Mühsam ächzt eine ältere Dame am frühen Samstagmorgen die Treppe hinunter. Sie ist schwer beladen, vier verschiedene Müllbeutel muss sie schleppen. Plastik, Papier, Bio, Restmüll. Sie schüttelt den Kopf, als sie darüber nachdenkt. „Früher war doch alles einfacher“, murmelt sie halblaut vor sich hin.
Auf dem Treppenabsatz bleibt sie stehen, um wieder zu Atem zu kommen. Der Müllgeruch kommt ihr in die Nase und sie verzieht das Gesicht. Dann nimmt sie die nächste Treppe in Angriff.
Nicht zum ersten Mal ärgert sie sich darüber, dass ihre Wohnung im dritten Stock liegt, in einem Gebäude ohne Fahrstuhl. Vielleicht sollte sie einen Umzug in Betracht ziehen. Ins Erdgeschoss zum Beispiel. Oder irgendwohin, wo es einen Fahrstuhl gibt. Vielleicht sogar in eines dieser modernen Seniorenheime. Aber andererseits…
Sie wohnt doch schon so lange hier, in diesem gemütlichen, grünen Viertel im Herzen Berlins. Wann war sie eingezogen? Das muss doch bald ein halbes Jahrhundert her sein. Damals, frisch verheiratet. Und dann kamen die Kinder. Achja, die Kinder… Sie seufzt. So viele Jahre. So viele Erinnerungen. Nein, sie will hier nicht weg.
Endlich ist sie unten angelangt. Routiniert geht sie zur schweren Hintertür, stemmt sie auf und quetscht sich und ihre stinkenden Mülltüten hindurch. Die dreckigen Mülleimer stehen links, aber aus reiner Gewohnheit sieht sie lieber nach rechts. Denn dort haben die Anwohner einen kleinen Garten angelegt, in dem sie früher selbst gerne mitgearbeitet hat. Und jetzt, wo es Frühling wird, kommen die ersten Blütenblätter zum Vorschein.
Doch was ist das? Dahinten, neben dem Flieder? Hat da etwa jemand Müll auf die Hyazinthen geschmissen? Also das kann doch wohl nicht…!
Entrüstet geht sie ein paar Schritte näher heran.
Und lässt vor Schreck ihre Mülltüten fallen. Mit zitternden Händen zieht sie ihr Handy aus ihrer Hosentasche und wählt den Notruf. „Ja? Helga hier“, stößt sie aufgeregt hervor, „Helga Häberle. Ich habe gerade eine Leiche gefunden.“
Die nächsten Stunden rauschen an Helga nur so vorbei. Ein Streifenwagen mit zwei jungen Polizisten und jeder Menge Absperrband ist schon wenige Minuten nach ihrem Anruf da, und dann trudeln nach und nach immer mehr und mehr Polizeibeamte ein. Helga ermahnt jeden Einzelnen von ihnen, ja nicht auf die schönen Blumen zu treten, aber leider hört niemand auf sie. Stattdessen muss sie eine Befragung nach der anderen über sich ergehen lassen.
Als die Leiche abtransportiert ist, gleicht das vormals blühende Blumenbeet einem tiefen Schlammloch. Der Anblick ist deprimierend.
„Frau Haber?“
Helga dreht sich um. Ein großer, schlecht rasierter Mann mittleren Alters steht vor ihr. Er trägt einen langen, dunklen Mantel, hat einen Bierbauch, und hält ihr eine Marke vor die Nase. „Kommissar Koning, LKA.“
„Häberle.“
„Was?“
„Mein Name ist Häberle.“
„Ach so, ja, Ok.“ Koning zieht umständlich ein zerknittertes Notizbuch aus seiner Tasche, blättert eine Weile darin herum und macht sich eine Notiz.
„Sie haben die Leiche also gefunden?“, fragt er sie dann.
Sie nickt. Noch eine Befragung, wie schön.
„Kannten Sie die Tote?“
„Nina. Nina Gabler. Sie war meine Nachbarin, wir wohnen beide im dritten Stock.“
Koning sieht automatisch nach oben. Am Balkon im obersten Stockwerk fehlt ein Teil des ehernen Geländers, die Reste davon hat die Spurensicherung vorhin im Blumenbeet eingesammelt.
„Dann ist das also ihre Wohnung?“
Sie nickt erneut.
