein Zeichen
für alle da draußen, die wie wir sind! Noch sind wir
wenige, aber unsere Bewegung wird wachsen. Schon bald! Ihr werdet
sehen.”
“Ok. Ok. Aber was genau ist dein Plan?”
“Ganz
einfach. Ich kenne seine neue Adresse. Und wenn mich nicht alles
täuscht, ist das sein nächstes Ziel, sobald er aus dem
Krankenhaus entlassen wird. Dann muss er durch den Wald, wo wir die
perfekte Gelegenheit haben. Überzahl und Überraschungseffekt
für uns. Kaum Fluchtmöglichkeiten für ihn. Da
schnappen wir ihn uns.”
“Und wann?”
“Das
krieg ich schon raus. Ihr wartet im Wald auf mich. Ich komm dann zu
euch!” Sie schienen verstanden zu haben. Zumindest nickten sie
und gingen. Jetzt hatte er endlich wieder ein bisschen Ruhe zum
Nachdenken. Das war auch dringend nötig. Hanno war unzufrieden
mit sich und dem Verlauf der Aktion. Es hätte ein großartiges
Highlight werden können, werden müssen. Stattdessen hatte
er versagt, gleich bei der ersten Möglichkeit. Natürlich
hatte er das vor den anderen nicht zugeben können, aber genau
das war es: Versagen auf ganzer Linie. Das musste er jetzt wieder
ausmerzen. Und zwar schnellstens!
Zunächst hatte er sein Glück gar nicht fassen können. Natürlich hatte er das Heim schon eine ganze Weile beobachtet gehabt. Viel Verkehr war ja nicht mehr, seit die meisten umgesiedelt worden waren. Gerade das machte es ja zu einem idealen Ziel, relativ ungefährlich, sonst hätten sich die beiden das sicher gar nicht ausgesucht. Es war ja nicht so, dass sie mit dem Draufgängergen gesegnet gewesen wären. Sie hatten gute Ansätze, die er weiter ausbauen wollte, mehr aber auch nicht. Aber Hanno hatte erkannt, dass auch er noch viel an sich arbeiten musste. Es hätte so schön laufen können. Ich hatte ihn praktisch auf dem Silbertablett. Das wäre ein Statement gewesen. Aber stattdessen hatte er sich von seinen Gefühlen leiten lassen. Isabella hatte ihn enttäuscht und er hatte die Chance gesehen, ihr aus auszuwischen. Wie dämlich! Was er vor den anderen natürlich nicht zugeben konnte war, dass er praktisch selbst schuld war, dass der Araber noch lebte. Ob die Feuerwehr wohl genauso schnell und rechtzeitig dagewesen wäre, wenn nicht jemand einen Brandanschlag gemeldet hätte? Wohl kaum. Bis jemand das Feuer bemerkt hätte, wäre es längst zu spät gewesen. Aber so? So hatte er überlebt. Nur damit er Isabella mit in die Sache reinziehen konnte. Er hatte seine eigenen Befindlichkeiten über die Sache gestellt. Das war immer falsch!
Als er dann zum Tatort zurückgekehrt war, hatte er sofort gewusst, dass der Plan nicht funktioniert hatte. Das Feuer war viel zu schnell bekämpft worden. Und dann hatte er ihn gesehen, den Feind. Gestützt auf einen Feuerwehrmann war er aus den Haus gekommen. Die Sanitäter hatte sich sofort auf ihn gestürzt und sich um ihn gekümmert. Er hatte viel zu wenig abbekommen. Das war echt schlimm. Hanno hatte alles ganz genau beobachtet. Und dann, für einen Sekundenbruchteil, hatten sich ihre Blicke getroffen und er hatte ihn seinen Hass spüren lassen. Hanno konnte nur hoffen, dass dem Ausländer das nicht entgangen war. Also gut. Es macht keinen Sinn, mir jetzt die ganze Zeit zu sagen, was ich alles falsch gemacht habe. Es muss weitergehen. Also Plan B. Gute alte Handarbeit!
Einen Vorteil hatte das Ganze ja. So konnten sie alle direkt zeigen, aus welchem Holz sie geschnitzt waren. Es war ja eine gute Sache einen Brandsatz durch ein Fenster zu werfen, aber dann doch eine ganz andere, jemandem direkt gegenüber zu stehen bevor man ihn fertig machte. Hanno hatte den beiden anderen Bescheid gesagt und sie hatten sich an der Bushaltestelle am Wald getroffen. So ganz hatte er sie noch nicht von der Notwendigkeit ihrer Aktion überzeugt, aber nach einer kleinen Ansprache über die Vorzüge, die sie als Einheimische zu haben hatten, hatten sie ihre blöde Fragerei aufgegeben. Der ein oder andere an der Haltestelle hatte zwar komisch geguckt, aber niemand hatte den Mumm den Mund auf zu machen. Jetzt konnte es nicht mehr lange dauern. Er postierte seine Männer taktisch geschickt hinter zwei Bäumen, dann ging er selbst in Deckung und wartete. Er muss hier durch. Und das wird sein Ende sein. Hanno konnte seine Vorfreude kaum unterdrücken. Er grinste die ganze Zeit wie ein Honigkuchenpferd. Das würde Spaß machen. “Ok, Jungs! Maskiert euch! Es geht los!”
Es war soweit. Da war er. Endlich! Voller Stolz trat Hanno auf den Weg und blieb einfach stehen. Er stoppte sofort und schaute ihn an. Oh ja, ich sehe wie du mich wiedererkennst! Und du hast Angst. Inzwischen waren auch seine Kumpels aus ihrer Deckung gekommen und komplettierten die Angriffsformation. Die Angst war ihm anzusehen. Schritt für Schritt ging er langsam rückwärts, während sie ihm näher kamen. Ganz offensichtlich checkte er seine Möglichkeiten. Ihm musste klar geworden sein, dass er nicht zurück zur Straße kommen würde, also blieb ihm nur der Wald. Aber Hanno hatte seine Gruppe gut instruiert. Ohne ein weiteres Wort positionierten sie sich entsprechend und nahmen ihm jede Hoffnung auf Flucht. Man kann ja über die beiden sagen was man will, aber sie hören zu, wenn man ihnen was erklärt. Und sie können Befehle ausführen, ohne sie in Frage zu stellen. Das werden noch ganz wertvolle Menschen für mich!
“Was wollt ihr von mir? Was hab ich
euch getan?” jammerte er.
“Du gehörst nicht
hierher!” lautete seine direkte Antwort.
“Aber ich tu
doch niemandem etwas!”
“Du gehörst nicht
hierher!” wiederholten die beiden seine Worte, dass es einem
durch Mark und Bein fuhr. Das hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Ein
Nicken, dann stürzten sie sich auf ihn. Er war so verdutzt, dass
er nicht mal versuchte zu fliehen. Sehr
gut! Hanno spürte wie
Hass und Wut jetzt komplett übernahmen. Wie in Trance flogen
seine Fäuste, ohne dass er ihren Aufprall wahrnahm. Ein
tolles Gefühl. Aber dann
registrierte er, wie die Situation sich veränderte. Der Araber
konnte unheimlich gut einstecken und es machte ihm viel weniger aus,
als es sollte. Außerdem hielt er einfach nicht still. Ein
guter Deutscher würde wenigstens still dastehen bis er tot ist!
Im Gegenteil, es gelang ihm sogar, sich aus ihrer Prügelattacke
heraus zu winden und ein bisschen Abstand zu gewinnen. Wie
hat er das gemacht? Das kann doch nicht sein. Hat sich denn alles
gegen mich verschworen heute?
Und dann fing er an zu rennen. Eines musste man ihm lassen, er war
schnell. Aber auch sie waren nicht langsam und sie hatten den
Verfolgervorteil. Sie mussten sich nicht laufend umschauen, sodass
sie langsam näher kamen. Rudi war ihr schnellster und würde
ihn bald eingeholt haben. Dann versöhnte das Schicksal Hanno
wieder ein bisschen, als ein Glatzkopf mit seinem Hund aus dem Wald
kam und ihr Opfer kurz aus dem Tritt brachte. Hanno hatte keine
Zweifel daran, dass der Mann ihnen nicht in die Quere kommen würde
und dank der Maskierung konnte er sowieso nur drei schwarze Gestalten
identifizieren. Wenn er sich
das überhaupt traut. Und
er sollte Recht behalten. Der Mann erkannte den Ernst der Lage und
zog sich und seinen Hund wieder zurück in den Wald. Die Bahn war
wieder frei. Rudi hatte ihn fast erreicht, noch vor der Straße.
Hanno konnte sehen, wie er die Hand nach ihm ausstreckte. Gleich
würden sie ihn haben. Doch er hatte sich getäuscht. Im
selben Moment wechselte der Ausländer die Richtung, schlug einen
Haken und rannte mit voller Geschwindigkeit weiter in den Wald. Er
traute seinen Augen kaum. Wie war das möglich? Rudi war ebenso
überrascht, konnte den Richtungswechsel nicht mitmachen. Die
überschüssige Energie trieb ihn unbarmherzig weiter
vorwärts, direkt auf die Straße. Direkt vor den Sprinter.
Das Geräusch des Aufpralls ließ Hanno zusammenzucken. Er
fühlte den Schmerz. Als hätte jemand eine riesige Hand um
ihn geschlossen und dann einfach zugedrückt bis jeder einzelne
Knochen splitterte. Seine Beine gaben nach und er viel zu Boden. Auch
seine Arm versagten ihm den Gehorsam, sodass kein Reflex ihn
abfederte, bevor er mit dem Gesicht auf den Waldboden aufschlug. Das
ließ ihn die Kontrolle über seinen Körper
wiedererlangen und er rannte Richtung Straße. Vielleicht
konnten sie noch etwas tun. Der Fahrer des Sprinters war bereits
ausgestiegen und hatte das Handy am Ohr. Sicher wäre gleich ein
Krankenwagen zur Stelle. Endlich war auch Hanno am Straßenrand
angekommen. Als er verstand, was er da sah, begann er zu würgen.
Er musste weg von hier. Geschockt über das Geschehen drehte er
sich um und rannte tiefer in den Mann. Was der Mann ihm nach rief,
hörte er nicht, interessierte ihn auch nicht. Sobald er sich
außer Sicht wähnte, riss er sich die Maske vom Kopf und
übergab sich.
Die Bilder hatten sich tief in seine Erinnerungen eingebrannt, würden ihn noch lange verfolgen. Die Arme und Beine in unnatürlichen Winkeln vom Körper abgehend, das Gesicht glich nur noch einer undefinierten Masse, der Schädel vom Aufprall zerschmetter und dann das ganz Blut. Er konnte nicht mehr, sank auf die Knie und übergab sich erneut. Froh dass er alleine war, kämpfte er nicht gegen die Tränen und begann bitterlich zu weinen.
Zum Glück war er nicht komplett alleine. Ralf wartete am üblichen Treffpunkt auf ihn. Seinen Augen sah er an, dass er genauso geheult hatte. Aber keiner von ihnen würde das thematisieren. Schweigend saßen sie eine Weile nebeneinander, bevor es aus Hanno herausbracht.
“So ein Schwein! Hast du das
gesehen? Dieses Schwein! Der hat Rudi eiskalt auf die Straße
geschmissen. Direkt vor ein Auto. Ein Wunder, dass er überlebt
hat.”
“Glück? Was heißt hier Glück,
Hanno? Glück wäre gewesen, wenn er einfach gestorben wäre.
Es ist ein Wunder, dass sie ihn so am Leben erhalten können!
Selbst wenn er jemals wieder zu sich kommt, ist alles an ihm Matsch!
Jeder Knochen, alles ist hin! Und du redest von Glück! Spinnst
du?”
“Das schreit nach Rache. So leicht
lass ich diesen Araber nicht davon kommen.”
“Jetzt
komm mal wieder runter, Hanno! Denk doch mal nach! Vielleicht haben
wir uns da übernommen? Du weißt doch, wies bei denen
abgeht. Die kriegen das Kämpfen und den Hass auf uns schon als
Baby eingetrichtert. Vielleicht ist der ne Nummer zu groß für
uns?”
“Du willst ihn davon kommen lassen? Wer sagt
dir, dass wir dann nicht die nächsten sind?”
“Der
kennt uns doch gar nicht!” Ohne es bewusst zu steuern, schlug
Hanno zu.
“Du jämmerlicher Feigling. Ihr beide habt
immer gesagt, wie wichtig es ist unsere abendländische Kultur zu
verteidigen. Ihr habt mich auf diesen Weg gebracht! Und jetzt willst
du kneifen? Du hast sie ja nicht mehr alle! Das ist Krieg und wir
werden den jetzt beenden!”
“Und wie?”
“Ganz
einfach. Ich weiß wo er hin will. Isabellas Mutter arbeitet
beim Sozialamt und hat ihm ne Wohnung beschafft. Ich bin zufällig
an die Adresse gekommen.” Er grinste Ralf an.
“Ich bin
nachher mit meiner Oma verabredet. Die ist mit ihrer Rentner-Gruppe
in dieser schäbigen Multikulti-Kneipe. Wenn du sie siehst, sag
ihr, dass ich das heute nicht schaffe. Wir treffen uns dann da. Du
bist für die Munition verantwortlich. Ich versuch ihn schon
vorher aufzuspüren. Wenn das nicht klappt räuchern wir ihn
in seiner neuen Wohnung aus, wie einen Hering.” Ein Nicken und
die beiden trennten sich.
Letzte Chance. Wenn das jetzt wieder nicht klappt, hab ich es nicht verdient ein Anführer zu sein. Hanno war frustriert. Dieser Tag hätte den Auftakt zu einer großartigen Zukunft markieren sollen. So hatte er es sich immer vorgestellt. Eines Tages würde man in die Geschichte zurückschauen und feststellen, dass alles hier und heute begonnen hatte, dass er, Hanno Lutter, die Weichen richtig gestellt hatte für eine bessere, eine deutsche Zukunft. Stattdessen hatte er auf ganzer Linie versagt. Statt des Ausländers, lag sein Kumpel im Krankenhaus und würde wahrscheinlich nicht überleben. Wie hatte alles nur dermaßen schiefgehen können? Immer und immer wieder durchdachte er alles von vorne. Das Ergebnis war eindeutig. Alles deutete nur in eine einzige Richtung. “Isabella!” Er schrie den Namen geradezu aus sich heraus, als könnte er sich damit von diesem Fluch befreien. Erst wollte er sich weigern, das Offensichtliche anzuerkennen, aber jetzt war es unausweichlich. Er musste der Realität ins Auge sehen. Dieses Frauenzimmer war schuld. Sie hat sich in mein Leben gedrängt, wollte mich immer kontrollieren, mich vom richtigen Weg abbringen. Es ist ihre Schuld, dass das Feuer zu früh bekämpft worden war. Hätte sie nicht so dämlich in der Gegend rumgestanden, wäre ich auch nicht auf die Idee gekommen, sie als Sündenbock zu verwenden. Bestimmt hatte sie das so geplant. Vielleicht waren ihre Blackouts von Anfang an nur vorgetäuscht gewesen, wie so manches andere auch? Oh sie ist gut, wirklich raffiniert. Aber du hast die Rechnung ohne den Hanno gemacht, meine Liebe. Du dachtest du könntest schön unbemerkt im Hintergrund die Fäden ziehen, aber jetzt habe ich dich nach vorne auf die große Bühne geholt. Du hast es so gewollt, aber bist du wirklich bereit dazu? Du bist freundlich, schwach und nachgiebig. Du bist mir nicht gewachsen. Liebe ist immer mit Schmerzen verbunden und glaub mir: Ich werde dich Schmerzen spüren lassen! Das verspreche ich dir. Jetzt ist die Zeit gekommen. Deine oder meine Zeit. Ich habe dich enttarnt, dich aus der Dunkelheit ins Licht geholt. Jetzt musst du Stellung beziehen. Ich bin gespannt. Wir steuern unaufhaltsam auf ein grandioses Finale zu. Am Ende sind es nur wir beide, du und ich, auf dem Weg zum Höhepunkt. Kein Zweifel. Mal sehen wer schneller ist.
Das Schicksal hatte ihr offenbar eine größere Rolle zugeteilt, als er das wahr haben wollte. Hanno hatte sie am Ende doch immer für das kleine, einfältige Blondchen gehalten. Aber diese Frau hatte mehr drauf, als er für möglich gehalten hatte. Er hatte sie ganz gewaltig unterschätzt.
“Andererseits …” Andererseits brauchte jeder große Führer einen großen Gegenspieler. Erst der verhalf ihm zu wahrer Größe. Wenn Isabella der Stein war, an dem er sich reiben musste, um sein Revier zu markieren, dann war er bereit dazu. Er war intelligent und selbstbewusst. Seine klare Vision war einfach unzerstörbar. Isabella wollte Spielchen spielen, er wollte den Krieg gewinnen. Es war eindeutig wer im Vorteil war.
Hanno schlich am Waldrand entlang. Er war hier aufgewachsen, kannte den Wald wie seine Westentasche. Wenn der Araber nicht ohne Sinn und Verstand einfach durch den Wald gerast war, musste er hier irgendwo rauskommen. Und ich werde dich erwarten. Niemand sonst. Nur du und ich. Eine Weile lang ging er einfach am Waldrand auf und ab, ohne dass sich etwas tat. Doch dann hörte er es rascheln. Tatsächlich, diesmal war ihm das Schicksal hold und lieferte ihm den Feind direkt frei Haus. Rache wird am besten kalt serviert und im Moment ist niemand kälter als Hanno Lutter. Das ist für Rudi! Dann schlug er zu. Es tat gut ihn da auf dem Boden liegen zu sehen. Zeit es zu beenden!
“Wage es nicht aufzustehen! Du bist genau da, wo Abschaum wie du zu sein hat! Am Boden. Im Dreck. Das ist dein Platz! Und jetzt, jetzt haben wir eine Rechnung zu begleichen!”
Hanno sah den Ast gar nicht wirklich kommen. Plötzlich fand er sich auf dem Boden wieder. Höllische Schmerzen tobten in seinem Kopf. Er schaute sich um. Sein Opfer war weg. Er war völlig allein. Wie lang er wohl hier gelegen hatte? Er wusste es nicht. Wie war das möglich? Offensichtlich hatte der Feigling einen Helfer. Aber wen? Er hatte niemanden gesehen. Und da war auch niemand sonst gewesen. Zum dritten Mal heute, war er ihm entkommen. Es war zum heulen. Aber gleichzeitig erschien ein Bild vor seinen Augen. “Das war sie! Ich weiß nicht wie, aber es muss sie gewesen sein! Diese blöde Kuh! Jetzt haben wir wirklich Krieg. Hörst du Isabella? KRIEG!”
Seine dunkle Seite hatte jetzt
vollständig die Kontrolle übernommen. Vom Hass getrieben
rannte er los. In der Nähe der Kneipe winkte in Ralf zu sich in
Deckung. Gut! Auf Ralf ist
wenigstens Verlass!
“Was
ist denn mit dir passiert, Hanno? Du blutest ja.”
“Das
ist nichts. Ich hatte ihn schon, aber der Araber hatte einen Helfer,
der mich niedergeschlagen hat.”
“Na dann wird dich das
jetzt freuen. Ich habe zwar deine Oma nicht gefunden, ich hab sie ja
auch nur einmal kurz gesehen, aber rate mal wer da vor ein paar
Minuten rein gerannt ist.” Hanno schaute ihn durchdringend
an.
“Na sag schon!”
“Na wer wohl? ER! Unser
Freund aus dem Heim. Der sitzt in aller Seelenruhe da drin und trinkt
Kaffee.”
“Ist nicht dein Ernst!” Ein Wink des
Schicksals. Hanno konnte es kaum glauben.
“Doch echt. Schau
selbst nach, wenn du mir nicht glaubst.” Das ließ sich
Hanno nicht zweimal sagen. Zielstrebig lief er auf das “LaFamilia”
zu, dann daran vorbei und schaute beiläufig durch die Fenster.
Der Italiener hatte es geschafft. Der Laden lief. Da war das
Kaffeekränzchen seiner Oma, eine junge Familie und wenn er sich
nicht täuschte saßen da sogar Isabellas Eltern. Hanno
konnte es nicht fassen und kehrte zu Ralf zurück.
“Blödes
Ausländerfreunde-Pack. Der Laden ist gerammelt voll. Ich sag dir
was wir machen.” Und dann flüsterte er Ralf den Plan ins
Ohr. Keine zwei Minuten später standen beide maskiert und völlig
in Schwarz gekleidet vor dem Café, bereit und entschlossen
jeden einzelnen der vorbereiteten Brandsätze zu verwenden. Das
wird ein wahres Feuerwerk!
Dann
schrie Hanno zu den Gästen hinein.
“Hallo meine
verehrten Ausländer-Freunde. Heute ist ihr Glückstag. Sie
haben die einmalig Chance endlich einmal Stellung für ihn Land
zu beziehen. Wir beide hier, haben eine ganze Menge
Molotow-Cocktails. Sehr heiß und sehr zuverlässig. Die
werden gleich zum Einsatz kommen. Ich habe zwei Angebote an alle
Anwesenden. Angebot Eins gilt für alle Deutschen. Verlassen Sie
den Ort und verschwinden Sie. Sie haben hier nichts verloren. Ich
garantiere, dass Ihnen nichts passieren wird, trotz ihrer
verräterischen Haltung! Angebot Zwei geht an alle, denen etwas
an diesem Etablissement liegt. Unter den Gästen befindet sich
eine Person arabischer Herkunft, mit der ich, nun ja, gerne sprechen
würde. Bringt mir den Araber und ich schnapp mir ihn, meinen
Kumpel und alle Brandsätze und verschwinde von hier. Dann können
Sie alle mit dem weitermachen, was sie eben so gemacht haben im
Moment. Das sind Ihre Optionen, verehrte Gäste. Die feurige
Alternative ist Ihnen bekannt. Sie haben 60 Sekunden Bedenkzeit.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.”
Er nickte Ralf
zu, und dieser zündete die Lunten an. Zufrieden grinste Hanno
vor sich hin. Das wird ein
Fest. Ein Schlachtfest. Heute ist Zahltag, meine lieben Mitbürger!
So oder so. Jeder bewaffnet
mit zwei Molotow-Cocktails bauten Sie sich vor den Fenstern auf.
Wo
Isabella jetzt wohl ist? Dieses Mal hast du keine Chance, meine Süße.
Wie willst du diese Situation noch retten? Egal was du tust, hier
wird Blut fließen und du wirst auf die eine oder andere Art
daran beteiligt sein. Du hättest dich auf meine Seite stellen
sollen, als du die Gelegenheit hattest. Jetzt ist es zu spät.
