Mit einem breiten Grinsen im Gesicht lief die vierjährige Doika über den schneebedeckten Boden. Ihre Mutter hatte ihr zwar gesagt, sie solle im Haus warten, aber vor dem Abendessen war noch etwas Zeit und ein kleiner Umweg würde sicher nicht schaden.
Jetzt, am später Nachmittag, war vom Tageslicht nur noch ein fahler Schein übrig geblieben, doch trotz der sich ausbreitenden Dunkelheit hatte Doika die Lücke schnell gefunden, die durch zwei lose Bretter in der Rückwand des Stalls entstand, und sie zwängte sich geschickt hindurch.
Drinnen schlug Doika der vertraute Kuhgeruch entgegen, vermischt mit dem Duft nach Heu und Ausscheidungen. Sie blinzelte kurz, um sich an das düstere Licht zu gewöhnen, dann lief sie eilig durch die große Box, von der sie gewusst hatte, dass sie leer stehen würde, denn sie war allein für trächtige Kühe reserviert.
Neugierig spähte sie durch den schmalen Spalt am Rande der Boxentür. Sie konnte ihre Mutter schon hören.
„Ja, hier drüben ist sie“, sagte sie gerade zu dem dicken Händler, der vor ein paar Minuten mit seinem großen Wagen vorgefahren war. Doika mochte ihn nicht. Er war ihr irgendwie unheimlich. Wie hieß er noch mal? Achja: Zerax.
Da! Der flackernde Schein einer Öllampe erschien in ihrem Blickfeld. Sicher würde ihre Mutter gleich folgen. Doika unterdrückte ein aufgeregtes Kichern. Sie weiß nicht, dass ich mich hier verstecke, dachte sie vergnügt. Das Herumschleichen auf dem elterlichen Hof machte ihr immer großen Spaß.
Sonja war schlank, hochgewachsen und hatte auffallend blondes Haar, das ihr bis auf die Schultern reichte. „Meine Sonne“, nannte ihr Vater sie immer. Aber auch etwas anderes fiel sofort ins Auge, denn auch ihre einfache, helle Bluse und der weite, braune Rock konnten ihren leicht gerundete Bauch nicht verstecken.
Doika erinnerte sich, dass der Bauch ihrer Mutter in den letzten Monaten stark gewachsen war. Und mehrfach hatte sie ihre Eltern dabei beobachtet, wie sie ihn liebevoll gestreichelt hatten. Irgendwann hatte sie sie danach gefragt.
„Bald wirst du ein Geschwisterchen bekommen“, hatten sie gesagt und dabei sehr glücklich ausgesehen. Das hatte Doika auch glücklich gemacht. Sicher war das neue Geschwisterchen viel besser als ihr blöder großer Bruder Bo, der ihr ständig auf die Nerven ging und sie an ihren Haaren zog.
Bo hieß eigentlich Bojko, aber alle nannten ihn Bo. Vielleicht weil er so ein Hitzkopf ist und sich in alles einmischt, dachte sie gehässig. „Nur gut, dass Bo jetzt nicht hier ist“, murmelte sie und spähte wieder durch den Spalt.
Ihre Mutter und der dicke Händler waren vor einer Box schräg gegenüber stehengeblieben. Doika erkannte, dass es Lisas Box war. Lisa war eine magere Milchkuh, und Doika fand sie nett. Immer wenn sie sie besuchte, sah sie ihre Besucher gutmütig an, muhte manchmal kurz und kaute friedlich auf irgendetwas herum.
„Sie ist jetzt fast drei Jahre alt, kerngesund und gibt zuverlässig Milch“, erklärte Sonja dem Händler währenddessen. „Wir würden sie ja lieber behalten wollen, aber die Ernte war schlecht und…“ Sie hob die Schultern.
Der dicke Händler brummte unzufrieden vor sich hin. „Sieht ja sehr mager aus, das Vieh“, sagte er skeptisch. „Kaum Fleisch dran, nichts als Haut und Knochen. Und dann jetzt im Winter…“ Er dreht sich zu ihr um. „Drei Goldstücke.“
Sonja erbleichte und zog scharf die Luft ein. „Was? Nur drei?“, brachte sie schließlich hervor. „Aber sie ist mindestens acht wert!“
Der dicke Händler schüttelte den Kopf. „Drei.“
„Aber wir brauchen das Geld!“ Ihre Stimme klang verzweifelt und Doika duckte sich unwillkürlich. Was macht er denn da?, fragte sie sich und drückte ihr rundliches Gesicht noch stärker gegen den Türspalt, um auch ja nichts zu verpassen.
„Da kann ich nichts machen“, antwortete der Händler derweil unnachgiebig. „Außer vielleicht…“ Er musterte Sonja ungeniert, insbesondere ihren Oberkörper. Dann blieb sein Blick an ihrem runden Bauch hängen. „Vielleicht könnte ich mehr zahlen, wenn Sie mir etwas entgegenkommen würden.“ Er machte einen Schritt auf sie zu, aber Sonja wich augenblicklich zurück.
„Vielleicht sollten Sie lieber mit meinem Mann darüber verhandeln“, sagte sie hastig. „Er müsste jeden Moment zurück sein.“ Sie sah bedeutungsvoll zur Tür und setzte sich in Bewegung. „Ich werde mal sehen, wo er bleibt. Ich –“
Abrupt verstummt sie, als der Händler ihr den Weg versperrte.
„Nur keine Eile.“ Seine Stimme klang irgendwie schmierig. „Warten wir doch einfach hier auf ihn. Uns fällt sicher etwas ein, wie wir uns die Zeit vertreiben können.“
Er bugsierte seinen beleibten Körper zwischen sie und den Ausgang und trat wieder dicht an sie heran, doch ihre Mutter wicht abermals zurück. Sie zuckte kurz zusammen, als sie mit Rücken an die Wand stieß.