„Lebte sie allein dort?“
„Ja“, sie zögert, „überwiegend.“
Koning hebt die Augenbrauen. „Überwiegend?“
„Naja, Sie wissen schon. Sie hatte einen Freund. Sehr nett und höflich. Er blieb manchmal über Nacht.“
„Verstehe. Und wie heißt dieser Freund?“
„Sebastian, glaube ich. Den Nachnamen habe ich vergessen.“
„Sebastian kein Nachname“, brummt Koning und schreibt es sich auf. „Und sonst? Hat sie noch anderen Besuch gehabt? In letzter Zeit?“
„Hmm“, Helga überlegt. „Nein, niemand. Also außer ihrem Bruder, Timo, meine ich. Aber er war nicht oft hier, sie haben sich nicht gut verstanden.“
Koning notiert sich seine Adresse. „Was können Sie mir noch über Frau Gabler sagen?“
„Nicht mehr, als ich Ihren Kollegen schon gesagt habe, fürchte ich. Sie war Studentin an der Freien Universität. Ich glaube, sie wollte Kunsthistorikerin werden. In den Semesterferien habe ich ihre Pflanzen gegossen. Sie war immer sehr freundlich und herzlich, nicht nur zu mir. Das arme Ding. Wissen Sie schon, was passiert ist?“
Koning klappt seinen Notizblock zu. „Die Ermittlungen laufen noch“, sagt er, „aber ich denke, es war ein Unfall.“
Damit verabschiedet er sich und Helga ist vorerst entlassen. Sie wirft einen letzten Blick auf das deprimierende Schlammloch, das einst ein Blumenbeet war, und klettert dann gedankenversunken die Treppe hinauf.
Helga klettert mühevoll die vielen Treppen hinauf in den dritten Stock. Vor ihrer Wohnung bleibt sie stehen, um Luft zu holen. Dabei lässt sie sich Konings Worte noch einmal durch den Kopf gehen. Ob es wirklich ein Unfall war?
Ihre Blicke wandern zur gegenüberliegenden Tür. Die Polizei hatte sich in Ninas Wohnung umgesehen, war aber schon wieder weg. Es würde sicher nicht schaden, wenn sie kurz hineinginge. Den Wohnungsschlüssel hat sie nach dem letzten Pflanzengießen ja behalten dürfen…
Kurzentschlossen betritt sie Ninas Wohnung. Drinnen ist es sauber und ordentlich, wie gewohnt. Naja, von einigen frischen Stiefelabdrücken auf dem Parkettboden mal abgesehen. Auch hier hat die Polizei also Spuren hinterlassen.
Helga geht langsam durch den kurzen Flur ins helle Wohnzimmer. Vor der Balkontür bleibt sie stehen. Ihre Blicke ruhen auf dem kaputten Geländer. War es einfach durchgebrochen, als Nina sich daran anlehnen wollte?
Sie dreht sich um und lässt ihren Blick durch das Wohnzimmer schweifen. Alles sieht aus wie immer. Obwohl… Moment! Wieso stehen dort zwei benutzte Gläser auf dem Wohnzimmertisch?
Sie sieht sich die beiden Gläser etwas genauer an, achtet aber darauf, es nicht zu berühren. In dem einen ist noch ein Rest Mineralwasser, das andere ist leer. Sie schnuppert daran. Whiskey, eindeutig, vermutlich Bourbon.
Aha! Nina mochte keinen Whiskey, also hatte sie gestern Abend Besuch gehabt. Und ist es nicht ihr Bruder Timo, der so gerne Bourbon trinkt?
Ihr erster Impuls ist, sofort die Polizei anzurufen. Doch dann zögert sie. Dieser Kommissar Koning, der den Fall untersucht, der war ihr etwas einfältig vorgekommen. Und er hatte ihr nicht einmal eine Karte mit seiner Telefonnummer gegeben, damit sie ihn erreichen konnte, wenn ihr noch etwas einfiel. Die Kommissare im Fernsehen machen das immer.
Also der Koning hatte doch eindeutig keine Ahnung! Ja, besser sie ermittelt erst einmal auf eigene Faust. Ganz wie es der schöne Kommissar Stark es im ihrer Lieblingssendung Tatort immer macht. Das macht bestimmt Spaß!
Energisch sieht sie sich um. Also ihr Bruder hat sie ermordet, dieser gemeine Hund. Wie hat er das wohl gemacht?
