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Das Buch/Ebook:
»Der FALL im HOTEL – und andere Kriminalgeschichten«
ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne schriftliche Genehmigung des Autors weder im Ganzen noch teilweise reproduziert, vervielfältigt oder verändert werden. Dieses Verbot beinhaltet ausdrücklich auch die Übersetzung in andere Sprachen, die Verwendung in elektronischen Systemen sowie sämtliche gewerblichen Aufführungen. Alle Rechte sind ausdrücklich vorbehalten.
Andreas Kräft, 06.01.2009


Der Autor:
geb. 1958 in Hannover.


Impressum:
Andreas-Kräft-Geoden-Buch
Copyright © by A. Kräft
Einbandgestaltung: A. Kräft
1. Auflage – 2009
4. überarbeitete Auflage – 2012
Kontakt:
www.geoden-buch.de // www.gorgopolis.de
E-Mail: andreas.kraeft@freenet.de






Nur ein Karabinerhaken:
Die notwendige Verbindung
zwischen Verbrecher und Opfer
ist Herr Biedermann

Inhaltsverzeichnis


1. DER NEUE PATIENT..............................7

2. SANSSOUCI....................................36

3. DAS GLÄNZEN IN DER SONNE.....................56

4. NEBEL ZWISCHEN DEN FELSEN....................71

5. DER FALL IM HOTEL...........................118

6. GESPRÄCH MIT MAX............................134

7. DIE EINBRECHER..............................148



Wehrlose Beute:
Solange man seine Opfer unten, in bequemer Reichweite findet,
haben die Bonzen weiter oben, ihre selbstherrliche Ruhe!

