Es war einmal, vor gar nicht allzu langer Zeit, ein junger Goblin, der reiche Beute machen wollte. Er hielt sich selbst für sehr gerissen, und so schmiedete er einen finsteren Plan, um einen wohlhabenden, aber in die Jahre gekommenen Zauberer auszurauben.
Der alte Zauberer, das war bekannt, ging jeden Morgen zum gleichen Ort, setzte sich unter einen alten Baum, sah nach Osten und genoss den Augenblick des Friedens und der Harmonie, in dem die strahlende Sonne über dem endlosen Meer aufging.
Nach einer Weile erhob er sich, seufzte, warf einen letzten Blick auf die tosenden Wogen des Ozeans und nahm dann den schmalen Pfad, der ihn an der Klippe entlang zurück zu seinem bescheidenen Heim führte.
Und genau dort wartete der junge Goblin, unsichtbar in seinem Versteck, bereit für seine Untat. Sein hinterhältiger Plan sah keinen Kampf vor, denn dazu sind die Goblins viel zu feige. Statt dessen wollte er den alten Zauberer einfach von der Klippe stürzen, um dann selbst auf sicheren Pfaden hinterher zu klettern und die Leiche des Unschuldigen zu plündern.
Doch was er nicht wusste, sollte ihm bald zum Verhängnis werden: Denn der Zauberer war zwar alt und schwach, doch er verfügte über große Weisheit, ein fast unerschöpfliches Wissen und die gesammelte Erfahrung der vielen Lebensjahre, die hinter ihm lagen.
Und so wehrte sich der alte Zauberer mit all seiner Macht, als der junge Goblin plötzlich aus seinem Versteck auftauchte und ihn den Abhang hinunter stoßen wollte. Ein heftiges Handgemenge entstand, der Goblin zog seinen Dolch, der Zauberer seinen Zauberstab, Magie schwirrte durch die Luft und die vielen Hiebe des Goblins trafen nur ins Leere.
Trotzdem gelang es dem jungen Goblin, den Zauberer in die Enge zu treiben. Kein Handbreit passte mehr zwischen ihn und den Abgrund, der dem erschöpften Menschen den Tod und dem hinterhältigen Goblin reiche Beute versprach.
Gier stand in seinen Augen, als der Goblin Anlauf nahm und sich mit all seiner Kraft gegen den Zauberer warf. Der schwankte, ruderte wild mit den Armen, suchte nach dem Gleichgewicht, fand es jedoch nicht und hielt sich schließlich verzweifelt an dem jungen Goblin fest. Der kreischte erschrocken, hatte er doch selbst keinen Halt, und nach einer kurzen Schrecksekunde, die ihnen wie eine Ewigkeit vorkam, sausten beide in die Tiefe.
Auf dem Weg nach unten nutzte der Zauberer seine magischen Kräfte, bündelte seine Energie und intonierte einen alten Levitationszauber, der seinen Sturz auffing und ihn einen Moment in der Luft schweben ließ. Doch der Zauber war nur für eine Person gedacht und berücksichtigte den jungen Goblin nicht, der sich, nun selbst in Todesangst, mit aller Kraft am Bein des Zauberers festhielt und ihn auf diese Weise langsam nach unten zog.
Der weise Zauberer erkannte sofort, dass seine Kraft nicht ausreichte, sie beide zurück nach oben zu tragen. Auch gaben es seine geschwächten Kräfte nicht her, den langen Weg nach unten zu schweben und sanft zu landen, und so versuchte er vergeblich, den klammernden Goblin abzuschütteln.
Als er endlich, sowohl körperlich als auch mental entkräftet, den Kampf aufgeben und sich dem sicheren Tod einfach hingeben wollte, entdeckte er einen schmalen Vorsprung am Felsen, nur wenige Meter entfernt. Er bündelte die Reste der Magie, die ihm noch blieben, schwebte darauf zu und ließ sich die letzten Meter erschöpft fallen, woraufhin Mensch und Goblin auf den schmalen Vorsprung purzelten.
