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Das vorliegende Buch:
HÖHENLUFT FÜR DETEKTIVE
oder: »Eigentlich ... hatten sie Urlaub!«
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Andreas Kräft, 18.02.2010
Der Autor:
geb. 1958 in Hannover.
Impressum:
Andreas-Kräft-Geoden-Buch
Copyright © by A. Kräft
Einbandgestaltung: A. Kräft
3. Auflage - 2012
1. Auflage – 2010
Kontakt:
www.geoden-buch.de
E-Mail: andreas.kraeft@freenet.de
HÖHENLUFT
FÜR
DETEKTIVE
oder
»Eigentlich ... hatten sie Urlaub!«
Vergnügliche Story
um zwei der größten Detektive,
die die Welt je gesehen hat.
Ähnlichkeiten rein zufällig!
Um Missverständnissen vorzubeugen, sei schon an dieser Stelle in schärfster Ausdrücklichkeit darauf hingewiesen, dass in Bezug auf die vorliegende Geschichte, Ähnlichkeiten jeder Art – mit irgendjemand oder irgendetwas, sei es ein Subjekt, ein Objekt oder eine Injektion –, nicht nur rein zufällig, sondern auch absolut ausgeschlossen sind.
Seien es – in jeder Form – Parallelen die Detektive betreffend, oder seien sie es die Halunken betreffend. Oder sei es überhaupt jedermann, jede Organisation und jedes Hotel betreffend, welches in dieser wunderbaren Story vorzukommen meint, oder sei es auch nur die Stadt Innsbruck, mit der sie umgebenden Bergwelt, die einen Verdacht der Ähnlichkeit auf sich beziehen könnte ...
Wir wollen hier vorweg und auch in aller Deutlichkeit aussagen: NEIN!
Jede Ähnlichkeit kann, erstens, nicht sein, weil sie nicht sein darf!
Und zweitens ist jedwede Ähnlichkeit – inklusive jeder Entsprechung und jeglichen Ebenbildes (auch bezogen auf die Gesamtheit etwaiger Paralleluniversen) –, allein schon durch die Anlage des gewählten Stoffes, derart aberwitzig, dass sich bei einer Vergegenteiligung des vorgenannt Unmöglichen, quasi, die Absurdität einer potenzierten Quadratur des Perpetuum mobiles herauskristallisieren würde.
Mit abwegigem Gruß
Gezeichnet Dr. Fak Simile
PROLOG 1: 1983 - Ein ungesühntes Verbrechen
### FAST 30 JAHRE VERGEHEN ### bis ...
PROLOG 2: 04.08. - Gefüllte Thermosflaschen
Datum Kapitel
24.07. Ziel: Europa
25.07. Die lieben Verwandten
31.07. Südtirol und seine Pracht
02.08. Die Hauptstadt der Alpen
03.08. Die Tiroler sind lustig
*
*** Die Akteure ***
DER FALL BEGINNT
04.08. Bergwanderung eines Rentners
Kristallwelten – inklusive Überraschung
Ein konspiratives Gespräch
05.08. Hänsel und Gretel
Ein Inspektor outet sich
06.08. Detektive stecken die Köpfe zusammen
Von Fotos, Lupen und Benjamin Franklin
Von Profis und Amateuren
Die Leiche Salzmann und einige Merkwürdigkeiten
Je später der Abend ...
07.08. Zwischen Frust und Großglockner
Das Internetcafé und ein Helfer für Dummies
Weitere Rätsel türmen sich auf
Kolkmaier und Ruschke
08.08. Der Einbruch in der Dunkelheit
Die Muppetshow
Vom Spieltrieb eines kleinen Inspektors
Sonnentau und Kaiserresidenz
Wenn Alte über Zäune klettern
09.08. Morgenstund' hat Telefon am Ohr
Der falsche Herr Lehn und der richtige Herr Halbarth
Zwei Krankenschwestern in Aktion
Der überhebliche Herr Canogar
Zwei Nachrichten für Colligan
Geiselnahme
Wo ist Ruschke?
Der Zugriff
Die Armbanduhr
Ein Inspektor greift sich an den Kopf
Der rasende Rettungswagen
10.08. Die Lösung des Rätsels
Ein Koffer fällt hin
11.08. Von einem, der blumig redet und von einem, der Blumen verschenkt
12.08. Wieder Daheim
15.08. Schatten an der Wand
Spätsommer 1983.
Es ist Nacht. Der Campus einer Universität ist zu sehen. Eine kleine Blockhütte.