Mit laut klopfendem Herzen und wie gelähmt vor Schreck starrte die kleine Doika zu den beiden hinüber. Sie wusste instinktiv, dass ihrer Mutter Angst hatte, und diese Furcht griff nun auf sie über. Tut er meiner Mama weh?
Sonja setzte ein gezwungenes Lächeln auf. „Lassen Sie mich durch, bitte.“
Wie zittrig ihre Stimme klingt!
Der dicke Händler hörte nicht auf sie. Mit glasigen Augen griff er mit einer Hand gierig nach ihrer Bluse und streichelte mit der anderen Hand besitzergreifend über ihren Bauch.
„Nein!“ Energisch schob Sonja seine Hände weg, doch der Händler war stärker. Ruckartig packte er sie und drückte sie hart gegen die Wand.
„Aufhören!“
Doika wusste nicht mehr, ob sie dieses Wort geschrien hatte oder ihre Mutter, aber sie sprang mit einem Satz aus ihrem Versteck hervor und rannt blindlings auf den Händler zu.
„Lassen Sie sie in Ruhe!“, brüllte sie.
Der dicke Händler sah sie überrascht an, ließ Sonja aber nicht los. „Verschwinde, Kleine“, knurrte er erbost.
Doch Doika ließ sich nicht beirren und hämmerte mit beiden Fäusten immer wieder auf sein linkes Bein ein. Bis es dem Händler schließlich zu bunt wurde und er sie mit einem kräftigen Tritt bedachte, der sie quer durch den Stall und dort gegen mehrere aufgestapelte Strohballen fliegen ließ.
Dort blieb sie für einen kurzes Moment betäubt liegen.
„Doika, Schatz, ist dir was passiert?“ Die besorgte, vor Angst zitternde Stimme ihrer Mutter gab ihr neue Kraft und sie rappelte sich mühsam auf.
„Es geht mir gut, Mama“, sagte sie kleinlaut.
„Gott sein Dank.“ Sonja seufzte erleichtert. „Bitte, geh jetzt ins Haus.“ Ihre Stimme klang nun fester.
„Kommst du auch mit?“
Sonja wollte etwas sagen, aber der dicke Händler kam ihr zuvor. „Nein, wir bleiben noch etwas.“ Er lachte dreckig und wandte sich wieder zu Sonja um, die er immer noch festhielt.
„Ach, von mir aus soll sie ruhig bleiben. Da lernt sie was fürs Leben. Ha! Haha.“
Er fummelte an ihrer Bluse herum, doch Sonja bemerkte es scheinbar gar nicht. Stattdessen sah sie immer noch zu Doika hinüber und ihre Lippen formten die lautlosen Worte: „Bitte, geh jetzt!“ Sie konnte nicht verhindern, dass ihr Tränen in die Augen stiegen.
Das war zu viel für die kleine Doika. Plötzlich war sie nicht mehr schwach und ängstlich, sondern nur noch wütend.
„Ich sagte: Lass sie in Ruhe!“ Das letzte Wort brüllte sie mit aller Kraft, und hinterher kam es ihr fast so vor, als wäre es dieses eine Wort gewesen, das das Chaos auslöste.
Eine unsichtbare Macht schien von ihr auszugehen, es gab einen lauten Knall und plötzlich wirbelte ein wildes Knäul aus Sonja, dem Händler und mehreren Brettern aus der Außenwand des Stalls durch die Luft und landete ein dutzend Schritte weiter hart auf dem gefrorenen Boden.
Doika hielt sich erschrocken die Hand vor dem Mund. War ich das etwa?
Dann übermannte sie die Sorge. „Mama?“, rief sie, zuerst leise und dann immer lauter. „Mama! Mama! Mama!“
Von Angst erfüllt rannte sie durch das neue Loch in der Stallwand nach draußen. Sie fand ihre Mutter am Boden liegend, wo sie sich keuchend aufrichtete und ihr verängstigtes Kind fest in die Arme schloss.
Keiner von beiden achtete auf den dicken Händler, der wilde Beschimpfungen und wüste Flüche ausstoßend zu seinem Wagen humpelte und dann laut fluchend davonfuhr.
„Es tut mir so leid Mama“, schniefte Doika, nachdem sie sich etwas beruhigt hatte. „Das wollte ich nicht.“
Sonja streichelte ihr mit der linken Hand zärtlich über den Rücken. Der rechte Arm hing schlaff an ihrer Seite. „Alles in Ordnung“, wiederholte sie immer wieder. „Du hast nichts falsch gemacht. Es ist alles in Ordnung.“
Die nächsten Stunden rauschten an Doika vorbei. Irgendwann tauchte ihr Vater auf, brachte die beiden ins Haus und Doika schließlich ins Bett.
„Ruh dich aus“, sagte er sanft. „Es war ein anstrengender Tag. Wir reden morgen darüber, ja?“
Doika nickte nur. Sie fühlte sich schuldig an dem, was passiert war, aber sie war auch sehr, sehr müde. Als hätte sie den ganzen Tag draußen herumgetobt. Sie gähnte, rollte sich unter ihrer Bettdecke zusammen und war im Nu eingeschlafen.
Schweigend saß Doika am nächsten Morgen am Küchentisch und kaute nachdenklich auf ihrem Brot herum. Hendrik, ihr Vater, hatte sie und Bo kurz vor dem Morgengrauen geweckt und ihnen gesagt, dass sie sich heute beeilen müssten. Anschließend war er im Stall verschwunden, um sich „um die Tiere zu kümmern“, wie er gesagt hatte.
Ihre Mutter ging geschäftig in der Küche hin und her, als sie hereinkamen, aber obwohl sie ihnen betont fröhlich einen „Guten Morgen“ wünschte, bemerkte Doika sofort, dass sie ihren rechten Arm in einer Schlinge trug.