1. DER NEUE PATIENT


Das Wartezimmer

Der Patient war das erste Mal in dieser Praxis. Und dieser Tag war dafür nicht günstig. Ihm wurde gesagt, er müsse wohl Zeit mitbringen. Er bekam seine Krankenkassenkarte zurück und wurde ins Wartezimmer gebeten. Das Wartezimmer – in dieser Praxis »Lesezimmer« genannt – war proppenvoll. Doch als der Patient den Warteraum betrat, und in etwa dreißig missmutig dreinblickende Ohren »guten Tag« gesagt hatte, wurde gerade eine ältere Dame herausgerufen, sodass ein Sitzplatz für ihn frei geworden war. Sogar ein angewärmter. Er setzte sich zwischen einen großen dicken und einen kleinen dünnen Mann und schaute in die Runde. An den kahlen weißen Wänden prangten irgendwelche neumodernen abstrakten Malereien, in grellen dicken Farben. Die machten den ganzen Laden auch nicht gemütlicher. Es wurde ihm langweilig. Er betrachtete seine Fingernägel. Seine Fingerkuppen. Überlegte, wie Hannover 96 zuletzt rumgepatzt hatte. War ein Trainerwechsel das Richtige? Seine Schuhe – er brauchte mal wieder neue. Dringend. Mann, waren die ausgelatscht. Er musste sich immer ein wenig verdrehen und den Oberkörper nach links neigen, weil rechts der große Dicke saß, der sich noch breiter machte, als er schon war. Noch so einer auf der anderen Seite und er säße im Schraubstock. Die rechte Schraubstockbacke neben ihm las irgendwas Zerknittertes mit Autos. Die Luft war stickig. Aber mittlerweile gewöhnte man sich dran. Sollte er was lesen? Aber was? Die Bunte oder die Oberbunte? Da lag doch nur Kokolores. Das waren wahrscheinlich die ältesten Zeitschriften, seit Beginn der Aufzeichnungen. Die anderen Patienten hatten zwar meistenteils etwas zu lesen in der Hand, aber man konnte sehen, dass es sie anödete. Da hinten, das junge Pärchen machte es richtig – die hatten sich beide ein Buch mitgebracht. Ja, nächstes Mal würde er das auch tun. Da dies eine Gemeinschaftspraxis war, die der allgemeinmedizinische Doktor zusammen mit seiner Frau, einer Internistin, führte, wurden mit einem Male drei Patienten gleichzeitig herausgerufen. Ihre Zeitschriften wehten auf den verwahrlosten Stapel. Eine uninteressanter als die andere. Jetzt hatte er die Gelegenheit, einen anderen Platz zu nehmen. Doch sollte er den Koloss neben sich brüskieren, oder wie sah das sonst aus? Er rieb sich übers Kinn und merkte, dass er sich wohl heute gar nicht rasiert hatte. Na, morgen ist auch noch ein Tag. Er musste jetzt noch weiter nach links rüber, weil der Dicke in dieser Demse mittlerweile eingeschlafen und zu ihm rübergesackt war. Natürlich hätte er ihn am liebsten geweckt, aber – was würde man nicht alles am liebsten tun? Die drei Plätze waren noch immer frei. Der Dünne neben ihm wurde rausgerufen. Er könnte sich auch diesen einen Platz weiter setzen. Er würde vielleicht eine Zeitschrift vom Tisch nehmen und sich dann, wie versehentlich, einfach auf dem Nebenstuhl niederlassen. Der Dicke hielt seine Automobilzeitschrift im Schlafe fest. Die Automobile, die darauf abgebildet waren, gab es schon gar nicht mehr. Just in diesem Moment öffnete sich abermals die Tür und gleich vier Leute strebten herein. Eine Art Professor für Arme und eine Mutter mit zwei nicht zu bändigenden Kindern. Der Professor steuerte auf seinen Nebenplatz zu, während die Mutter verloren in die Runde starrte und hoffte, jemand würde bemerken und auch darauf reagieren, dass sie zwei kleine Kinder dabei hatte. Die Leute schauten sich reihenweise entgeistert an. Irgendetwas musste geschehen. Es war das junge Pärchen, dass die Situation rettete. Ein Platz neben ihnen war frei. Sie erhoben sich und setzten sich fortan auf getrennte Plätze, während sich nun die Mutter zwischen ihre beiden Knaben setzte. Draußen begann es zu regnen. Drinnen zu krakeelen. Die Mutter beschwichtigte, wo sie konnte. Aber was konnte sie schon. Bei so einem Krach kann doch kein Mensch lesen. Obwohl, wer wollte das schon, mit diesem Altpapier. Irgendwann waren nacheinander fünf weitere Patienten in die Sprechzimmer gerufen worden, aber sofort wurden die freien Plätze durch gebührenden Nachschub wieder belegt. Die Kapazität war gut ausgelastet. Als die Fünfte kam eine dunkelschwarz gekleidete Teenagerin herein, die nicht überall gepierct war. Denn sie konnte sogar noch durch ihre Augen schauen. Der Dicke war aufgewacht. Seine Zeitschrift war ihm auf die Füße geklatscht und nun musste er zusehen, wie er sie wieder hoch bekam. Er bückte sich anmutig wie ein Walross, wurde jedoch in seinem Vorgang unterbrochen, da er durch die sich öffnende Tür mit den Worten »Herr Keller, bitte« herausgerufen wurde. Hilflos schaute Herr Keller um sich und verließ dann achselzuckend das Lesezimmer. Die Zeitschrift lag noch immer am Boden. Und alle Augen bohrten sich in den Neuen, der auf dem Nebenplatz saß, als wollten sie sagen: Kerlchen, du wirst doch wohl die Zeitschrift da nicht liegen lassen?! Gehorsam, wie er war, bückte er sich, klaubte die alte Schwarte auf und platzierte sie auf dem heimeligen Lesetisch. Über zwei Stunden saß er schon in dieser illustren Runde. Es war zum Wahnsinnigwerden. Die Kinder waren zwischendurch auch mal ruhiger, denn sie hatten ihre Malbücher mit. Aber auch ein Kind kann nicht zwei Stunden Malen. Jetzt ging's wieder los. Sie schrien irgendetwas über Onkel Tobi und irgendeinen Freizeitpark. Zuerst mahnte die Mutter ihre Liebsten wieder, etwas leiser zu sein. Doch irgendwann muss sie das aufgegeben haben. Jetzt aber durchdrangen die spitzen schrillen Schreie ihres Nachwuchses sämtliche anwesenden Trommelfelle derart, dass sie vorne ins Schmerzzentrum eintraten und hinten wieder raus. Es ging einem durch alle lebenden Glieder. Einige Wartende lächelten, mühsam Verständnis heuchelnd, andere schauten verbissen an der Wand lang, wieder andere blickten mit auffällig böser Mimik die Mutter direkt an, als wollten sie sie mit ihren Blicken entweder auf ewig bannen oder zumindest gebührend meucheln. Der neue Patient wurde ins Sprechzimmer gerufen. Die Erlösung. Zwei Stunden vierzig, nach seiner Ankunft. Fast hatte er schon vergessen, weshalb er sich ausgerechnet diese Praxis für sein Leiden erwählt hatte.