Sie sieht erneut zum Balkongeländer. Der Polizist hatte behauptet, es wäre einfach durchgebrochen. Aber das kann doch nicht sein, sie hatte sich ja selbst schon oft da angelehnt. Also muss der Mörder es irgendwie manipuliert haben, und dazu braucht er Werkzeug.
Nina bewahrt ihr Werkzeug in einem Besenschrank in der Küche auf, also geht Helga dorthin und öffnet den großen Werkzeugkasten. Hmm. Die Werkzeuge sind alle ordentlich verstaut. Aber was hatte sie auch erwartet? Blut, Rost und Blumenerde? Wohl eher nicht.
Enttäuscht schließt sie den Werkzeugkasten und schiebt ihn wieder zurück. Dann fällt ihr Blick auf einen einzelnen Schraubenzieher im Fach darüber. „Was machst du denn da?“, fragt sie neugierig. Ob der Mörder diesen Schraubenzieher benutzt hatte? Aber wie sollte sie das beweisen?
Sie richtet sich wieder auf und überlegt. Was würde Stark jetzt tun? Achja, die wichtigste Regel beim Ermitteln: Beweise sichern. Schnell zückt Helga ihr Handy, klickt sich durch das Menü und macht schließlich ein paar Fotos von dem Schraubenzieher. Dann geht sie zurück ins Wohnzimmer und fotografiert auch noch die beiden Gläser auf dem Tisch, insbesondere das Whiskeyglas.
Triumphierend sieht sie sich um. Stark wäre bestimmt stolz auf sie.
Also was kommt als nächstes? Richtig: Den Verdächtigen verhören, in diesem Fall also den Bruder. Na dann mal los.
Etwa vierzig Minuten später erreicht Helga das Haus von Timo Gabler. Es liegt in einer wohlhabenden Gegend und hat einen gut gepflegten, einladenden Vorgarten.
Auf dem Weg hierher hat sie über sein Motiv nachgedacht und ist sich nun sicher, es gefunden zu haben: Geld.
Ninas (und damit auch Timos) Familie ist vermögend, das ist klar, sonst hätte sie sich ihre Wohnung gar nicht leisten können. Sie war ja schließlich nur Studentin ohne eigenes Einkommen. Und Timo muss auch Geld haben, wenn er sich so ein Haus leisten kann.
Aber die beiden hatten sich oft gestritten, das hatte sie mitbekommen. Und auch wenn sie nicht genau weiß, worum es in den Streitereien gegangen war, so ist sie sich doch jetzt sicher, dass es nur um Geld gegangen sein konnte. Das war im Fernsehen schließlich auch immer so.
Entschlossen drückt sie auf die Klingel und muss nicht lange warten, bis Timo ihr öffnet.
„Guten Tag“, beginnt sie höflich. „Ich weiß nicht, ob Sie sich noch an mich erinnern. Ich bin Helga Häberle, die Nachbarin ihrer Schwester.“
„Oh, natürlich, Frau Häberle. Guten Tag. Bitte entschuldigen Sie, aber die Polizei ist gerade erst weg und…“
Helga nickt mitfühlend. „Ja, selbstverständlich. Ich bin auch nur vorbeigekommen, um Ihnen mein Beileid auszudrücken. Sie standen sich ja sehr nah, nicht wahr?“
Er nickt. „Ja, sehr.“ Helga macht innerlich einen Luftsprung. Jetzt hat sie ihn bei einer Lüge ertappt, sehr gut! Doch sie behält ihre trauernde Maske auf, während er fortfährt: „Ich kann es nicht fassen, dass sie tot ist. Die Polizei sagte, Sie hätten sie gefunden?“
„Das stimmt“, bestätigt Helga und berichtet es ihm in knappen Worten. „Und dann sah ich sie dort liegen, genau auf den Hyazinthen. Es war kein schöner Anblick.“
Eine kurze Pause entsteht, in der beide ihren Erinnerungen nachhängen. Dann ergreift Helga wieder das Wort: „Was wollten Sie eigentlich gestern Abend bei ihr?“
Timo blinzelt. „Was?“
„Gestern Abend. Sie haben sie doch besucht.“
„Nein, hab ich nicht.“
„Ach nun hören Sie doch auf!“ Helga ist mit einem Mal außer sich, wirft alle Höflichkeiten über Bord und ist wild entschlossen, ihn mit ihren Vorwürfen zu konfrontieren. „Ich hab ihr Whiskeyglas gefunden. Ich weiß, dass Sie es waren, es ist Ihre
Marke. Und die Polizei wird Ihre
Fingerabdrücke darauf finden.“
„Was reden Sie denn da? Ich war gestern gar nicht bei ihr!“
„Achja? Oder lügen Sie mich wieder an? So wie eben, als Sie sagten, Sie würden ihr sehr nahestehen? Ich weiß doch, dass sie oft gestritten haben. Also was ist passiert? Haben Sie sich wieder gestritten? Wollten Sie Geld von ihr? Warum haben Sie sie vom Balkon geworfen?“
„Was
soll ich…?! Das habe ich nicht
! Ich war die ganze Nacht hier!“
Jetzt ist er wirklich aufgebracht und Helga überlegt, ob er wohl auch gegen sie gewalttätig werden könnte. Aber sie bleibt störrisch, nimmt all ihren Mut zusammen und schmeißt ihm ein aggressives „Sie lügen!“ ins Gesicht.