“Die
Zeit ist um. Wir warten auf Ihre Entscheidung!”
Gebannt
starrten Hanno und Ralf auf die Tür, die sich ganz langsam
öffnete.
Es gab Tage, an denen man gar nicht erst aufstehen sollte. Heute war so ein Tag für Gunnar. Genau wie gestern und vorgestern und vermutlich auch morgen und übermorgen. Was brachten einem die Tage schon, als nervige Verpflichtungen, ein schlechtes Gewissen und die Gewissheit, dass man völlig überflüssig war? Eben. Gar nichts. Und trotzdem stand die ganze Welt jeden Morgen auf und bildete sich ein wichtig zu sein. Nicht so Gunnar. Er hatte das System durchschaut. Es hatte ihn jahrelang benutzt nur um ihn dann auszuspucken, wegzuwerfen und zu vergessen. Und jetzt? Jetzt tat er das Seinige. Diesem Leben schuldete er nichts mehr. Kein Geld, keinen Einsatz, kein Garnichts. Der einzige tröstliche Gedanke, der ihn am Leben hielt war, dass er so wenigstens dem Staat auf der Tasche liegen konnte, der ja sonst nichts für ihn getan hatte als ihn in diese Situation zu treiben und dann im Stich zu lassen. Also sollte er jetzt auch für ihn aufkommen. Natürlich tat er auch das eher schlecht als recht und so hauste er hier in einer kleinen, mickrigen Sozialwohnung, mit lauter Abschaum und Sozialschmarotzern um ihn herum. Die taten nichts, als alles voll zu müllen und den ganzen Tag saufend vor der Glotze zu sitzen. Naja. Fast nichts anderes. Zwischendurch vermehrten sie sich fleißig, egal wie blöd sie sonst waren, das bekamen alle hin. Und nicht nur das, sie taten es auch noch für jedermann hörbar, selbst durch den Hof schallten diese Geräusche. Oben, Unten, geradezu umzingelt von lautstark korpulierenden Wesen. Es ekelte Gunnar regelrecht an. Diese Nacht war keine Ausnahme gewesen. Regelrecht aus dem Schlaf gestöhnt hatten sie ihn. Ekelhaft! Er beschloss seinen Ekel mit einem Glas Wein hinunter zu spülen, damit er auf andere Gedanken kam. Wacklig stapfte er Richtung Küche, öffnete den Kühlschrank und entnahm den Tetra-Pak mit Rotwein. Gespült hatte sein fauler Sohn dummerweise auch nicht, also würde er mit dem benutzten Cola-Glas vorlieb nehmen müssen. Innerlich verfluchte er seinen Sohn, der ihm den Cola-Geschmack im Rotwein beschert hatte, beruhigte sich aber nach dem ersten Schluck schnell wieder. Ein guter Jahrgang. Da kann auch Cola nichts kaputt machen. Kurz dachte er darüber nach aus dem Haus zu gehen, vielleicht zum Einkaufen, aber er hatte noch genug Wein im Kühlschrank. Außerdem hatte er heute nicht die Geringste Lust, sich wieder diese abschätzigen, überheblichen Blicke anzutun, mit denen ihn die anderen Kunden regelmäßig bedachten. Vor allem an der Kasse, wenn er mal wieder nicht schnell genug sein Kleingeld zusammenklaubte. Haben die noch nie was von Entschleunigung gehört? Ist viel gesünder! Alle Welt hielt sich für etwas besseres und maßte sich das Recht an, ihn das auch spüren zu lassen. Gunnar hatte es so satt. Warum musste er sich mit solchen Leuten abgeben? Hatten die nichts besseres zu tun? Hatten die kein eigenes Leben? Als ob die noch nie ein bisschen im Laden gelallt hätten, weil sie mal einen Schluck zuviel gehabt haben. Kann ja nix dafür, dass meine Schlücke größer sind, oder? Und würde ich von euren Steuern mehr Sozialhilfe kriegen, könnt ich mir auch ein paar edlere Tropfen leisten. Ganz offensichtlich war er im Recht. Denen hatte er es gegeben, zumindest gedanklich. Damit war sein Tagwerk getan und er konnte sich den wichtigeren Dingen des Lebens widmen. Travemünde 0815 ging gleich los und er wollte keine Minuten verpassen. Mit zuvor nicht für müglich gehaltener Geschwindigkeit warf er sich auf die Couch und schaltete das Fersehgerät an. “Mist! Ich hab den Wein vergessen!”
Gunnar hasste Menschen. Das war natürlich etwas krass ausgedrückt, aber es entsprach absolut der Wahrheit. Näher kam man an die Wahrheit mit Worten nicht heran. Gründe dafür gab es durchaus genug. Aber Gründe änderten nun einmal auch nichts an der Realität. Es war wie es eben war. Menschen waren Gunnar zuwider. Er konnte absolut nichts mit Ihnen anfangen. Sie waren durchtrieben, hinterhältig, gemein und schlecht. Das war Realität. Und auch wenn es dafür Gründe geben mochte, sie interessierten ihn nicht. Schließlich hatte er nichts davon. Das machte die Menschen an sich nicht besser. Dafür gab es das Fernsehen. Fernsehen war oft realer und ehrlicher, als vieles, was vor seiner Haustüre passierte. Deswegen liebte er diese Doku-Soaps so sehr. Jämmerlich schlechte Schauspieler versuchten Alltag zu spielen. Als ob irgendwen interessieren würde, was Alltag ist. Aber durch all die kombinierten Unfähigkeiten entstand etwas reales, das genau Gunnars Menschenbild entsprach und ihn in seinen Ansichten beruhigend bestärkte. Und natürlich half der Alkohol, das ganze im richtigen Licht zu sehen. Aber das galt ja generell, schließlich machte er das Leben erst erträglich.
Was hatte er gelernt aus Travemünde 0815? Die Welt war voller Intrigen. Jeder wartete nur auf seine Chance, einen anderen auszubeuten. Darauf war schließlich alles ausgerichtet. Als einfacher Bauer hatte man keine Chance in diesem Schachspiel der finsteren Mächte. Sie sorgten schon dafür, dass man nicht zuviel erreichte, schließlich waren die Legionen entbehrlicher Figuren beinahe ohne Ende. War man nicht artig, würde man geopfert, so einfach war das. Wollte man mehr erreichen, als einem zugedacht war, wurde man entsprechend in die Schranken gewiesen. Gefiel einem das nicht, wurde man geopfert. Verhielt man sich still und leise auf seinem Platz, hatte man ganz gute Überlebenschancen. Wurden jedoch in der Stufe über einem Fehler gemacht, brauchte man wieder Opfer. Und natürlich suchte man die nicht auf den Ebenen, wo die wichtigen Menschen beheimatet waren. Hatte man das sinkende Schiff nicht rechtzeitig verlassen, wurde man geopfert. Der moderne Mensch echauffierte sich gern über die vielen Opfer in den verschiedenen heiligen Büchern der Menschenheit. Aber das Tier oder der Mensch hatten es wenigstens relativ schnell hinter sich. Die modernen Opferriten des Arbeitsleben ließen einen schön langsam sein ganzes Leben lang sterben. Das war human. Das war sozial. Das war nicht Gunnars Welt. Nicht mehr.
Es hatte durchaus Zeiten gegeben, in denen er das anders gesehen hatte. Zeiten in denen er verblendet auf alles hereingefallen war, was man ihm sagte, in denen er allem was die Lügenpresse schrieb und sendete absoluten Glauben schenkte. Für Gunnar hatte die moderne Welt Züge einer Psychosekte gigantischen Ausmaßes. Und wie in allen Gemeinschaften, waren Aussteiger nicht sonderlich angesehen. Das hatte er schnell gemerkt. Aber was konnte man schon dagegen tun? Gegen eine Gemeinschaft, die sich der Freiheit versklavte? Einer Freiheit, die sie perfekt kontrollierte, in der sogar die Gedanken nicht mehr frei waren. Es war aussichtslos, das war ihm klar geworden.
Freiheit! Was für ein wunderschönes Wort! Was für ein schönes Konzept! Eine wahrhaft gute Idee! Gunnar musste lachen. Selten ist eine so gute Idee, so gnadenlos gescheitert. Und noch seltener haben so wenige bemerkt, wie grandios sie gescheitert ist! Es war wirklich eine Meisterleistung der Gesellschaft. Egal ob Politik oder Wirtschaft, sie schafften es eine Art kollektives Gefühl der Freiheit zu schaffen, ganz gleich wie sehr sie den Menschen immer weiter einengten. Und die Bevölkerung spielte mit, schließlich wollte keiner sozial abrutschen. Diese Angst war allgegenwärtig und die wirkungsvollste Waffe, die man sich in diesem Zusammenhang vorstellen konnte. Angst würde die Menschen gefügig machen, das wusste schon Darth Vader. Der Vergleich zum Imperium war unausweichlich, oder? Gunnar wunderte sich, warum das außer ihm nur so wenige bemerkten. Weil sie nicht gut angesehen sind? So wie ich? Genau konnte er es natürlich nicht sagen, aber der Mensch war nun mal ein Herdentier. Und die Herde der Abweichler war kleiner und ärmer. Das machte sie nicht gerade attraktiv. Schneller Erfolg ist sexy. Das ist es, was die Menschen wollen. Das ist es, was ihnen präsentiert wird. Dass die wenigsten diesen Status erreichten spielte keine Rolle, denn offiziell hatte jeder die gleichen Möglichkeiten. Wer sich genug anstrengte hatte auch Erfolg. So lautete die einfache Formel. Und gleichzeitig eine der größten Lügen überhaupt. Aber es war wie überall im Leben. Je größer die Lüge, desto wirkungsvoller und glaubwürdiger war sie für viele und desto schwerer war es auch, sie irgendwann als solche zu akzeptieren, schließlich ging oft genug ein schmerzhafter Gesichtsverlust damit einher. Da war es doch viel angenehmer, die Lüge weiter zu leben und sich selbst immer tiefer rein zu reiten, bis es kein zurück mehr gab. Wenn es dann tatsächlich irgendwann zum großen Knall kam, konnte man sich wenigstens auf ein bisschen Mitleid von seinen Mitmenschen verlassen. Wem das nicht genug war, dem blieb immer noch der nächste Schnellzug. Die Erfahrung zeigte, dass das diese Option nicht allzu selten gewählt wurde. Wenn es dann “gut” lief, war der Preis am Ende nur ein einziges Menschenleben. Nicht selten waren die Kosten jedoch wesentlich höher, entweder direkt oder indirekt, schließlich zerstörte derjenige oft zumindest das behütete, normale Leben anderer unmittelbar Betroffener. Gunnar hatte solche Menschen getroffen. Früher, in seinen besseren Zeiten. Gestandene Männer mit Verantwortung über hunderte Menschenleben, die nach einem “Personenschaden” nur noch ein Häufchen Elend waren und teilweise schon Panik bekamen, wenn sie einen Zug nur hörten, oder in die Nähe von Schienen kamen. Daran dachte natürlich keiner. War ja auch nicht nötig, wenn man tot war. Egoisten eben. Überall.
Gunnar verstand nur zu gut, dass immer mehr Menschen der Realität nicht mehr besonders viel abgewinnen konnten. Bei ihm selbst war das ja nicht anders. Aber immerhin stellte er sich dem Leben und ließ sich dafür bezahlen. Es war nicht seine Schuld, dass die Gesellschaft so mies konzipiert war. Er hatte alles versucht, er hatte sein Bestes gegeben. Und was hatte er dafür bekommen? Einen Tritt in den Allerwertesten. Warum also sollte er sich anstrengen? Die Gesellschaft brauchte ihn nicht mehr, das hatte er mehr als deutlich klar gemacht bekommen. Warum sich aufdrängen? Dazu war er nicht der Typ. Das hatte er nicht nötig. Dann doch lieber Fusel und im TV 0815-Einwohner einer x-beliebigen Stadt und schwangere Kids, die von vornherein kaum noch Chancen hatten groß über das Sozialhilfeniveau hinaus zu kommen. Das war wie mit den Kackröhrchen. Da klebte man manchmal einfach Sternchen drauf. Warum? Damit der Sammelkot zuordenbar war. Machte das Sinn? Nein, natürlich nicht, genau wie das Leben. Aber mit Sternchen ist es einfach ein bisschen hübscher und erträglicher. Kein Wunder also, dass die Sender voll von Magazinen war, die Promis und deren Belanglosigkeiten investigativ und journalistisch extrem wertvoll aufbereiteten. Immer noch besser als Lügenpresse! Gunnar wusste das natürlich, er hatte schließlich den Durchblick. Was ihn aber nicht daran hinderte, zu deren Erfolg beizutragen, auch wenn er niemanden hatte, mit dem er darüber sprechen oder vor dem er mit seinem Halbwissen brillieren konnte. Sein Sohn hörte ihm gar nicht erst zu. War auch besser so. Der war eine einzige Enttäuschung. Schon seit seiner Geburt.
“Bei einem schweren Brandanschlag ist heute das städtische Flüchtlingsheim fast vollständig abgebrannt. Glücklicherweise stand es aufgrund geplanter Renovierungsarbeiten fast vollständig leer. Ein letzter Bewohner, der das Heim diese Woche verlassen sollte, kam mit leichten Verletzungen davon. Handelte es sich um einen bewussten Anschlag auf diese Person, oder gingen der beziehungsweise die Täter von einem leeren Gebäude aus? Die Polizei geht von einem fremdenfeindlichen Motiv aus und hat eine Sonderkommission eingerichtet. Die weiteren Hintergründe sind noch völlig unklar. Es bleibt die Frage, wie so ein Anschlag unbemerkt am hellichten Tag stattfinden konnte. Wir halten Sie über die Ermittlungen auf dem Laufenden…”
Die Durchsage hatte ihn wieder in die Gegenwart zurück geholt. Brandanschlag? Hier? Wer tat denn sowas? Dann machte irgendetwas klick in seinem Kopf und er wurde traurig. Schweigend öffnete er den Browser auf seinem alten Laptop und klickte auf das beinahe schon abgenutzte Lesezeichen. Wie lange hatte er das schon nicht mehr getan. Jetzt, hier und heute, war der richtige Zeitpunkt, dieser Seite wieder einmal etwas mehr Beachtung zu schenken. Schließlich …
*Liebes Blog,
heute war ein toller Tag. Ich habe einen tollen Mann kennengelernt. Der ist genauso, wie ich ihn mir vorstelle. Also so in etwa. Auf jeden Fall hat er mir heute ein Auto verkauft und war total nett dabei. Ich glaube irgendwie, fand er mich schon auch gut. Ich wollte nämlich eigentlich das rote Auto kaufen, aber er hat mir gesagt, das blaue wäre in einem besseren Zustand und ich hätte sicher viel mehr Spaß damit. Größer ist es auch. Nicht schlecht! Das war echt nett von ihm. Jemand anders hätte mir bestimmt was aufgeschwatzt, aber er hat mir gesagt, was ich alles nicht brauche und wie ich am günstigsten dabei weg komme. Ich glaube sein Chef fand das nicht so gut von ihm, aber das schien ihm egal zu sein. So wie er gegrinst hat, denk ich schon, dass er mich auch gar nicht so dämlich fand. Optisch macht er auch einiges her. Ziemlich genau mein Typ. Aber ein Autoverkäufer? Ich weiß nicht. Da muss ich noch eine Nacht drüber schlafen. Genau wie über das Auto. Mal sehen was ich morgen dann so denke.
-Caroline-*
So hatte alles angefangen. Damals, als die Welt noch in Ordnung schien und Gunnar nichts vom Ernst der Lage geahnt hatte. Da kannte ich auch ihren Blog noch nicht. Der war sehr aufschlussreich. Vielleicht hätte ihr jemand mal das Prinzip eines Online-Blogs erklären sollen. Auf den hat eben jeder Zugriff. Aber es war wie eine Zeitreise, zurück in eine bessere Zeit. Er musste einfach weiter scrollen, wie jeden Donnerstag.
*Liebes Blog,
wow ist der toll. Ich hab noch nie so einen netten Mann kennengelernt. Obwohl er nur Autos verkauft. Ich weiß nicht wie ich das beschreiben soll, er behandelt mich irgendwie als Mensch, nicht als Objekt. Verstehst du was ich meine? Ich verstehe es ja selbst nicht. Alles nicht so einfach, aber schön. Ich denke ich sollte ihm eine Chance geben. Das Auto hab ich jedenfalls gekauft. Mal sehen ob es noch eine Zugabe gibt. Für Freitag hat er mich zum Essen eingeladen. Ein Date, wie retro. Aber für die ersten beiden bin ich ja zu nichts verpflichtet. Mal sehen wo das hinführt. Ich bin jedenfalls voll gespannt.
-Caroline-*
Das erste Date. Er erinnerte sich noch gut daran. Er hatte sie zu einem Italiener ausgeführt, weil ihm nichts besseres eingefallen war. Pizza und Pasta geht immer. Die zwei großen P’s der Menschheit. Anfangs glaubte er tatsächlich, ein bisschen Enttäuschung in ihren Augen erkennen zu können. Aber die hatte sich schnell gelegt. Aus einem ihm damals nicht ersichtlichen Grund, schien er tatsächlich Eindruck auf sie zu machen. Es war ein netter Abend. Er brachte sie zum Bus und ging dann nach Hause, wo er die ganze Nacht nicht schlafen konnte. Ja. Das war sie. Er war sich sicher.
*Liebes Blog,
ich will dir das eigentlich gar nicht sagen. Es ist nämlich ein Geheimnis. Aber es bleibt ja unter uns, oder? ICH BIN VERLIEBT! Das glaubst du mir jetzt nicht, oder? Aber ich mein es ernst, ehrlich! Ok, erst mal war ich richtig geschockt. Führt der mich doch echt zu einem 0815-Italiener aus. Was soll das denn? Das ist doch keine Romantik! War es auch nicht. Aber ich konnte ihm ja nicht sagen, dass ich am liebsten gleich wieder gegangen wäre. Der Wein war nix, die Spaghetti ok, das Ambiente solala. Aber der Mann… Ich sags dir, ein Traum. Ich kann es noch gar nicht richtig fassen, dass ich so wenig über ihn weiß. Das hat aber einen Grund: Der hat mir zugehört. All meine langweiligen Männergeschichten hat er über sich ergehen lassen. Ich hab mir gedacht, ich gebs ihm gleich mal richtig dicke, damit ich weiß woran ich bin. Aber er hat alles geschluckt, ist nicht ausgerastet, wirkte total verständnisvoll. Ey wo gibts denn sowas noch??? Und hinterher war er echt total süß. Ich kenn mich ja aus. Normal wollen alle ran. Ist ja auch kein Wunder bei meinem Körper. Aber er? Echt lieb und anständig. OK, war ja auch erst das erste Date. Das stört andere aber auch nicht. Jedenfalls wars schön. Und er will mich echt wiedersehen. Ich hab natürlich zugesagt. Das zweite Date stellt die Weichen. Ich werde ihn testen. Wünsch mir Glück!
-Caroline-*
Gunnar hatte natürlich genauso mit ihr gespielt, wie sie mit ihm. Er war ja nicht blöd. Wie oft bekam ein einfacher Mann wie er schon die Chance auf eine Traumfrau wie sie? Eben. Deswegen hatte er sich natürlich angestrengt, aber ihm war klar gewesen, dass seine Restaurant-Auswahl sie unmöglich begeistern konnte. Das war eine andere Liga, als die in der sie sonst spielt, aber es war die einzige Liga, die er sich leisten konnte. Ihre Chance zu fliehen, wenn sie ihn für unter ihrer Würde befand. Gunnar hatte fast damit gerechnet damals. Aber es machte ja auch keinen Sinn, ihr etwas vorzuspielen, was er nie würde halten können. Er war einfach er selbst gewesen. Was sie daraus machte, war alle ihre Sache, auch wenn er sich natürlich gefreut hatte, dass sie einem zweiten Date zugestimmt hatte.
*Liebes Blog,
es ist passiert. Jetzt gibt es kein zurück mehr. NEIN! Nicht was du jetzt denkst. Es war doch erst das zweite Date und er hält sich natürlich an die Regeln, so korrekt wie er ist. Aber trotzdem. Es ist unausweichlich. Ich habe dem dritten Date zugestimmt. Und wir beide wissen, was das bedeutet. Es wird ernst. Nein, das ist es schon. Es ist mir unheimlich ernst und ich kann dir gar nicht genau erklären warum. Ich weiß echt nicht, was ich an ihm so anziehend finde. Er ist das komplette Gegenteil von allen Männern, mit denen ich bisher zusammen war. Dass das kein Qualitätsmerkmal bisher war, ist mir auch klar. Aber jetzt? Jetzt ist auf einen Schlag alles irgendwie anders. Ehrlich! Du musst mir glauben. Ich fühl mich wie ein verliebtes Mädchen. Eines das noch an das Gute im Mann glaubt. Dass sie nicht alle nur auf Sex aus sind. Er hat mir dieses Gefühl zurück gegeben. Und was soll ich sagen? Es ist schön! Es geht mir gut. Ich bin glücklich. Das ist Liebe. Ganz egal was er beruflich macht und ob mir das Status genug ist. Er ist der eine, der alles verändert. Jetzt verat ich dir wo wir heute waren. Das glaubst du nicht! Ich sags ganz leise, damit es sonst keiner mitkriegt: Currywurstbude… Das schockt dich jetzt, oder? Du denkst sicher, dass ich spinne. Aber weißt du was? Du hast keine Ahnung. Du kennst ihn nämlich nicht. Und ich bin es leid für Männer nur ein Betthäschen und Statusobjekt zu sein. Jetzt ist er dran. Übermorgen sehen wir uns wieder. Ich weiß nicht was er vorhat, aber ich bin bereit dazu. Es ist was Ernstes. Ich habe noch nie bis zum Sex-Date gewartet. Es kann also nur besser werden. Wünsch mir Glück!