Arzt und Patient

Die Sprechstundenhilfe ließ ihn in einem der Sprechzimmer Platz nehmen und sagte: »Noch einen Moment, bitte, Herr Fronberg.«
Fronberg nickte und saß wieder wartend vor sich hin. Er war allein im Raum. Die Tür war zu. Aus der Ecke grinste ihn ein Skelett an. An der Wand war ein Poster von Albert Schweitzer. Auf dem Tisch standen das Porträt einer Frau und ein Foto mit beiden als Paar darauf. Hinter dem Platz, der dem Arzt gehören würde, war ein Büroschrank, den man als gehobenes Mobiliar bezeichnen würde. Daneben ein Waschbecken, dazu Papierhandtücher und ein Desinfizier-Spender. Die Uhr tickte leise. Wieder der Blick zum Foto der Frau. Dann wieder zu dem Paar-Porträt. Dann hoch zu Albert Schweitzer. Er nickte und schüttelte den Kopf gleichzeitig.
Da sprang die Tür auf.
»Hallo!«, sagte Dr. Riemann eilig, als er mit wehendem Kittel das Behandlungszimmer betrat. Der hochgewachsene Arzt streckte flüchtig seine Hand aus.
Fronbergs Augen flatterten, als er den Doktor sah. »Guten Tag, Herr Doktor!«, sagte der Angesprochene, indem er sich erhob, den Händedruck schüchtern erwiderte und sich gleichzeitig verneigte. Es war eine in sich geschlossene, flüssige Bewegung. Mit großen Augen nahm er die Gestalt des Arztes in sich auf.
Der Doktor wischte sich die Hand am Kittel ab, der Händedruck war spürbar feucht, und starrte auch schon auf den Bildschirm.
»Sie sind Herr ...?«
»Fronberg.«
»Herr Fronberg, ja!«, nickte der Arzt. »Sie waren noch nicht bei uns ...«
»Nein, Herr Doktor. Ich bin erst zugezogen.«
»Ich hoffe, Sie haben sich schon eingelebt ...«, sagte der Arzt in den Bildschirm.
»Doch, danke, äh ...«
»Was kann ich für Sie tun?«, wandte er sich dem Patienten zu.
Fronberg öffnete die verkrampften Hände.
»Mein Magen macht Probleme ...«, sagte er zaghaft, »ziemliche Schmerzen.«
»Dauerhaft?«, fragte der Arzt.
»Ja, ständig. Und ...«
»Ja, was denn noch?«
»Ich ... ähem«, druckste Fronberg, »ich hab' oft Diarrhö ...«
»Wie oft?«
»Fast täglich. Überfallartig!«
»Seit wann treten diese Symptome auf?«
»Seit ... ja, seit dem Frühjahr etwa.«
»Ergo: seit sechs Monaten.«
»Richtig, ich ...«
»Waren Sie damit schon vor Ihrem Umzug in Behandlung?«
»Nein, in Hannover ... ach, die Wohnungsauflösung und der ganze Stress – da hatte ich keinen Kopf dafür.«
Dr. Riemann ruckte einen Moment unkontrolliert.
»Hannover kommen Sie?«, zuckte er und blinzelte.
»Ja ...«, nickte Fronberg zaghaft.
Der Arzt wollte sich räuspern, vermied es jedoch. »Schöne Stadt«, sagte er, indem er den Vornamen des Patienten in seinem Computer prüfte. »Tja, in Ihrem Alter ...«, Riemann schaute angestrengt auf den Bildschirm, »vierundvierzig sind Sie ...«, raunte er bedächtig.
»Ganz recht, April 1964 ...«
Der Mediziner winkte ab. »Sie haben also Magenprobleme«, sagte er durchdringend.
»Ja, fürchterliche«, bestätigte der Patient.
Dr. Riemann nickte. »Ich weiß nicht, ob Sie da bei mir in richtigen Händen sind ...«
»Vielleicht Ihre Frau«, sagte der Patient.
»Wieso meine Frau?«, stutzte der Arzt und bäumte sich auf.
»Ja, Sie ist doch Internistin. Steht draußen am Praxisschild.«
»Ach so, jaja, richtig«, nuschelte der Mediziner flüchtig. »Ja, vielleicht meine Frau. Wollen mal sehen«, sagte der Arzt mit sonorer Stimme. Er nahm sich ein paar Sekunden Zeit, dann sagte er, den neuen Patienten mit seinen Blicken durchforschend: »Wie schlafen Sie, mit Ihren Beschwerden?«
»Miserabel, Herr Doktor. Oft muss ich nachts hoch.«
Der Doktor starrte wieder auf den Bildschirm und blätterte in irgendeiner Datei.
»Ich nehme an, Ihre Frau leidet beträchtlich mit Ihnen ...«, sagte der Arzt nebenbei.
»Frau? ... ähem nein, ich bin ...«, der Kopf des Patienten senkte sich, »verwitwet, Herr Doktor.«