Bo, der von dem gestrigen Abend kaum etwas mitbekommen hatte, war anscheinend noch zu müde, um danach zu fragen. Er gähnte immer wieder, während er sich das Essen in den Mund schaufelte.
„Habt ihr schon gegessen?“, fragte Doika schließlich. Das gemeinsame Frühstück war ihnen sonst immer sehr wichtig gewesen.
„Ich habe keinen Hunger“, erklärte Sonja, aber ihre Stimme klang belegt. Auch ihr trauriges Lächeln konnte darüber nicht hinwegtäuschen.
„Was ist denn los?“, wollte sie wissen.
Einen Moment lang glaubte Doika, Tränen in den Augen ihrer Mutter zu sehen, aber dann drehte sie sich rasch um und polierte geistesabwesend den blitzblanken Herd. „Wir gehen heute nach Wodof“, antwortete sie geschäftig, „zu Margret.“
Margret war eine alte Frau, zu der die Leute gingen, wenn sie krank oder verletzt waren. Magret gab ihnen dann eine übelriechende Salbe oder ein ekliges Getränk, aber dadurch wurden sie wieder gesund. Meistens.
Da das Dorf Wodof einen fast zweistündigen Fußmarsch entfernt war, gingen sie nicht sehr oft zu ihr. Nur dann, wenn es wirklich nötig ist, dachte Doika.
Ihr Blick fiel auf Sonjas rechten Arm. „Tut mir leid“, sagte sie leise und sah niedergeschlagen auf ihren Teller.“
Sonja schüttelte energisch den Kopf. „Das braucht dir nicht leid tun. Es ist nicht deine Schuld.“
„Was ist denn los?“, mischte sich Bo plötzlich ein. Er war mit seinem Essen fertig und hatte offensichtlich endlich mitbekommen, dass heute etwas anders war als sonst.
„Ach, nicht Besonderes“, sagte Sonja betont beiläufig. „Bloß ein kleiner Unfall im Stall. Margret wird sich um meinen Arm kümmern, es wird sicher nicht lange dauern.“
Bo sah zu seiner Schwester. „Das war bestimmt deine Schuld!“
Doika zuckte schuldbewusst zusammen. „Nein, ich –“
Ihre Mutter unterbrach sie. „Ist schon gut Doi. Es war nicht deine Schuld. Du wolltest mir nur helfen und das hast du auch getan. Der Arm wird wieder heilen. Du brauchst dir über das, was passiert ist, keine Gedanken zu machen.“
„Aber was genau ist denn passiert?“, fragte Doika. „Ich verstehe das nicht!“
„Das wissen wir auch nicht, jedenfalls nicht sicher. Wir haben eine Vermutung, sind uns aber nicht sicher. Wenn wir es genau wissen, werden wir es dir erklären, in Ordnung?“
Daraufhin verfiel Doika in nachdenkliches Schweigen. Was hatte das alles bloß zu bedeuten? Was war gestern Abend wirklich geschehen? Und wieso wussten ihre Eltern es nicht? Sie wussten doch sonst immer alles. Hatte sie einen Fehler gemacht?
Der Weg nach Wodof war so lang, wie Doika ihn in Erinnerung hatte. Die Felder links und rechts des Weges waren mit Schnee bedeckt, die Luft war zwar kalt, aber angenehm und klar und unter anderen Umständen wäre Doika wohl mit Bo zusammen herumgerannt, hätte aus dem Schnee kleine Bälle geformt und auf ihren Bruder geworfen. Doch heute war ihr nicht danach, und so trottete sie nur schweigend und in sich gekehrt hinter ihren Eltern her.
Bei Margret mussten sie und Bo im vorderen Teil ihres Hauses warten, während ihre Eltern sich leise mit der alten Frau unterhielten. Sie waren allein, aber verschiedene herumliegende Utensilien deuteten darauf hin, dass die alte Frau am frühen Morgen bereits mehrere Patienten versorgt hatte.
Fachkundig untersuchte Margret Sonjas rechten Arm und Sonja erzählte ihr mit gedämpfter Stimme, was passiert war.
„Ja, der Arm ist gebrochen“, stellte Margret nüchtern fest. „Ich werde ihn wieder ausrichten und schienen, aber es wird weh tun.“
Sonja nickte kurz und wartete. Etwas Schmerz erschien ihr unwichtig im Vergleich zu den anderen unausgesprochenen Fragen, die ihr durch den Kopf gingen.
Als hätte sie ihre Gedanken gelesen, legte Magret ihre Hand sanft auf Sonjas Bauch, schloss die Augen und konzentrierte sich. „Soweit ich es sagen kann, ist eurer Tochter nicht passiert. Sie hat den Sturz gut überstanden.“ Sonja atmete erleichtert auf. „Eine Tochter“, flüsterte sie.
„Und was ist mit ihr?“, drängte Hendrik und deutete mit dem Kopf in Richtung Tür, wo Doika und Bo warteten. „Ist sie...“
Die alte Frau warf Doika einen nachdenklichen Blick zu. „Sie ist jetzt vier Jahre alt, nicht wahr?“
„Ja, seit dem Herbst“, bestätigte er.
„Das ist sehr früh. Normalerweise treten die ersten Anzeichen erst mit fünf oder sechs auf. Aber es kommt vor. Vor allem in Stresssituationen.“
„Aber das kann doch gar nicht sein“, sagte Sonja gepresst. „Ich meine wir sind doch nicht… Und Doika… Kann es nicht noch eine andere Erklärung geben? War es vielleicht…“
Margret schüttelte den Kopf. „Nein, ich spüre es. Ich bin mir ganz sicher.“
Hendrik legte beschützend seinen Arm um Sonjas Schultern. „Und was… was bedeutet das jetzt? Ich meine, können wir…?“
„Ich werde mich um sie kümmern“, entschied die alte Frau.