Außen: Geräusche von Schritten, die sich der Hütte nähern. Undeutliche Stimmen werden wahrnehmbar. Weitere Schritte. Jemand hat einen Kanister in der Hand. Geduckt läuft er auf die Hütte zu und dann halb herum. Zwei Fenster werden sichtbar. Licht brennt. Die Vorhänge sind zugezogen. In der Holzhütte bewegt sich jemand. Der Kanister wird ausgegossen. Etwas an die Holztür und danach ringsherum an die ganze Hütte. Dann nimmt der Unbekannte Abstand – ein Streichholz fliegt ...
Kalenderblatt: Dienstag, 4. August (32. KW)
Wuchtige Männerhände füllen heißen Kaffee in eine Alu-Thermoskanne, rühren einige Tabletten hinein, schrauben die Kanne zu und stellen sie vor sich auf einen Tisch. So machen es dieselben Hände mit einer zweiten Thermosflasche, mit einer dritten und mit einer vierten.
Drei Männer kommen herein. Ein etwas pummeliger, schwarzhaariger, ein großer, grau melierter und ein mittelgroßer, der als einziger einen Berghelm trägt.
»Welche soll ich?«, fragt der mit dem Berghelm.
»Egal!«, sagt der mit den wuchtigen Händen. »Greif zu!«
Jeder der Männer nimmt sich wahllos eine der Thermoskannen und bringt sie in seinem Rucksack unter. Sie scherzen und schwatzen miteinander.
»Rauchst du?«, fragt der Pummelige aus der Männerriege, der etwas verwundert dreinschaut, weil er bei dem mit dem Berghelm, eine Zigarettenpackung gesehen hat.
»Zwischendurch habe ich mal«, sagt der andere. »Jetzt eigentlich nicht mehr. Habe aber immer was bei mir, weiß auch nicht, vielleicht als Talisman.«
»Hat man so was schon gehört?«, krakeelt wieder der Pummelige. »Quarzstängel als Talisman!«
»Lustig!«, ruft der Graumelierte. »Dann wäre doch Koks für dich garantiert 'n echter Bodyguard!«
Der Berghelm winkt ab.
»Kommt Jungs, seid friedlich!«, sagt der mit den großen Händen. »Jeder hat ein Recht auf seinen ganz persönlichen Spleen.«
Augenblicke später verlassen die Drei, die zuvor in die Küche hereinkamen, diese wieder.
Doch der Sekundenzeiger der Küchenuhr hat seine Runde noch nicht vollendet, als der Pummelige und der Graumelierte wieder in die Küche zurückkommen. Schnell übergeben Sie dem ersten Mann, der in der Küche verblieben ist, ihre Thermosflaschen, die jener – inklusive seiner eigenen – rasch in einem Schrank verstaut. Er schließt die Klappe, um sogleich aus einem oberen Fach drei andere, identisch aussehende Thermoskannen hervorzuholen, welche der Pummelige und der gräuliche Melierte geschwind in ihren Rucksäcken verstauen. Dann verlassen sie die Küche erneut. Der erste Mann, jener mit den großen Händen, der wiederum in der Küche verblieben ist, schraubt nun seine eigene Thermoskanne auf, füllt einen Teil des Inhalts in eine der schon benutzten vier Tassen des vorangegangenen Frühstücks und von dort wieder zurück in die Thermoskanne. Er schraubt sie zu und verstaut sie in seinem eigenen Rucksack. Er geht hinaus. Die vier plaudern miteinander und man sieht Bergstiefel, die sich in Richtung eines eindrucksvollen Gebirges bewegen.
Kalenderblatt: Freitag, 24. Juli (30. KW)
San Francisco Airport.
Eine Stewardess erblickte einen Passagier, der mit schwarzen, wuscheligen Haaren und einem zerknautschten, creme-weißen Kunststoffmantel im Flugzeug saß und telefonierte.
»Sir, Sie müssen Ihr Mobiltelefon ausschalten«, sagte die Stewardess mahnend.
Dieser Passagier, er besaß ein Flugticket auf den Namen Colligan, war allerdings etwas zerstreuterer Natur und verstand nicht sogleich.
»Moment, Schatz«, sagte er. »Bitte?«
»Ihr Telefon, Sir«, sagte die Stewardess.
»Mein Telefon?«, blickte Colligan sie rätselnd an.
»Sie müssen es ausschalten, Sir«, wiederholte die Stewardess.