Der Doktor blickte ihn auf der Stelle an. »Oh, Verzeihung!«, sagte er. »Das tut mir leid.«
»Ist schon gut.«
»Seit wann?«, fragte der Arzt, indem er sich unbewusst aufrichtete.
Fronbergs Hände wurden zunehmend feuchter. Ihm wurde heiß. Überall am Körper.
»Im Sommer waren es 19 Jahre, Herr Doktor.«
Dr. Riemann schluckte. Atmete hörbar aus. »So lange verwitwet? – Und nicht wieder geheiratet?«
Fronberg schüttelte sich. »Ich bin seit damals ...«, er schüttelte sich noch heftiger, »außerstande ...«
»Ich verstehe«, sagte der Arzt und rieb sich übers Kinn. »Könnte es sein ...«, fragte der Mediziner vorsichtig, »Ihre Psyche, ich darf wohl sagen, dass sie angeschlagen ist ...?«
»Sie dürfen, Herr Doktor«, sagte Fronberg artig.
»Wollen Sie sich unter Umständen öffnen und mir erzählen, was damals geschehen ist mit Ihrer Frau?«
Fronberg schüttelte sich abweisend.
»Eine schwere Krankheit?«, fragte der Arzt.
»Ich möchte nicht darüber sprechen«, wehrte Fronberg die Frage unter Einsatz seiner Hände ab.
»Müssen Sie nicht«, sagte der Arzt. »Müssen Sie nicht. Aber könnte es sein, dass dieser Umstand, der Sie so belastet, Ihre körperlichen Symptome vielleicht begünstigt, was meinen Sie?«
»Psychosomatisch?«, fragte Fronberg. »Schon möglich.« Dabei fiel sein Blick auf die beiden Fotos auf dem Schreibtisch.
»Ihre Frau?«, fragte Fronberg.
Der Arzt, der mit der Befragung des Patienten weitermachen wollte, war kurz irritiert.
»Ja, meine Frau«, zeigte er auf das Foto.
»Nette Erscheinung«, sagte Fronberg.
Riemann lächelte ungeduldig. »Ja, sie ist nett.«
»Wie lange sind Sie verheiratet?«
Der Arzt blickte unverständig, aber noch immer bemüht freundlich. »Ich ... verheiratet?«
»Ja«, sagte Fronberg. »Nichts Besonderes. Ich dachte nur, Sie wissen, wie lange ich Witwer bin. Und da frage ich halt mal, wie lange Sie schon verheiratet sind.«
Der Mediziner nickte noch ungeduldiger. »16 Jahre«, lautete seine etwas unwillige Antwort.
»Sie verstehen sich gut, nicht wahr?«
»Was tue ich?«, fragte der Arzt, und seine Stimme klang jetzt schon ein wenig ärgerlich.
»Ihre Frau ... und Sie. Sie verstehen sich gut.«
»Herr Fronberg, mir scheint, Ihre Magenerkrankung ...«
»Entschuldigen Sie, Herr Doktor. Ich wollte Sie nicht mit Lappalien ...«
»Ich habe noch andere Patienten ...«
»Ich weiß, Herr Doktor. Verzeihen Sie, ich ... verschreiben Sie mir nur etwas für den Magen.«
Der Doktor nickte und schlug mit den Handflächen im Takt auf die Stuhllehnen.
»Ich hab da was«, zwinkerte er und erhob sich. »Kleinen Moment bitte, Herr ... Fronberg.«
Er verließ das Sprechzimmer. Die Tür stand halb geöffnet. Minutenlang drangen das Stimmengewirr und die Unruhe der überfüllten Praxis herein. Albert Schweitzer, ein Skelett, eine tickende Uhr, die Porträtfotos, ein Tierkalender mit Pavianen, gekachelter Fußboden, eine Liege, ein hölzernes Windspiel mit Münchhausen auf einer Kanonenkugel – sehr originell. Sterile Deckenbeleuchtung. Wieder die tickende Uhr, wieder die Porträtfotos, wieder das Poster mit Albert Schweitzer ...
Der Arzt kam zurück. Eilig wie zuvor.
»Zwei Sachen habe ich hier für Sie. Die kann ich Ihnen so mitgeben ...«
Herr Fronberg stand auf, um dem Arzt nicht die Unbill anzutun, sich vor ihm beugen zu müssen.
»Parafermid nehmen Sie eine morgens kurz vor dem Frühstück«, sagte der Mediziner.
»Ist gut«, antwortete Fronberg.
»Und das Balomida nehmen Sie am besten noch heute Abend ein. Die Packung ist angebrochen«, erklärte der Arzt. »Wir testen erstmal die Verträglichkeit. Es ist nur noch eine Kapsel enthalten. Wenn sie gut anschlägt, können Sie gern noch einen Nachschlag bekommen.«
»Ich danke Ihnen, Herr Doktor.«
Arzt und Patient verabschiedeten sich und blickten einander lange in die Augen.