„Aber –“
„Nichts aber! Es gibt keine andere Möglichkeit. Ihr wisst es, und ich weiß es auch.“
Hendrik und Sonja tauschten einen kurzen Blick aus. Einerseits waren sie erleichtert, aber gleichzeitig auch traurig.
Margret schüttelte den Kopf, als könnte sie dadurch die Gedanken der beiden einfach wegwischen. „Eins nach dem anderen“, sagte sie unwirsch. „Zuerst der Arm.“ Sie kramte in einer Kiste und legte zwei stabile Bretter sowie einen Stapel Binden bereit.
„Das wird jetzt weh tun“, warnte sie sie, doch Sonja hielt den Schmerz tapfer aus und schrie nicht auf, als sie den gebrochenen Knochen ausrichtete. Schnell legte Margret die Bretter an den Arm und fixierte sie mit den Binden, die sie geschickt um den Arm herumwickelte.
„Halten Sie den Arm ruhig, mindestens drei oder vier Wochen lang. Und kommen Sie nächste Woche vorbei, damit ich mir ansehen kann, ob er richtig verheilt.“
Sonja nickte erneut, dann gingen sie und Hendrik zu ihren wartenden Kindern hinüber.
„Können wir jetzt gehen?“, fragte Bo ungeduldig.
„Gleich, Schatz“, antwortete seine Mutter, machte einen Schritt zur Seite und ging vor ihrer Tochter in die Hocke.
„Was gestern passiert ist–“, begann sie, doch Doika unterbrach sie.
„Das wollte ich nicht, wirklich! Ich wollte dir nicht wehtun!“
„Was ist denn passiert?“, wollte Bo wissen.
Sonja atmete tief durch. „Um mir zu helfen, hat Doika eine Kraft eingesetzt, die sehr selten ist. Wir nennen das Zauberei.“
Zauberei? Doika verstummte augenblicklich, aber Bo bekam große Augen. „Zauberei? Wirklich? Kann ich das auch?“
„Nein leider nicht, und wir auch nicht. Wie gesagt, diese Gabe ist sehr selten.“
„Wird sie jetzt eine Zauberin?“
Sonja nickte.
„Wird sie in diese Zauberschule gehen, von der du uns erzählt hast?“
Bei dem Wort „Zauberschule“ zuckte Doika erschrocken zusammen. Die Zauberschule war sehr weit entfernt, mehrere Tagesreisen, und lag mitten in einer großen Stadt, in der tausende Menschen leben sollten. Doika konnte sich nicht einmal eintausend Menschen vorstellen. Selbst in Wodof lebten weniger als hundert, und so ängstigte sie allein schon die Größe der Stadt, ganz zu schweigen davon, dass sie dort niemanden kannte.
„Aber ich will keine Zauberin werden!“, rief sie plötzlich weinerlich. „Ich will auf keine Zauberschule und ich will nicht in einer großen Stadt leben, in der ich niemanden kenne!“
Ihre Mutter tröstete sie. „Die Zauberschule ist nicht schlimm, Liebes“, sagte sie und streichelte ihr zärtlich über den Kopf. „Aber wir können dich leider nicht dorthin schicken. Wir könne es uns nicht leisten, verstehst du das?“
„Dann kann ich also bei euch bleiben? “, fragte Doika hoffnungsvoll. „Können wir jetzt gleich nach hause gehen? Bitte!“
„Auch wenn du nicht auf die Zauberschule gehst, musst du trotzdem lernen, diese Kraft in dir zu kontrollieren.“
„Das werde ich! Ich werde mich auch ganz doll anstrengen, wirklich! Und ihr werdet es mir beibringen, nicht wahr?“
Ihre Mutter seufzte. „Das können wir leider nicht. Die Zauberei kann dir nur ein anderer Zauberer beibringen, und wir sind keine Zauberer.“
„Aber wer…“ Doika verstummte. Ihr Blick fiel auf Margret, die den Wortwechsel schweigend beobachtet hatte.
„Deine Intuition ist richtig, mein Kind“, sagte die alte Frau würdevoll. „Ich werde dir helfen, deine Kräfte zu kontrollieren, und dich alles lehren, was ich über die Zauberei weiß.“
„Heißt das, ich muss jetzt hierbleiben?“, fragte sie ängstlich und suchte den Blick ihrer Mutter.
„Ja, vorerst“, nickte sie. „Aber wir werden oft dich besuchen kommen, wann immer es möglich ist.“
„Aber ich möchte das nicht! Ich möchte keine Zauberin sein! Ich will bei euch bleiben! Bitte, ich tue das auch nie wieder!“
„Wir sind dir nicht böse, Doi“, sagte ihr Vater liebevoll. „Es ist keine Strafe. Dir wurde eine sehr wertvolle Gabe geschenkt und du musst jetzt nur noch lernen, sie richtig einzusetzen. Wenn du sie nicht kontrollieren kannst, können schlimme Dinge geschehen, obwohl du das gar nicht willst. Verstehst du das?“
Doika überlegte kurz. „So wie gestern Abend?“
„So ähnlich. Aber Margret ist eine Zauberin, eine Heilerin. Du weißt doch, was eine Heilerin macht, oder? Sie nutzt ihre Zauberkraft um kranken Menschen zu helfen. Das ist etwas sehr Lobenswertes, etwas Gutes. Willst du deine Gabe nicht auch für etwas Gutes einsetzen?“
Doika zögerte kurz, dann nickte sie.
„Sie wird gut für dich sorgen. Und wir werden dich oft besuchen kommen. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, ja?“
Doika war wie betäubt. Sie wusste, dass ihre Familie sie nun verlassen würde. Sie verstand nicht, warum und für wie lange, und sie wollte es mit aller Macht verhindern, doch sie spürte, dass sie es nicht verhindern konnte. Also nickte sie nur stumm, als sich ihre Eltern und ihr Bruder von ihr verabschiedeten, sie ein letztes Mal innig umarmten und dann einer nach dem anderen zur Tür hinausgingen.