Timo schnappt nach Luft, er ist scheinbar kurz vor dem Explodieren. Doch dann fängt er sich wieder, dreht er sich wortlos um und knallt ihr die Tür vor der Nase zu.
„Wir sind noch nicht fertig!“, ruft Helga durch die Tür. „Ich werde es beweisen!“
Helga fährt nicht direkt zurück, sondern mach noch einen Zwischenstopp bei der Polizei, um ihre Aussage zu unterschreiben. Dabei erwähnt sie auch ihre Beobachtungen in Ninas Wohnung sowie ihre Schlussfolgerungen, das Gespräch mit Timo verschweigt sie hingegen. Der junge Polizist, der ihre Aussage aufnimmt, ist sehr aufmerksam und verspricht, die Informationen sofort weiterzugeben. Helga ist begeistert. Jetzt kann Kommissar Koning nicht mehr behaupten, es wäre nur ein Unfall gewesen!
Zufrieden fährt sie weiter zu ihrer Wohnung, wo sie erneut die vielen Treppen nach oben steigt. Und wieder bleibt sie vor ihrer Wohnungstür stehen, um nach dem anstrengenden Treppensteigen zu Atem zu kommen. Und wie von allein wandert ihr Blick wieder zu Tinas Wohnung hinüber.
Plötzlich hört sie von drinnen Geräusche. Ist die Polizei etwa schon da? Sammeln sie Beweise und nehmen Fingerabdrücke? Oder ist es Timo, der die Beweise verschwinden lassen will, bevor die Polizei eintrifft?
Sie verflucht ihre Unvorsichtigkeit. Sie hätte ihm besser nicht alles erzählen sollen. Aber wenn es ihre Schuld ist, dann wird sie ihr Missgeschick auch wieder ausbügeln.
Kurzentschlossen geht sie hinein.
„Hallo?“, fragt sie vorsichtig. „Ist jemand hier?“
Ein Männerkopf kommt zum Vorschein. Aber es ist nicht Timo, sondern Ninas Freund Sebastian. „Oh. Hallo Frau Häberle“, begrüßt er sie freundlich, während er vollends aus dem Schlafzimmer hervorkommt und ihr die Hand reicht.
Helga lächelt erfreut. Sebastian ist immer so höflich. Und er kleidet sich schick. Ja, ein netter junger Mann. Bestimmt wird er es weit bringen. Schnell spricht Sie ihm ihr Beileid aus, dann führt er sie ins Wohnzimmer.
„Setzen Sie sich doch bitte“, sagt er und deutet aufs Sofa.
„Oh, vielen Dank.“ Sie nimmt Platz. „Wissen Sie, es ist wirklich gut, dass Sie hier sind. Ich möchte etwas mit Ihnen besprechen.“
Sebastian nimmt ihr gegenüber auf einem Hocker Platz und sieht sie aufmerksam an.
„Die Polizei hat Ihnen sicher gesagt, dass der Tod Ihrer Freundin ein Unfall war. Aber das glaube ich nicht. Ich glaube, jemand hat sie hinuntergeworfen“, vertraut sie ihm an.
