Inhalt
S.7 Jörg Olbrich: Herz aus Stein (Leseprobe)
S.13 Klappentext
S.14 Autoren und Geschichten
S.15 Weitere Leseproben
Jörg Olbrich: Herz aus Stein (Leseprobe)
Mit aller Kraft krallte Andrej Draganov seine Finger in den losen Fugen des Mauerwerkes fest. Er hörte den hellen Aufprall des Steigringes, der seinem Gewicht nicht standgehalten hatte und nach unten gefallen war.
Er konnte das obere Eisen wenige Zentimeter über sich erkennen, traute sich aber nicht, mit einer Hand loszulassen, um danach zu greifen. Vorsichtig versuchte er, mit seinem linken Fuß Halt zu finden. Endlich fand er eine Lücke im Gestein, in der er einen sicheren Stand hatte. Andrej spürte, wie ihm ein Schweißtropfen ins Auge rann, und ignorierte den beißenden Schmerz.
Nachdem er einige Minuten in dieser Haltung geblieben war, um wieder zu Atem zu kommen, machte er sich an den weiteren Abstieg. Erleichtert fand er mit dem rechten Fuß den nächsten Steigring und konnte so weiter nach unten klettern.
Ich hätte mich mit einem Seil sichern sollen, dachte Andrej, als er den Fuß auf den feuchten Brunnenboden setzte. Die Chance, heute endlich sein großes Ziel zu erreichen, hatte ihn alle Vorsicht vergessen lassen. Wenn die Aufzeichnungen seines Bruders stimmten, war hier unten die Formel versteckt, mit deren Hilfe er künstliches Leben erschaffen konnte.
Er hatte das kostbare Pergament schon verloren geglaubt, nachdem Jakub mit Tomas vor fünf Jahren bei einem Brand umgekommen war, der die Bibliothek der Burg fast völlig zerstört hatte. Seit dieser Zeit bewohnte er mit seiner Frau Maria und ihrer Dienerschaft das Anwesen. In den Kellergewölben fand er dann das Labor seines Bruders und betrieb seitdem Jakubs Forschungen weiter.
Der hatte die Formel bereits erfolgreich angewandt,
den Hinweis auf das Versteck aber so sicher verwahrt, dass Andrej mehr durch Zufall darauf gestoßen war.
Die für Jakubs Forschungen wichtigen Werke waren zu Andrejs Glück hier unten und nicht in der Bibliothek
untergebracht.
Als er die Bücherwand im Labor komplett ausgeräumt
hatte, um die Regalböden zu verstärken, fand er zwischen den Brettern die geheimen Tagebücher seines Bruders.
Es dauerte mehrere Wochen, die handschriftlichen Einträge komplett zu entziffern, aber schließlich war er doch fündig geworden.
Seit diesem Tag beherrschte der Gedanke an die Formel sein Leben.
Andrej nahm seine Lampe vom Gürtel und leuchtete die Innenseite des Schachtes ab. Irgendwo hier unten musste es einen lockeren Stein geben, hinter dem das Pergament versteckt war! Der Brunnen inmitten des Labors war laut Jakubs Aufzeichnungen schon seit vielen Jahren ausgetrocknet. So brauchte Andrej nicht zu befürchten, dass die Formel zerstört sein könnte.
Er fand eine Höhle, die vom Schacht wegführte. Er leuchtete jeden einzelnen Punkt am Grund des Schachtes ab, aber die trockenen Steine saßen alle bolzenfest in der Wand.
»Es muss aber doch hier irgendwo sein«, fluchte er und kratzte mit seinem Messer über die Fugen. Hier und da lösten sich kleinere Mörtelreste. Das Versteck fand Andrej jedoch nicht.
Sollte Jakub das Pergament doch in der Höhle versteckt haben? Andrej schob sich mit dem Oberkörper ein Stück in die Öffnung und tastete den Stein ab. Die Fläche war bis auf ein paar feine Ritzen fest und stabil. Hier konnte es kein geheimes Versteck geben.
Resigniert setzte sich Andrej auf den Brunnenboden. Mittlerweile fror er am ganzen Körper.
Plötzlich spürte Andrej, dass seine Hose triefend nass war. Überrascht sprang er auf. Hatte Jakub gewusst, dass manchmal doch noch Wasser im Brunnen stand? Wenn ja, wäre es ein Grund gewesen, das Pergament höher im Schacht zu verstecken. Andrej hatte bisher nur den ersten halben Meter oberhalb des Grundes nach dem lockeren Stein gesucht.