Mit Tränen in den Augen stand Doika an der Tür und sah ihnen nach. Margret trat geräuschlos neben sie und legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter, bis sie nicht mehr zu sehen waren.
„Sei brav“, hatte ihre Mutter sie ermahnt. Doch nun war sie fort. Furchtsam sah sie zu der alten Frau hinauf, die sie ersetzt hatte. „Was wird jetzt mit mir geschehen?“
„Jetzt“, sagte Margret und schloss die Tür, „jetzt machen wir aus dir eine echte Zauberin.“
Gedankenverloren stand Doika am Fenster und starrte in den Schneesturm hinaus, der nun schon seit einer Stunde tobte. Zehn Jahre waren vergangen und aus der kleinen Doika war ein hochaufgeschossen, junges Mädchen geworden. Sie war zwar etwas dürr, doch sie hatte das ebenmäßige Gesicht und die strahlend blauen Augen ihrer Mutter geerbt, und man konnte schon jetzt erkennen, dass sie einmal eine hübsche junge Frau werden würde.
Ihre langen, braunen Haare, die ihr bis auf den Rücken reichten, hatte sie zu einem Zopf zusammengebunden, und obwohl sie dafür oft bewundert wurde und nicht selten die neidischen Blicke anderer Frauen auf sich zog, überlegte sie ernsthaft, ob sie die Haare nicht doch abschneiden sollte.
Kurze Haare erschienen ihr viel praktischer. Vor allem dann, wenn sie draußen herumstromerte und sich ihren Weg durch dichtes Unterholz und Buschwerk erkämpfen musste. Und das tat sie viel lieber, als Margret, ihrer Lehrerin, lieb war.
Doika seufzte. Sie mochte Margret, wirklich. Sie respektierte sie als Heilerin und wollte auch von ihr lernen. Doch warum erzählte sie ihr ständig nur irgendwelche nutzlosen Dinge?
Sie wollte doch eine große Zauberin werden! Sie wollte große Stürme beschwören, die Erde erbeben und Eisregen niedergehen lassen! Ja, denn so etwas machten die großen Zauberer in den berühmten Geschichten immer, die sich die Leute erzählten, wenn sie abends in der Kneipe oder anderswo zusammenkamen. Doch anstatt sich mit diesen wichtigen Dinge zu beschäftigen, musste sie langweilige Rezepte auswendig lernen, Heilsalben mischen, Kräuter pflanzen und Unkraut jäten.
Sie seufzte. Na, immerhin hatte sie schon ein paar Zauber aufgeschnappt. Der wichtigste von ihnen war der einfache Schild, den sie mittlerweile sehr gut beherrschte. Mit ihm schütze sie sich selbst und im Zweifelsfall auch ihre Umgebung, damit sie keinen Schaden anrichten konnte, wenn sie einen neuen Zauber übte. Wie zum Beispiel den Stoß oder „Geistschlag“, wie Margret ihn nannte.
Der Geistschlag war der erste Angriffszauber, den sie gelernt hatte, und er war es auch gewesen, den sie damals instinktiv gegen diesen dicken Händler eingesetzt hatte, um ihre Mutter zu beschützen. Sie schauderte, als sie daran dachte.
Der einzige andere Angriffszauber, den sie kannte, war der Feuerball-Zauber. Nun sicher, ihr Feuerball war noch sehr klein und nur auf kurze Entfernungen halbwegs zielsicher, aber sie hatte bisher auch kaum Zeit gehabt, ihn zu üben, denn Margret hatte ihr den Zauber erst vor Kurzen beigebracht und das auch erst nach langen Bitten und Betteln.
Margret missbilligte ihre Vorliebe für Angriffszauber. „Zerstörung ist immer leichter als Wiederaufbau“, pflegte sie zu sagen. „Merk dir das, Kind! Es ist wichtig!“
Doika war dann immer etwas niedergeschlagen. „Aber die Heilzauber habe ich doch auch gelernt“, hatte sie sich beim letzte Mal verteidigt. „Und ich übe sie, wann immer sich eine Gelegenheit dazu bietet!“
Doch die alte Frau war trotzdem nicht zufrieden gewesen. „Übe sie nicht zu oft“, hatte sie sie ermahnt. „Es ist besser, wenn sich der Körper auf natürliche Weise erholt.“
Doika hatte nur gestöhnt. Man kann es ihr einfach nicht recht machen, dachte sie.
Etwas wehmütig dachte sie an ihre Eltern. Am Anfang hatte ihre Mutter sie beinahe jedes Wochenende besucht, meist zusammen mit ihrem Vater und Bo, ihrem Bruder. Aber nachdem ihre Schwester geboren worden war, waren die Besuche seltener geworden. Natürlich wusste sie, dass sich ihre Mutter um die kleine Vera kümmern musste, aber sie vermisste sie trotzdem. Vielleicht würde Margret ihr ja im Sommer erlauben, dass sie im Gegenzug auch ab und zu ihre Familie besuchen konnte. Sie war ja jetzt immerhin vierzehn Jahre alt und würde den Weg zu ihrem elterlichen Hof selbstverständlich auch alleine finden.
Immerhin war sie schon jetzt oft allein unterwegs, wenn auch nicht so weit weg, denn sie nutzt ja jede freie Minute, um sich von Margret und ihren kranken Patienten wegzuschleichen und heimlich ihre Zauber zu üben.
Nur heute hatte es bisher nicht geklappt. Am frühen Morgen waren sehr viele Patienten dagewesen und sie hatte Margret dabei helfen müssen, sie zu versorgen. Und als sie endlich damit fertig waren, hatten starker Schneefall und heftiger Wind eingesetzt und damit all ihre Pläne zunichtegemacht.