„Wirklich? Aber das kann doch gar nicht sein! Wer sollte ihr denn so etwas antun?“
„Ihr Bruder“, sagt sie entschieden, „er muss es gewesen sein.“
„Timo? Nein, das glaube ich nicht.“
„Aber ich kann es beweisen“, meint Helga aufgeregt. „Sehen Sie doch mal hier die beiden benutzten Gläser. In dem hier war Bourbon, das kann man jetzt noch riechen.“
„Aber Nina mochte doch keinen Whiskey.“
„Genau! Aber ihr Bruder! Er war also gestern Abend hier, obwohl er das abstreitet. Er muss irgendwie das Balkongeländer manipuliert haben, dann hat er sie dorthin gelockt und dann…“
Sebastian steht plötzlich auf und geht unruhig hin und her. „Nein nein, das kann ich mir einfach nicht vorstellen. Warum sollte er so etwas tun? Er ist doch ihr Bruder!“
„Ja, deswegen wollte ich mit Ihnen sprechen. Ich weiß, dass sich die beiden öfter mal gestritten haben, aber ich weiß nicht, warum. Wissen Sie es vielleicht?“
„Na ja, also … Ich …“, stottert er, als plötzlich jemand an der Tür klingelt und er erschrocken zusammenfährt.
„Oh, das ist sicher nur Kommissar Koning“, erklärt Helga beruhigend. „Ich habe ihm von den Gläsern erzählt. Bleiben Sie einfach hier, ich hole ihn.“
Sie geht durch den kurzen Flur und öffnet die Tür. Zwei Polizeibeamte stehen davor. Sie tragen große Koffer, auf denen Spurensicherung steht, und Helga lässt sie hinein. „Gehen Sie einfach durch“, erklärt sie fröhlich, „das Wohnzimmer ist direkt dort vorn.“
Sie will die Tür gerade wieder schließen, als sie bemerkt, dass auch vor ihrer Wohnungstür jemand wartet. „Herr Koning? Sind Sie das?“
Der Kommissar fährt verwirrt herum. „Oh, da sind Sie. Ja, ich möchte noch einmal mit Ihnen sprechen.“
Sie lässt ihn in Ninas Wohnung und schließt die Tür. „Worüber wollen Sie denn mit mir sprechen?“
Koning ist im Flur stehengeblieben und baut sich nun vor ihr auf. „Zunächst einmal möchte ich Ihnen für ihre Beobachtungen danken, die Sie vorhin zu Protokoll gegeben haben. Sie könnten sich als sehr wichtig herausstellen.“
„Oh, das habe ich doch gerne gemacht“, sagt sie geschmeichelt.
„Aber da ist noch eine andere Sache, die Sie nicht erwähnt haben. Und zwar Ihr Gespräch mit Herrn Gabler. Sie können doch nicht einfach durch die Stadt laufen und Leute beschuldigen! Das ist eine Mordermittlung, meine
Mordermittlung, und ich–“
„Aha!“, unterbricht ihn Helga selbstbewusst. „Sie geben also zu, dass es Mord war, und kein Unfall!“
Koning funkelt sie böse an. „Unterbrechen Sie mich nicht andauernd! Natürlich war es kein Unfall. Das haben unsere Forensiker herausgefunden, als sie das Balkongeländer untersucht haben. Aber Sie können trotzdem nicht einfach in der Gegend herumlaufen und Leute beschuldigen!“
„Aber –“
„Nein, nichts aber! Sie hören jetzt sofort damit auf! Und dann sagen Sie mir, mit wem sie sonst noch darüber geredet haben.“
„Mit niemandem!“, behauptet Helga. „Also außer mit ihrem netten Freund. Ich habe gerade mit ihm darüber gesprochen, als –“
„Ihr Freund?“ Koning ist mit einem Mal ganz aufgeregt. „Sebastian Suhr? Ist er noch hier?“
Sie nickt.
„Verdammt! Das ist unser Hauptverdächtiger! Was haben Sie ihm erzählt?“
„Nicht viel“, verteidigt sie sich. „Nur dass ich glaube, dass es ihr Bruder war. Und das mit den Gläsern. Aber ich konnte doch nicht wissen –“
Aber Kommissar Koning hört nicht mehr zu, sondern stürmt unwirsch ins Wohnzimmer, wo die Spurensicherung schon bei der Arbeit ist. Sebastian steht etwas abseits nahe der Balkontür.
„Haben Sie schon was gefunden?“, erkundigt sich der Kommissar bei einem der beiden Polizisten.