-Caroline-*
Und es war tatsächlich ein tolles Date geworden. Gunnar konnte sich noch gut daran erinnern. Zum ersten Mal hatte er sich ein bisschen Mühe gegeben und sie in ein schickes Restaurant ausgeführt. Wie gut, dass er etwas angespart hatte. Er fand es echt unglaublich, was man inzwischen fürs Essen ausgeben musste. Aber gut, manchmal musste man eben investieren um etwas erreichen zu können. Und das hatte er getan. Er hatte sich in seinen feinsten Zwirn geworfen und war eine Ausgeburt an Charme, Freundlichkeit und Aufmerksamkeit gewesen. Er wusste ganz genau, was sie an diesem Abend von ihm erwartete und er war bereit, fast all ihre Erwartungen zu übertreffen. Eine Grenze hatte er sich allerdings noch gesetzt, die er nicht überschreiten wollte. Das hatte er ihr sogar direkt beim Essen noch erklärt. Nicht aus moralischen, eher aus taktischen Gründen. Und so hatte er sie ganz brav nach Hause gefahren, hatte ihr einen Kuss auf die Wange gegeben und sich ganz gentlemanlike verabschiedet.
*Liebes Blog,
DAS IST ER! Ich bin ganz sicher. Ich kann dir gar nicht beschreiben, wie ich mich gerade fühle. Ja ich weiß, das hab ich schon so oft gesagt, aber diesmal … Diesmal ist wirklich alles anders. Ganz im Ernst. Wie soll ich das sagen? Wir hatten ja unser drittes Date. Und du weißt was passiert ist? Nichts! Nichts außer einem sehr guten und sehr angenehmen Essen. Und es war wirklich ausgezeichnet. Er hat sich richtig schick gemacht für mich und das Restaurant war auch super. Ob er sich das leisten konnte? Ich glaub er hat sich ganz schön in Unkosten gestürzt für mich. Total lieb, aber das war er ja auch vorher schon. Jetzt hat er nur noch eine Schippe drauf gelegt. Tolles Essen, toller Wein, tolle Atmosphäre. Ich war hin und weg und wollte ihn wirklich dafür belohnen, auf meine Art eben. Ich mein immerhin war es das dritte Date. Aber er hat mir den Wind aus den Segeln genommen und mir während des Essens noch erklärt, dass da heute nichts laufen würde. Er wüsste natürlich, was man so im Allgemeinen für Erwartungen an das dritte Date hatte, aber er wäre niemand, der sich sein Leben und Verhalten von solchen gesellschaftlichen Zwängen diktieren lasse. Ich muss ihn ganz komisch angeguckt haben. Aber er ließ sich nicht irritieren. Er wolle mich erst noch ein bisschen besser kennenlernen und schließlich hätte er vor noch viel Zeit mit mir zu verbringen. Den Sex bräuchte man also nicht zu überstürzen, dafür würden wir uns hoffentlich noch ausgiebig Zeit nehmen. Kannst du dir das vorstellen? Das ist mir ja noch nie passiert! Normal können die Kerle gar nicht schnell genug mit mir im Bett landen. Und wenn ich dann mal von sowas wie einer gemeinsamen Zukunft anfange, sind sie ganz schnell verschwunden weil ich sie so einenge. Und jetzt das. Gunnar ist echt das komplette Gegenteil. Das kann doch nur ein gutes Zeichen sein, oder? Ich bin jedenfalls hin und weg. Endlich jemand, dem wirklich etwas an mir liegt und nicht nur an diesem tollem Körper. Für mich klingt das nach einer ziemlich guten Partie. Wünsch mir Glück!
-Caroline-*
“Das war ich wirklich. Hättest du das doch nur nie vergessen! Es hätte nicht so enden müssen!” Gunnar seufzte. Es hatte wirklich alles ganz gut angefangen damals. Caroline war eine tolle Frau um die ihn jeder beneidete. Nur seine Mutter war da irgendwie anderer Ansicht. Egal. Er hatte sich sein Glück hart erarbeitet. Er hatte viel investiert und alles auf eine Karte gesetzt. Und jetzt wo er tatsächlich gewonnen hatte, konnte er sich das nicht mehr kaputt machen lassen. Ok, ich hatte es auch nicht wirklich so schwer. Sie hatte zwar einen ansehnliches Äußeres, aber Innen war sie nicht gerade mit übermäßig Intellekt gesegnet. Doch welcher Mann fragte da schon groß danach. Sie hat sich mir ja praktisch auf dem Silbertablett präsentiert in ihrem Blog. Ich musste nur aufmerksam lesen und das in mein Verhalten und unsere Gespräche mit einfließen lassen. War nicht so schwer. Tatsächlich hatten sie sogar relativ schnell geheiratet. Das Leben war traumhaft gewesen zu dieser Zeit. Er liebte sie wirklich. Er war glücklich und hatte den Eindruck dass sie es auch war. Aber dann, dann änderte sich alles. Gunnar scrollte weiter durch den Blog, bis er die passende Stelle gefunden hatte.
*Liebes Blog,
ich weiß du hast es mir gesagt. Du warst gleich skeptisch gewesen, aber ich wollte nicht auf dich hören. Es war einfach zu schön, zu verlockend. Und jetzt? Jetzt hab ich den Salat. Was soll ich nur tun? Ich weiß es einfach nicht. Aus der Nummer komme ich doch nie wieder unbeschadet raus. Nicht ohne als undankbare blöde Kuh dazustehen. Ach es ist zum Haare raufen. Wie konnte ich mich nur so täuschen. In mir, in ihm, in unserer Zukunft? Er war glücklich, wie er war. Und ich? Ich wusste das und ich hab mir eingeredet, dass ich auch glücklich wäre und dass ich tatsächlich endlich mal in die andere Richtung gehen sollte, anstatt mich immer nur von irgendwelchen Karrieretypen ausnutzen zu lassen, die was nettes fürs Bett brauchten. Keiner von denen hat mich gut behandelt. Die haben mich alle einfach abserviert, als ich nicht mehr das war, was sie wollten. Ich wollte so sehr, dass es mit Gunnar anders wird, besser wird. Und das war es auch. Gunnar ist ein guter Mann. Er würde mich nie schlecht behandeln. Aber ich, ich bin einfach nicht so. Mir ist das einfach nicht genug. Ich weiß, das ist schrecklich fies und egoistisch von mir, aber ich kann doch meine Gefühle auch nicht ewig unterdrücken und mir fehlt einfach was. Gunnar ist so glücklich und zufrieden mit sich, seinem Job und seiner kleinen heilen Welt. Aber mir ist das zu klein. Ich will nicht so klein bleiben. Ich brauche Ziele und Aussichten. Ich brauche einen Mann der ehrgeizig ist, der versucht im Leben voran zu kommen. Der mit mir gemeinsam Risiken eingeht und gemeinsam mit mir in die gleiche Richtung geht. Aber das ist nun mal nicht Gunnar und es ist ja auch nicht seine Schuld. Es war mein Fehler. Ich hätte mich besser kennen müssen. Aber jetzt… Ich weiß auch nicht. Ich kann mit ihm nicht darüber reden. Das wäre viel zu peinlich. Und ja, es ist wirklich egoistisch von mir. Das weiß ich. Ach ich wünschte nur, er würde sich einen Ruck geben und mal aus seiner kleinen Wohlfühloase ausbrechen. Dieser Job ist eine Sackgasse. Da wird er nicht weiterkommen. Ja, er bringt gutes Geld, aber eben gar keine Aufstiegschancen. Und das wo gerade überall Leute gesucht werden. Die Banken schäffeln Milliarden. Daran könnte er teilhaben. Bänker sind angesehen. Sie verdienen auch nicht schlecht und vor allem stünden ihm alle Aufstiegschancen offen. Aber ich weiß, dass ich das nicht von ihm verlangen darf. Er ist nicht der Typ dafür. Ich werde damit leben müssen. Keine Ahnung, wie das in der Zukunft gehen soll. Aber erst mal bleibt mir nichts anderes übrig. Wobei… Eine Möglichkeit gäbe es schon noch. Wünsch mir Glück!
Caroline*
So hatte Gunnar das bis dahin nicht gesehen gehabt. Er hatte immer gedacht, sie wären beide glücklich, aber jetzt? Er konnte doch schlecht zulassen, dass seine Frau so leiden musste. Er hatte sie haben wollen, obwohl er nicht nicht in ihrer Liga spielte und sie hatte sich für ihn entschieden. Sollte er da nicht wenigstens versuchen, ihr ein bisschen was bieten zu können? Sollte er nicht auch ein bisschen mehr geben? Liebe ohne Schmerz gab es nun mal nicht. Falscher Stolz würde hier nicht weiterhelfen. Es lag an ihm, eine Entscheidung zu treffen. Aber erst mal würde er eine Nacht darüber schlafen. Im Eifer des Gefechts sollte man keine richtungsweisenden Entscheidungen fürs Leben treffen.
*Liebes Blog,
ich fühle mich so schlecht. Ich bin an allem Schuld, das weiß ich jetzt. Ich hätte das nie tun dürfen, aber jetzt ist alles zu spät. Wer hätte das auch kommen sehen können? Niemand hat damit gerechnet. Keiner hat das erwartet, aber das macht es ja nicht besser jetzt. Ich bin ein schlechter Mensch. Das bin ich wirklich. Ich habe Gunnar bestärkt, den Job in der Bank anzunehmen. Ich wusste doch, dass er da unglücklich sein würde, aber für mich war es besser. Er hat sich nie wohl gefühlt dort. Die haben jemand aus ihm gemacht, der er nicht war. Der liebe, nette, fröhliche Gunnar ist verschwunden. Er leidet, das sehe ich ihm an. Er leidet sehr. Das sind aber auch Schweine. Ich hätte es wissen müssen. Warum nur hab ich ihn zu den Haifischen ins Becken gestoßen? Warum nur? Natürlich konnte er sich dort nicht durchsetzen. Natürlich war es ein Wunschtraum gewesen, dass er dort grandiose Aufstiegschancen hätte. Die bekamen nur die Haie. Gunnar war eher ein Nemo. Klein, süß und gutherzig. Und selbst das haben sie aus ihm raus bekommen. Diese Schweine! Das war volle Absicht, um ihm weh zu tun. Die wollten ihn klein kriegen und das haben sie geschafft. Wie kann ich Gunnar nur je wieder glücklich machen? Wie kann ich ihm nur helfen? Viel fällt mir nicht ein. Aber eines kann ich noch tun. Es ist nicht viel. Obwohl, eigentlich ist es eine große Sache. Und es widerstrebt mir, aber jetzt bin ich mal dran. Auch ich muss Opfer bringen. Ich muss einfach. Das hat er einfach verdient. Wünsch mir Glück!
Caroline*
Gunnar lachte. Er konnte sich nur zu gut, an diesen Tag erinnern. Einer der schlimmsten in seinem Leben. Der erste Tag vom Anfang des Endes. Natürlich hatten sie ihn damit beauftragt. Caroline hatte recht. Sie hatten ihn klein kriegen wollen und sie hatten es geschafft. Es hatte ihm das Herz gebrochen, aber er hatte keine Wahl gehabt. Er musste zu seinem alten Chef, einem herzensguten Menschen, der immer aufrichtig und ehrlich zu ihm gewesen war, und ihm die schlechte Nachricht überbringen. Zahlungsrückstand. Pfändung. Dabei war es nicht seine Schuld gewesen. Die Kunden zahlten einfach nicht mehr so zuverlässig. Sie ließen sich Zeit, trieben so einen guten Mann in die Pleite. Und er, er war jetzt der Vollstrecker und durfte die Hiobsbotschaft überbringen. Er konnte die Situation noch heute vor sich sehen. Den ungläubigen Blick. Das flehentliche Bitten, ihm doch noch etwas Zeit zu geben. Die immer wiederkehrende Frage, ob Gunnar nicht irgend etwas machen könne, schließlich wäre er doch praktisch ein Teil der Familie. Doch er konnte nicht. Ihm waren die Hände gebunden. Sie weinten beide, umarmten sich, verabschiedeten sich. Gunnar versicherte noch einmal, wie Leid es ihm tat, wie ungerecht er das fand, aber es half eben nichts. Statt zurück ins Büro fuhr er direkt nach Hause. Sollten sie ihn doch die Stunden nacharbeiten lassen. Ihm war das alles egal. Später am Abend war dann Caroline nach Hause gekommen. In ihren Augen hatte er gleich gesehen, dass etwas nicht stimmte. Ihr Versuch, die Tränen zu unterdrücken, war gründlich gescheitert gewesen. Sie nahm ihn an der Hand, setzte ihn auf einen Stuhl und sah ihn an. “Ich muss dir leider etwas sagen. Ich habe etwas Schlimmes erfahren.” Dann hatte sie sich auf seinen Schoß gesetzt und ihn in den Arm genommen. “Dein früherer Chef … Er … ist tot. Wie es aussieht hat er sich das Leben genommen. Es tut mir so leid.”
Dann war ihm schwarz vor Augen geworden und er war erst am nächsten Morgen wieder zu sich gekommen.
*Liebes Blog,
es hat geklappt. Ich bin sooo glücklich. Wir hatten es echt schwer, aber nach all den Rückschlägen, geht es jetzt vielleicht endlich wieder aufwärts. Ich hoffe Gunnar freut sich genau so sehr wie ich. Aber da bin ich mir ganz sicher. Auf jeden Fall wird es ihn endlich auf andere Gedanken bringen. Er hat so viel durchmachen müssen in letzter Zeit, aber jetzt ist es Zeit sich endlich mal wieder über etwas zu freuen. Ich habe mir das wirklich lange aus ausgiebig überlegt, schließlich ist das ja schon mehr oder weniger eine Entscheidung fürs Leben. Inzwischen bin ich mir absolut sicher, dass es die richtige Entscheidung war. Das Kind wird unser Leben noch einmal ganz neu bereichern und unserer Ehe frischen Wind einhauchen. Es wird uns wieder zusammen schweißen. Das brauchen wir jetzt. Gunnar wird ein wunderbarer Vater sein, er kann sicher gut mit Kindern. Und ich? Ich werd schon noch in die Rolle reinwachsen irgendwie. Mutter kriegt doch jeder hin, auf die eine oder andere Weise, so schwer kann das nicht sein. Angst hab ich eigentlich nur vor der Geburt an sich. Der Rest wird sich geben mit der Zeit. Jetzt muss ich es nur noch Gunnar irgendwie beibringen. Die Pille ist ja auch nicht soo sicher. Da gibts eben immer ein Risiko. Aber dieses Mal hat das Risiko wenigstens ein schönes Ergebnis hervor gebracht. Wir werden glücklich sein. Endlich wieder glücklich, wie wir es ganz am Anfang waren, als noch alles ganz neu und unverbraucht war, als wir uns kennen und lieben gelernt haben. Genau so eine Veränderung wird das jetzt wieder. Wir brauchen sie, das spüre ich ganz deutlich. Wir brauchen frischen Schwung, mit dem wir das Leben wieder besser bewältigen können. Dann wird auch die Liebe wieder zurück kommen, die uns anfangs verbunden hat. Ganz bestimmt. Ich freue mich richtig auf das Kind und unsere neue Zukunft. Jetzt kann ich es kaum erwarten, Gunnar die tolle Neuigkeit zu sagen. Wünsch mir Glück!
-Caroline-*
Oh ja, das war eine grandiose Neuigkeit gewesen. Gunnar erinnerte sich noch als wäre es erst gestern gewesen. So freudestrahlend fröhlich hatte er seine Frau ewig nicht gesehen gehabt. Doch es war nicht ein unerwarteter Lottogewinn, was sie so fröhlich machte, sondern eine Schwangerschaft. Er war sprachlos gewesen. Komplett überfordert mit der Situation. Eine Symphonie des Schweigens. Eigentlich hätte das nicht passieren können sollen. Kinder waren nie Teil seines Lebensplans gewesen und jetzt sollte sich alles ändern? Dagegen war der Jobwechsel ja nur ein einfaches Überqueren der Hauptstraße auf dem Zebrastreifen gewesen. Was da jetzt auf ihn zu kam glich eher einer Autobahnüberquerung mit verbunden Augen mitten im Verkehr, in der Dunkelheit, komplett in tiefstes Schwarz gekleidet. Diese Frau war wirklich ein Phänomen. Natürlich hatte er das von Anfang an gewusst. Genau das hatte sie ja so interessant für ihn gemacht. Aber Phänomene haben nun einmal auch die Angewohnheit, völlig unberechenbar zu sein. Er war sich also nicht mehr unbedingt sicher, ob das noch ein Kompliment war. Aber sie hatte gelächelt. Und ihr Lächeln war einfach immer unwiderstehlich gewesen, wie der Rest ihres Körpers. Damit hatte sie ihn immer gut im Griff gehabt.
*Liebes Blog,
was ist das nur für ein nerviges Kind. Immer schreit es. Immer will es was. Nie lässt es mich schlafen oder Spaß haben. Ich bin echt genervt. Warum haben die mir nicht eins von den guten gegeben im Krankenhaus? Das kann doch unmöglich mein Kind sein. Es hat überhaupt nichts von mir. Es ist hässlich, es ist laut und es nervt einfach nur. Außerdem hat es mich total fett gemacht. Ich kriege die Kilos einfach nicht mehr runter. Das war doch nicht der Deal! Das blöde Ding sollte uns glücklich machen, uns wieder zusammen bringen, uns helfen uns wieder besser zu verstehen und auf etwas gemeinsames zu fokussieren. Stattdessen ist es jetzt noch schlimmer. Wir haben kaum noch Zeit für uns. Ewig kommt das Baby dazwischen. Immer in den unpassendsten Situationen. Das kann doch gar nicht wahr sein. Kein Kino, keine Party, kein Sex. Ich krieg echt die Krise. Hoffentlich ist das bald vorbei. Auf Dauer halte ich das nämlich nicht aus. Da werd ich ja verrückt. Ich will endlich meine Ruhe. Wünsch mir Glück!
-Caroline-*
Caroline du warst echt verrückt. Wie konntest du nur so naiv und dämlich sein? Er scrollte einfach weiter.
*Liebes Blog,
ich muss dir leider sagen, dass es nicht wirklich besser wird, wenn das Kind größer wird. Der kleine Kerl will so viel Aufmerksamkeit, das gibts gar nicht. Zum Glück schreit er nicht mehr laufend und ich kann ihn auch endlich für längere Zeit vor dem Fernseher parken, aber trotzdem ist und bleibt er eine große Einschränkung für mich. Gunnar ist ja arbeiten, aber ich? Ich find momentan einfach nix und eine Kinderbetreuung ist in diesem Kaff auch schwer zu organisieren. Diese ganze Sache entwickelt sich mehr und mehr zum Albtraum. Ich würde so gerne aufwachen. Und Gunnar dankt es mir nicht mal. Für ihn hab ich das doch alles gemacht. Für ihn hab ich die Pille abgesetzt, hab mich schwängern lassen und war fett wie ein Wal. Und wie dankt er es mir? Mit Abwesenheit, körperlich und geistig. Nie sind wir richtig zusammen, immer ist er mit seinen Gedanken ganz wo anders. Wieso nur? Was hab ich ihm denn getan? Hab ich nicht alles getan, damit diese Ehe funktioniert? Hab ich nicht immer vollen Einsatz gebracht? Trotzdem steh ich jetzt alleine da. Das hab ich nicht verdient. Das ist nicht fair. Wirklich nicht. Lange kann das nicht mehr gut gehen. Irgend etwas muss ich ändern. Wünsch mir Glück!
-Caro-*
Wo sie recht hatte, hatte sie recht. Es war tatsächlich nicht mehr lange gut gegangen. Caroline war immer verrückter geworden. Sie war alles, nur keine Mutter. Das war sie tatsächlich nie gewesen. Er hatte sich immer wieder gefragt, welches Pferd sie geritten hatte, um auf eine so bescheuerte, ausweglose Idee zu kommen. Zu denken ein Kind wäre die Lösung für Beziehungsprobleme? In welcher Welt hatte diese Frau nur gelebt? Es hatte lange gedauert, aber schließlich hatte alles Sinn ergeben und das Schicksal seinen Lauf genommen.
*Liebes Blog,
es ist aus! Ich kann nicht mehr. Der
Junge ist jetzt alt genug und ich habe die Schnauze voll von dieser
Scharade. Was genug ist, ist genug. Die Würfel sind gefallen.
Ich habe gespielt und verloren, in jeder Hinsicht. Ich bin es leid!
Jetzt ist Zeit zu beichten. Dann bin ich weg. Liebes Blog, du wirst
es sicher schon gemerkt haben, ich bin nicht treu gewesen. Ich habe
seit Jahren eine Affäre mit einem heißblütigen
Italiener, der mir gibt, was ich brauche und noch viel mehr. Ich
würde jetzt gern sagen, dass alles nur ein Unfall war, eine
Dummheit, die ich mir nicht erklären kann, aber das wäre
gelogen und gelogen habe ich lange genug. Es war immer volle Absicht,
weil ich das gebraucht habe. Ich bin egoistisch. Ich kann nicht auf
treues Familien-Frauchen machen. Das ist einfach nicht meine Natur.
Ich brauche Freiheit! Ich brauche Abenteuer! Ich brauche
Leidenschaft! Ich brauche Spaß! Ich brauche Risiko. Ich brauche
alles, außer Alltag. Alltag ist einfach langweilig. Und genau
das war ich, total gelangweilt. Ich weiß, es meinten alle gut
mit mir, aber ich bin nicht gut. Das bin ich nie gewesen. Ich bin
eine egoistische Soziopathin. Ich lebe nur für mich und ich
sorge dafür, dass andere für mich leben und nach meiner
Pfeife tanzen. Das ist mein Lebenszweck. Nur so bin ich glücklich!
Das habe ich die letzten Jahre getan. Ich habe alle und jeden
manipuliert. Nur diese alte Fregatte von Schwiegermutter nicht. Die
hatte mich durchschaut und es war wirklich schwer, das Schiff
trotzdem auf Kurs zu halten. Eigentlich erstaunlich, dass ich das so
lange geschafft habe. Einen Orden sollte man mir dafür
verleihen, aber ok. Da es letztendlich zerschellt und ich als erster
von Bord gehe würde das wohl keiner verstehen. Ich bin kein
schlechter Mensch. Ich bin einfach eine Frau mit Bedürfnissen.
Und ich sehe nicht ein, warum ich auf irgendetwas verzichten sollte,
was mir zusteht. Ich habe ein Recht darauf. Ich darf auch leben. Ich
darf auch glücklich sein. Und ich habe echt genug davon, immer
zurückstecken zu müssen. Ich habe jetzt lange genug
gewartet. Der Junge ist alt genug. Die Beiden werden
auch ohne
mich zurecht kommen. Und wenn nicht, kann ich ihnen auch nicht
helfen. Jetzt bin ich dran! Keine Kompromisse mehr! Jetzt kommt meine
Zeit und ich werde es mir gut gehen lassen. Das habe ich mir echt
verdient nach all den Jahren. Ab morgen ist alles anders. Wünsch
mir Glück!