Plötzlich riss sie Margrets Stimme jäh aus ihren Gedanken. „Doika? Kommst du mal Liebes?“
Doika tat so, als hätte sie sie nicht gehört, und blieb wie festgewachsen am Fenster stehen. Sie hatte überhaupt keine Lust auf eine weitere Lektion in Pflanzenkunde, der Lehre vom Körper oder einer der anderen langweiligen Unterrichtsfächer, die Margret sich für sie ausgedacht hatte.
„Ah, da bist du.“
Sie verkniff sich ein weiteres Seufzen, setzte eine unbeteiligte Miene auf und drehte sich um. „Hm? Was ist denn?“, fragte sie unschuldig.
„Da wir jetzt etwas Zeit haben, sollten wir sie nutzen, um den Fortschritt deiner Studien zu prüfen. Wie gut sind deine Fungi-Kenntnisse?“
Doika stöhnte. „Nicht schon wieder ein Test!“, protestierte sie, doch Margret ließ sich nicht beirren.
„Also?“, drängte sie.
Sie seufzte resignierend. „Das Kapitel über die Unterscheidung von Gift- und Speisepilzen habe ich durch“, erklärte sie. „Ich bin jetzt beim Kapitel über die Symptome und die Behandlung der verschiedenen Pilz-Vergiftungen.“
„Gut. Und wie weit bist du da?“
„Ähm… Ich … Ich weiß nicht genau“, stotterte Doika und dachte daran, dass sie noch nicht einmal die erste Seite gelesen hatte. „Noch nicht so weit.“
Margret sah sie streng an. „Du solltest dir wirklich mehr Zeit fürs Lernen nehmen, anstatt ständig nur draußen herumzuspielen.“ Sie seufzte theatralisch. „Also gut, dann prüfen wir eben das erste Kapitel. Ich beschreibe dir einen Pilz und du sagst mir seinen Namen, ob er giftig ist oder essbar und was dir sonst noch dazu einfällt. Beginnen wir doch mit einem einfachen…“
Doika nutzte die Zeit, die Margret brauchte, um Luft zu holen, und platzte dazwischen: „Aber ich wollte doch gerade rausgehen und–“
Margrets Gesicht verfinsterte sich. „Was habe ich dir gerade gesagt?“, schimpfte sie. „Lernen ist wichtiger als spielen! Außerdem kannst du in dem Schneesturm doch sowieso nicht raus.“
Das war ein guter Einwand, doch Doika hatte sich bereits eine Ausrede zurechtgelegt.
„Aber ich wollte doch gar nicht spielen“, behauptete sie. „Ich wollte nur den Schutzzauber üben! Und das Wetter ist dafür gut geeignet, denn jetzt kann ich prima testen, ob mein Schutzschild dem Schneesturm standhält.“
Margret sah sie abschätzend an und warf einen zweifelnden Blick aus dem Fenster.
„Bitte“, drängte Doika. „Den Pilz-Test können wir doch auch später noch machen.“ Wenn ich noch ein bisschen gelernt habe und besser vorbereitet bin, fügte sie in Gedanken hinzu.
„Na gut“, sagte Margret zögernd. „Aber geh nicht zu weit weg. Und spätestens zum Mittagessen bist du wieder hier!“
Doch Doika war bereits in ihre Stiefel geschlüpft und war schon fast zur Tür hinaus. „Klar, mach ich“, rief sie glücklich, schnappte sich ihren dicken Mantel und eilte hinaus.
Draußen wehte ihr der heftige Sturm einen Schwall Schneeflocken ins Gesicht, was sie daran erinnerte, sich mit dem Schutzzauber lieber nicht zu viel Zeit zu lassen. Sie konzentrierte sich auf die magische Kraft, die in ihrem Inneren schlummerte, ließ einen Teil davon nach außen strömen und formte daraus einen einfachen, kugelförmigen Schild.
Sofort setzte der Wind aus und sie spürte, dass die eisige Kälte etwas zurückwich. Sie lächelte zufrieden.
Sie hatte zwar nicht wirklich geglaubt, dass der Sturm ihren Schild überwinden könnte, aber es war trotzdem ein gutes Gefühl, die Bestätigung dafür zu erhalten.
Sie dachte nach. Natürlich wollte sie nicht den altbekannten Schutzzauber üben, sondern viel lieber den neuen Feuerballzauber, doch sie spürte, dass Margret sie durchs Fenster beobachtete. Nicht nur mit den Augen, sondern auch mit ihren magischen Sinnen. Also sollte sie lieber woanders üben. Ein Ort, der etwas abgelegen war und an dem sie nicht gestört werden würde. Und ein Ort, an dem sie möglichst wenig kaputt machen konnte, falls doch etwas schiefging. Ein Ort, wie… Wie die Bauernhof-Ruine am Rand des Dorfes!
Vergnügt lief sie los.
Der Bauernhof war schon seit vielen Jahren verlassen. Der alte Henry hatte dort gewohnt, bis er gestorben war. Das war schon eine Ewigkeit her und sie kannte den alten Henry nur aus dem Klatsch, den sich die anderen Dorfbewohner erzählten. Er war wohl sehr unbeliebt gewesen, hatte kaum Kontakt zu seinen Nachbarn gepflegt und sich in seinem Bauernhof geradezu verkrochen. Bis der Bauernhof dann eines Tages nach einem Blitzschlag vollständig abgebrannt war. Die Strafe Gottes, sagten sie.