»Oh, verzeihen Sie ...!«, wiegte er seinen Kopf entschuldigend. »Eigentlich weiß ich natürlich ... – Wissen Sie, im Grunde mag ich diese Handtelefone auch gar nicht. Überall ist man erreichbar. Es ist schrecklich. Ich hab' neulich noch zu meiner Frau gesagt ..., übrigens ich spreche gerade mit ihr, wissen Sie, ich kriege sie in kein Flugzeug hinein. Sie sollte natürlich mit nach Europa, aber: nein nein, ich sage Ihnen, da ist nichts zu machen. Sie macht unterdessen lieber 'ne Kreuzfahrt mit ihrer Schwester ...«
»Sir, Sie müssen bitte das Handy ausschalten!«, ermahnte ihn die Stewardess abermals.
»Ach so. Ja sicher, Pardon«, sagte Colligan und hob zum Zeichen seiner Unterwürfigkeit die linke Hand. Darauf guckte er sein Handy an und sagte: »Schatz, ich muss jetzt das Handy ausschalten ...«
Doch die Stimme aus dem Telefon übertönte ihn.
Colligan kämpfte dagegen an. »Ja, natürlich habe ich meinen Impfpass bei mir. Selbstverständlich auch meine Geldbörse ...«
Seine Frau aber redete und fragte weiter und ließ ihn kein Ende finden.
Den bösen Blick der Stewardess spürend, versuchte er peinlich berührt, das Gespräch zu einem gütigen Abschluss zu führen. »... die Kulturtasche – na wo denkst du hin, mein Mausispatzi?«, sagte er Gleichmütigkeit heuchelnd. »Was? Ich habe den Bademantel ... Aber mein Hasilein, selbst wenn ich den vergessen haben sollte – es gibt auch in Europa Bademäntel ...«
»Sir, ich muss Sie nun zum letzten Mal ermahnen ...!«, fauchte die genervte Stewardess.
Colligan zuckte zusammen. »Liebling«, sagte er vergeblich, »ich muss jetzt Schluss ma...«
Doch seine Frau redete ohne Unterbrechung weiter.
»Liebling, ich muss ... ich muuu...«
Doch seine Frau redete weiter und kannte kein Innehalten.
Als aber Colligan der Stewardess schließlich ansah, dass sie nun andere Maßnahmen zu ergreifen gewillt war, ging er seiner Frau endlich mit dem Mute der Verzweiflung dazwischen: »Grüß Camilla und die kleinen Galápagosschildkröten!«, sagte Colligan eilig und drückte das Mobiltelefon aus. Schweiß stand ihm auf der Stirn. »Haaaach!«, stöhnt er auf und lächelt die Stewardess mühsam an.
Die Flugbegleiterin rollte die Augen und hatte sich gerade auf dem Hacken umgedreht, um sich wieder den alltäglichen Dingen zuzuwenden, als sie noch im Augenwinkel sehen musste, dass dieser Passagier daran war, einen erneuten Frevel zu begehen. Denn schon hatte er ein metallenes Etui aus der Innentasche seines Jacketts gelupft, aus welchem eine Zigarre zum Vorschein kam.
»Sir!«, stampfte sie wütend mit dem Fuß auf. »Wollen Sie vermaledeiter Menschen sich wohl unterstehen, zu rauchen!«
Colligan erschrak und hob abwehrend die rechte Hand vors Gesicht. »Oh, nein! – Sie missverstehen das«, sagte er verlegen. »Ich rauche nicht. Ich hab' es mir mühsam abgewöhnt, wissen Sie. Meine Frau hat ganz kategorisch darauf bestanden. Sie meinte, während ich das Unrecht an Menschen aufkläre – ich bin nämlich Polizei-Inspektor, müssen Sie wissen, wo hab' ich denn meine Marke(?), ich muss sie hier irgendwo haben ..., kleinen Augenblick ...«, sagte er in das überforderte Antlitz dieser fliegenden aber gestrengen Schönheit, »... nein, das ist mein Magnetschachspiel, sehen Sie? Trage ich immer bei mir ... Ähem, was habe ich jetzt gesucht? Ach ja, die Polizeimarke – aber geredet habe ich von der Zigarre ... ja, da sollte ich nämlich – Himmel wo hab' ich's denn(?) – durch meine schädliche Gewohnheit nicht gleichzeitig ein Unrecht an den Menschen begehen, verstehen Sie. Das würde nämlich nicht zusammenpassen, hat sie gesagt. So ist eben die Logik der Frauen.«
Die Stewardess blinzelte böse. »Sie haben dort eine Zigarre, Sir!«, sagte sie langsam fuchsig geworden.