Der Abend

Fronberg hatte seinen Wagen, einen nicht mehr ganz taufrischen Peugeot, in der Industriestraße geparkt, und zwar so, dass er in die Seitenstraße, die Benzstraße einsehen konnte. Es war ein Viertel mit Ein- und Zweifamilien-Häusern. Mit Gärten, Vorgärten, Zäunen und Hecken. Dazu kleine Teiche, Springbrunnen und Vogelkästchen. Alles, was man braucht, für eine kleine Idylle. Der Abend dämmerte. Fronberg rieb sich mit den Handballen über die Stirn. Sein Kopf war leer. Sein Magen machte sich bemerkbar. Bilder liefen wie ein Film vor seinem inneren Auge ab. Dann einige Standbilder, die sich wie im Blitzgewitter nach vorne drängten. Er ballte die Hände zu Fäusten, schloss die Augen dabei. Es war ihm wieder alles wie früher.
»Karin«, ... dachte er ... »Karin«.
Er wollte Rauchen. Fingerte in seiner Jackentasche herum und holte sich eine Packung heraus. »Rauchen kann tödlich sein« – mahnte ihn der vorgeschriebene Aufkleber. Fronberg las es und lächelte verächtlich. Er zündete sich den Glimmstengel an und inhalierte. Er fühlte sich, als säße er in völliger Leere, in einem Nichts aus Zeit und Raum. Eine Dogge führte ihren Herrn am Auto vorbei. Die Dogge schritt majestätisch und kompensierte das mickrige Etwas, das sie da hinter sich her zog. Auf der anderen Straßenseite war es eine Frau, die ihren schwarzen Spitz Gassi führte. Fronberg überlegte, welchen Namen man derartigen Hunden geben könnte. Fronberg hatte keine Hunde. Noch nie gehabt. Wahrscheinlich aus Faulheit einerseits. Und die Umstände der letzten Jahre ... ließen es ja schon mal gar nicht zu. »Cäsar«, dachte er. Der große muss »Cäsar« sein. Und der Winzling – »Kleopatra«. Er lachte. Nein, »Robby«. »Robby« könnte passen. Oder »Pumuckl«. Fronberg entschied sich für »Robby«. In diesem Augenblick erblickte Robby die feindliche Dogge und zeigte, was wirklich in ihm steckte. Er begann ein durchdringendes, schneidendes, aggressives, grelles Gebell, als wolle er die Dogge im nächsten Augenblick in der Luft zerreißen. Ab und zu schaute er dabei auf sein Frauchen hinter sich und vergewisserte sich, ob noch alles in Ordnung ist. »Cäsar« kümmerte das Ganze nicht. Er kümmerte sich auch nicht um den zweibeinigen Ballast, den er da hinter sich her zog. Er schritt wie in einer Prozession die Promenade herab und sagte sich wahrscheinlich: »Was kümmert mich das Krakeelen der kleinen Lichter, die vor Armseligkeit ... Ach, wenn ich nur wollte, könnte ich mit einem Happs den lächerlichen Giftzwerg da drüben mit samt seinem Frauchen verschlucken, ohne dass sich dabei meine Magenwände nennenswert weiteten. Aber die Größe eines Cäsaren besteht nun mal in der Gnade, die kleinen Würstchen gewähren zu lassen.« Fronberg grinste in sich hinein.
Das Bild lichtete sich wieder. Die Hunde und ihre Halter waren vorübergezogen und außer Sicht. Zwei Mädchen kamen und turnten mit einem Skateboard am Bordstein.
»Rita, Franziska – reinkommen!«, rief eine Stimme aus Hausnummer zweiundzwanzig.
»Och, Mensch!«, maulten die Kleinen und trollten sich ihrer Gebieterin entgegen.