Der schüttelt den Kopf. „Das Glas war sauber abgewischt.“
Koning dreht sich um und zielt jetzt auf Sebastian. „Waren Sie das?“
„Was? Ich? Nein, natürlich nicht! Warum sollte ich das tun?“
„Ich weiß nicht. Vielleicht weil es Ihr Glas ist? Ich habe gehört, Sie trinken gerne Whiskey.“
Auf Sebastians Gesicht erscheinen plötzlich kleine Schweißperlen. „Es ist nicht mein Glas.“
„Dann haben Sie sicher nichts dagegen, wenn wir Ihre Fingerabdrücke abnehmen“, meint Koning im Plauderton. „Oh, und eine DNA-Probe brauche ich auch.“
„N-natürlich, wenn es Ihnen weiterhilft. Aber wozu brauchen Sie die? Ich dachte, das Glas wäre abgewischt worden?“
„Ja, von außen. Aber wer auch immer daraus getrunken hat, hat mit Sicherheit winzige Speichelspuren auf der Innenseite hinterlassen. Das reicht für einen DNA-Vergleich. Sie waren es ja nicht, nicht wahr?“
Sebastian schluckt plötzlich und sieht unsicher zu den Polizisten hinüber, die das Glas bereits eingetütet und beschriftet haben. Dann verlassen die beiden Beamten von der Spurensicherung das Wohnzimmer, um nach den Werkzeugen zu sehen.
„Ok doch“, sagt er schließlich. „Ich war hier. Aber ich habe sie nicht getötet!“
Koning zieht wieder sein zerknittertes Notizbuch hervor, blättert umständlich darin herum und sieht dann auf.
„Wann war das genau?“
„Ich glaube, ich bin so gegen neun gegangen.“
„Und danach?“
Sebastian reibt sich nervös die Finger. „Ich weiß nicht mehr… so genau…“, versucht er sich rauszureden, doch der Kommissar starrt ihn nur an. Helga hingegen, die Konings Verhör bisher schweigend verfolgt hatte, ist an seinen Händen etwas aufgefallen: Ein blasser Ring zieht sich um seinen rechten Ringfinger.
„Sind Sie vielleicht zu Ihrer Frau gefahren?“, fragt sie unvermittelt.
„Was? Ich… Oh nein!“ Er bricht plötzlich zusammen, lässt sich aufs Sofa fallen und fängt an zu weinen. „Wieso? Wieso nur?“
Helga setzt sich neben ihn. „Erzählen Sie es uns einfach“, sagt sie beruhigend. „Danach werden Sie sich besser fühlen.“
„Warum konnte sie nicht einfach noch ein paar Wochen warten?“, heult Sebastian nun ungehemmt. „Ich wollte sie nicht umbringen. Ich habe sie geliebt, verstehen Sie?“
Helga nickt mitfühlend. „Was ist passiert?“
„Sie hat es herausgefunden, genau wie Sie. Und sie wollte ihr alles erzählen. Aber dann hätte ich alles verloren! Das konnte ich doch nicht zulassen.“
Nun schaltet sich Koning wieder ein: „Wie meinen Sie das?“
Sebastian schluckt, dann bricht die ganze Geschichte aus ihm heraus: „Meine Frau hat Krebs im Endstadium. Wenn sie stirbt, bekomme ich alles. Aber Nina wollte ihr alles erzählen. Verstehen Sie nicht, was das für mich bedeutet hätte?“ Er sieht verzweifelt von Helga zu Koning und zurück. „Sie hätte sich doch sofort von mir scheiden lassen! Und wegen dem verdammten Ehevertrag hätte ich nichts bekommen, gar nichts! Das konnte ich doch nicht zulassen! Ich musste
es tun, verstehen Sie das nicht? Es war Notwehr!“
„Das wird der Staatsanwalt wohl anders sehen“, brummt Koning. Dann legt er ihm Handschellen an und führt in weg.
Helga bleibt allein auf dem Sofa zurück. Eine merkwürdige Geschichte war das. Zugegeben, sie hatte zunächst den Falschen beschuldigt. Aber immerhin ist der Mörder nun gefasst, und das Dank ihrer Hilfe.
Sie schlendert zum Fenster und sieht hinunter auf den Innenhof. Nun, dort wartet immer noch viel Arbeit auf sie. Sie würde ein paar Blumen kaufen und mithelfen, das zerstörte Beet zu erneuern. Und dann sollte sie auch noch ein paar Blumen an Timo schicken, als Entschuldigung für ihr schlechtes Benehmen. Aber welche?
Sie denkt kurz darüber nach, dann lächelt sie zufrieden. „Ich glaube, am besten wären Hyazinthen.“
Texte: Text: alle Rechte beim Autor
Tag der Veröffentlichung: 23.01.2013
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