Der junge Goblin erholte sich als erster, sprang energisch auf seine Füße und stürzte sich erneut auf den nun geschwächten Zauberer. Dieser, am Ende seiner Kräfte, besann sich auf seine Weisheit und sprach: „Warte, Goblin, ich gebe auf, du hast gewonnen. Doch bevor du mich tötest, bedenke, dass du dann ebenfalls hier sterben wirst.“
Der junge Goblin hielt verwirrt inne, und sah ihn misstrauisch an. „Was du damit meinen?“, knurrte er und hielt ihm seinen Dolch an die Kehle. „Sprechen, schnell!“
„Nun, das ist rasch erklärt“, erwiderte der Zauberer weise. „Du siehst doch, dass wir hier ganz alleine sind, und nur dieser schmale Vorsprung trennt uns von den tosenden Klippen des Meeres dort unten. Kein Weg führt weg von hier, und die Felswand ist zu steil und zu brüchig, um sie zu erklettern.“
Der Goblin sah sich eilig um und erkannte mit einem Schreck, dass der Zauberer Recht hatte. Immer noch misstrauisch zog er seinen Dolch etwas zurück und zischte: „Du uns runterschweben lassen!“
„Tut mir leid, dafür reicht meine Kraft nicht mehr aus“, entschuldigte sich der Zauberer. „Doch wie du sicher weist, ist dieser Felsen von unzähligen, langen Gängen durchzogen. Wir müssen also nur einen Eingang finden und hindurchgehen, um unser beider Leben zu bewahren.“
Der junge Goblin dachte darüber nach. „Du Eingang kennen?“
„Noch nicht“, gab er zu, „aber gib mir einen Moment.“
Mühselig erhob sich der Zauberer auf sein Füße, stütze seinen müden Körper an der Felswand ab und spähte nach allen Richtungen. Etwa zwanzig Meter entfernt, schräg unterhalb ihrer Position, entdeckte er einen anderen schmalen Vorsprung im Fels, an deren Rand der Anfang einer großen Höhle zu sehen war. „Da vorn, siehst du? Das könnte ein Eingang sein.“
„Du uns dorthin bringen!“, verlangte der Goblin sofort.
Der erschöpfte Zauberer atmete tief durch, griff an seinen Gürtel, nahm einen Schluck aus einem kostbaren, sonderbaren Gebräu, welches seine magischen Kräfte auflud, und intonierte abermals den Levitationszauber. Der Goblin klammerte sich erneut an ihm fest, und so schwebten die beiden über den Abgrund zum nächsten Felsvorsprung.
Doch die Höhle entpuppte sich nicht als Eingang in den Felsen, und so mussten sie diese Prozedur noch zweimal wiederholen, bis sie eine Höhle fanden, die tiefer in den Felsen führte.
Der Zauberer entzündete ein magisches Licht am Ende seines Zauberstabes und ging hinein, der Goblin folgte ihm auf dem Fuße. Aber die Gänge im Felsen bildeten ein wahres Labyrinth, und so irrten sie viele Stunden von einem dunklen, stickigen Gang zum nächsten, ohne den ersehnten Ausweg zu finden.
Je länger die Odyssee durch den finsteren Felsen dauerte, desto mehr befürchtete der Zauberer, dass der Goblin die Geduld verlieren und er ihm einfach seinen giftigen Dolch in den Rücken stoßen würde. Doch als sie erneut an einer Kreuzung standen und der Zauberer schon vorschlagen wollte, sich zu trennen, kroch auf einmal ein unbekannter Duft in die feine Goblinnase seines halbhohen Begleiters.
„Luftzug von dort kommen“, grunzte er und deutete nach links. „Aber stinkige Luft, nichts frisch.“
„Nun, wir sollten wohl dennoch nachsehen“, entschied der Zauberer, wiederwillig angesichts des Gestanks, doch mit neuer Hoffnung auf ein baldiges Ende ihrer Suche.
Nur wenig Zeit verging, bis der enge Gang sich verbreiterte und zu einer riesigen Höhle wurde, die sich endlos in alle Richtungen zu erstrecken schien. Der Goblin übernahm nun die Führung und schlich, dem Luftzug folgend, in die dunkle Höhle hinein.
Plötzlich regte sich etwas in der Finsternis, ein ohrenbetäubendes Brüllen erklang und ein gigantisches Tier mit spitzen Krallen und kräftigen Kiefern sprang in den schwachen Lichtkegel des Zauberstabes. Es war unglaublich groß, strotze nur so vor Kraft und hatte ein großes, spitzes Horn auf der Nase, welches es nun drohend in ihre Richtung streckte.
So ein Tier hatte keiner von beiden je zuvor gesehen, doch es war ihnen sofort klar, dass eine Flucht völlig ausgeschlossen war. Denn dieses Ungetüm würde sie sofort in Stücke reißen, sollten sie ihm auch nur einen Moment den Rücken zukehren.
Während die beiden das Monstrum noch schockiert anstarrten, machte dieses mit einem Mal einen gewaltigen Satz und stürmte auf sie zu, woraufhin der Goblin reflexartig nach rechts und der Zauberer nach links auswich.