Jetzt stand dort nur noch eine verkokelte Ruine und niemand hatte je ernsthaft daran gedacht, sie wieder aufzubauen. Aber die große Scheune daneben war noch halbwegs intakt. Im Sommer wurde sie manchmal als Lagerraum genutzt, doch jetzt im Winter stand sie leer. Niemand hatte einen Grund, dort hinzugehen, also konnte sie dort sicher ungestört üben. Vielleicht könnte sie sogar ein paar ungeschützte Feuerbälle auf die Ruine werfen. Ein zusätzliches Feuer würde dort sicher keinen großen Schaden mehr anrichten können.
Während sie leicht übermütig darüber nachdachte, wie es sich wohl anfühlen würde, ihren magischen Kräften endlich einmal ungezügelt freien Lauf lassen zu können, ließ der Sturm um sie herum immer mehr nach, und als sie die Scheune schließlich erreichte, fiel der Schnee nahezu in gerader Linie zur Erde und sie konnte ihren Schild ganz fallenlassen.
Das große Tor der Scheune war offen und sie schlüpfte hindurch. Drinnen war es fast so kalt wie draußen, was wohl am offen stehenden Tor und dem allgemein schlechten Zustand der Außenwände lag, doch das störte sie nicht. Mit ihren Feuerzauber-Übungen würde ihr sicher bald warm werden.
Die Scheune war wie erwartet leer, nur ein paar große Kisten waren links an der Seite aufgestapelt. Sie überprüfte sie schnell, doch sie waren allesamt leer.
„Sehr gut“, sagte sie laut. „Die Kisten werden ein gutes Ziel abgeben.“
Sie schützte sich selbst, die Kisten sowie die Wand dahinter mit einem magischen Schild und lief zur gegenüberliegenden Seite. Dort fokussierte sie ihre Energie auf einen Punkt vor sich und brachte sie dann zum Brennen, genau so, wie Margret es ihr gezeigt hatte. Und es funktionierte: Wie aus dem Nichts schwebte plötzlich ein kleiner Feuerball vor ihr in der Luft.
Sie konzentrierte sich auf ihn und ließ ihn mehrmals vor sich hin und her pendeln, um ein Gefühl dafür zu entwickeln. Dann zielte sie auf die Kiste in der Mitte und warf den Feuerball mit aller Kraft.
Doch der Feuerball flog weit nach rechts und krachte kurz vor der Seitenwand auf ihren magischen Schild.
Sie seufzte und versuchte es erneut. Beim zweiten Mal flog er links daneben, beim dritten Mal zu hoch, doch der Abstand zur mittleren Kiste verringerte sich mit jedem Durchlauf, bis sie ihr Ziel beim elften Versuch endlich traf.
Zufrieden ließ sie ihre Schutzschilde fallen und gönnte sich eine kleine Pause. Das Beschwören der Feuerbälle hatte einen großen Teil ihrer magischen Kraftreserven aufgebraucht und erfahrungsgemäß dauerte es eine Weile, bis sie sich wieder auffüllten.
Sie ärgerte sich kurz darüber, dass sie in der Eile nicht daran gedacht hatte, etwas zu essen mitzunehmen, denn dadurch hätte sie den Aufladeprozess beschleunigen können, doch ihr Ärger verflog so schnell, wie er gekommen war.
Was machte es schon für einen Unterschied? Sie hatte doch noch viel Zeit, bis sie zu Margret zurückkehren musste, und außerdem–
Plötzlich hielt sie erschrocken inne.
Was war das für ein Geräusch gewesen? Es kam eindeutig von draußen. Schritte! Da, jetzt ganz deutlich! Hatte Margret sie etwa gefunden?
Oh nein!, dachte Doika ängstlich. Sie wird sicher wütend sein, wenn sie sieht, dass ich den Feuerballzauber übe! Leicht panisch sah sie sich um. Es gab kein Versteck in ihrer Nähe, nur die Kisten dort drüben auf der anderen Seite.
War vielleicht irgendwo ein Loch in der Außerwand, durch das sie entkommen könnte? Sie untersuchte hektisch die Bretter in ihrer Nähe. Einige schienen lose zu sein, doch ihr blieb keine Zeit, sie ganz herauszureißen. Die Schritte kamen immer näher- Gleich würden sie das Tor erreichen und sie unweigerlich entdecken!
Reflexartig riss Doika ihren Unsichtbarkeitsschild hoch, obwohl ihr gleichzeitig einfiel, dass das aus zwei Gründen total bescheuert war. Zum einen konnte jeder Zauberer den Schild sofort entdecken. Zwar nicht mit den Augen, sondern nur mit Hilfe seines magischen Gespürs, doch das spielte dann auch keine Rolle mehr.
Und zweitens war ihr Unsichtbarkeitszauber alles andere als vollständig. Margret hatte sich geweigert, ihr den Zauber beizubringen, weil er angeblich noch zu schwierig für sie war, und so hatte sie ihn sich selbst beibringen müssen. Die Anleitung dafür hatte sie in dem alten Zauberbuch gefunden, welches Margret ihr gegeben hatte. Demnach war es nur eine Modifikation des allgemeinen Schutzzaubers und musste daher nicht zwangsläufig von einem anderen Zauberer demonstriert werden.
Im Prinzip ging es darum, das Licht gleichmäßig um sich herumfließen zu lassen, so dass es den eigenen Körper nicht mehr berührte. Doch da das Licht immer von allen Seiten gleichzeitig kam, war das extrem kompliziert, und Doika wusste genau, dass sie es nicht schaffen würde, jeden einzelnen Lichtstrahl korrekt um sich herumzubiegen. Stattdessen konzentrierte sie sich nur auf eine Richtung, indem sie nur die Lichtstrahlen verbog, die von der Vorder- oder Rückseite der Scheune kamen.
Auf diese Weise war sie für die Menschen, die am Scheunentor standen, nicht sichtbar, doch von den Seiten völlig ungeschützt. Und selbst jemand, der nur leicht schräg von vorne zu ihr hinübersah, würde ein sehr grotesk verzerrtes Bild von ihr sehen und sie somit sofort entdecken.
