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Die vorliegende Kurzgeschichte:
»NEBEL ZWISCHEN DEN FELSEN«
ist entnommen dem Buch:
»Der FALL im HOTEL
– und andere Kriminalgeschichten«
(von Andreas Kräft)
Das Werk ist daher urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne schriftliche Genehmigung des Autors weder im Ganzen noch teilweise reproduziert, vervielfältigt oder verändert werden. Dieses Verbot beinhaltet ausdrücklich auch die Übersetzung in andere Sprachen, die Verwendung in elektronischen Systemen sowie sämtliche gewerblichen Aufführungen. Alle Rechte sind ausdrücklich vorbehalten.
Andreas Kräft, 06.01.2009
Bildnachweis:
Umschlagbilder, gemeinfrei (public domain):
Caspar David Friedrich:
* Der Wanderer über dem Nebelmeer
* Felsenlandschaft im Elbsandsteingebirge
Erscheinungsjahr dieser Ausgabe: 2012
Impressum:
Andreas-Kräft-Geoden-Buch
Copyright © by A. Kräft
Umschlaggestaltung: A. Kräft
Kontakt:
www.gorgopolis.de
E-Mail: andreas.kraeft@freenet.de
Gedankenvoll saß er auf der sonnenbeschienenen Hotelterrasse, rührte in seiner Kaffeetasse und ließ sich von dem milden Wind umwehen, der an diesem herbstlichen Nachmittag die Tiroler Bergwelt durchstreifte. Seine Gabel führte einen süßen Kuchen genussvoll zum Munde, und etliche andere Besucher – Familien, Pärchen und Rentner –, die sich ebenfalls die wunderbare Aussicht der majestätischen Gletscherwelt gönnten, taten es ihm gleich. Einige kleine Kinder tollten herum. Gregor sah auf die glitzernden Steine des Wanderwegs, der sich direkt am Hotel vorbeischlängelte, mit dem Versprechen, jeden willigen Wanderer bis in die höchsten Höhen zu tragen. Er war befestigt, aber steinig und führte über einen kleinen Bach immer weiter, immer höher, bis er sich schließlich, in einigen hundert Metern Entfernung, zwischen den Bergen verlor.
Gregor war dieser Weg wohlvertraut. Seine kastanienbraunen Augen, benetzt mit Feuchtigkeit, die seine tiefe Melancholie aufzeigte, betrachteten fort und fort diesen Bergweg und tasteten sich jeden Meter vor und wieder zurück. Oftmals nickte er mit dem Kopf, ohne es selbst zu merken. Dieser Weg war sein Freund. Ein Freund sogar, der ihm einen großartigen Teil seines Lebens geebnet hatte. Denn auf jedem Meter dieses Weges waren die Schritte seiner Frau verewigt, die neben ihm, in vollendeter Liebe und Fröhlichkeit, sein Dasein so erhellt und lebenswert gemacht hatte. Unvorstellbar schien es, dass diese Momente jemals aufhören dürften. Unvorstellbar – ihre Nähe nicht mehr zu verspüren. Gregor schloss die Augen: Erlebte sie noch einmal, ihre Umarmungen und Küsse. Verspürte noch einmal das Streicheln ihrer warmen sanften Hände inmitten der massiven Gebirgszüge, während sich über ihm die schroffen, imposanten Felsen, gleichsam, bis in den strahlend blauen Himmel erstreckten, der Sonne entgegen, die ihnen, zu ihrer grenzenlosen Liebe, großzügig das Licht des Lebens gespendet hatte.
Ein Jahr war es nun her, seit sie diesen Weg zuletzt beschritten hatten. Arm in Arm. In gleicher inniger Liebe, in gleicher inniger Zärtlichkeit – doch angstvoll schweigend. Das nahende Unheil nicht erwähnend. Marion war von der schweren Operation gezeichnet. Und der Chemo. Magenkrebs. Sie wussten, dass sie nach diesem Sommer nie wieder gemeinsam diesen Weg beschreiten würden. Sie genossen jeden Meter ihres letzten Miteinanders und gerieten doch in eine sich unendlich steigernde tiefe Trauer über das gewaltsame Ende ihrer Liebe, das unabwendbar war.
Den Winter erlebte Marion nicht mehr.
Gregor wurde kurz aus seinen Gedanken gerissen.
»Wolfgang, Larissa, nicht so doll!«, ermahnte eine Frau von zirka fünfzig Jahren mit bordeauxfarbener Bluse, einen Knaben von etwa sieben Jahren und dessen Schwester, die vielleicht zwei Jahre jünger sein mochte. Die Frau konnte wohl kaum die Mutter sein, eher schon die Großmutter. Großmutter – wie sich das anhört. Dabei – Gregor lächelte – hätte er selbst ja auch schon Großvater sein können. Am selben Tisch wie diese reifere Dame, saß eine andere, jüngere Frau.