-Caro-*
*Lieber Gunnar,
ich bin sicher du hast inzwischen gemerkt, dass du “Das Blog” bist. Ich würde gern sagen, dass es mir leid tut, aber das wäre gelogen. Ich habe dich all die letzten Jahre betrogen. Ob der Kleine wirklich dein Sohn ist weiß ich nicht. Ist jetzt auch egal. Ich werde heute Nacht alles beenden, das mit dir und das mit meinem Liebhaber. Ich hoffe ihr kommt klar. Mach es gut und such dir eine Frau die zu dir passt.
Das heute Abend kann ungemütlich für mich werden. Wenn du alles gut geht, schreib ich dir von irgendwo auf der Welt. Wenn nicht, hörst du von meinem Notar und findest meine Leiche wahrscheinlich im Wald. Du weiß schon an welcher Stelle. Denk dir für den Kleinen eine gute Erklärung aus. Wünsch mir Glück!
-Caro-*
Das war der Startschuss gewesen. Der Startschuss in seinen Untergang. Der Zeitpunkt, an dem er erkannt hatte, dass Caroline die ganze Zeit nur mit ihm gespielt hatte. Die Erkenntnis traf ihn mit einer solchen Wucht, dass er sich nicht mehr davon erholen würde. Warum nur hatte er das nicht gemerkt? Warum hatte er nicht auf seine Mutter gehört, die Caroline noch nie hatte leiden können. Wie hatte er sich nur so leicht und so einfach manipulieren lassen können, auch noch in der Überzeugung besonders schlau zu sein. Sie hatte ihn geblendet, mit ihrem Aussehen und ihrer gespielten Naivität. Und er hatte sich bereitwillig blenden lassen. Es war zum Kotzen. Jetzt hatte er alles, was er nie gewollt hatte. Und er war allein mit all dem. Wie sollte er nur damit umgehen? Hatte er nicht schon genug um die Ohren? Jetzt auch noch allein erziehender Vater? Nein, das durfte nicht passieren. Sie durfte nicht gehen, sie durfte ihre Familie nicht im Still lassen. Sie hatte eine Verantwortung und der durfte sie sich jetzt nicht entziehen. Das würde er nicht zulassen. Das stand fest. Er würde Caroline aufhalten. Er würde sie zwingen, sich ihrer Verantwortung zu stellen. Sie hatte ihm ja gesagt, wo er sie finden würde. Vielleicht kam er noch rechtzeitig. Es gab nur einen Ort, den sie gemeint haben konnte. Ob sie da auch mit ihrem Liebhaber zugange gewesen war? Allein der Gedanke verursachte ihm schon Übelkeit. Was er dort wohl vorfinden würde? Musste er sich sorgen machen? Er konnte nur hoffen, wenigstens dieses Mal, die richtige Entscheidung zu treffen.
Mit Grausen dachte Gunnar an diesen Augenblick zurück. Er hatte sich seinen Sohn geschnappt, sich ins Auto gesetzt und war einfach los gefahren, ohne echten Plan, ohne zu wissen was ihn erwarten würde, einfach nur auf gut Glück und weil er das Gefühl hatte, dass es sein musste. Nicht gerade die besten Voraussetzungen für eine erfolgreiche Mission, das war ihm klar. Aber hatte er wirklich eine andere Wahl? Wo war denn die Alternative, für sich und für Hanno? Sie hatte ihnen alles genommen. Da war keine Hoffnung, keine Zukunft mehr. Alles war nur noch ein verschwommenes Etwas, weggespült von Tränen und Trauer. Die Zeit blieb nun mal nicht stehen. Da konnte er sich noch so sehr wünschen, dass er erst in Ruhe nachdenken und alles planen konnte. Aber da war sie wieder, die Realität, die einfach immer alles anders machen musste, als gewünscht. Er atmete tief ein und wieder aus. Dann bog er ab und fuhr über einen kleinen Weg in den Wald. Immer langsamer kam er voran. Immer wieder hatte er das Gefühl einfach im Morast zu versinken und fragte sich, ob das nicht die humanere Option gewesen wäre. Er schaltete das Licht aus, was das Fahren noch unangenehmer machte. Der einzige Lichtblick war Hanno, der in absoluter Stille auf dem Rücksitz saß und in die Dunkelheit starrte. Kein Stern, kein Mond war zu sehen, so dunkel war der Wald hier. Sie hatten diesen Ort geliebt. Ihre schönsten gemeinsamen Erinnerungen mussten sich genau hier treffen, wenn sie denn welche hatten. Und jetzt war auch Hanno wieder hier, wo alles begonnen hatte. So zumindest hatte Gunnar immer geglaubt. Jetzt war er sich nicht mehr sicher, zumindest nicht über seinen Anteil an Hanno. Der Weg endete an einer Schranke. Weiter ging es nur zu Fuß. Gunnar sah sich noch einmal um. Hanno saß noch immer friedlich auf der Rückbank, sonst nur Dunkelheit und Schwärze. Konnte er es riskieren? Hatte er eine Wahl? Caroline hatte angedeutet, dass es gefährlich werden konnte. Dieser Gefahr durfte er seinen Sohn nicht aussetzen. Was auch immer jetzt passieren würde, Hanno musste herausgehalten werden. Er sollte eine unbeschwerte Kindheit haben. Seine einzige Chance auf eine normale Zukunft. Er nahm seine Hand und schaute ihn liebevoll an. “Papa muss kurz in den Wald. Du bleibst schön hier, ok? Vielleicht kannst du ein bisschen schlafen? Du bist doch müde, oder? Ich bin gleich wieder zurück.” Hanno hatte nur genickt und sich dann ganz klein gemacht. Er war so ein braves Kind. Ein Grund mehr, um seine Ehe zu kämpfen. Hanno brauchte eine Mutter. Das stand für Gunnar außer Frage. Es gab einfach keine andere Option. Er musste das regeln, hier und jetzt. Er fühlte noch einmal in sich hinein. Sein Herz pochte immer heftiger, seine Hände waren eiskalt und zitterten, doch es fühlte sich richtig an. Wie um sich selbst Mut zu machen nickte er sich zu und öffnete die Autotür. Caroline könnte nicht weit sein.
Kaum war er ausgestiegen spürte Gunnar, wie seine Zuversicht immer mehr einem unbestimmten Gefühl der Angst Platz machte. Er konnte es direkt spüren, wie sie Millimeter für Millimeter durch seinen Körper kroch und immer mehr die Kontrolle übernahm. Seine Knie zitterten, sein Herz schlug als hätte es Angst kein Morgen mehr zu erleben, seine Gedanken rasten. Dunkelheit. Um ihn herum nichts als Dunkelheit. Nie hatte er eine tieferes, undurchdringlicheres Schwarz gesehen. Wieder versuchte er seine Nerven mittels Atmung wieder unter Kontrolle zu bringen, mit mäßigem Erfolg. Das Rauschen in seinen Ohren machte es ihm beinahe unmöglich, irgendetwas wahrzunehmen. Er musste sich beruhigen, sonst käme er keine zehn Meter weit ohne sich die Knochen zu brechen. Hilflos streckte er die Arme aus setzte langsam und vorsichtig einen Fuß vor den anderen, immer darauf gefasst, dass der Boden nachgab oder er über eine Wurzel stolperte. Doch es ging besser als befürchtet. Jeder Schritt landete auf festem Waldboden, die Zuversicht kehrte zurück. Bis er den Schuss hörte, der seinem Gesicht eine Blässe verlieh, die beängstigend gewesen wäre, wenn die Dunkelheit sie nicht so sicher verborgen gehalten hätte.
Völlig geschockt beschleunigte Gunnar seine Schritte und stolperte immer unbeholfener vorwärts durch den dunklen Wald. Es konnte nicht mehr weit sein. Irgendwo hier musste die kleine Lichtung aus zwischen den Bäumen auftauchen. Viel schlimmer als der laute Knall des Schusses war die darauf folgende absolute Stille. Gunnar lauschte alle paar Meter angespannt um auch noch das leiseste Geräusch zu erhaschen, doch außer seinen eigenen Füßen, die Äste und Blätter zertraten, war absolut nichts zu hören. Wie konnte das sein? Natürlich gab es eine ganz natürliche oder zumindest einleuchtende Erklärung. Wer auch immer den Schuss abgefeuert hatte, hatte sein Ziel erreicht und war lautlos entschwunden. War er zu spät gekommen? Hatte dieser italienische Mistkerl seine geliebte Caroline erschossen, die Mutter seines Sohnes? Das würde er büßen! Immer schneller rannte er durch den Wald, ließ alle Vorsicht fallen. Äste trafen ihn im Gesicht, Löcher und Wurzeln ließen ihn umknicken, aber er ignorierte den Schmerz der seinen Körper jetzt regelmäßig durchfuhr. All das machte ihn nur noch wütender und stärker, ließ seine Angst mehr und mehr in den Hintergrund treten. Was auch immer ihn auf der Lichtung erwartete, er würde damit fertig werden. Daran hatte er jetzt keinen Zweifel mehr. Wie aus dem nichts wurde ihm die Skurilität dieser Aktion bewusst. Mitten in der Nacht versuchte er in einem dunklen Wald eine Frau die zu retten, die ihn die ganze Zeit nur manipuliert, ausgenutzt und schließlich verlassen hatte. Machte das Sinn? Er dachte an den kleinen Hanno im Auto. Sicher, Caroline war keine tolle Mutter, aber immerhin war sie eine und Hanno liebte sie. Der Kleine brauchte seine Mutter, daran bestand kein Zweifel, also war es seine Pflicht, zumindest sein Möglichstes zu versuchen. Nicht versuchen! Tu es oder lass es! Er durfte nicht versagen. Niemals. Nein! Er würde nicht versagen! Das lag einfach außerhalb aller Wahrscheinlichkeiten. Es konnte nicht sein, was nicht sein durfte. Nie war er entschlossener gewesen. Nie hatte er sich stärker und einer Sache sicherer gefühlt. Jetzt war der Zeitpunkt, um für seine Familie Stellung zu beziehen. Jetzt galt es zu kämpfen. Ohne Kampf war alles längst verloren. Und eine Niederlage stand nicht zur Diskussion. Eine Niederlage würde er nicht akzeptieren. Er sammelte sich kurz und stürmte dann weiter in die Dunkelheit. Es dauerte tatsächlich nicht mehr lange, da lichtete sich der Wald und gab dem fahlen Mondlicht die Möglichkeit, etwas Licht ins Dunkel des Waldes zu bringen. Gunnar wurde langsamer und hielt sich an einem Baum fest. In einiger Entfernung konnte er jetzt zwei Personen erkennen. Das mussten Caroline und ihr Liebhaber sein. Erneut stieg die Wut in ihm auf, aber er bemühte sich ruhig zu bleiben um unbemerkt näher kommen zu können. Zumindest schien Caroline noch am Leben zu sein. Aber was war das dann für ein Schuss gewesen? Gab es etwa noch mehr Leute hier im Wald? Und woher hatten die eine Waffe? Doch das war nichts, worüber er jetzt nachdenken konnte. Vorsichtig schlich er sich näher, immer einen Fuß vor den anderen setzend, immer zunächst behutsam den Boden untersuchend, damit er keinen unnötigen Lärm verursachte. Das war leichter gedacht als getan. Immer wieder wurde der Boden weich und es war nicht leicht, das Gleichgewicht zu bewahren. Aber wenn er jetzt stolperte, war alles in Gefahr. An sich dachte er dabei am Wenigsten, aber an Hanno und Caroline. Er wollte nicht, dass irgendjemandem etwas passierte, schon gar nicht jemandem den er liebte. Also schob er sich vorsichtig weiter an das Geschehen heran.
Was er sah, machte ihm nicht übermäßig Mut. Caroline und der Italiener standen sich wild gestikulierend gegenüber. Ihre Stimmen waren zu hören. Gleichwohl er keine Worte verstehen konnte, war die Stimmung doch eindeutig gereizt, vielleicht sogar explosiv. Unheil lag in der Luft, das konnte Gunnar deutlich spüren. Fieberhaft überlegte er, was zu tun war. Was tat man in so einer Situation? Er war ein einfacher Büromensch, der den ganzen Tag mehr oder weniger im Sitzen verbrachte. Seine Fitness ließ mehr als nur zu Wünschen übrig, von einem Kampf ganz zu schweigen. Das wäre kein Kampf, das wäre ein Gemetzel. Und kein gutes für mich! Also musste er eine andere Lösung finden. Und zwar schnell. Er konnte nicht ewig einfach dastehen und beobachten. Früher oder später würde die Situation eskalieren. Aber er war allein. Das war ein Problem. Egal wie, er brauchte Hilfe. Deshalb entfernte er sich zunächst wieder, bis er keine Stimmen mehr hörte. Er hatte sich entschieden. Es gab nur eine Möglichkeit, also holte er sein Handy aus der Hosentasche und hoffte, dass er Empfang hatte. Sein Handy ließ ihn nicht im Stich. Schnell hatte er den Notruf gewählt, schilderte die Situation und hoffte, dass die Polizei seine Position möglichst genau orten konnte. Dann konnte er nur noch warten. Warten und hoffen. Neugierig schlich er wieder zur Lichtung zurück. Die beiden waren noch immer in ihren Streit vertieft, der an Heftigkeit eindeutig zugenommen hatte. Dann passierte es. Der Italiener holte aus und schlug zu. Die Wucht mit der er sie traf war unübersehbar, obwohl der Schlag auf den ersten Blick gar nicht so fest ausgesehen hatte. Ihr Kopf wurde zur Seite geschleudert und Caroline sackte zusammen. Das hinderte ihren Angreifer aber nicht daran, sie weiter anzuschreien. Immer wieder ging er auf sie zu wenn sie sich aufrappeln wollte und stieß sie erneut zu Boden. Caroline hatte keine Chance, Sie wirkte noch immer benommen, kam einfach nicht mehr auf die Beine. Das schien ihm zu gefallen. Er fing an sie zu verspotten und auszulachen. Und da erkannte Gunnar plötzlich die Waffe, die er in der Hand hatte. Deshalb hatte der Schlag so eine Wirkung gehabt. Das Schwein hat sie mit der Pistole ins Gesicht geschlagen! Was ist das nur für ein Mensch? Wie konnte sie sich nur auf so jemanden einlassen? Aber all diese Fragen, waren im Moment belanglos, denn Caroline hatte es geschafft wieder auf die Beine zu kommen. Sofort gab sie ihrem Angreifer verbal kontra. “Feiger Frauenschläger!” verstand Gunnar. Doch dann ging sie wieder zu Boden. Niedergestreckt von einem weiteren Schlag. Das konnte nicht mehr lange gut gehen. Gunnar musste etwas unternehmen, sonst würde seine Frau hier nicht lebend herauskommen. Er konnte nicht warten, bis die Polizei da war. Er musste handeln. Jetzt! Ohne weiter nachzudenken rannte er laut schreiend los. Der verdutzte Liebhaber schaute ungläubig in seine Richtung, drehte sich langsam um und versuchte die Waffe auf ihn zu richten. Aber Gunnar war schneller. Mit einem atemberaubenden Satz, flog er mit beiden Fäusten voran auf seinen Kontrahenten zu. Der hatte damit nicht gerechnet und konnte dem nichts entgegensetzen. Ohne Gegenwehr krachten Gunnars Fäuste ins Gesicht seines Widersachers, bevor der Schwung sie beide zu Boden warf.
Nur langsam rappelte sich Gunnar wieder
auf. Die Aktion hatte ihn angestrengt. So etwas war er nicht gewohnt.
Der Italiener lag noch, also schleppte er sich zu Caroline. Die sah
ihn an lächelte und umschlang ihn mir ihren Armen. Der
anschließende Kuss hatte nichts von einem Abschied, vielmehr
schmeckte alles nach Neubeginn. “Du bist mein Held!”
flüsterte sie ihm ins Ohr. “Ich hatte so gehofft, dass du
meine Nachricht verstehst und herkommst.”
Gunnar war noch
immer ziemlich verwirrt von allem. “Aber warum hast du das
getan? Warum hast du mich betrogen? Warum hast du dich mit ihm hier
getroffen?”
“Das ist eine lange Geschichte. Kann ich
dir die nicht lieber im Warmen erzählen?” Aber Gunnar ließ
nicht locker.
“Nein. Ich will das jetzt wissen. Warum willst
du Hanno und mich verlassen? Du kannst dich doch nicht einfach vor
der Verantwortung drücken!”
“Das will ich auch
gar nicht. Das wollte ich nie. Es stand nie zur Debatte euch zu
verlassen, Gunnar.”
“Aber dein Blog?”
“Mein
Blog hat genau das bewirkt, was er sollte. Dich zu fordern, dich
anzuspornen, dich über dich hinaus wachsen zu lassen. Du warst
einfach so trantütig früher. Und dann auch noch zufrieden
damit. Du hattest Angst vor jeder Veränderung. Nie wolltest du
etwas Neues. Nie hast du dir etwas zugetraut. Aber in dir steckt doch
so viel mehr. Dieses Potential wollte ich freilegen, verstehst du?
Deswegen hab ich den Blog geschrieben.”
“Du hast mit
mir gespielt meinst du!” Gunnars Laune war schlagartig dahin.
“Ich war dir einfach nicht gut genug und da hast du gedacht,
das kann man ja ändern? Oder war dir einfach langweilig und du
wolltest mal mit echten Menschen spielen? Das ist doch pervers! Ich
könnte kotzen!”
“Nicht doch, Gunnar. Jetzt hör
mir doch zu. Ich habe es für uns getan, für dich. Ich
wollte dir helfen. Ich wollte dir ein besseres Leben ermöglichen.
Ich wollte, dass du glücklicher bist. Zusammen mit mir! Ich habe
das für uns und unsere Zukunft getan!”
“Red dir
das nur weiter ein! Du hast es für dich getan und für
niemand sonst!”
“Hat es nicht funktioniert?”
“Was
denn? Der neue Job, den ich hasse? Der viele Stress? Die
Verantwortung für den Tod meines alten Chefs? Oh ja, dein Plan
hat wunderbar funktioniert!”
“Du bist ein undankbarer
Idiot, Gunnar. Kannst oder willst du nicht erkennen, dass dein Leben
eine Sackgasse war? Denkst du echt, du wärst von dir aus jemals
an eine Frau wie mich gekommen? Sei doch nicht so naiv. Ohne mich
wärst du alleine versauert an deinem tollen Schreibtisch in dem
wirtschaftlich einwandfrei dastehenden Autohaus! Ich hoffe du hörst
den Sarkasmus! Du hattest doch keine Ahnung vom Leben. Jetzt lebst
du! Jetzt bist du wer! Du warst ein Niemand vor mir!”
“Ein
Niemand, mit dem du deine Spielchen getrieben hast. Und ich bin drauf
reingefallen.”
“Und das hier ist alles nicht echt!
Denkst du wirklich ich treffe mich alleine mitten in der Nacht mit
einem Liebhaber im Wald, vor dem ich Angst habe? Aber es war ja klar,
dass du angerannt kommen würdest. Ich wusste, welche Knöpfe
ich drücken musste. Ich weiß wie man dich spielt. Ja, das
hier war alles inszeniert. Wir wussten, dass du uns beobachtest. Es
war der Plan, dass Mario mich schlägt, damit du mich retten
kannst. Verstehst du das nicht? Das war für DEIN
Selbstwertgefühl. Aber mit deiner Fragerei hast du alles kaputt
gemacht!” In diesem Moment fiel beiden auf, dass Mario noch
immer bewusstlos auf dem Waldboden lag.
“Hey Mario! Du
kannst wieder aufstehen. Die Show ist vorbei.” Aber Mario stand
nicht auf. “Du hast ihn wohl nicht übel erwischt. Hätte
ich dir gar nicht zugetraut. Mario ist Stuntman und kann einiges
einstecken. Komm wir schauen mal, dass er wieder zu sich kommt.”
Aber als sie neben ihm saßen, wurde ihnen klar, dass er nicht
zu sich kommen würde, ganz egal was sie taten. Fassungslos
starrten sie auf die Wunde, die der Stein in Marios Kopf hinterlassen
hatte. “Du hast ihn umgebracht. Bist du noch ganz dicht? Das
war ein Spiel! Mario ist tot! Du hast ihm den Schädel
zerschmettert! Was bist du nur für ein Irrer?” Caroline
wollte sich gar nicht mehr beruhigen. Immer wieder, immer heftiger
schlug sie auf Gunnar ein. “Jetzt beruhig dich mal! Das war ein
Unfall. Und überhaupt bist du doch an allem schuld. Hättest
du dieses kleine Spielchen hier nicht so überragend arrangiert,
würde der gute Kerl jetzt noch leben. Wie konntest du nur auf so
eine bescheuerte Idee kommen. Sogar die Pistole ist täuschend
echt!” Jetzt hielt er sie ihr direkt vors Gesicht. “Schau
selbst. Sogar jetzt wenn ich sie direkt in der Hand habe, wirkt sich
echt. Wie sollte ich da wissen, dass das gespielt ist? Ich dachte der
bringt dich um, du dumme Kuh! Oh wärst du doch nur echt
verschwunden! Wie soll ich das nur der Polizei erklären?”
“Der
Polizei? Bist du irre? Wir rufen doch jetzt nicht die Polizei!”
“Die
ist schon auf dem Weg. Hälst du mich etwa für so
beschränkt, dass ich mich ohne Rückendeckung mit einem
Killer anlege?”
“Jetzt wo du fragst: Ich halte dich
für über alle Maßen bescheuert! Du warst ein Idiot,
bist ein Idiot und wirst das auch immer bleiben! Aber darüber
kannst du dir im Knast Gedanken machen, wenn ich bei der Polizei
aussage.”
“Du willst mich erpressen?”
“Nein
natürlich nicht! Achtung! Sarkasmus! Aber ich biete dir einen
Deal an. Mein Spielchen ist noch nicht fertig und du bist noch nicht
raus. Spiel weiter hübsch Ehemann und Vater und die Polizei
bekommt von mir die Retterstory zu hören. Dann bist du ein Held
und fein raus. Oder…” Der Schuss ließ beide
erschrocken zusammenzucken. Das hatten sie beide nicht kommen sehen.