Kurz darauf kam Cäsar zurück. Majestätisch wie zuvor. Er kümmerte sich um gar nichts. Der Spazierführer hinter ihm musste ihn anöden. Als das ungleiche Pärchen am Auto vorbeizog, sah es aus – Fronberg saß in seinem Wagen etwas unterhalb der Schulterhöhe des Hundes –, als ob die Dogge mit einem Seitenblick auf Fronbergs französisches Vehikel mal eben begutachtete, ob das Dach des Wagens auch sauber sei. Es mutete an, als würde eines der Hannoveraner Reitpferde aus Beerbaumschem Gestüt an ihm vorübertraben. Fronberg war die Erscheinung dieses überdimensionalen Hundes respektabel bis unheimlich. Doch die selbstverständliche Würde, die der vierbeinige, meterhohe Fürstenhund konsequent ausstrahlte, faszinierte ihn. Ihm fiel ein, dass er irgendwann mal in einer offiziellen Deklaration zu Hunderassen gelesen hatte, die Dogge sei eine Vereinigung von Kraft, Stolz, Eleganz und Adel. Sie sei der Apoll unter den Hunderassen. Das mochte alles angehen, dachte sich Fronberg. Aber was für Wichte führen die immer an der Leine?
Kurz darauf war es endgültig dunkel. Fronberg sah sich noch einmal das Foto an. Ein Foto, das einen Mann zeigte mit seiner Frau. Einen großen Mann. Noch einmal schloss er die Augen. Es war, als wollten ihm Tränen kommen. Wieder ballten sich die Hände zu Fäusten. Und da kam er. Der Audi jenes Mannes auf dem Foto. Er fuhr an ihm vorüber und bog gleich darauf ab in die Benzstraße. Fronberg startete seinen Wagen und fuhr ihm langsam nach. Der Audi fuhr die Auffahrt der Nummer siebzehn hoch, wo sich sogleich ein Garagentor automatisch öffnete. Gleich darauf war das Tor wieder zu und der Audi verschwunden. Na ja, verschwunden war er nicht.
Fronberg wurde heiß. Seine Hände schwitzten. Er wendete den Wagen und fuhr dahin zurück, wo er Cäsar beobachtet hatte. Sein Blick war auf die Benzstraße gerichtet. Abermals fingerte er nach einer Zigarette. »Rauchen kann tödlich sein« – er lachte, seine Augen blitzten, als er es las. Er steckte sich die viertausend Giftstoffe an und saugte sie gierig in sich hinein. Doch nur kurz. Kaum zur Hälfte brach er den Vorgang ab und drückte den Quarzstängel aus. Dann öffnete er das Handschuhfach und holte etwas Eisernes hervor. Eine Pistole. Dazu einen Schalldämpfer, den er unter größter Spannung aufschraubte. Seine Mundwinkel zuckten Böse. Seine Augen wurden starr. Er schluckte und er schluckte wieder. Es war schwierig zu schlucken. Ein Kloß im Hals. Seine Hände wurden immer feuchter. In diesem Moment meldete sich sein Magen. Verdammt, dieser Magen. Ausgerechnet jetzt. Es durfte nichts schiefgehen. Er holte die Packungen hervor, die ihm der Arzt mitgegeben hatte. Die sollte er noch heute Abend nehmen, die »Balomida«. Eine einzige – so ein Quatsch. Erst mal sehen, wie sie wirkt – so ein Unfug. Wieso hat er sich auf so was eingelassen. Na gut, spielt keine Rolle, dachte er, jetzt erstmal die eine und dann los. Am liebsten hätte er natürlich sofort losgelegt. Er wollte keine Zeit mehr verlieren. Aber zuerst musste sich halt der Magen beruhigen. Sonst war nichts möglich. Schmerzgepeinigt holte er die Pille heraus und nahm sie ein ...