Der einzige Vorteil dieses Mini-Unsichtbarkeitszaubers, den sie ‚Sichtschild‘ nannte, war, dass sie selbst noch einiges erkennen konnte. Bei einem vollständigen Schild würde sie gar nichts mehr sehen können, da das Licht sie ja nicht mehr erreichte, doch so konnte sie problemlos auf die andere Seite der Scheune schleichen.
Sie war genau in der Mitte der Scheune, als die Schritte das Scheunentor erreichten. Erschrocken blieb sie stehen, kniff ängstlich die Augen zusammen und hoffte inständig, dass ihr kümmerlicher Sichtschild ausreichen würde.
„Seht ihr?“, sagte eine tiefe Männerstimme. „Hier ist nie jemand.“
Doika blinzelte verwirrt. Die Stimme kam ihr bekannt vor, doch das war es nicht, was sie so durcheinanderbrachte. Es waren eindeutig mehrere Personen, und Margret würde doch nicht gleich einen Suchtrupp nach ihr ausschicken. Also was taten sie dann hier?
Neugierig riss sie die Augen auf und wurde mit einer schwarzen Wand belohnt. Ja, natürlich: ihr Sichtschild.
Sie schloss die Augen wieder und schickte ihr magisches Gespür zu ihnen hinüber. Ja, drei Personen, allesamt männlich. Der Mann, der eben gesprochen hatte, beobachtete die beiden anderen, die ihrerseits kritisch die Scheune musterten.
„Sieht ja nicht gerade beeindruckend aus“, sagte der zweite skeptisch. Er ging ein paar Schritte in die Scheune hinein und erinnerte Doika damit daran, endlich ein sicheres Versteck aufzusuchen. Sie eilte auf die Kisten zu. Jetzt nur keine Aufmerksamkeit erregen…
„Wem gehören denn die Kisten da?“ Mist, fluchte Doika wortlos, ging aber tapfer weiter und hoffte, dass die Männer die Kisten nicht allzu genau untersuchen würden.
„Eigentlich niemandem“, erklärte der Erste. „Die sind noch vom alten Henry, aber der braucht sie jetzt ja nicht mehr.“ Er lachte. „Also, was sagt ihr? Die Lage ist doch perfekt, und hier ist mehr als genug Platz für eure Ware.“
Endlich hatte Doika die andere Seite erreicht und ließ sich schnaufend hinter eine Kiste fallen. Der Sichtschutz hatte sie total erschöpft, besonders nach den anstrengenden Feuerball-Übungen davor. Sie würde eine Weile brauchen um sich zu erholen, bevor sie einen weiteren Zauber wirken konnte.
„Ja, das müsste gehen.“ Das war wieder der Zweite. „Also wir bringen die Ware dann am frühen Morgen hier rein. Vermutlich noch bevor die Sonne aufgeht, aber vielleicht auch etwas später. Sie bleibt dann hier bis Sonnenuntergang, dann holen wir sie wieder ab. Solange darf hier niemand herumschnüffeln, verstanden?“
„Kein Problem“, sagte der Erste. „Wie gesagt, hier kommt nie jemand her.“
Doika spitzte die Ohren. Wo hatte sie diese Stimme nur schon mal gehört? Ihr Gespür sagte ihr, dass im Moment keiner der drei zu ihr hinübersah, also lugte sie vorsichtig hinter ihrer Kiste hervor. Ah, richtig! Es war Torvin, der Schmied des Dorfes. Sein bärtiges Gesicht und die kräftige Gestalt würde sie überall erkennen. Aber wer waren die anderen? Sie sah sie sich genau an, war sich aber sicher, dass sie die beiden noch nie im Leben gesehen hatte.
„Wann soll es denn losgehen?“, fragte Torvin derweil.
„Den genauen Termin sagen wir dir noch“, kanzelte ihn der Zweite ab. „Aber erst kurz vorher.“ Er war recht groß und ebenfalls kräftig, aber auf eine sportlichere Weise und längst nicht so muskulös wie der Schmied. Und er war als einziger der drei bewaffnet, was ihn in Doikas Augen irgendwie verschlagen aussehen ließ. Sie konnte die zwei langen Messer in seinem Gürtel deutlich spüren, ebenso wie den kleinen Dolch, welchen er in seinem rechten Stiefel versteckt hatte.
Der dritte Mann hatte bisher gar nichts gesagt, sondern hörte nur schweigend zu. Er war etwas kleiner, schlecht rasiert und hielt sich leicht gebückt. Seine ganze Haltung deutete darauf hin, dass er nur ein einfacher Befehlsempfänger war.
„Hm, na meinetwegen“, brummte der Schmied. „Und wann bekomme ich mein Geld?“
Der verschlagen wirkende Mann wandte sich zum Gehen, und die anderen folgten ihm. „Keine Sorge“, sagte er. „Du bekommst dein Geld, wenn die Ware abgeholt wird. Bis dahin… keine Probleme … Ware …“
Jetzt waren die drei zu weit entfernt und Doika konnte nur noch Bruchstücke ihres Gesprächs hören. Doch sie dachte gar nicht daran, ihnen hinterherzuschleichen, sondern verfolgte sie nur mit ihrem magischen Gespür, bis sie außer Reichweite waren. Dann zählte sie langsam bis hundert, um sicherzugehen, dass sie nicht zurückkehrten. Erst danach verließ sie ihr Versteck, sah sich aufmerksam um und rannte dann wie der Blitz nach Hause. Sie hatte keine Ahnung, was das alles zu bedeuten hatte, aber sie musste Margret unbedingt davon erzählen.
~Wird fortgesetzt~
Texte: Gertrud
Bildmaterialien: Cover by Cristell (http://cristell15.deviantart.com)
Tag der Veröffentlichung: 02.01.2014
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