Fassungslos starrte Caroline an sich hinunter und beobachtete, wie
sich ihre Kleidung im Mondlicht dunkel färbte. Ebenso
fassungslos starrte Gunnar auf die Pistole in seiner Hand, die
scheinbar wie von selbst zum Leben erwacht war. Doch er wusste ganz
genau, dass er abgedrückt hatte. Er hatte die Wut gespürt,
die in ihm hoch gestiegen war. Gespürt wie sie immer mehr von
ihm Besitz ergriff, während sich seine Frau immer mehr vor ihm
als Schicksalsgöttin aufspielte. Er hatte gespürt, wie sehr
er sie dafür hasste und verabscheute und wie wenig er das
zulassen würde. Nie mehr würde er von ihr abhängig
sein. Nie mehr würde er zulassen, dass sie Kontrolle über
sein Leben hatte. Er hatte die Waffe, nicht sie! Sie hätte
demütig um Entschuldigung bitten müssen. Stattdessen hatte
sie ihm gedroht und die Quittung erhalten. Die Idee war ihm einfach
richtig erschienen. Ihm war bewusst geworden, dass er zufällig
Handschuhe trug, dass niemand wissen würde, dass er geschossen
hatte. Und da hatte er abgedrückt. Er hatte alles bereits im
Geiste durchgespielt, bis hin zu seiner Aussage bei der Polizei, bei
der er den Unfall mit Mario zugeben würde, der die Waffe auf
Caroline gerichtet hatte. Bei seiner Rettungsaktion musste sich der
Schuss gelöst haben. Blieb nur noch eines zu tun. Er drückte
Mario die Waffe wieder in seine kalten Hände. Sie zeigte perfekt
auf Caroline. Dann riss er sich das Shirt vom Leib und presste es auf
ihre Schusswunde. Er würde versucht haben, sie zu retten. Das
würde funktionieren. Keine Frage.
In all der Aufregung nahm Gunnar nicht wahr, was sonst noch im Wald geschah. Mit weit aufgerissenen Augen stand der kleine Junge hinter einem Baum und unterdrückte das Schreien. Versuchte zu verstehen, was er da gerade gesehen hatte. Langsam und lautlos schlich er zurück zum Auto und legte sich auf die Rückbank. Er rollte sich so eng zusammen wie er konnte. Dann kamen die Tränen und er konnte nichts dagegen tun.
Am Ende hatte Gunnar Recht behalten. Die Polizei hatte die erwarteten Fragen gestellt und er hatte die richtigen Antworten geben. Alles war gelaufen wie geplant. Nicht ganz alles. Diese Nacht hatte ihn mehr mitgenommen, als er erwartet hatte. Die Bilder der beiden Toten stiegen immer wieder unvermittelt in ihm auf, ganz egal wo er war, ganz egal wie unpassend die Situation gerade war. Urplötzlich überfielen sie ihn und sorgten dafür, dass er mehr oder weniger zusammenbrach. Jede Nacht suchten sie ihn in seinen Albträumen heim. Er schlief wenig, teilweise gar nicht. Dann nur noch mit entsprechender Hilfe. Die Arbeit wurde mehr und mehr zu einer unüberwindlichen Hürde jeden Tag. Alles dort erinnerte ihn an Tod. Das konnte er nicht mehr verkraften. Aber er hatte eine Verpflichtung seinem Sohn gegenüber, als ging er weiter hin. Der Alkohol machte ihn ruhiger, erleichterte ihm den üblichen Trott. Aber mit der Zeit brauchte er immer mehr davon. Die Erholungsphasen wurden immer kürzer, die Kombination mit den Schlaftabletten zahlte sich langsam aus, wenn auch zum Schlechten. Sie gaben ihm zwei drei Chancen, aber dann war es genug und er bekam seine Kündigung. Insgeheim freuten sie sich darüber ihn los zu sein, da war er sich sicher.
Natürlich war der Alkohol auch nicht gerade förderlich für einen neuen Job. Er versuchte es ein paar mal mit Entzug, aber ohne größeren Erfolg. Das Leben konnte ihm einfach nichts bieten, dass ihm eine Alternative zum Trinken gewesen wäre. Egal wohin er schaute, nichts als Heuchelei und Gier, Betrug und Ausbeutung. Das war die Realität in der Welt. Das war die Realität in die er hätte zurückkehren müssen. Warum also dem Alkohol abschwören, wenn er die Realität doch einfach so viel erträglicher machte?
Und dann war da noch sein Sohn. Immer wenn er ihn sah, spürte er die Verachtung in seinen Blicken. Hanno war kein guter Sohn und er würde auch kein guter Mensch werden. Der Zug war abgefahren. Von Erziehung konnte keine Rede sein. Hanno tat nichts, was man ihm sagte, stellte jedes Recht in Frage, dass Gunnar im Anweisungen gab, seit seine Mutter weg war. Alles war aussichtslos. Gunnar wusste, dass Alkohol keine Lösung war. Aber Alkohol und Fernsehen machten die Realität erträglich und das war genau das, was er brauchte. Zumindest bis Hanno aus dem Haus war.
Es war nicht immer leicht in der heutigen Zeit eine Tochter groß zu ziehen. Ganz und gar nicht. Sie hatten beide lange überlegt, ob es wirklich Sinn für sich machte, ein Kind in die Welt zu setzen. Nächtelang hatten sie diskutiert, für und wider abgewogen. Doch am Ende hatte ihnen die Natur die Entscheidung abgenommen. Oder ihre Schusseligkeit. Sie hatten anfangs tatsächlich diskutiert, wer von ihnen jetzt Schuld an diesem Unfall gewesen wäre, aber dann doch schnell eingesehen, dass es dafür keinen Grund gab. Sie hatten Spaß gehabt und ihre Tochter war eben das Ergebnis. Konnte es einen besseren Start ins Leben geben, als pure Liebe und ehrlichen Spaß? Inzwischen war Isabella schon fast erwachsen und sie hatten es nie bereut, diesen Unfall herbei geführt zu haben. Das hieß natürlich nicht, dass immer alles problemfrei und harmonisch verlief. Man merkte ihr schon an, dass sie von beiden Seiten den Dickkopf geerbt hatte. Aber das war auch nicht zwangsläufig negativ in der heutigen Zeit. Durchsetzungsvermögen war durchaus von Nöten in einer Gesellschaft die auf Konkurrenz und Ausbeutung aufgebaut war. Sie hatten ihr Bestes getan, um ihre Tochter auf die Realität vorzubereiten und ihr gute Werte zu vermitteln. Vielleicht hatten sie ab und an etwas zu viel Wert auf die Werte gelegt. Manchmal neigte Isabella zu purem Idealismus und schien die Realität einfach beiseite schieben zu wollen. Wenn man es ganz nüchtern betrachtete, war das auch so ziemlich die einzige Thematik, die für richtig Streit taugte in ihrer Familie. Die ewige Diskussion ob und wie weit man den Idealismus dem Realismus anpassen durfte oder gar musste. Für Isabella war die Sache klar. Jedes Zugeständnis war ein Verrat an den Idealen, die sie vertrat. Als ihre Eltern konnten sie es sich auf der anderen Seite aber auch nicht leisten, kein Contra zu geben. Sie hatten ihre Erfahrungen gemacht. Sie wussten, wie schnell man mit seinem Idealismus an Grenzen stoßen konnte und wie wenig man bisweilen erreichte, wenn man komplett kompromisslos in eine Verhandlung ging. Daraus ergab sich natürlich ein moralisches Dilemma, dem sich jeder stellen musste, der sich für irgendetwas engagierte. War eine kleine aber spürbare Verbesserung besser als keine? Musste man sich mit weniger zufrieden geben, wenn die andere Seite einfach nicht bereit war, weitere Zugeständnisse zu machen? Sollte man weiter auf seine Überzeugungen pochen, wenn einfach niemand bereit war, dafür das nötige Kleingeld bereitzustellen?
Das waren Fragen, denen sich auch Isabella im Laufe ihres Lebens gegenüber sehen würde. Sie würde ihre eigenen Antworte finden müssen, sie würde ihren eigenen Weg gehen und ihre eigenen Rückschläge erleiden müssen. Aber als ihre Eltern sahen es Kai-Uwe und Olivia als ihre Pflicht an, schon jetzt, wenn es weniger Ernst war (auch wenn es für Isabella natürlich kaum etwas Ernsteres immer gab) bereitwillig den “Adovocatus Diaboli” zu spielen und voller Überzeugung, auf der Seite der Realität Stellung zu beziehen, auch wenn sie Isabellas Ideen und Einstellung oft sehr viel näher standen, als ihr das bewusst war. Andererseits, wenn das tatsächlich der einzige große Streitpunkt zwischen einer pubertierenden Tochter und ihren Eltern war, wie schlimm war die Lage dann?
Das brachte es allerdings auch auf den Punkt. Eine neue Art Streit bahnte sich an. Ein Streit, der nicht mit Logik und Argumenten geführt wurde, sondern auf dem unglaublich instabilen Fundament der hauptsächlich pubertären Emotionen. Natürlich war ihnen beiden klar gewesen, dass dieser Tag früher oder später kommen würde, eigentlich waren sie sogar erstaunt, dass er so spät kam, wenn man Isabellas makelloses Äußeres in Betracht zog, aber dennoch traf es einen am Ende auf eine unerklärliche Art und Weise völlig unvorbereitet und ließ einen als Eltern rat- und wortlos zurück. Es war eine Sache, dass Isabella ihnen eines Abends eröffnet hatte, dass sie einen Freund hatte. Über die Art und Weise, sowie den Zeitpunkt ließ sich auch streiten. Wenn man es genau nahm, war ihr Freund, oder richtigerweise die Offenbarung ihres Freundes, eine Art “Killerargument” gewesen. Sie hatten sich so sehr in die Haare bekommen gehabt, dass Isabella zum Äußersten griff. Während Kai-Uwe ihr nüchtern und sachlich Argument um Argument um die Ohren geschlagen und und sie so immer weiter in die Ecke getrieben hatte, wo sie wie ein Boxer nur noch die Deckung hoch halten und einstecken konnte, bis der andere müde wurde, hatte sie zu ihrem vernichtenden Punch ausgeholt und ihn perfekt platziert angebracht. “Übrigens, ich bin jetzt mit Hanno zusammen! Und es gibt nichts, was ihr dagegen tun könnt!”
Ihre Aussage besaß durchaus eine
gewisse Sprengkraft. Sie wusste ganz genau, wie sehr sie ihre Eltern
damit traf. Nicht, dass sie ihrer Tochter den Freund nicht gegönnt
hätten, nur nicht diesen Freund. Kai-Uwe und Olivia sahen sich
schweigend an. Sie schüttelte kaum merklich den Kopf, sodass er
es tatsächlich schaffte, kein Wort mehr zu sagen und seine
Tochter als Siegerin aus der Diskussion hervorgehen zu lassen. Die
Gelegenheit ließ sie sich natürlich nicht entgehen und
stolzierte erhobenen Hauptes aus dem Zimmer. Kai-Uwe konnte kaum noch
an sich halten, aber seine Frau nahm ihn in den Arm und versuchte ihn
zu beruhigen. “Ich verstehe dich ja. Ich finde das genauso
beunruhigend wie du. Aber ich glaube, jetzt ist definitiv nicht der
richtige Zeitpunkt. Dazu ist die Situation im Moment zu aufgeheizt.
Wir besprechen das in Ruhe.”
“Aber ausgerechnet der?
Warum? Was haben wir falsch gemacht? Das tut sie doch nur, um uns
eins auszuwischen!”
“Vielleicht, aber das wissen wir
nicht. Es hat doch keinen Sinn, sie noch weiter in die Ecke zu
drängen. Ich mein, das ist unsere Tochter. Sie findet garantiert
immer eine Strategie. Das war jetzt vielleicht nicht die
intelligenteste, aber mit direkter Konfrontation kommen wir doch
nicht weiter. Da ist sie dir viel zu ähnlich.”
“Dann
sollte sie logischen Argumenten doch zugänglich sein, meinst du
nicht?”
“Ist sie ja auch. Nur nicht, wenn du sie in
die Ecke drängst. Dann schaltet ihr beide komplett in den
Verteidigungsmodus und alles ist zu spät.”
“Ich
dräng sie doch nicht in die Ecke.” Olivia
lachte.
“Natürlich tust du das. Ich stehe doch jedes
Mal dabei. Ihr beiden seid wie zwei Boxer. Ihr belauert euch, ihr
tastet ab und wenn ihr einen Wirkungstreffer landet und der andere
kurz zögert, setzt ihr gnadenlos nach und schießt eine
Salve nach der anderen ab, bis der andere KO geht.”
“Na
das ist jetzt aber ein bisschen sehr martialisch.”
“Ich
habs auf Video. Soll ichs dir vorspielen?” Kai-Uwe schaute ein
bisschen verdutzt. Aber gut, deswegen liebte er Olivia ja. Sie war
ihm absolut ebenbürtig und das bewies sie ihm jetzt wieder
einmal.
“Nein, nicht nötig. Du wirst schon recht haben.
Ich finde es tatsächlich schwer, mich zu bremsen, wenn ich mal
so richtig in Fahrt bin. Isabella steht mir da in nichts nach denke
ich. Ich hab sie eben gut erzogen.” Das Lachen löste alle
Anspannung. “Ok!” gab er dann zu. “Ich bin mal
wieder über das Ziel hinaus geschossen. Ich geh und entschuldige
mich bei Isabella.”
Mit einem Nicken und Lächeln
entließ Olivia ihren Mann und schickte ihn in Isabellas Zimmer.
Das würde ihm definitiv nicht leicht fallen. Kai-Uwe mochte es
nicht, Fehler zuzugeben und sich zu entschuldigen. Wer
mochte das schon? Aber man
musste ihm zu Gute halten, dass er sich seinen Fehlern stellte, wenn
man ihn darauf hinwies. Soweit hatte sie ihn inzwischen zumindest
erzogen. Wobei sie sich nicht wirklich beschweren konnte. Kai-Uwe
hatte sicherlich seine Macken, die hatte jeder, sie eingeschlossen.
Aber gerade darum ging es doch in einer Beziehung, oder? Zu lernen
mit den Fehlern und Schwächen des Anderen umzugehen und sich
immer besser aufeinander einzuspielen. Das kostete Zeit und Energie,
aber das war schließlich der Preis dafür, sein Leben nicht
mehr komplett alleine zu führen. Ihnen beiden war das klar,
deswegen verstanden sie sich eigentlich ziemlich gut, dafür dass
sie als Mann und Frau von Natur aus grundverschieden waren. Jetzt war
es an ihm, auch mit seiner Tochter eine gemeinsame Basis zu finden.
Es fiel ihm tatsächlich nicht
leicht. Kai-Uwe wusste einfach nicht, wie er sich am besten verhalten
sollte. Was sollte er seiner Tochter sagen? Was konnte er sagen, um
die gewünschte Wirkung zu erreichen? Eigentlich war das
unmöglich. Isabella war 17. Mit irgendwelchen Verboten oder
Beschuldigungen würde er nichts erreichen, das war ihm klar.
Andererseits musste er doch etwas tun oder sagen können, das sie
zum Nachdenken brachte, oder? Die Alternative war, sie sehenden Auges
in ihr Unglück rennen zu lassen. Und dieses Unglück war
unausweichlich, es zeichnete sich deutlich am Horizont ab. Früher
oder später würde es sie mit voller Wucht treffen. Konnte
er das zulassen? Musste er es verhindern? Das war wieder einer der
Momente im Leben eines Vaters, in denen man nur verlieren konnte.
Egal was er tat, seine Tochter würde ihn dafür hassen,
entweder jetzt gleich, oder in der Zukunft. Noch immer stand er
unschlüssig vor der Tür. Wie
lächerlich! Doch dann
hatte ihm Isabella die Entscheidung abgenommen, indem sie einfach die
Tür aufriss und vor lauter Schrecken laut aufschrie.
“Du
kannst doch hier nicht so einfach vor der Tür rumlungern! Da
erschrickt man sich ja zu Tode.” Da war es Kai-Uwe ja nicht
besser ergangen.
“Ja ja. Schon gut. Ich wollte mit dir
reden.”
“Wegen vorhin? Da gibts nämlich
eigentlich nix mehr zu reden. Meine Entscheidung ist längst
gefallen und ihr kennt sie.”
“Ja ich kenne sie. Und du
weißt, dass ich sie nicht gut finde, sonst hättest du sie
mir nicht so um die Ohren gehauen.”
“Mag sein. Ändert
aber nichts mehr!”
“Kannst du dir nicht vorstellen,
dass ich auch mal ganz sachlich mit dir reden will?”
“Ganz
ehrlich? Kann ich nicht!” Da war Kai-Uwe baff. Aber er konnte
auch stur sein.
“Na gut! Dann lass ich es eben. Sieh selbst,
wie du klar kommst. Du bist alt genug!”
“Ganz genau!
Das bin ich!” Und damit schlug sie die Tür wieder zu.
Schon war auch Olivia wieder zur Stelle und zog ihn zurück ins
Wohnzimmer.
“Lass sie! Das hat jetzt keinen Zweck. Sie kommt
schon klar. Soviel Vertrauen müssen wir in unsere Erziehung
schon haben.”
“Schon, aber du weißt wer das ist.
Du kennst seinen Ruf, oder? Wie kann sie auf so einen reinfallen? Der
ist doch das komplette Gegenteil von ihr!”
“Und das
wird sie schon noch merken, auf die eine oder andere Art. Und dann
wird sie ihre Konsequenzen ziehen.”
“Aber das könnte
extrem schmerzhaft für sie werden. Das muss doch nicht
sein!”
“Manchmal ist es aber der einzig gangbare Weg.
Wir dringen momentan nicht zu ihr durch. Da muss sie es eben auf die
harte Tour lernen.” Natürlich wusste er, dass sie recht
hatte. Aber Kai-Uwe war selten bereit, etwas einfach als gegeben
hinzunehmen, wenn er das Gefühl hatte, etwas tun zu können.
Nur hatte eben jedes Tun auch seine Konsequenzen und die waren nicht
immer in allen Details absehbar. Jetzt hieß es, Isabella ins
Ungewisse zu entlassen und darauf zu vertrauen, dass sie in Zukunft
die richtigen Entscheidungen treffen würde. Das fiel ihm nicht
leicht, aber die Alternativen waren nicht wirklich vorhanden oder
zumindest keinesfalls besser. Mach
das beste draus, Isabella! Früher oder später wirst du uns
verstehen.
Heute war ihnen beiden diese Szene wieder
so lebhaft vor Augen gekommen, als wäre es erst gestern gewesen.
Natürlich hatten sie Isabella und Hanno so gut es ging im Auge
behalten. Ebenso natürlich hatte ihnen nicht alles gefallen, was
sie da sahen, aber nichts davon hatte sie auch nur im Entferntesten
auf den heutigen Tag vorbereitet. Das konnte einfach nicht sein.
Niemals! Es konnte sich unmöglich um Isabella handeln. Da musste
eine Verwechslung vorliegen. Es war unvorstellbar, dass Isabella alle
ihre Prinzipien über Bord geworfen hatte. Soviel Einfluss konnte
nicht einmal Hanno auf sie gehabt zu haben. Aber natürlich
musste der Sache auf den Grund gegangen werden. Das hatten die
Polizisten ihnen mehr als klar gemacht. Immerhin hatten sie ihnen
gestattet, Isabella selbst abzuholen. Olivia wollte sich die Szene
gar nicht vorstellen, wie die Polizei die Bäckerei stürmen
und ihre Tochter abführen würde. Aber noch immer saß
der Schock tief. Wie aus dem nichts hatte sich alles geändert.
Es fühlte sich extrem komisch an, wenn plötzlich die
Polizei vor der Tür stand. Sie waren bemüht freundlich,
aber letztendlich war ja klar, dass sie ihre Arbeit machen mussten.
Offensichtlich hatte es einen Brandanschlag gegeben.
“Aber
Isabella ist doch nichts passiert, oder?” hatte Olivia gefragt.
Dann war ihr klar geworden, dass die Polizisten dann wohl kaum nach
ihr gefragt hätten.
“Nein, Frau Mosch. Darum geht es
nicht!” hatten sie gesagt. “Wir müssen wissen, wo
sich ihre Tochter während des besagten Zeitraums aufgehalten
hat. Wir haben Grund zu der Annahme, dass sie am Anschlag in
irgendeiner Art und Weise beteiligt gewesen sein könnte.”
“Beteiligt?
Sie meinen Isabella hätte ein Flüchtlingsheim in Brand
gesteckt? Das ist doch verrückt!”
“Mag sein, dass
es so klingt. Aber ein Augenzeuge will ihre Tochter dort gesehen
haben. Außerdem haben wir das hier gefunden.” Und sie
präsentierten ihr ein Armband. Olivia war kreidebleich geworden
und musste sich an ihrem Mann festhalten. Sie schaute ihn fragend an,
aber auch Kai-Uwe konnte nur mit den Schultern zucken. Er übernahm
jetzt.
“Ich bin sicher, das wird sich aufklären. Unsere
Tochter würde so etwas niemals tun. Aber das hören sie
vermutlich öfter. Wie können wir dabei helfen, die
Anschuldigungen gegen unsere Tochter zu entkräften?”
“Zunächst
mal, indem sie mit uns redet. Wir müssen sie dazu
befragen.”
“Ok, das ist kein Problem. Sie wird im
Moment bei der Arbeit sein. Wir können sie abholen.”
“Gut.
Sie scheinen mir vernünftige Leute zu sein. Wir haben einen
Einsatzstab beim Flüchtlingsheim eingerichtet. Holen Sie bitte
Ihre Tochter ab und bringen Sie sie dorthin zu uns.”
“Einverstanden.
Wir machen uns auf den Weg. Auf Wiedersehen, Herr Kommissar.”
“Aus
Wiedersehen!”
Damit waren sie wieder gegangen und
hatten die beiden Eltern fassungslos zurückgelassen. Olivia
konnte es immer noch nicht verstehen. “Wie kann das sein? Du
kennst doch Isabella! Die würde sich mit allen anlegen, wenn es
um Diskriminierung geht. Das lässt sie keinem durchgehen. Von
einem Anschlag ganz zu schweigen.”
“Ich sehe das ja
genauso. Natürlich habe ich mir immer Sorgen gemacht, wegen
ihrer Beziehung. Aber wenn sie sich so sehr verändert hätte,
hätten wir das doch gemerkt. Wir streiten doch noch wie früher.
Sie war wie immer. Die ganze Zeit.”
“Genau. Das muss
sich jetzt alles aufklären. Komm wir holen sie ab.”
“Ich
hol nur schnell unsere Jacken, dann können wir los.”