Der folgende Tag

Es war am nächsten Nachmittag, als Kriminalkommissar Voss, begleitet von Polizeimeister Otte, Dr. Riemann in dessen Praxis aufsuchte.
Er ging stracks vorbei an der Warteschlange, die vor der Anmeldung parkte, und beuge sich der Praxishelferin zu.
»Hee! Stellen Sie sich hinten an!«, rief jemand. »Sie sind noch nicht dran!«
»Ich bin dran!«, erwiderte der Kommissar. »Und zwar so was von dran, das können Sie sich nicht vorstellen.«
»Aber Sie sind wirklich nicht dran«, sagte Melanie Damper, die Sprechstundenhilfe. »Ich hab genau gesehen ...«
Den weiteren Verlauf des Satzes unterbrach Voss durch das Vorzeigen seines Dienstausweises, und indem er flüsterte: »Kriminalpolizei. Mein Assistent«, zeigte er auf seinen Begleiter. »Ich muss zu Dr. Riemann. Wir wollen's doch nicht laut werden lassen hier, oder?«
Die Sprechstundenhilfe schaute drein, wie eine Froschmutter. Es dauerte zirka zwei Sekunden, bis sie sich gefasst hatte. Dann rief sie: »Agneta! Würdest du bitte schnell mal kommen?«
Agneta, die gerade mit dem Blutabnehmen eines Patienten fertig war, kam.
»Könntest du die Herren zu Dr. Riemann führen? Polizei«, hauchte sie nachdrücklich.
Agneta schaute zunächst auch sehr verwundert, nickte dann aber und sagte: »Ja ... dann ... kommen Sie bitte mit, meine Herren.«
Sie führte die Männer hinter sich her und schaute, wo gerade ein Sprechzimmer frei wäre. Sprechzimmer vier war frei. »Hier bitte, meine Herren. Würden Sie einen Moment warten? Ich hole eben den Doktor.«
»Wir warten«, sagte Voss.
»He, Agneta! Was machst du da?«, fragte eine andere Arzthelferin. »In das Zimmer wollte ich gerade Frau Hecker bringen«, zeigte sie auf eine ältere Dame neben sich.
»Das geht jetzt nicht. Ich erklär's dir gleich«, sagte Agneta.
Die Beamten standen im Raume und Otte begrüßte spielerisch das Skelett in der Ecke und Münchhausen in dem Windspiel. Voss musterte den Spruch eines griechischen Philosophen, der gerahmt zwischen den beiden Fenstern hing und da lautete:

»Jeder Fall ist zurückzuführen,
auf die Haltlosigkeit eines Körpers.«

»Auch jeder Kriminal-Fall?«, fragte Voss seinen Begleiter und stieß ihn schmunzelnd an der Schulter.
Otte dachte kurz nach und erwiderte: »Bestimmt sogar, Chef. Nur ist es kein Körper, der den Menschen zum Fallen bringt, sondern sein Geist. Er wird haltlos, gegenüber den Bräuchen der Gesellschaft und letztlich gegenüber den Gesetzen des Staates. Und dann fällt er ...«
»Sind Sie der Philosoph?«, fragte Voss beißend.
Indem ging die Tür auf.
»Kriminalpolizei?«, trat Dr. Riemann lachend ein. »Wie aufregend!« Er streckte den Polizisten die Hand entgegen.
Voss ignorierte sie. »Ist dieser Mann gestern bei Ihnen

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 22.06.2012
ISBN: 978-3-86479-841-2

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