Das Tier, wütend über seinen ersten Fehlangriff, folgte dem Licht des Zauberstabes und damit dem Zauberer, der nun ganz allein dastand. Zum zweiten Mal an diesem Tag war der Zauberer der Verzweiflung nahe, als ihm schlagartig ein weiser Spruch seines ersten Lehrmeisters einfiel, den er immer wieder gern zitiert hatte: „Hält der Zauber nicht mehr stand, nimm die Beine in die Hand. Sind die Feinde überall, nimm den großen Feuerball!“
Einen Feuerball heraufzubeschwören kostete den Zauberer nur wenig Mühe, war er doch dank jahrelanger Übung schon fast in Fleisch und Blut übergegangen. Als der heiße Ball auf der Flanke des wilden Ungetüms einschlug, brüllte dieses laut auf vor Schmerzen, und der Zauberer glaubte schon an einen schnellen Sieg, bis ihm auffiel, das sein mächtiger Feuerball das dicke, ledrige Fell des Tieres gar nicht durchdrungen hatte.
Das Ungeheuer umkreiste den Zauberer nun, und eine Art Pattsituation entstand. Aber das magische Feuer des Zauberers war endlich, und so hätte das Tier wohl letzten Endes gewonnen, wenn… Ja wenn der junge Goblin sich einfach davongestohlen hätte, wie es der Zauberer irrtümlich angenommen hatte.
Doch entgegen seiner guten Ausbildung hatte der Goblin dies nicht getan. Statt dessen schlich er sich mit gezücktem Dolch von hinten an das Ungetüm heran, kletterte mit geübten Griffen unbemerkt daran hoch und lief leichtfüßig über den knochigen Rücken.
Am Kopf angelangt, stieß er seinen spitzen Dolch mit einem kurzen Kampfschrei kräftig in den verwundbaren Nacken des riesigen Tieres. Doch, oh Schreck: Selbst an dieser Stelle war das dichte Fell noch zu dick, um von dem kurzen Dolch des kleinen Goblins durchdrungen zu werden.
Doch das Tier hatte ihn nun bemerkt, brüllte laut und warf sich heftig hin und her, um ihn abzuschütteln. Während sich der Goblin mit aller Kraft festhielt, nutze der Zauberer die kurze Atempause, um rasch nachzudenken. Nur ein einziger, sehr dunkler aber machtvoller Zauber fiel ihm ein, und so sammelte er kurzentschlossen die bösartige Energie der Höhle, kanalisierte sie durch seine eigene und fokussierte sie schließlich in den Dolch des jungen Goblins, der sich immer noch an den Hals des wild zappelnden Ungeheuers klammerte.
Dann rang der Zauberer nach Luft, sammelte all seine verbleibenden Kräfte und schleuderte erneut Feuerbälle auf das Tier, das sich prompt ablenken ließ und seine Aufmerksamkeit wieder ganz auf ihn richtete.
Dadurch hatte der junge Goblin Gelegenheit zu einem erneuten Angriff. Und er staunte nicht schlecht, als er seinen Dolch ansah und feststellte, dass er durch den mächtigen Zauber des Menschen mit einem Mal sehr viel länger und spitzer geworden war. Mit aller Kraft stieß er den verzauberten Dolch in den Hals des Tieres, und dieses Mal glitt er mühelos durch das dichte Fell.
Blut spritze heraus, das Tier schrie auf, stellte sich auf seine Hinterfüße und warf den jungen Goblin endgültig ab, so dass er hart auf dem Boden aufkam und benommen liegenblieb. Dann lief das blutende Monstrum weg, torkelte angeschlagen durch die Höhle, wollte den unbekannten Schmerzen entfliehen, doch konnte nicht, und fiel letztendlich tot zu Boden.
Der Kampf war entschieden, und der Zauberer schleppte sich mühsam zum Goblin, der immer noch am Boden lag, aber langsam wieder zu sich kam.
Während das ungleiche Team erschöpft am Boden saß und nach ihren Wunden sah, wurde ihnen allmählich bewusst, welch unwahrscheinliches Glück sie doch gehabt hatten. Keiner von beiden hätte den Kampf allein gewinnen können, doch zusammen hatten sie es geschafft, das gewaltige Tier zu erlegen, und waren dabei nicht einmal ernsthaft verletzt worden.
Sie gönnten sich eine kurze Erholungspause, dann machten sie sich auf, um die letzten Meter der finsteren Höhle hinter sich zu lassen und gemeinsam durch den kurzen, heller werdenden Gang zu trotten, der ihnen das ersehnte Tageslicht brachte.
Dort trennten sich die beiden, wenn nicht freundschaftlich, dann doch wenigstens nicht mehr feindselig, und Zauberer und Goblin lebten noch viele Jahre, in denen sie immer wieder in wohlwollendem Gedenken an ihr gemeinsames Abenteuer diese Geschichte erzählten.
Texte: Text: alle Rechte beim Autor
Tag der Veröffentlichung: 03.02.2013
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