Gregor schaute zu den Kindern hinüber. Es war noch ein dritter Steppke dabei, wahrscheinlich der Sohn der jüngeren Frau.
Sein Blick blieb nicht lange bei den Kindern. Er trank seinen Kaffee, ließ sich einen neuen bringen und schaute wieder elegisch auf diese massigen Berge und den ihm so vertrauten Weg. Gregor rührte wieder in seinem Kaffee und wollte lächeln. Er dachte daran, dass sie sich vor siebenundzwanzig Jahren hier kennengelernt hatten. Hier im Pitztal. Im Sommerurlaub. Er war mit seinem Kumpel Jochen hier und sie mit ihren Eltern. Marion war damals zwanzig Jahre alt und Gregor vierundzwanzig. Sie war so süß und witzig und schlagfertig und sprühte vor Tatendrang und Unternehmungslust, dass es Gregor nur noch faszinierte. Und glücklicherweise, irgendetwas muss sie an ihm auch anziehend gefunden haben. Und als sie ein Jahr später wieder hier waren, waren sie schon ein Paar. Drei Kinder sind aus ihrer Verbindung hervorgegangen. Alles Mädchen. Petra, mittlerweile fünfundzwanzig, Kerstin einundzwanzig und Sonja, zwanzig. Alle standen schon auf eigenen Füßen, aber alle haben noch im letzten Spätherbst untröstlich geweint, über den bitteren Verlust ihrer Mama. Gregor blinzelte in die Sonne. Zum dreizehnten Male war er nun in diesem Tal. Nicht immer im selben Ort. Nicht immer im selben Hotel. Und doch immer in greifbarer Nähe zum Anfang ihrer großen Liebe. Zwischendurch waren sie auch andernorts, manchmal auf Wunsch der Kinder. An der Nordsee, auf Menorca, auf Kreta, auf Teneriffa. Gregor erinnerte sich, wie er vorurteilsfrei mit seiner Familie nach Neapel reiste, wo man ihnen aber trotzdem das Auto aufbrach und ein Fotohandy klaute. Oder in Tunesien – reizende Menschen – nur kam da eine ganze Reisetasche nicht mehr aus dem Flugzeug an. Inhalt: gute Kleidung und ein DVD-Player. Das waren die Urlaube anderswo. Spannend, interessant und bereichernd. Und dennoch trieb es sie immer wieder hierher, in dieses Tal im Süden Österreichs, wo sie die Erinnerung an ihr Kennenlernen und ihre große Liebe auffrischten und sie sich vielleicht sogar in romantischer Verklärung verstärkte. Und immer wieder trieb es sie auf diesen Bergweg, jenen Weg, der ihre Herzen von Anbeginn mit jedem Schritt mehr und mehr aneinanderschmiegte. Was allerdings die Kinder niemals begriffen.
Die Kellnerin brachte einen Cappuccino an Gregors Tisch. Außer Gregor saßen jetzt nur noch ein älterer Herr aus Leipzig auf der Terrasse und die beiden Frauen. Momentan waren die Kinder nicht mehr da, die tobten irgendwo vorm Hotel.
Gregor überlegte, wie oft er in diesen Tagen, in diesen Urlaubstagen, einsame Stunden auf irgendwelchen Terrassen verbracht hatte. Nicht alleine, aber einsam. Erst gestern wieder, in diesem Café in Innsbruck. Unzählige Menschen saßen um ihn herum, sie kamen und gingen. Einer löste den anderen ab. Irgendwann ließ am Nachbartisch jemand seine Zeitung liegen. Als die Bedienung sie wegräumen wollte, fragte Gregor, ob er sie haben dürfe. Er bekam sie und las. Doch nicht lange. Zeitunglesen machte ihn noch einsamer. So legte Gregor das Blatt wieder beiseite und beobachtete von neuem seine Umgebung. Es war ihm langweilig, dies zu tun. Aber er konnte sich zu nichts anderem aufraffen. Da saß einer mit einem Zopf. Es musste ein Mann sein. Bei ihm ein anderer. Eine Art jüngere Ausgabe von Robert de Niro. Mit Sonnenbrille. Fehlt nur noch die Sonne, dachte Gregor. Er taxierte die beiden, sah sie aber nur von schräg hinten. An irgendwen schien ihn der Langhaarige zu erinnern. Wen kannte Gregor bezopft? Hagen Rether, Karl Lagerfeld, Michael Fitz. Die Haare des Betreffenden waren blond. Zu hell für den Essener Kabarettisten und zu dunkel für den Modekaiser aus der Dosenmilchproduktion. Vielleicht war es ja der ehemalige Tatortkommissar. Der hatte sich seinen zwar mal abgeschnitten, aber wer weiß. Ja, alte Zöpfe müssen ab, dachte Gregor. Und zwar rechtzeitig. Ach, was kümmerten ihn eigentlich andere Leute, dachte Gregor. Aber es gab hier nur andere Leute. Warum war er eigentlich alleine
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 24.06.2012
ISBN: 978-3-86479-867-2
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