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Eisige Erinnerung

Ein eisiger Windzug ließ ihn frösteln, weshalb er seine Jacke fester an sich heranzog. Er starrte unablässig in die dunkle Nacht hinein. Sein Blick war kalt und leer. Erst als ihre sanfte, engelsgleiche Stimme ertönte, konnte er sich abwenden und in den warmen Schutz des Hauses zurückkehren.

 

Um drei Uhr morgens rissen ihn grausame Träume aus seinem wohlverdienten Schlaf. Die ganze Situation spielte sich immer wieder in seinen Träumen ab. Jede einzelne Nacht quälte ihn diese Erinnerung:

 

Er nahm sein kleines Mädchen an der Hand und schritt mit ihr den schneebedeckten Weg hinab. Sie wurden umgeben von märchenhaften Winterwäldern und Landschaften, die dem Paradies im Winter glichen. Das Mädchen löste sich vorsichtig von ihrem Vater und stapfte in den tiefen Schnee hinein, als sie in der Ferne einen fröhlich wirkenden Schneemann erblickte. Er ermahnte sie noch, doch sie schenkte ihm nur ein warmes, kindliches Lächeln. Seufzend schüttelte er seinen Kopf und folgte ihr langsam. Kaum kam die Kleine dem Schneemann einen Schritt näher, verschnellerte sie sich.

„Gleich bin ich da!“, rief sie fröhlich. Etwas später hatte sie ihr Ziel endlich erreicht. Voller Freude umarmte sie den Schneemann, was ihr stolzer Vater mit seiner Kamera festhielt. Daraufhin drückte das kleine Mädchen sich fest an ihn, mit den Worten „Ich habe dich lieb, Papa“ auf den Lippen. Als sie ihn wieder losgelassen hatte, lief sie los, um die umliegende Winterlandschaft weiterhin zu inspizieren.

„Nicht so schnell!“, schimpfte ihr Vater mit ehrlicher Sorge in seiner rauen, durchdringlichen Stimme. Doch die junge Entdeckerin hörte nicht auf ihn, sondern lief ausgelassen und mit glücklicher Miene weiter. Dabei stolperte sie über einen großen Stein, der inmitten des Schnees versunken war und kam hart am Boden auf. Erschrocken eilte er zu seinem kleinen Schatz hinüber. Doch es war zu spät: Sie hatte eine schwere Kopfverletzung, aus der dunkles, rotes Blut floss, welches den weißen Schnee verfärbte und eine Spur dieses schlimmen Unglücks hinterließ. Er beugte sich mit tränenden Augen über seinen Liebling und strich behutsam mit einer Hand über ihre Stirn, während er den Notarzt anrief. Dann zog er seinen Mantel aus und wickelte ihn um das verletzte Mädchen. Sie war nicht tot, nein. Ihr Herz schlug noch immer in einem unregelmäßigen, langsamen Takt. „Bleib bei mir“, wisperte er und wischte sich schniefend übers Gesicht.

 

Er richtete sich auf und schaute sich um. Seine Frau schlief tief und fest, doch ihr Gesicht wirkte unglücklich. Tief durchatmend, mit den Tränen kämpfend streichelte er ihre Wange und stand letztendlich auf. Er schnappte sich eine Taschenlampe und seinen Mantel und flüchtete sich in die Dunkelheit hinaus. Sie umgab ihn wie ein düsterer Schleier, der ihn in seinen Erinnerungen gefangen hielt. Nach einigen Minuten hatte er das „Paradies“ erreicht. Für einen kurzen Moment schaltete er das Licht aus, schloss seine Augen und dachte an sie. „Wach auf, mein Liebling.“

 

Bereits am frühen Morgen war er ins Krankenhaus gefahren und hatte sich an ihr Bett gesetzt. Allerdings war er zuvor noch Blumen kaufen. Weiße Rosen, die mochte sie am liebsten. Als er sie einst gefragt hatte, warum sie diese Rosen so sehr liebte, meinte sie nur: „Sie erinnern mich an den Schnee.“ Doch ihn erinnerten sie nur an eisige Kälte und den schlimmsten Tag seines Lebens. Nachdenklich setzte er sich neben sie und griff nach ihrer Hand. „Sechs Monate ist es nun schon her“, flüsterte er mit gesenktem Kopf, „Du kannst jetzt aufwachen, Liebes. Deine Wunden sind geheilt, es gibt nichts zu befürchten.“ Er schaute ihr ausdrucksloses Gesicht an. So gerne hätte er ihre wunderschönen, haselnussbraunen Augen wiedergesehen. Doch ihr Gehirn arbeitete nicht mehr. Sie hing an all den Maschinen, nur damit ihre Organe weiterhin funktionierten. Und er hoffte auf ein Wunder, obwohl alles aussichtslos war. Sie konnte nicht aufwachen. Niemals. Und er konnte nicht aufhören, im Winter an diesen Ort zu gehen. Niemals. Nicht, bis seine Frau sich eines Tages von ihm trennte und die Geräte ausschalten ließ. Dann ging er nur noch ein einziges Mal dorthin und kam nie wieder zurück.

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Tag der Veröffentlichung: 27.08.2014

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