Fröhlich lächelnd gab sie ihm morgens einen Kuss auf die Wange. Er sagte nichts; würdigte sie nicht einmal eines Blickes.
Als sie sich der Glasvitrine zuwendete, um sich ein Glas zu holen, erhob er auf einmal das Wort: „Du hast es wieder nicht getan, Liebling.“
Da fiel es ihr erst auf. Angst mischte sich in ihre hellen, klaren Augen.
Sie hatte vergessen, sein Hemd zu bügeln und seine Kleidung für die Arbeit herzurichten.
„Ich mache es sofort“, meinte sie und hoffte dabei stark, er würde es dabei belassen.
Doch schon im nächsten Moment sprang er auf, ging zu ihr hinüber und erhob drohend seine Hand.
„Sofort? Sofort? Du solltest es gestern tun! Nicht heute!“
Und schon schnellte seine Hand gegen ihre Wange.
„Verzeih mir, bitte …“, brachte sie unter Schmerzen hervor.
Doch er hörte nicht auf.
Und trotz allem wollte sie ihre Meinung nicht ändern.
Nach allem, was passiert war. Was er ihr angetan hatte.
Nach all diesen grauenvollen Tagen und Nächten.
Diese Stunden, die sie allein und schwer verletzt verbracht hatte.
Nach allem, was passiert war. Nach allem Unglück und Schmerz.
Nach alldem wollte sie ihre Meinung noch immer nicht ändern.
Doch war sie sich nicht darüber im Klaren, ob sie es wirklich nur nicht wollte oder ob sie es gar nicht konnte.
Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass es so war. Sie wollte ihre Meinung nicht ändern.
Das hatte sie zuvor nicht getan.
Das wollte sie jetzt nicht tun.
Denn sie liebte ihn.
Brennende Tränen flossen über ihre Wangen. Tief schluchzend wischte sie sich mit einem Finger über die nasse Haut und senkte ihren Blick. Sie sah ihre verletzten, blau-geschlagenen Hände an.
Er hatte es getan. Schon wieder.
Schon wieder hatte sie sich nicht gewehrt.
Sie konnte nicht mehr.
Sie wollte es beenden.
Sofort.
Seufzend verlagerte sie ihr Gewicht von einem Bein auf das andere. Daraufhin folgte ein prüfender Blick nach links. In der Ferne erhellten strahlende Lichter die dunkle Nacht.
Ihr Herzschlag verschnellerte sich.
Das Herz pochte ihr bis zum Hals.
Doch die Entscheidung stand fest.
Das laute Quietschen von Bremsen kam näher.
Sie setzte einen Fuß nach vorn; hielt ihn bereits in der Luft über den Gleisen. Doch plötzlich zog sie jemand zurück in seine schützenden Arme.
Er war gekommen.
Er hatte sie gerettet.
Weil er sie liebte.
„Verzeih mir, bitte.“
Tag der Veröffentlichung: 06.07.2014
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