So schnell sie konnten, waren sie zur Bäckerei gefahren. Kai-Uwe verfluchte jede rote Ampel. Olivia wurde mit jedem Kilometer, den sie sich ihrer Tochter, und damit ihrer unbequemen Pflicht näherten, immer blasser. Aber dann waren sie endlich da und stürmten in die Bäckerei. Es war wirklich voll, aber alle lauschten gebannt der Radiomeldung. Isabella stand neben ihrer Kollegin.
“Bei einem schweren Brandanschlag ist heute das städtische Flüchtlingsheim fast vollständig abgebrannt. Glücklicherweise stand es aufgrund geplanter Renovierungsarbeiten fast vollständig leer. Ein letzter Bewohner, der das Heim diese Woche verlassen sollte, kam mit leichten Verletzungen davon. Handelte es sich um einen bewussten Anschlag auf diese Person, oder gingen der beziehungsweise die Täter von einem leeren Gebäude aus? Die Polizei geht von einem fremdenfeindlichen Motiv aus und hat eine Sonderkommission eingerichtet. Die weiteren Hintergründe sind noch völlig unklar. Es bleibt die Frage, wie so ein Anschlag unbemerkt am hellichten Tag stattfinden konnte. Wir halten Sie über die Ermittlungen auf dem Laufenden…”
Jetzt wurden sie Zeuge eines Schauspiels, dass sie wirklich stolz machte. Isabellas Kollegin hatte eine blöde Bemerkung gemacht, dass das ja passieren musste. Logisch, dass ihre Tochter da die Contenance verlor.
Sie starrte ihre Kollegin fassungslos an.
“Das ist nicht dein Ernst, oder? Du willst nicht allen Ernstes
sagen, dass du das für normal hälst, oder?”
“Normal,
nicht normal, was macht das für einen Unterschied? Die Menschen
haben nun mal Angst vor Überfremdung. Und manche bringen das
wohl so zum Ausdruck. Natürlich würde ich nie ein Haus
anzünden, aber Gedanken mach sich ja jeder, oder?”
“Gedanken?
Was denn für Gedanken? Diese armen Leute mussten ihre Heimat
verlassen. Denkst du echt die wären hier, wenn sie nicht
müssten?”
“Sollen sie halt keinen Krieg spielen.
Ich mein, wenn wir uns hier alles gegenseitig zerbomben würden
gings uns auch schlechter… Aber wir sind halt zivilisierter.
Und ja ok, natürlich hilft man wenn jemand in Not ist, aber
diese Massen? Müssen die echt alle zu uns kommen?” Das war
jetzt definitiv zuviel für Isabella.
“Auf dem Niveau
diskutier ich nicht mehr mir dir. Das ist auch keine Diskussion, das
ist Stammtisch und zwar nach jeder Menge Alkohol. Hast du überhaupt
auch nur eine leise Vorstellung von den Fakten, oder spielen die für
dich keine Rolle? Weißt du wie viele hundert Flüchtlinge
zur Zeit unser schönes Städtchen überfremden? EIN
EINZIGER! Alle anderen sind längst weg und waren nur ein paar
Wochen bei uns. Aber gut. Das kann einem schon Angst machen. Es ist
auch echt ein riesen Aufwand noch eine Person hier zu integrieren.
Die gefährdet eindeutig unsere abendländische Kultur, oder?
Wahrscheinlich wird dieser eine Flüchtling uns auch noch den
Arbeitsplatz wegnehmen, sobald er gut genug deutsch spricht. Also
bringen wir ihm das nur nicht bei. Ach nee, dann ist es ja so
aufwändig sich zu verständigen, weil er sich nicht
integrieren will und nicht mehr bereit ist unsere Sprache zu lernen.
Das ist echt zum Kotzen! Und nur zur Sicherheit, damit du es nicht
falsch verstehen kannst. DAS WAR SARKASMUS!”
Jetzt riss sich
Isabella die Schürze vom Leib und warf sie ihrer verdutzten
Kollegin vor die Füße. “Da bedien die Leute! Der da
hinten ist sicher empfänglich für deine Ideen. Vielleicht
hat er ja ein paar Bier für dich übrig, damit die Stimmung
passt!” Und schon machte sie sich auf den Weg zur Tür.
Olivia und Kai-Uwe hatten sich ihr schon entgegen geschoben und
erwarteten ihre Tochter um sie direkt in die Arme zu schließen.
Sie waren dermaßen stolz auf sie und natürlich auch
unheimlich erleichtert. Das war ihre Isabella. Die dämlichen
Kommentare der anderen Kunden überhörten sie
geflissentlich. Damit war klar, die Anschuldigungen waren absurd.
Niemals würde sie ein Heim in Brand stecken. Trotzdem mussten
sie sie jetzt zur Polizei bringen, damit die ganze Sache möglichst
schnell aufgeklärt werden konnte. Jetzt war es erst einmal Zeit
für die Aussprache und Olivia ließ es sich nicht nehmen,
ihren beiden Dickköpfen die Meinung zu sagen. Nach einigem hin
und her, war endlich alles gesagt, was gesagt werden musst und
Isabella schloss sie beide in die Arme.
Dann wurde es Zeit für die unbequeme
Wahrheit.
“Allerdings”, sagte Olivia also, “waren
wir in der Bäckerei, weil wir dir etwas sagen müssen. Und
es tut mir jetzt schon leid, aber es wird dir sicher nicht gefallen.”
Isabella war genauso fassungslos wie sie
es erwartet hatten. “Das muss ein großes Missverständnis
sein.”
“Davon gehen wir ja auch aus, Isabella. Aber
wir müssen jetzt mit der Polizei zusammenarbeiten.”
“Müssen
wir wohl!” Hätte ich doch nur nichts über die
Aussetzer gesagt. Wer weiß, was die da draus machen werden?
“Du
wartest jetzt erstmal hier mit deiner Mutter. Ich schau mal, ob ich
jemanden finde, der für uns zuständig ist.”
Isabella hielt Olivias Hand und starrte
ins Leere. Nicht weit von ihnen entfernt gab ein Feuerwehrmann ein
Interview. Kurzentschlossen zog Isabella ihre Mutter hinter sich her
und näherte sich der Szenerie, bis sie beide das Gespräch
besser verstehen konnte.
“… Brandursache haben wir
eindeutige Beweise gefunden. Es scheint sich um einen sogenannten
Molotow-Cocktail zu handeln. Allerdings hätte der nicht so einen
großen Schaden angerichtet. Es deutet einiges darauf hin, dass
im ganzen Gebäude Brandbeschleuniger verteilt wurden. Der
Bewohner hatte großes Glück, dass wir so schnell hier sein
konnten. Ein paar Minuten später und er wäre ebenso
verbrannt wie seine Katze. So konnte mein Kollege ihn gerade noch aus
dem brennenden Gebäude …” Olivia sah Isabella an.
Sie hörte schon nicht mehr hin, hatte nur die Augen weit
aufgerissen. “NEIN! Das kann nicht sein. Nicht Moritz! Der war
doch nur wegen mir hier.” Die Tränen kannten kein Halten
mehr. “Das kann doch alles nicht wahr sein. Was ist das für
ein Albtraum?”
“Noch ein Grund mehr, warum keiner von
uns glaubt, dass du etwas damit zu tun hattest. Weder würdest du
Menschen noch Tiere in Gefahr bringen. Es tut mir so leid.”
Endlich kam Kai-Uwe in Begleitung eines Polizisten zurück. Isabella schüttelte nur den Kopf. “Das kann doch alles nicht wahr sein!” sagte sie immer wieder vor sich hin. Dann begann das Verhör. Isabella war offen und ehrlich. Es bestand kein Zweifel, dass sie unschuldig war. Das sah Olivia den Beamten auch an. Aber natürlich bedeutete das nichts, schließlich gab es die abenteuerlichsten Geschichten, die man so im Fernsehen sah. Trotzdem hatte sie das Gefühl, dass sie Isabella glaubten. Das bestätigte sich, als sie den Polizisten einen Vorschlag machte, der ihr als Mutter wiederum gar nicht gefallen konnte, aber typisch für ihre konsequente und verantwortungsbewusste Tochter war. Die Polizisten berieten sich und entschieden sich dann, Isabellas Bitte zu entsprechen.
Dann war sie nach Hause gerannt. Es war offensichtlich, dass sie allein sein wollte. Die ganze Situation hatte sie förmlich überfahren gehabt. Zusammen mit Kai-Uwe war Olivia deshalb auf dem Weg ins “LaFamilia”, wie ihre Tochter sie gebeten hatte. Sie vertrauten Isabella, hofften aber inständig, dass sie keine Dummheiten machen und sich die Situation bald endgültig zur Zufriedenheit aller aufklären würde. Vielleicht würde dann auch das Familienleben wieder etwas friedlicher werden. Olivia hoffte es, wie man eben immer das Beste für sich und die hoffte, die man liebte. Jetzt galt es aber erst einmal zu warten. Gespannt öffneten sie die Tür und betraten das nette kleine Café in dem es wie immer berstend voll war. Wider Erwarten fanden sie noch einen freien Tisch und bestellten zwei Tassen Kaffee.
Der Kaffee kam gewohnt schnell. Sie wechselten ein paar freundliche Worte mit Luigi, dann musste er weiter zum nächsten Tisch. Sie kamen seit Jahren gern hierher. Hier hatte man immer nette Gesellschaft und erlebte echte Gastfreundschaft und Willkommenskultur. Und natürlich erfuhr man so allerhand interessantes, ob man wollte oder nicht. Heute zum Beispiel gab es eine Geschichte über eine alte Frau, die ein bisschen sehr freizügig jedem der nicht schnell genug auf dem nächsten Baum war, von den inoperablen sexuellen Neigungen ihres wesentlich jüngeren Ehemannes erzählte und dass sie das doch hätte früher merken müssen. Kai-Uwe und Olivia schauten sich grinsend an und kamen wortlos überein, dass sie sofort das Weite suchen würden, wenn sie dieser Frau zufällig über den Weg liefen. Sie hatten im Moment ja auch andere Sorgen. Was Isabella genau plante, hatte sie ihnen nicht gesagt, nur dass sie sie hier treffen würde. Natürlich machten sie sich so ihre elternlichen Gedanken. Die kamen ganz automatisch. Aber sie hatten sich inzwischen wieder beruhigt. Die schlimmsten Befürchtungen, die sie eigentlich nie geglaubt hatten, waren nicht eingetroffen. Sie konnten wirklich stolz sein auf ihre Tochter, die sich immer für Benachteiligte und Unterdrückte einsetzen würde. Und das waren sie auch. Mehr als stolz. Sie waren … Ja was waren sie? Es gab kein wirkliches Wort dafür. Auf jeden Fall hatten sich all die Jahre harter Erziehungsarbeit bezahlt gemacht. Und auch die vielen teils sehr emotionalen Diskussionen hatten sie am Ende zu dem Menschen reifen lassen, der sie heute war. Ein reifer, junger, angehender Erwachsener, der von Wert für die Gesellschaft war, der wertvolle Prinzipien hatte und bereit war, dafür zu kämpfen, der sich auch von persönlichen Rückschlägen nicht aus der Bahn werfen ließ.
“Ist es nicht schön hier?”
fragte Olivia. “Ich kann es kaum erwarten, dass Isabella hier
auftaucht und wir diesen lästigen Tag einfach abhaken
können.”
“Ja das wäre schön. Hoffen
wir, dass sie das, was sie geplant hat, schnell regeln kann.”
“Wegen
Hanno müssen wir uns wohl auch keine Sorgen mehr machen. Den hat
sie jetzt wohl endgültig durchschaut.” Er nickte.
“Ich
frage mich nur immer wieder, ob wir ihr das nicht doch hätten
ersparen können. Musste sie es wirklich auf die harte Tour
lernen? Du hast sie gesehen. Das hat sie schon sehr
verletzt.”
“Natürlich wäre das schön
gewesen. Aber welche realistische Chance hatten wir denn? Sie hätte
nicht auf uns gehört. Emotionen und Logik passen einfach nicht
zusammen. Wichtig ist, dass sie daraus jetzt die richtigen Schlüsse
zieht und das ganze als Lebenserfahrung abhakt. Jetzt kann sie nach
wieder vorne schauen.”
“Hoffentlich hast du recht. Ich
bin mir noch nicht ganz so sicher, dass wir das schon ausgestanden
haben.”
“Was soll noch groß passieren? Isabella
liefert der Polizei jetzt den Beweis, dass Hanno der Brandstifter war
und dann wird er verhaftet. Sie schien sich ihrer Sache ziemlich
sicher zu sein.”
“Wenn sie nur schon hier wäre.”
Plötzlich wurden sie jäh in ihren Gespräch unterbrochen.
“Hallo meine verehrten
Ausländer-Freunde.” Olivia und Kai-Uwe schauten sich
erstaunt an. “Das ist Hanno, oder?” Er nickte zustimmend,
da fuhr die Stimme fort: “Heute ist ihr Glückstag. Sie
haben die einmalig Chance endlich einmal Stellung für ihn Land
zu beziehen. Wir beide hier, haben eine ganze Menge
Molotow-Cocktails. Sehr heiß und sehr zuverlässig. Die
werden gleich zum Einsatz kommen. Ich habe zwei Angebote an alle
Anwesenden.”
Es war noch nicht wirklich Furcht, die sich in
Olivias Gesicht abzeichnete, aber so langsam ging es in die Richtung.
“Was redet der den für einen Mist. Spinnt der?”
Kai-Uwe griff ihre Hand. “Ganz ruhig. Wir müssen jetzt die
Ruhe bewahren. Die Polizei kann nicht mehr weit sein. Mal sehen, was
dieser Holzkopf uns anbietet. Bin ich froh, dass Isabella den in den
Wind schießt.”
“Angebot Eins gilt für alle Deutschen. Verlassen Sie den Ort und verschwinden Sie. Sie haben hier nichts verloren. Ich garantiere, dass Ihnen nichts passieren wird, trotz ihrer verräterischen Haltung! Angebot Zwei geht an alle, denen etwas an diesem Etablissement liegt. Unter den Gästen befindet sich eine Person arabischer Herkunft, mit der ich, nun ja, gerne sprechen würde. Bringt mir den Araber und ich schnapp mir ihn, meinen Kumpel und alle Brandsätze und verschwinde von hier. Dann können Sie alle mit dem weitermachen, was sie eben so gemacht haben im Moment. Das sind Ihre Optionen, verehrte Gäste. Die feurige Alternative ist Ihnen bekannt. Sie haben 60 Sekunden Bedenkzeit. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.”
Die Stimmen der anwesenden Gäste
überschlugen sich. Was war zu tun? Meinte der Verrückte es
ernst? Sollte man das Café verlassen? Wer war der
Araber?
Luigi bewahrte die Ruhe. “Eines ist klar! Ich
liefere niemanden aus. Aber ich werde niemandem die Tür
versperren, der gehen möchte. Liebe Gäste, es geht um ihre
Gesundheit. Ich kann das nicht tun, aber ich bitte Sie alle: Wenn sie
die Chance haben, dann gehen Sie. Vielleicht haben sie draußen
die Chance Hilfe zu holen.” Kai-Uwe schaute seine Frau an. Sie
hatte Tränen in den Augen, signalisierte ihm aber schweigend
ihre Zustimmung. Er drückte ihre Hand jetzt etwas fester und
flüsterte nur: “Wir stehen das durch!” Aus dem
Augenwinkel sah er, wie ein Mann aufstand, aber von seiner Frau
sofort wieder zurück auf seinen Platz gezogen wurde. Das ganze
Café, alle Gäste hatten eine eindeutige Entscheidung
getroffen. Entweder kamen sie alle hier heraus, oder sie würden
gemeinsam untergehen.
“Die Zeit ist um. Wir warten auf Ihre Entscheidung!”
Völlig unbemerkt von der anderen,
hatte sich eine Gestalt auf den Weg zur Eingangstür gemacht.
Olivia erkannte ihn sofort. “Rashid, was hast du vor?”
rief sie ihm zu.
Er schüttelte nur den Kopf. “Ich tue,
was ich tun muss. Niemand soll wegen mir sterben!” Im gleichen
Atemzug öffnete er die knarzende Tür. Wie aus dem Nichts
hechtete Luigi heran und zog ihn vom Eingang weg. “Das lässt
du schön bleiben, mein Freund! Wir sind hier zwar nicht bei den
Musketieren, aber das ist mein Laden hier und hier gelten meine
Regeln. Einer für alle und alle für einen!” Die
restlichen Gästen nickten den beiden voller Hochachtung zu. Sie
alle hatten sich entschieden das zu tun, was sie für richtig
hielten. Ihnen allen war klar, dass sie damit ihre Gesundheit,
vielleicht sogar ihr Leben, riskierten. Aber wie würden sie sich
je wieder im Spiegel anschauen können, wenn sie jetzt alles
verrieten, woran sie glaubten. Auch für Olivia und Kai-Uwe hatte
nie ein Zweifel an ihrer Entscheidung bestanden. Sie starrten wie
gebannt zu Tür. Dann zersplitterten die Fensterscheiben und der
Gastraum verwandelte sich in ein Flammenmeer.
Heute war der Tag, den er immer
gefürchtet hatte. Jahrelang hatte er sich in Gedanken auf diesen
Tag vorbereitet und doch war alles so plötzlich und unerwartet
geschehen, dass ihm einfach nichts Sinnvolles einfallen wollte, das
er unternehmen konnte. Sein Leben war in Gefahr. Das Leben seiner
Gäste war in Gefahr. Wie reagierte man da angemessen? Gab es
überhaupt so etwas wie eine angemessene Reaktion in solchen
Momenten? Er blickte sich um auf der Suche nach einer einfachen
Lösung, aber die schien es nicht zu geben. Die Flammen, der
immer dichter werdende Rauch, die Lage wurde immer bedrohlicher. Hier
konnten sie nicht bleiben, das war klar. Aber auch draußen
erwartete sie Gefahr. Eine wirkliche Wahl war das nicht. Wir
müssen das nach und nach regeln. Erstmal müssen wir raus
hier. Das ist die unmittelbarste Gefahr.
“Houston!” rief er. “Los! Wir müssen die Leute
hier raus schaffen. Du fängst vorne an, ich schick dir die von
hinten.” Er meinte sie nicken zu sehen, aber das war auch egal.
Auf Houston war immer Verlass. Das wusste er. Mühsam quälte
er sich durch den Rauch, immer einen Blick zur Decke gerichtet, um
nicht von irgendetwas erschlagen zu werden. Die Tür knarrte,
Houston schob offenbar schon die ersten Gäste nach draußen
und auch er fand immer mehr, die sich teilweise geschockt kaum mehr
bewegen wollten. “Los! Raus hier! Gehen Sie schon!” Mit
sanftem Druck versuchte er sie in die richtige Richtung zu schieben,
wo Houston sie in Empfang nahm und zur Tür geleitete. Sie
kannten das Café natürlich wie ihre Westentasche. Kein
Rauch konnte ihren Orientierungssinn durcheinander bringen. Zum Glück
war noch niemand hier ernsthaft verletzt und auch Panik war kein
Problem. Geradezu gesittet verließen sie in einer langen
Schlange das Café, immer eine Hand an der Person vor ihnen.
Gut. Das sollten alle gewesen
sein. Nichts wie raus hier!
Luigi hustete wegen des ganzen Rauchs. Das Atmen fiel ihm immer
schwerer. Er musste raus hier! Mit letzter Kraft schleppte auch er
sich zur Tür, fiel ins Freie und schnappte er einmal gierig nach
Luft. Nach und nach erfasste er die Situation außerhalb des
Cafés. Ihre Lage hatte sich nicht wesentlich gebessert. Gut,
den Flammen waren sie entkommen, dafür wurden sie jetzt von zwei
komplett in Schwarz gekleideten Bewaffneten bedroht. Vom
Regen in die Traufe! Wo bleibt denn nur die Polizei?
Er versuchte sich aufzurichten, aber ein unbändiger Schmerz
machte sich plötzlich in seinem Kopf breit. Er fasste kurz hin
und bemerkte das Blut, dass jetzt an seinen Fingern klebte. Die
meinen es ernst! “Liegen
bleiben!” schrie ihn eine Stimme an und er beschloss ihr zu
gehorchen. Alles hier war an der Grenze zur Eskalation und er wollte
keinesfalls derjenige sein, der sie dazu brachte, diese Grenze zu
überschreiten. Vorsichtig schaute er sich um. Zumindest hatten
sie wohl die älteren Damen nicht als Bedrohung eingestuft und
separiert. Als er den Hilferuf hörte, fiel es ihm auf. “Hilfe!
Ich komme hier nicht raus. Warum hilft mir denn niemand?” Das
ließ auch die alten Damen wieder munter werden. “Oh Nein!
Das ist Insa. Die war auf der Toilette. Wir müssen ihr helfen!”
Das schien einen der Angreifer kurz aus dem Konzept zu bringen.
“Insa? Insa wie noch?” wollte er von der Renterinnenrunde
wissen. “Insa Großmüller! Sie war mit uns im Café.
Warum fragen Sie?” Doch der Angreifer war längst wieder
weg. Luigi glaubte fast so etwas wie Verzweiflung in seinem
Bewegungen zu erkennen. Dann ging er auf seinen Partner los. “Du
Idiot! Hast du nicht gesagt, sie wäre nicht da?”
“War
sie ja auch nicht!”
“Ach ja? Und wer ist das dann da
drin?”
“Mensch Hanno, du hast doch gehört, dass
sie auf dem Klo war. Wie sollte ich sie denn da sehen?” Der
Schlag mit dem Gewehrkolben traf ihn unvorbereitet ins Gesicht. Das
Blut aus der Nase bahnte sich seinem Weg durch die Stoffmaske.
“Du
Trottel! Seit wann nennen wir hier Namen? Wieso bin ich nur von
hirnlosen, unfähigen Menschen umgeben?” Der andere wagte
nicht etwas zu erwidern. Doch Luigi erkannte, dass eine Gestalt aus
der Gruppe der Gefangenen diesen kurzen Moment der Unachtsamkeit
genutzt hatte und aufgesprungen war. Noch bevor Hanno reagieren
konnte, war er an ihm vorbei zurück in das brennende Café
gerannt. Wie von Sinnen feuerte Hanno ihm einen Schuss hinterher,
verfehlte ihn aber zum Glück. Das
wars. Jetzt gerät alles außer Kontrolle.