Von neuem Eifer angetrieben leuchtete er die Wand ab. Tatsächlich fand er gegenüber dem vorletzten Steigring eine Vertiefung in der Mauer. Hier war ein Stein aus dem Mauerwerk herausgeschlagen worden. War das etwa das Versteck? Wenn ja, wäre das Pergament gestohlen worden.
Aber konnte das möglich sein? Andrej stieg dann den Schacht nach oben.
Mit einem Fuß auf dem Steigring und dem anderen in dem Loch in der Mauer, fand er einen sicheren Halt und brauchte die Hände nicht, um sich festzuhalten. Hatte sein Bruder das Loch in die Wand geschlagen, um einen besseren Stand zu haben? Wenn es so war, musste sich das Versteck der Formel jetzt unmittelbar vor Andrejs Nase befinden. Beim Abstieg hatte er hier nicht auf lockere Steine geachtet, weil er davon ausgegangen war, sein Ziel am Grund des Brunnens zu erreichen.
Vorsichtig tastete er jeden einzelnen Millimeter der Fugen zwischen den Steinen ab. Bei einem Stein auf Brusthöhe hatte Andrej das Gefühl, dass er nicht ganz fest im Mauerwerk verankert war. Er rüttelte daran und versuchte, ihn herauszuziehen. Nach und nach bröckelten die Fugen aus der Wand. Andrej gab nicht auf, bis der Stein sich endlich aus der Wand löste. Er ließ ihn einfach nach unten fallen und machte sich sofort daran die Öffnung mit der Lampe auszuleuchten.
Andrej musste sich beherrschen, um vor Freude nicht laut loszuschreien. Vorsichtig nahm er ein mit Leinen umwickeltes Päckchen aus dem Versteck. Es bestand kein Zweifel: Er hatte sein Ziel erreicht.
Während des Aufstiegs zwang Andrej sich zur Ruhe. Vorsichtig kletterte er aus dem Brunnen und ging mit dem Päckchen zu seinem Schreibtisch.
Mit zitternden Fingern rollte Andrej langsam das vergilbte Pergament auseinander. Schweißperlen traten auf seine Stirn, als die ersten Buchstaben zum Vorschein kamen.
Würde sich jetzt erfüllen, wovon er schon so lange geträumt hatte?
Klappentext
Was wäre wenn … der alte Menschheitstraum von der Erschaffung künstlicher Existenzen längst Wirklichkeit wäre?
Über Jahrhunderte hinweg bestimmt die „Formel des Lebens“ das Schicksal der Familie Draganov. Elf Episoden führen den Leser quer durch Europa, jede Erzählung widmet sich einer Generation der Draganovs.
Ob geheimnisvolle Komtess oder ehrgeiziger Bühnenautor, englische Lady oder bulgarischer Adliger, SS-Untersturmführer oder Computerfreak – sie alle haben eines gemeinsam: Ihr Schicksal ist untrennbar mit dem eines künstlichen Menschen verknüpft.
Autoren und Geschichten
Bernhard Weißbecker: Der Sinn des Lebens
Timo Bader: Die Frucht der Nachtschatten
Maike Schneider: Neues Leben
Michael Buttler: Die geheimnisvolle Komtess
Dorothee Kaiser: Memento Mori
Marion Charlotte Mainka: Panta Rhei
Claudia Hornung: Die letzte Vorstellung
Jörg Olbrich: Herz aus Stein
Hannah Steenbock: Die arische Frau
Oliver Hohlstein: Simulation
Nina Horvath: Die geteilte Seele
Weitere Leseproben
Die Unterirdischen
Darwins Schildkröte
Texte: Edition Geschichtenweber Bd.8:
Nina Horvath (Hrsg.)
Die Formel des Lebens
Softcover
Wurdack, 2007
Coverillustration: Ernst Wurdack
ISBN: 978-3938065273
www.edition-geschichtenweber.de
Tag der Veröffentlichung: 05.11.2008
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Die Geschichtenweber gratulieren ganz herzlich Jörg Olbrich, der mit "Herz aus Stein" den Deutschen Phantastikpreis 2008 in der Kategorie "Beste deutschsprachige Kurzgeschichte" gewonnen hat.