»Oh, nein!«, riss Colligan die Arme hoch. »Die rauche ich wirklich nicht. Die ist eingeschweißt, in Folie, sehen Sie? Das gute Stück stellt nur ein Andenken an mein ehemaliges Laster dar, verstehen Sie. Ich trage sie nur mit mir herum, wie man ein Foto von einem alten Auto mit sich herumträgt, das man mal gefahren hat. Ich habe übrigens ein sehr altes Auto. Übrigens ein Modell aus Europa, da wo ich jetzt hinfliege. Nun ja, und ab und zu hole ich sie hervor«, zeigte er auf seine Zigarre, »und sehe sie mir einfach nur an.«
Die Stewardess zog ein Gesicht, wie noch keines zuvor. Sie hatte heiße, feuchte Hände, einen hektischen Atem und fast kochendes Blut. Und um es nicht wirklich zum Sieden zu bringen, wandte sie sich, unfreiwillig mit dem Kopf nickend, endlich von diesem Passagier ab, wobei ihre Lippen in kontinuierliche nervöse Zuckungen versetzt waren. Das Namenschild an ihrem Airline-Kostüm mit der Aufschrift: Silvana Winterlath zitterte in einer Weise, wie man es sonst nur, ausgelöst durch ein emotionales Bonsaifamilienbeben, inmitten der folivoranen Betulichkeit skandinavischer Königshäuser vermuten würde.
Kalenderblatt: Samstag, 25. Juli (30. KW)
In Mailand angekommen, traf sich Colligan mit seiner Schwester Tara und Giancarlo, ihrem italienischen Mann, Colligans Schwager. Sie herzten sich, als sie sich zur Begrüßung in den Armen lagen. Doch dann ging das Geherze erst richtig los, denn ein ganzer Tross der temperamentvollen italienischen Verwandtschaft war ebenfalls zur Begrüßung erschienen. Und die zeigten allen, was Herzen wirklich heißt. Obgleich die meisten jubelnden Zweibeiner Taras Bruder noch niemals gesehen hatten, bestürmten sie ihn in seinem abgewrackten Kurzmantel wie einen goldbehängten Wohltäter. Die Umarmungen und Küsse waren herzlich und reichlich und wollten vor allem kein Ende nehmen. Colligan fühlte sich diesem Ansturm an barbarischer Herzlichkeit kaum gewachsen. Seine vergleichsweise kühle nordamerikanische Natur konnte mit der emotional-exzessiven italienischen Wesensart kaum schritthalten. Und dies auch in den kommenden Tagen nicht. Er meinte, er müsse unter dem Dauerfeuer ihrer liebevoll gemeinten Vorschläge, Hilfestellungen und Anerbietungen, wie in einer drei Meter tiefen Sahnetorte ertrinken. Und er fragte sich, wie er das drei Wochen lang aushalten solle.
Kalenderblatt: Freitag, 31. Juli (31. KW)
Um sich und seiner lieben Verwandtschaft die Nerven zu schonen, hatte Colligan seinen Aufenthalt bei seiner Schwester schließlich drastisch verkürzt. Nun saß er im Zug nach Meran. Dort war er noch nie gewesen.
Die Natur dort empfand er als wahren Genuss. Auch die Burgen und Museen, wie das Schloss Tirol, die Zenoburg und die Landesfürstliche Burg. Aber am meisten beeindruckte ihn die Natur selbst.
Kalenderblatt: Sonntag, 2. August (31. KW)
Colligan hatte den Aufenthalt in Meran sichtlich genossen und reiste nun weiter bis Innsbruck. Ihm lag sehr daran, solange er noch in Europa war, das eine oder andere in der alten Welt an Architektur, Geschichte, Kunst und Natur wenigstens einmal gesehen zu haben. Doch war es ebenfalls sein Wunsch, weiterhin und vornehmlich die Faszination der Bergwelt genießen.
Kalenderblatt: Montag, 3. August (32. KW)
Im Zugabteil saß eine kleine, mehr rundliche Dame, eine langjährige Witwe, die auf den Namen Anne Blayton hörte. Sie schaute aus dem Fenster und sah den Münchener Hauptbahnhof entschwinden. Ihr gegenüber las ihr langjähriger Bekannter und Freund die Tageszeitung. Es war Maximilian William Lord Pickelhorn, ein Mann aus höchsten englischen Adelskreisen und Mitglied des Oberhauses, dessen relativ kleine und schmächtige Gestalt allerdings weniger imposant erschien, als man es von einem wahrhaftigen Lord gewohnt sein möchte. Neben Mrs. Blayton hatte ihr Neffe Platz gefunden – der bekannte Schriftsteller Richard East, der, hochgewachsen und mit breiten Schultern ausgestattet, im scharfen Kontrast zu Pickelhorn, schon um einiges mehr die Statur eines Lords vorstellte (obwohl er keiner war) und mit seinen blonden Haaren, blauen Augen und seinen makellosen Gesichtszügen fast schon wie das Pilotprojekt einer neuen und vollkommenen menschlichen Rasse Reklame lief. Außer diesen Dreien saß aber noch ein weiterer Fahrgast im Zugabteil, ein älterer Herr mit riesigem Vollbart, der den vorgenannten Herrschaften jedoch nicht bekannt war.