-Rashid-
Rashids Gedanken rasten nur so. Wieso musste das alles passieren? Wieso mussten all diese Menschen wegen ihm leiden? Warum hatte Luigi ihn nicht einfach nach draußen gelassen? Dann wäre all das nicht passiert. Es war doch aussichtslos. Diese Leute verfolgten ihn schon den ganzen Tag. Sie würden nicht eher Ruhe geben, bevor sie ihn erledigt hatten. Das war ihre Mission, so sinnlos und barbarisch sie auch erscheinen musste. Menschen, die so verblendet waren und alles ihrer Mission unterordneten, konnte man nicht aufhalten. Er hatte das oft genug erlebt. Er wusste, dass sie zu allem fähig waren, dass sie keine Rücksicht auf Kollateralschäden nahmen. Davor war er geflohen, doch genau das hatte ihn jetzt wieder eingeholt. All diese Menschenleben standen auf dem Spiel, nur wegen ihm. Das war nicht fair. Warum sollte sein Leben, das alles wert sein? Das Wohl der Vielen steht über dem Wohl der Wenigen. Aber es gab nicht mehr viel, das er tun konnte. Sie alle hatten den Angreifer mit den hasserfüllten Augen verärgert und jetzt wollte er mehr, als nur den blöden Araber zur Strecke bringen. Sie wussten nicht was sie taten, worauf sie sich einließen und das würden sie bezahlen, wenn er nicht irgendeine Lösung fand.
“Hilfe! Ich komme hier nicht raus.
Warum hilft mir denn niemand?” Der Hilfeschrei kam eindeutig
noch von drinnen. “Oh Nein! Das ist Insa. Die war auf der
Toilette. Wir müssen ihr helfen!” rief eine andere alte
Dame. Oh nein. Stimmt ich habe
gesehen, wie sie rein gegangen ist. Ich habe sie ja wiedererkannt.
Rashid beobachtete gespannt, wie sich die Situation veränderte.
“Insa? Insa wie noch?” wollten die Augen von der alten
Frau wissen. “Insa Großmüller! Sie war mit uns im
Café. Warum fragen Sie?” Er
kennt sie. Ganz sicher. Das ist ein Schwachpunkt. Vielleicht gibt es
doch noch Hoffnung.
“Du
Idiot!” schrie er seinen Mitangreifer an. “Hast du nicht
gesagt, sie wäre nicht da?”
“War sie ja auch
nicht!”
“Ach ja? Und wer ist das dann da
drin?”
“Mensch Hanno, du hast doch gehört, dass
sie auf dem Klo war. Wie sollte ich sie denn da sehen?”
Kompromisslos rammte er ihm den Gewehrkolben ins Gesicht.
“Du
Trottel! Seit wann nennen wir hier Namen? Wieso bin ich nur von
hirnlosen, unfähigen Menschen umgeben?”
Jetzt
oder nie! Meine einzige Chance.
Voller Elan sprang er für alle völlig überraschend auf
und rannte zurück ins Café. Hinter sich hörte er
einen Schuss. Er spürte ein kurzes Stechen in der Wade, dann war
er wieder zurück im Flammenmeer. Beginn
und Ende liegen oft näher zusammen als man denkt!
Es war heiß. Hustend versuchte er
sich zu orientieren. Wo waren die Toiletten gewesen? War die alte
Frau noch dort? War sie unverletzt, oder vielleicht eingeklemmt? “Wo
sind sie?” rief er den rauschenden Flammen entgegen. “Hier
hinten!” war die wenig erhellende Antwort. Rashid versuchte
sich in die Richtung vorzuarbeiten, aus der er die Stimme zu hören
geglaubt hatte. Das Atmen fiel zunehmend schwerer. Immer wieder
musste er Umwege in Kauf nehmen, weil ihm die Flammen den Weg
versperrten. Die Hölle an die er nicht glaubte, konnte er sich
nicht viel schlimmer vorstellen. Er hatte nicht mehr viel Zeit. Und
dann endlich entdeckte er sie zusammengekauert in einer Ecke. Sie war
schwach, hatte einiges abbekommen, aber sie lebte noch. Er würde
sie hinaustragen müssen. “Kommen Sie! Ich trage Sie raus.
Wir müssen uns beeilen!” Er sah ihre dankbaren Augen, die
gleichzeitig voller Angst waren. Aber auch voller Scham. Warum?
Sie wich seinem Blick aus.
Sie
weiß es! “Das ist
mein Enkel da draußen”, gab sie schließlich mit
brüchiger Stimme zu Protokoll. “Ich habe seine Stimme
sofort erkannt. Er war so ein guter Junge. Warum macht er nur
sowas?”
“Ich weiß es nicht. Aber ich weiß,
dass wir jetzt hier raus müssen, wenn wir überleben wollen.
Um Ihren Enkel kümmern wir uns nachher.”
“Nein.
Lassen Sie mich. Er wird sie töten, sobald sie rauskommen. Aber
sie haben noch eine Chance. Verschwinden Sie durch den
Lieferanteneingang hinten bei den Toiletten. Das ist ihre einzige
Chance.”
“Aber dann sterben Sie!”
“Ich
bin alt. Sie sind jung. Mein eigener Enkel hat das Haus in Brand
gesteckt, in dem ich mich mit meinen Freunden treffe. Was ist das für
ein Leben, das mich da draußen erwartet? Gehen Sie schon!”
“Und
was für ein Leben erwartet mich da draußen, wenn ich sie
hier qualvoll verbrennen lasse? Ich habe genug Menschen verloren.
Egal ob er ihr Enkel ist oder nicht, Sie sind ein guter Mensch und
ich werde Sie nicht hier zurücklassen!” Damit war die
Diskussion für ihn beendet und er schnappte sich die alte Frau.
Sie war leichter als er gedacht hatte, aber der Rückweg war
nicht mehr ganz so einfach. Verzweifelt sah er sich um. Die alte Dame
konnte kaum noch atmen. Eine verwegene Idee streifte seinen Verstand.
Rashid schüttelte den Kopf. Das war verrückt. Aber er tat
es trotzdem. Ohne weiter nachzudenken nahe er Anlauf und rannte auf
die große Glasfront zu. Im letzten Moment sprang er ab und
drehte ihr die Schulter zu. Das Glas brach und die Drehung ließ
ihn draußen mit dem Rücken auf den Scherben übersäten
Boden krachen. Er spürte, wie sich das Glas in seine Haut
bohrte, spürte jetzt jedes zusätzliche Gramm, mit dem die
alte Frau auf ihm lag. Er sah auf und erkannte, dass dieser Hanno mit
dem Gewehr auf ihn zielte. Er stand zwar einige Meter weg von ihm,
aber auf diese Distanz konnte er ihn unmöglich verfehlen. “Nimm
deine dreckigen Finger von ihr! Du rührst sie nicht an! Ihr
zwei! Nehmt sie weg von ihm!” Zwei völlig verängstige
Gestalten lösten sich aus der Masse und trugen die alte Frau zur
Seite. Er schaute ihr nach, aber dann ging es wieder um ihn. “Und
jetzt zu dir. Warum willst du einfach nicht sterben? Du bist lästig
wie Ungeziefer! Aber damit ist jetzt Schluss!” Doch statt des
Schusses geschah etwas Unerwartetes.
“Nein!” Die
Stimme klang überhaupt nicht mehr ängstlich, sondern völlig
von sich überzeugt. Dann sah er einen Schatten vor sich.
“Dieser
Mann hat gerade deine Oma gerettet! Er ist in die Flammen gerannt! Du
nicht, oder? Was bist du nur für ein jämmerlicher
Waschlappen! Du willst einen wehrlosen Araber erschießen? Dann
erschieß zuerst einen Deutschen, der dir die Stirn bietet, wenn
du den Mumm dazu hast!”
-Kai-Uwe-
Diese ganze Situation war so unwirklich.
Nie hätte er gedacht, dass er jemals selbst so etwas erleben
würde. Diese Dinge passierten anderen, passierten weit weg,
wurden in den Nachrichten gezeigt, aber doch nicht hier, nicht ihm.
Und doch steckte er mitten drin, wie ihm ein Blick zu seiner Frau
immer wieder bestätigte. Sie war solchen Dingen nicht gewachsen.
Wer war das schon. Mit so etwas konnte man ja nicht rechnen. Ihre
wunderschönen Augen waren leer und ausdruckslos geworden. Er
wusste, dass sie sich Sorgen machte. Nicht nur um sich, sondern vor
allem um Isabella. Das würde ihr das Herz brechen. Und auch wenn
sie beschlossen hatten, es sie auf die harte Tour lernen zu lassen,
das war damit sicher nicht gemeint gewesen. Diese Erfahrung sollte
niemand machen müssen. Wo war Isabella eigentlich. Müsste
sie nicht längst hier sein? Dann wäre die Polizei bei ihr
und könnte hier alles wieder unter Kontrolle bringen. Aber es
tat sich nichts dergleichen. Stattdessen entwickelte sich die
Situation erneut in eine völlig unerwartete Richtung. Die beiden
Angreifer gerieten in Streit. Der Anführer schlug den anderen.
Hanno war also der Anführer dieser Aktion. Nicht mal nur ein
Mitläufer, sondern der Kopf der Aktion. Dann sprang der Mann
auf, um den es anscheinend ging hier und rannte ins brennende Café
zurück. Olivia neben ihm schluchzte. “Das war Rashid”,
sagte sie. “Ich hab ihm heute Morgen die Wohnungsschlüssel
gegeben. Und jetzt will man ihn umbringen.” Kai-Uwe wollte sie
beruhigen, doch es wollte ihm nichts außer Plattitüden
einfallen, sodass er nur nicken konnte. Mit lautem Knall zerbarst die
Frontscheibe des “La Familia” und sie sahen beide, wie
Rashid mit Hannos Oma herausgeflogen kam und auf dem Boden aufschlug.
“Er hat sie gerettet, Olivia. Der Mann ist ein Held!” Sie
nickte traurig. “Ein toter Held bald?” Dazu durfte es
nicht kommen. Vielleicht würde Hanno jetzt erkennen, wie dumm
die ganze Aktion war. Vielleicht würde er dankbar sein, dass der
Mann seine Oma gerettet hatte. Doch all diese Hoffnungen wurden
bitter enttäuscht.
Hanno gab schon wieder Befehle: “Nimm
deine dreckigen Finger von ihr! Du rührst sie nicht an! Ihr
zwei! Nehmt sie weg von ihm!” Die beiden taten wie ihnen
geheißen und Hanno fuhr fort: “Und jetzt zu dir. Warum
willst du einfach nicht sterben? Du bist lästig wie Ungeziefer!
Aber damit ist jetzt Schluss!”
Es war mehr ein Gefühl,
als ein bewusster Entschluss. Er sah es in Olivias Augen. Sie war
ebenso überrascht wie er selbst. Alles was er wusste war, dass
er das nicht zulassen konnte. Um keinen Preis der Welt würde er
dasitzen und zuschauen wie ein daher gelaufener dummer kleiner
Rassist einen wehrlosen unschuldigen Mann erschoss. Niemals. Ehe er
es bewusst verstand, war er aufgestanden und trat entschlossen
zwischen Hanno und den verletzten Ausländer.
“Nein!”
Er legte alles an Überzeugung in dieses Wort, was er noch
irgendwoher auftreiben konnte. Seine Knie zitterten, sein ganzer
Körper flehte praktisch vor Angst er möge doch so eine
Dummheit nicht machen. Aber Kai-Uwe hatte keine Wahl. Heute
endet es! Jetzt und hier!
“Dieser
Mann hat gerade deine Oma gerettet! Er ist in die Flammen gerannt! Du
nicht, oder? Was bist du nur für ein jämmerlicher
Waschlappen! Du willst einen wehrlosen Araber erschießen? Dann
erschieß zuerst einen Deutschen, der dir die Stirn bietet, wenn
du den Mumm dazu hast!” Ohne weitere Regung schaute er Hanno
direkt in die Augen und sah seine Verwirrung. Damit hatte er
offensichtlich nicht gerechnet.
“Geh aus dem Weg!”
“Oder
was? Erschießt du mich sonst? Du weißt wer ich bin,
oder?”
“Mir doch egal. Verschwinde! Ich will nur den
Araber kalt machen. Ihr anderen könnt alle gehen. Euch wird
nichts passieren!”
“Ich werde nicht gehen. Wenn du ihn
willst, musst du an mir vorbei. Aber dazu fehlt dir der Mumm. Du
kannst dich nur an wehrlosen, schwachen Menschen vergreifen. Da
fühlst du dich überlegen. Aber jetzt? Jetzt hast du die
Hosen voll!”
“Sei still!” Seine Stimme begann zu
zittern. “Halt dein Maul! Du wirst mich nicht davon abhalten,
diese Ratte zu erschießen. Die hat hier nichts zu suchen! Das
ist UNSER Land und UNSERE Stadt. Eine DEUTSCHE Stadt!”
“Wenn
du für das stehst was Deutsch ist, dann möchte ich kein
Deutscher mehr sein. Dieser Mann hat dir nichts getan. Er hat sein
Leben für deine deutsche Oma riskiert! Deine Oma, die du selbst
in Lebensgefahr gebracht hast. Dafür willst du ihn umbringen?
Das würde deine Oma gefallen.”
“Lass meine Oma
aus dem Spiel! Die hat nichts hiermit zu tun!” Aber das sah sie
anders.
“Und ob ich das habe!” meldete sie sich zu
Wort. “Was denkst du eigentlich, was du hier tust? Ich lobe
dich vor aller Welt über den grünen Klee und jetzt? Jetzt
kommt raus, dass mein geliebter Enkel ein Rassist und Mörder
ist! Ich bin sowas von enttäuscht, aber das dürfte dir ja
egal sein.” Das hatte gesessen. “Aber Oma! Einer muss das
tun. Diese Ratten nehmen uns alles weg hier, machen uns alles
kaputt!”
“So? Tun sie das? Dann will ich dir mal was
sagen, Hanno. Du bist dann selbst genau so eine Ratte! Ist dir das
eigentlich klar? Deine Mutter hatte eine Affäre. Du bist halb
Italiener, du kleiner dummer Junge! Weit entfernt vom reinrassigen
Deutschen der du gerne wärst! Jetzt lass den Mist und leg die
Waffe weg!” Hanno wurde immer verzweifelter, schrie immer
lauter.
“Niemals! Du lügst! Ihr alle lügt! Der
manipuliert euch doch, merkt ihr das nicht? Ihr alle seid
manipuliert. Das ist die Lügenpresse! Die halten euch klein!
Aber nicht mich! Ich lass mir nix vormachen.” Der Hass war
zurück. “Und DU! Du machst jetzt Platz, sonst mach ich
dich auch platt. Du wirst dich wundern, wie viel Mumm in einem Finger
am Abzug stecken kann.” In diesem Moment stand auch Olivia auf
und stellte sich zu ihrem Mann. “Reicht der Mumm in deinem
Finger auch für beide Elten deiner Freundin?” Das
verwirrte Hanno noch mehr. Aber als ob das noch nicht genug wäre,
hörte er tatsächlich plötzlich Isabellas
Stimme.
“Hanno! Was soll das? Willst du wirklich meine
Eltern umbringen?” Niemand verstand zunächst woher die
Stimme kam, doch dann zeigte einer der Anwesenden mit dem Finger nach
oben. Die Augen aller folgten dem Finger bis zu Dach des Hauses, wo
eine junge blonde Frau über die Brüstung geklettert war und
aufgeregt nach unten rief.
“Ich habe dich geliebt, Hanno!
Ich habe dich wirklich geliebt! Gegen jeden Widerstand hab ich dich
verteidigt. Wenn dir noch irgendetwas an mir liegt, dann komm hoch zu
mir! Sonst komm ich runter und du hast mich auch auf dem Gewissen.
Deine Entscheidung! Du hast 60 Sekunden!” Alle waren völlig
verwirrt und überfordert mit der Situation, vor allem Hanno, dem
die Verzweiflung deutlich ins Gesicht geschrieben stand. Wieder war
es Rashid, der die Situation als erster erfasste, aufsprang und los
rannte. Reflexartig riss Hanno das Gewehr herum, während Kai-Uwe
versuchte es ihm aus der Hand zu reißen. Es war eine
unwirkliche, surreale Situation in der sie sich alle befanden. Der
laute Knall des Schusses holte sie alle zurück in die Realität.
Ein kreischendes langgezogenes “NEIN!” schallte vom Dach
herunter und weiter durch die Straße.
-Isabella-
Isabella rannte, so schnell sie ihre Füße trugen, rannte als gäbe es keine Morgen mehr. Vielleicht würde es das ja auch nicht mehr geben, wenn sie zu spät kam. Ihr Plan war simpel. So simpel, dass sogar Hanno ihn verstehen musste. Aber wie alle Pläne hatte sie Sache natürlich einen Haken. Sie spielte mit hohem Einsatz und ein Einsatz konnte immer verloren werden. Außerdem fußte ihr ganzer Plan darauf, dass Hanno tatsächlich noch zu so etwas wie Gefühlen fähig war und dass ihm noch etwas an ihr lag. Sie hoffte, dass sie diese Gefühle wieder aktivieren und ihn so zur Vernunft bringen konnte. Je näher sie dem Haus kam, desto größer erschien ihr der Haken. Sie musste vorsichtig sein. Er durfte sie keinesfalls bemerken. Aber das schien nicht weiter schwierig, denn Hanno war vollauf mit seinem Werk beschäftigt. Und je mehr sie sah, desto weniger Hoffnung hatte sie.
Offensichtlich hatten sich zum Glück alle Gäste nach draußen retten können. So ein Brand konnte schnell außer Kontrolle geraten, doch das schien bei Hanno genauso zu sein. Sie konnte nicht verstehen, was gesprochen wurde, aber plötzlich schlug er seinem Helfer das Gewehr ins Gesicht und regte sich furchtbar auf. Dann sprintete jemand wieder ins Café. War das Rashid gewesen? Sie hatte ihn nicht genau erkennen können. Aber egal wer das war, es bedeutete, dass noch jemand im Café sein musste. Hoffentlich würde man ihm noch helfen können. Unbemerkt von allen rannte sie am Haus vorbei zum Hintereingang. Sie wusste dass dort so gut wie nie abgeschlossen war und das war auch heute so. Ohne weiter nachzudenken rannte sie die Treppen nach oben, bis es nicht mehr weiter ging. Eine letzte Tür gab ihr schließlich den Weg auf das Flachdach frei. Sie überquerte das Dach und lief auf die Brüstung zu, als sie das Glas klirren hörte. Schnell lehnte sie sich nach vorne und sah, dass der Mann wohl eine alte Frau gerettet hatte und mit ihr durch die Scheibe gesprungen war. Daneben sah sie Hanno nun endgültig ausrasten. Er schrie und fuchtelte mit seinem Gewehr, bis schließlich zwei Personen der alten Frau zur Seite halfen. Das muss seine Oma gewesen sein. Du Idiot hast fast deine Oma abgefackelt! Hast du noch nicht genug? Nein hatte er nicht. Es war offensichtlich, dass er dem Ganzen jetzt ein Ende setzen wollte. Er zielte auf Rashid und konnte ihn unmöglich verfehlen, als sich plötzlich eine weitere Person erhob und sich schützende vor den am Boden liegenden Verletzten stellte. Isabella fühlte wie ihr Herz beinahe stehen blieb, als sie ihn erkannte. Das war eindeutig ihr Vater! Er verdeckte Rashid, sodass Hanno keine Wahl hatte, als zuerst ihren Vater zu erschießen, wenn er es drauf anlegen wollte. Das ist verrückt. Wie oft haben wir uns gezofft, weil er zuwenig Einsatz zeigt. Und jetzt das! Ich sollte stolz darauf sein, so einen mutigen Vater zu haben. Stattdessen hab ich einfach nur eine ganz beschissene Angst um ihn! Es war zu heulen. Isabella musste etwas tun. Sie war seine Freundin. Wenn sie die Situation nicht entschärfen konnte, wer dann? Aber sie musste den richtigen Zeitpunkt erwischen, sonst würde die Wirkung einfach verpuffen. Jetzt mischte sich offenbar auch Hannos Oma in das Gespräch ein. Die einzige andere Person, der Isabella zutraute, dass sie Hanno irgendwie wichtig sein könnte. Doch statt ihn zu beruhigen, schienen ihre Worte Hanno immer mehr in Rage zu versetzen.Er schrie so laut, dass man ihn bis hier oben verstehen konnte.
“Niemals! Du lügst! Ihr alle lügt! Der manipuliert euch doch, merkt ihr das nicht? Ihr alle seid manipuliert. Das ist die Lügenpresse! Die halten euch klein! Aber nicht mich! Ich lass mir nix vormachen. Und DU! Du machst jetzt Platz, sonst mach ich dich auch platt. Du wirst dich wundern, wie viel Mumm in einem Finger am Abzug stecken kann.”
Dann ließ das Geschehen Isabellas
Gesichtszüge erneut entgleisen. Zusätzlich zu ihrem Vater,
stellte sich jetzt auch ihre Mutter schützen vor Rashid. Warum
haben wir uns eigentlich immer gestritten, wenn ihr doch genau so
tickt wie ich? Ihr steckt echt voller Überraschungen. Ich bin so
stolz eure Tochter zu sein!
Dann hörte sie die Stimme ihrer Mutter so laut und bestimmt, wie
nie zuvor in ihrem Leben.
“Reicht der Mumm in deinem Finger
auch für beide Elten deiner Freundin?” Selbst von hier
oben war zu erkennen, dass das alles Hanno langsam aus dem Konzept
brachte. Jetzt war der richtige Zeitpunkt. Vorsichtig kletterte
Isabella über die Brüstung und beugte sich nach
vorne.
“Hanno! Was soll das? Willst du wirklich meine Eltern
umbringen? Ich habe dich geliebt, Hanno! Ich habe dich wirklich
geliebt! Gegen jeden Widerstand hab ich dich verteidigt. Wenn dir
noch irgendetwas an mir liegt, dann komm hoch zu mir! Sonst komm ich
runter und du hast mich auch auf dem Gewissen. Deine Entscheidung! Du
hast 60 Sekunden!”
Sie hatte alles gegeben. Die Karten lagen
auf dem Tisch. Jetzt musste er einfach zu ihr aufs Dach kommen. Das
musste ihm einfach mehr bedeuten, als jemanden zu erschießen.
Wenn nicht hatten sie alle verloren. Aus ihrer Vogelperspektive
konnte sie das Geschehen gut erkennen. Hanno zögerte sichtlich.
Er rang mit sich. Er würde gleich einknicken, ganz sicher. Doch
dann eskalierte alles. Rashid sprang auf und lief los, Hanno drehte
sich, ihr Vater griff nach der Waffe und wollte sie ihm entreißen.
Dann fiel der Schuss. Isabella erschrak und zuckte zusammen. Auf dem
schmalen Sims verlor sie das Gleichgewicht und drohte abzustürzen.
