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Liebe auf den letzten Blick

Müde blickte sie aus dem Fenster und beobachtete die vorbeigehenden Menschen. Betrachtete sie, wie sie lachten, weinten, stritten, liebten. Seufzend senkte sie ihren Blick und lehnte sich gegen die kühle Fensterscheibe. Es schneite seit Tagen. Früher hatte sie den Winter geliebt; einfach alles daran. Wieder seufzte sie. Jetzt saß sie hier und konnte – durfte – nicht hinausgehen. Sie vermisste ihre Freunde, ihr altes Leben im Allgemeinen. Doch sie wurde von Jahr zu Jahr kränklicher. Der Krebs hatte sie unaufhaltsam geschwächt. Im Winter war es für sie zu kalt, um hinauszugehen, weshalb sie in ihrem Zimmer verweilen musste. Jedenfalls meinte das der Arzt und ihre Mutter gehorchte seinen Anweisungen kommentarlos. „Nur so können wir dir ein langes Leben garantieren“, hieß es immer. Dabei kamen ihr immer wieder ein- und dieselben Gedanken: Wo sind 18 Jahre lang? 18 Jahre sind nur der kurze Zeitraum einer halben Ewigkeit. Sie atmete tief durch, als sie ihn plötzlich erblickte: Den Jungen, der jeden Tag um dieselbe Uhrzeit auf der alten Holzbank gegenüber ihres Hauses saß. Er saß einfach nur da und starrte in die Leere. Ständig fragte sie sich, worüber er wohl nachdachte. Sie wollte wissen, wie er hieß, welche Augenfarbe er hatte. Am liebsten hätte sie alles über ihn gewusst. Da schoss ihr augenblicklich nur noch ein Gedanke durch den Kopf: Ich muss zu ihm. Sie griff nach ihrem dicken Pelzmantel, einem Paar warmer Pantoffeln, womit sie an ihrer Mutter vorbeischlich und auf die Straße hinaushuschte. Als sie ihn erblickte, fing ihr Herz an, unermesslich schnell zu schlagen. Dann ging sie zu ihm hinüber und blieb vor ihm stehen. Kaum hatte er sie das erste Mal gesehen, war ein kleines Lächeln auf seinen roten Lippen erschienen. „Hallo“, meinte sie schüchternd, wobei sie spürte, wie ihr die Hitze zu Gesicht stieg.

„Du bist doch das Mädchen vom Fenster, nicht wahr?“, fragte er lächelnd, was sie vollkommen überraschte.

„J – ja, die bin ich.“

„Setz dich zu mir, bitte.“

Sie nickte ruhig und gesellte sich zu ihm auf die Bank. Er warf ihr einen freundlichen Blick zu, weshalb sie beschämt ihren Blick senkte. Blau. Er hatte tiefblaue Augen.

„Darf ich dich fragen, warum du immer am Fenster sitzt?“

Sie atmete tief und sah ihm nun direkt in die Augen.

„Ich beobachte die Leute, ihre Emotionen und … dich.“

Nachdem sie diesen Satz hinter sich gebracht hatte, pochte ihr Herz noch schneller.

„Mich?“

„Ja.“ Sie pausierte kurz. „Ich sehe dich jeden Tag hier. Du sitzt einfach nur da und tust gar nichts. Ich frage mich ständig, was du hier machst.“

Daraufhin lächelte er verlegen. „Ich beobachte ein ganz besonderes Mädchen. Nimm das jetzt bitte nicht falsch auf. Ich kenne sie nicht, doch das würde ich nur zu gerne. Jeden Tag sitzt sie dort oben an diesem Fenster.“ Er hielt einen Moment inne, um auf ihr Fenster zu zeigen. „Sie sitzt einfach nur da und schaut auf uns alle hinab.“

„Das ist doch … verrückt“, flüsterte sie, als er ihre kalte Hand ergriff und ihr tief in die Augen blickte. Ihr Herz rastete aus, sie konnte nicht mehr. Ihr war kalt, so kalt. Doch sie wollte nicht gehen, noch nicht.

„Nein“, meinte er grinsend. „Kommst du morgen wieder?“

Sie war sich nicht sicher. Es hätte jeden Tag vorbei sein können.

„Klar.“

Er lächelte. Sie lächelte. Alles schien perfekt.

 

Zwei Wochen lang trafen sie sich jeden Tag auf dieser Bank. Sie redeten, bis ihr wieder zu kalt wurde. Doch niemals erzählte sie ihm von ihrer Krankheit. Sie konnte es einfach nicht tun. Es fiel ihr zu schwer und sie wollte ihn nicht verletzen.

 

Eines Tages schlich sie sich zur gewohnten Zeit hinaus. Sie saß da und wartete. Und wartete. Allerdings tauchte er nicht auf. Tief durchatmend lehnte sie sich zurück und schloss ihre Augen. Ihr war so kalt wie noch nie. Sie fühlte sich, als wäre ihr ganzer Körper gefroren. Als könne sie sich nicht bewegen. Urplötzlich überkam sie eine seltsame Müdigkeit. Sie fühlte sich so schlapp und erschöpft, weshalb sie sich nicht wehrte. Dies war der Tag, andem sie das letzte Mal ihre Augen schloss.

 

Zehn Minuten später traf dann auch er ein. Sie saß noch immer auf der Bank, leichenblass und eiskalt. Besorgt setzte er sich zu ihr und wollte sie wecken, doch sie rührte sich nicht. Sie atmete nicht mehr und ihr Herz hatte aufgehört zu schlagen. Salzige Tränen flossen über sein bleiches Gesicht, als er sie das erste und letzte Mal sanft küsste. Er hatte sie geliebt. So sehr wie er noch nie jemanden geliebt hatte.

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Tag der Veröffentlichung: 29.08.2014

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