Ihr Fuß rutschte weg. Sie schrie nur noch ein “NEIN!”,
dann fiel sie. Mit letzter Kraft schaffte sie es aber sich mit dem
Fingerspitzen am Sims festzukrallen. Isabella versuchte ruhig zu
bleiben. Aber sie wusste, dass sie das nicht lange durchhalten
konnte. Es tat weh, die Arme schmerzten schon und dann spürte
sie, wie ihre Finger langsam über den rauen Untergrund
rutschten.
-Rashid-
Rashid rannte als ginge es um sein eigenes Leben. Das darf nicht passieren. Niemals. Ich muss sie retten. Sie darf nicht springen. Nein. Darf sie nicht. Ich muss sie aufhalten. Er hatte den Schuss gehört, aber sich nicht mehr umgedreht. Jetzt hoffte er nur, dass er schnell genug auf dem Dach sein konnte, um das Mädchen von ihrer Dummheit abzuhalten. Er wusste, welche Auswüchse eine unglückliche Liebe entwickeln konnte. Und heute war noch soviel mehr dazu gekommen, dass es für einen jungen Menschen leicht zuviel werden konnte. Endlich hatte er das Treppenhaus gefunden. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend hechtete er die Treppen nach oben und stieß die Tür zum Dach auf. Er sah sich um. Das Mädchen war nicht zu sehen. Sie konnte doch noch nicht gesprungen sein. Wo war sie? Verzweifelt rannte er zur Brüstung, aber es viel ihm schwer sich zu orientieren. Endlich hatte er die richtige Seite gefunden. Da hing sie mit den Fingern am Sims. Ohne nachzudenken kletterte auch er über die Brüstung und griff ihren Arm. Sie war nicht schwer, aber er hatte nichts, an dem er sich festhalten oder zurück ziehen konnte. Alles was er jetzt tun konnte, war Zeit zu gewinnen. Das Mädchen schrie und zappelte aber er konnte sie halten. Er bot alles an Kraft auf um sie nicht noch weiter abrutschen zu lassen. Aber er spürte, wie seine Kräfte schwanden. Sie brauchten Hilfe. Bald.
-Hanno-
Warum war nur alles so aus dem Ruder
gelaufen? Konnten die denn nicht einfach auf ihn hören? Dann
wäre doch niemandem etwas passiert. Aber jetzt? Hanno wusste
nicht, ob und wen der Schuss getroffen hatte. Er hatte Isabellas
Vater eine übergezogen, seinem Kumpel das Gewehr zugeworfen und
war hinter dem Araber her gerannt. Für
den Notfall hab ich immernoch die Pistole. Die reicht auch für
ihn. Was hatte sich Isabella
nur bei der Aktion gedacht? Sie konnte doch nicht ernsthaft damit
drohen wollen, vom Dach zu springen. Nur noch wenige Stufen, dann
würde er Klarheit haben. Er stürmte durch die Tür.
Aber da war niemand. Sie wird
doch nicht wirklich gesprungen sein?
Aber dann hörte er die Stimmen, die um Hilfe riefen. “Bitte
schnell! Ich kann sie nicht mehr lange halten. Bitte!” Hanno
stürmte auf die Brüstung zu, aber was er sah, machte ihn
fassungslos. Isabella hing am Arm des Arabers. Und der war selbst
kurz vor dem Absturz. Jetzt schaute er ihn fast flehentlich an.
“Bitte! Ich kann sie nicht mehr halten. Du musst uns helfen.”
Aber Hanno konnte nicht. Er starrte die beiden nur an.
“Komm
schon, Hanno! Bitte! Willst du mich wirklich fallen lassen? Bedeute
ich dir gar nichts mehr?” Isabellas Stimme holte ihn zurück.
Zwei Kräfte waren in ihm am Werk. Die eine wollte Isabella
retten, die andere keinesfalls den Ausländer anfassen und ihm
einreden, dass Isabella jetzt sowieso befleckt wäre. Ein Teil
von ihm wollte helfen, aber er konnte nicht. Der andere Teil hob die
Waffe und zielte auf den Araber. “Wenn du meine Oma nicht
anfassen sollst, dann meine Freundin erst recht nicht!” Rashid
und Isabella waren fassungslos. “Hanno! Merkst du eigentlich
was du da von dir gibst? Ich stürze gleich ab. Rashid hat mich
gerettet, sonst wäre ich längst tot. Nur du kannst uns
helfen. Nur du kannst mich jetzt retten! Bitte hör auf mit dem
Mist! Es ist nie zu spät, das Richtige zu tun. Jetzt kannst du
damit anfangen.”
Hanno zögerte noch immer. Doch
Isabellas Stimme, gab der bessern Seite in ihm etwas Auftrieb.
“Es
tut mir so leid, Isabella. Ich wollte nicht, dass du in all das
reingezogen wirst. Du warst das Beste, das mir das Leben bisher
beschert hatte und ich, ich habs kaputt gemacht. Manchmal weiß
ich auch nicht, was mit mir los ist. Es tut mir leid!”
“Ich
glaube dir. Ich habe immer an dich geglaubt, Hanno. Du bist kein
schlechter Mensch. Da ist noch Gutes in dir. Du musst es nur
zulassen. Mach den ersten Schritt und rette uns.” Der Araber
konnte nicht mehr. Das konnte Hanno ihm ansehen. Er flehte ihn an:
“Bitte. Dann rette nur sie und lass mich hänge. Aber lass
sie nicht abstürzen. Ihre Familie ist da unten. Willst du dass
sie ihnen vor die Füße fällt? Ich habe keine Kraft
mehr. Du musst sie jetzt hochziehen, oder wir fallen beide.”
Ein
Ruck ging durch Hanno. Wie von selbst steckte er seine Waffe wieder
in den Hosenbund und beugte sich über das Geländer. Er sah
wie der Araber seine letzten Kräfte mobilisierte und Isabella
nach oben zog. Hanno griff ihren Arm mit beiden Händen und zog
sie mit einem Schwung über die Brüstung. Dann stürzte
er zurück und streckte auch Rashid die Hand entgegen, der seine
Hilfe dankbar annahm.
-Olivia-
Der Schmerz war unerträglich. Es tat so weh. Kai-Uwe presste unermüdlich sein Shirt auf ihre Wunde, aber das Blut wollte einfach nicht aufhören herauszuquellen. Sie hörte ihn um Hilfe rufen, aber sie wusste, dass niemand da war, der ihr helfen konnte. Nicht mehr. Alles war schief gelaufen. Alles fühlte sich so falsch an. Aber gleichzeitig war alles so real. Sie nahm ihre Umgebung in einer nie dagewesenen Intensität war. Die Menschen, die Schmerzen, der Boden, der Wind der ihr durchs Haar wehte. Es hätte so wunderbar sein können, wenn nicht das Blut ihr weißes Kleid immer weiter rot verfärbte und alles um sie herum in Hektik versetzte. Menschen schrien, Menschen weinten, Menschen übergaben sich. Und mitten in all dem saß Kai-Uwe vor ihr. Ihr Held, ihr Ritter in glänzender Rüstung, ihr Ehemann. Sie liebte ihn so sehr, dass es sie nur umso mehr schmerzte, ihn verlassen zu müssen. Sie war so stolz auf ihn, aber sie konnte es ihm nicht sagen. Ihr Mund brachte nur unverständliches Gebrabbel hervor. Er weinte, flehte sie an durchzuhalten und sie versprach ihm im Geiste, alles zu tun was sie konnte. Der Wind frischte auf und versetzte ein paar Blätter in einen Reigentanz. Wie schön. Sie wollte mittanzen. Singen und tanzen zum Klang der Sirenen, die im Hintergrund zu hören waren. Singen und tanzen mit ihrem Mann und den Männern in ihren tollen Uniformen, die sie auf eine Trage legten. Sie spürte wie sie sie anhoben, sah wie die Decke des Krankenwagens über ihr größer wurde und den blauen Himmel verdrängte, sah wie ihr Mann ihr zuflüsterte, wie sehr er sie liebe. Dann war sie drin und starrte die Lampe an der Decke an. Sie hüllte den ganzen Krankenwagen in ein angenehmes Licht. Sie mochte das Licht. Sie spürte die Hektik um sich herum, aber das Licht ließ sie alles vergessen. Es war wunderschön. Hier wollte sie bleiben.
-Luigi
Wie hatte das nur alles so eskalieren können? Es war so unnötig. Was Hass aus Menschen machen konnte, war einfach unvorstellbar. Es ließ einen traurig zurück. Traurig und wütend und fassungslos. Er schaute zurück auf das ausgebrannte Café. Die Feuerwehr war da. Der Brand wurde gelöscht. Die Versicherung würde zahlen. Aber er fragte sich ernsthaft, ob er das wollte. Das Leben war so sinnlos an Tagen wie heute. Und immer traf es die Falschen. Was würde man daraus lernen? Nichts. Es würde weitergehen wie immer. Na bitte! Da ist ja schon die Presse! Und sie Kreisen wie Geier um alle Beteiligten in der Hoffnung auf das beste Interview. Ihr seid zum Kotzen! Ein Hubschrauber flog über sie hinweg, machte kehrte und schwebte jetzt über dem Dach.
-Hanno-
Es hatte sich gut angefühlt. Gut und richtig. Auch wenn ihm klar war, dass er für seine Aktionen heute bestraft werden würde, hatte Isabella recht gehabt. Es war nie zu spät das Richtige zu tun. Er musste nur damit anfangen und das hatte er getan. Nur das laute Getöse nervte.
-Isabella-
Das war wirklich knapp. Aber ich hatte mich nicht getäuscht in Hanno. Er hat uns beide gerettet. Ohne ihn wäre ich jetzt tot. Ohne ihn, wäre all das aber auch nie passiert. Sie schüttelte den Kopf. Ihr eigentlicher Retter war Rashid gewesen, nicht Hanno. Er hatte selbstlos sein Leben riskiert. Dabei kannte er sie eigentlich gar nicht. Das würde sich jetzt ändern. Rashid wäre ab jetzt immer ein gerne gesehener Gast bei ihr und ihren Eltern. Inzwischen konnte sie beide wieder stehen. Sie lächelte Rashid an und umarmte ihn. “Danke!” flüsterte sie ihm zu, als der Hubschrauber über sie hinweg flog.
-Hanno-
Der Lärm des Hubschraubers hatte ihn wieder zur Vernunft gebracht. Für einen Moment hatte doch tatsächlich seine Weichei-Seite die Oberhand gewonnen gehabt. Da musste er besser aufpassen. Hatte er jetzt. Und natürlich auch gleich gemerkt, wie der Araber seine dreckigen Finger nicht von Isabella lassen konnte. Der lernte es aber auch einfach nicht. Jetzt stand der Hubschrauber direkt vor ihnen in der Luft. Er konnte die Kamera genau erkennen. Zeit ihnen die Show zu liefern, die sie verdienen! Er winkte bis die Kamera genau auf ihn hielt und hoffte, dass sie jedes seiner Worte würden verstehen können.
“Ich bin es leid immer zurückzustecken. Das ist unser Land! Deutschland! Hier sollten Deutsche leben und sonst niemand! Keine Türken, keine Araber, keine Italiener! Die sind an all dem Schuld hier! Die kommen hierher und nehmen uns alles! Unsere Arbeitsplätze, unsere Kultur, unsere Mütter und Väter! Sie machen unsere Familien kaputt! So hat alles angefangen: Mit einem Italiener, der meiner Mutter schöne Augen gemacht hat. Der unsere Familie zerstört hat! Der meine Mutter zur Hure gemacht hat! Ich hasse sie alle! Und ich werde es meinem Vater nie übel nehmen können, dass er die beiden kalt gemacht hat, damals im Wald. Ja Papa, ich habe alles gesehen. Ich bin nicht im Auto geblieben. Du hattest so recht! Die hatten es beide nicht verdient weiter am Leben zu bleiben. Genauso wenig wie diese undeutschen Gestalten hier heute! Ich hoffe ihr verreckt alle! Ich hoffe ihr schmort in der Hölle und ich kann meinen Teil dazu beitragen.”
-Isabella-
Irgendetwas stimmte nicht. Das konnte Isabella deutlich spüren. Der Lärm, der Hubschrauber, das war nicht gut. Sie konnte es nicht besser erklären. Es war nur ein Gefühl. Leider kein Gutes und sie hatte gelernt, ihren Gefühlen zu vertrauen. Sie suchte Rashids Blick, aber der starrte nur leblos nach unten. Das alles schien ihn sehr mitgenommen zu haben. Unten war nicht viel zu erkennen. Ein Krankenwagen hatte eine verletzte Person abtransportiert. Die Übrigen wurden von Sanitätern vor Ort betreut. Jetzt löste sich eine Person aus der Menge und lief auf das Haus zu. Das musste ihr Vater sein. Sie drehte sich um und ihr Magen zog sich zusammen. Hanno rief dem Hubschrauber seine dämlichen rassistischen Vorstellungen entgegen. Das war kein gutes Zeichen. Sie wusste wie er aussah, wenn er wütend wurde. Voller Angst griff sie Rahids Hand.
-Kai-Uwe-
Er hatte nichts tun können. Alle Hilfe, alle Versuche, alles zu spät und gescheitert. Er hatte es mitbekommen. Olivia war noch im Krankenwagen gestorben. Bauchschuss. Da war man machtlos. Er spürte eine große Leere in sich, einen unerträglichen Schmerz, eine nie dagewesene Hilflosigkeit. Was sollte er Isabella erzählen? Wie sollte er ihr das verständlich machen? “Isabella!” Sofort riss er den Kopf herum und suchte das Gebäude ab. Sie war nicht zu sehen. Sie war nicht gefallen. Ein wenig Erleichterung machte sich breit. Warum ist dann der Hubschrauber da oben? Er musste sie sehen, musste sie in seine Arme schließen, musste ihr die traurige Nachricht sagen. Voller Trauer machte er sich auf den Weg Richtung Dach.
-Hanno-
Wut und Hass hatten endlich wieder die
Kontrolle übernommen. Die dunkle Seite hatte gewonnen. “Du
lernst es einfach nicht, was? Offensichtlich kannst du unsere Sprache
nicht gut genug.” Rashid und Isabella schauten ihn fragend an.
“Deine dreckigen Araber-Finger haben nichts an einer sauberen
Deutschen Frau zu suchen! Wann kapierst du das endlich? Schon gar
nicht an meiner Freundin!”
“Du spinnst doch, Hanno!
Denkst du ich will deine Freundin sein, wenn du dich so aufführst?”
Rashid schob sich vor sie.
“Alles ok. Ich lasse sie in Ruhe.
Wir gehen jetzt einfach wieder runter, ok?”
“NEIN!
NICHT OK!” Er schrie die Worte nur so hinaus und stürmte
blindlings auf Rashid zu. Der musste sich entscheiden. Wenn er
Isabella schützen wollte, durfte er nicht so nahe bei ihr
stehen. Er ging ein paar Schritte zur Seite und hoffte Hanno würde
ihm folgen. Der tat das nur zu gerne. Jetzt
hab ich dich genau da, wo ich dich haben will!
Aus vollem Lauf zog er die Pistole und schlug sie Rashid gegen die
Schläfe. Der hatte damit nicht gerechnet und bekam die volle
Wucht des Schlages ab. Die Pistole schlitterte über den Boden,
aber das war egal. Zufrieden betrachtete er sein Werk und sah zu wie
der Araber auf den Abgrund zu taumelte.
-Isabella-
Isabella konnte gar nicht glauben was sie
da sah. So schnell hatte sie Hanno noch nie gesehen. Rashid hatte
nicht den Hauch einer Chance gehabt. Der Schlag hatte ihn voll
erwischt. Jetzt taumelte er auf die Brüstung zu, offensichtlich
unfähig seine Umgebung und die Gefahr wahrzunehmen. Sie musste
etwas tun, sie musste ihm helfen, aber Rashid war schneller und
packte sie.
“Schau nur hin, was mit den niederen
Lebensformen passiert! Und mit sowas Schwachem wolltest du dich
einlassen? Schäm dich!”
“Lieber ein Schwacher,
als ein Schwachkopf wie du! Lass mich ihm helfen!” Sie sah die
Faust nicht kommen, spürte sie dafür aber umso deutlicher
in ihrem Gesicht, spürte wie sein Ring ihr die Haut aufriss, wie
sich eigenen Zähne durch die Lippen bohrten, schmeckte das Blut
in ihrem Mund, während sie den Blick nicht von Rashid abwenden
konnte, der gerade über die Brüstung kippte und wortlos
fiel. Tränen schossen ihr in die Augen, ob wegen der Trauer oder
des Schmerzes konnte sie nicht unterscheiden. Der zweite Schlag traf
sie im Bauch und nahm ihr die Luft zum Atmen. Sie krümmte sich
vor Schmerzen, rang nach Atem, versuchte zu schreien. Nichts
funktionierte. Er packte sie am Kragen und rammte sie mit voller
Wucht Kopf voran gegen die Brüstung. Dann wurde es dunkel.
-Kai-Uwe-
Er konnte kaum glauben, was seine Augen ihm da als Realität verkaufen wollten. Hanno prügelte wie wild auf seine Tochter ein. Alles war so schnell gegangen. Nachdem er sie gegen die Brüstung gedonnert hatte, war sie leblos liegen geblieben. Erst Olivia, dann Isabella! Dafür wirst du bezahlen!
-Luigi-
So viele Leben zerstört. Wofür nur? Noch heute Morgen wäre ein solcher Gewaltausbruch in ihrem kleinen Städtchen für ihn unvorstellbar gewesen. Jetzt war es real geworden. Er hatte es sich im Übertragungswagen gemütlich gemacht um etwas abzuschalten. Stattdessen traf ihn hier die volle Wucht dessen, was geschehen war, bis hin zu Live-Bilder vom Dach des Hauses. Rauchvergiftungen. Verbrennungen. Olivia tot. Erschossen vom Freund ihrer Tochter. Rashid tot. Umgebracht von Hanno, Isabellas Freund, der nach einem traumatischen Erlebnis in der Kindheit zu Hause vernachlässigt worden war und dessen rassistische Tendenzen niemand bemerkt oder ernst genug genommen hatten. Isabella schwerst verletzt im Krankenhaus. Sie war nicht ansprechbar. Die Ärzte können noch nicht sagen, ob ihr Gehirn Schaden genommen hat. Hanno tot, erschossen von Isabellas Vater, der ihr damit wohl zumindest vorübergehend das Leben gerettet hatte. Kai-Uwe, ein gebrochener Mann, viel zu junger Witwer. Insa tot. Herzversagen, als plötzlich Rashid auf der Straße aufschlug.
Viel zu viel war passiert heute. Viel zu wenig würde man daraus lernen. Aber er würde es nicht vergessen. Niemals würde er diesen Tag vergessen können. Und er würde dafür sorgen, dass man sich immer daran erinnerte. Das war seine Pflicht, seine Mission für die Zukunft. Damit jeder für sich selbst die richtigen Schlüsse ziehen konnte. Er würde sein Café wieder aufbauen. Es würde wieder ein Ort des Zusammentreffens, des Kennenlernens und der Freude sein. Aber auch ein Ort des Nachdenkens und der Erinnerung. Und eines verspreche ich euch, meine Freunde: Solange ich lebe, solange ich atme, solange aus Sauerstoff Kohlendioxid wird, solange wird man euch nicht vergesesen! Darauf könnt ihr euch verlassen!
Beim Zappen war Gunnar auf einem Nachrichtensender hängen geblieben. Er kannte die Gegend. Das war eindeutig das “La Familia”, das dort in Flammen stand. Neugierig schaltete er den Ton wieder an.
“… stehe hier vor dem italienischen Café “La Familia” wo sich heute eine Tragödie ereignet hat. Ein rassistisch motivierter Brandanschlag mit anschließender Schießerei hat hier mehrere Tote und Verletzte gefordert. Zwei Jugendliche, die auch für den Anschlag auf das Flüchtlingsheim früher am Tag verantwortlich gemacht werden, haben das vollbesetzte Café mit Molotow-Cocktails angegriffen und anschließend auf mehrere Gäste geschossen. Der Anführer der Gruppe, ein gewisser Hanno Lutter, hat vom Dach des Gebäudes folgendes Statement abgeben.” Ein Einspieler folgte und zeigte seinen Sohn jetzt in Großaufnahme im Fernsehen. “Ich bin es leid immer zurückzustecken. Das ist unser Land! Deutschland! Hier sollten Deutsche leben und sonst niemand! Keine Türken, keine Araber, keine Italiener! Die sind an all dem Schuld hier! Die kommen hierher und nehmen uns alles! Unsere Arbeitsplätze, unsere Kultur, unsere Mütter und Väter! Sie machen unsere Familien kaputt! So hat alles angefangen: Mit einem Italiener, der meiner Mutter schöne Augen gemacht hat. Der unsere Familie zerstört hat! Der meine Mutter zur Hure gemacht hat! Ich hasse sie alle! Und ich werde es meinem Vater nie übel nehmen können, dass er die beiden kalt gemacht hat, damals im Wald. Ja Papa, ich habe alles gesehen. Ich bin nicht im Auto geblieben. Du hattest so recht! Die hatten es beide nicht verdient weiter am Leben zu bleiben. Genauso wenig wie diese undeutschen Gestalten hier heute! Ich hoffe ihr verreckt alle! Ich hoffe …” Rückblende zum Reporter.
“Die restlichen Szenen möchten wir aus Rücksicht auf die Gefühle aller Betroffenen nicht zeigen. Unter den Opfern sind beide Angreifer. Noch immer kämpfen die Rettungskräfte um die Leben einiger Gäste, während die Feuerwehr versucht, der Flammen Herr zu werden und ein Übergreifen auf andere Gebäude zu verhindern. Was treibt Jugendliche nur zu solchen Taten? Wir besprechen das gleich mit …” Das wollte Gunnar nicht mehr sehen. Die Werbung musste inzwischen um sein.
Hanno hat es tatsächlich ins
Fernsehen geschafft. Zu dumm, dass er jetzt tot ist und sich darüber
nicht mehr freuen kann. Ein Versager eben.
Die Intro-Melodie riss ihn aus seinen Gedanken. Die Teenie-Mütter
waren auf Sendung. Gunnar öffnete den Tetra-Pak, füllte
sein leeres Wasserglas wieder mit Wein und machte es sich
bequem.
Zeit sich wieder auf
das Leben zu konzentrieren.
Texte: Benjamin Haag
Tag der Veröffentlichung: 07.12.2016
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