Richard telefonierte mit dem Handy.
»... nein Schatzi, bestimmt. München war ausgesprochen sehenswert, ist aber von der Fläche her kleiner als wir vermutet hatten. ... Wie? ... Nein, nicht länger. Zwei Tage haben uns gereicht. Jetzt sitzen wir im Zug nach Innsbruck und werden uns mal die Tiroler Bergwelt zu Gemüte führen. Ist das nicht drollig, dass von uns noch niemand jemals in Österreich war? ... Hör zu, Schatzi, ich wünsche dir den schönsten aller Urlaube! Bestimmt. Nur, das haben wir doch ausdiskutiert, was soll ich also noch sagen? Ich kann so eine brütende Hitze nicht vertragen. Ich würde dort von morgens bis abends nur krank im Hotel liegen. ... Danke, das ehrt mich. Aber du hast ja mit deiner Schwester einen mehr als adäquaten Ersatz für mich. Außerdem ist sie gesprächiger. ... Gut, Joycilein, dann machen wir jetzt Schluss. Wir telefonieren vielleicht morgen Abend noch mal. Dann seit ihr ja schon ein paar Stunden da und du kannst mir dann gleich mal die Temperatur durchgeben. ... Ja, bis dann, meine kleine Schnecke. Ich liebe dich!«
Er legte auf.
Mrs. Blayton stülpte die Lippen vor. »Wie mir scheint, ist es für Joyce doch nicht so leicht, auf dich zu verzichten, hm?«
Richard zuckte die Schultern. »Sie sagt, sie hat Verständnis dafür, dass ich mit euch mitfahre. Aber warum fängt sie dann immer wieder davon an?«
»War das Ihre Frau?«, fragte der vollbärtige ältere Herr. »Verzeihung, mein Name ist Krone.«
»Angenehm, East. Ja, das war meine Frau. Wir sind getrennt in den Urlaub gefahren und ...«
»Oh, was tun Sie sich da an?«
»Ich hatte mit ihr alles besprochen«, sagte Richard. »Sie war einverstanden und fand es ebenfalls gut.«
»Sie sind noch nicht lange verheiratet, was?«, fragte der Vollbärtige.
»Ein Jahr und einen Monat«, antwortete Richard.
»Hören Sie mal auf einen alten Mann«, sagte der alte Mann. »So was dürfen Sie nicht tun. Schon gar nicht am Anfang einer Ehe ...«
»Meine Frau und ich sind aufgeklärte Menschen. Wir können unsere Emotionen kontrollieren und eine Sache mit Vernunft angehen. Das ist nicht mehr so, wie, Verzeihung, zu Ihren Zeiten.«
»Ja, die jungen Leute machen das natürlich alles viel besser, als wir seinerzeit«, raunte Herr Krone durch seinen Vollbart. »Die jungen Leute ...«, deutete er ein leichtes Kopfschütteln an, »alles viel besser!«
»Das Jungvolk meint immer, wir Alten seien verschrobene Dummköpfe«, meldete sich Mrs. Blayton zu Wort. »Nun, es ist das Recht der Jugend, sich zu irren. Aber wir wissen: Das Elternvieh führt die Jungen zur Weide – und nicht umgekehrt.«
Der Alte lächelte. »Ausgezeichnet«, pflichtete er ihr bei. »Sind Sie verwandt?«
»Das ist mein Neffe«, sagte Mrs. Blayton. »Richard East. Ein berühmter Schriftsteller und beratungsresistent. Ich weiß gar nicht, was er ohne mich täte. Und das ist unser werter Lord Pickelhorn. Ein, sagen wir, guter Freund unserer Familie.«
»Ich freue mich sehr!«, sagte Lord Pickelhorn gestelzt.
»Ist das wahr?«, gab der Vollbärtige seiner echten Verblüffung ausdruck. »Ich habe es in Ihrer Person mit einem wahrhaftigen Lord zu tun?«
»Bei aller Bescheidenheit«, nickte Lord Pickelhorn. »Der Folge nach darf ich mich mit dem Titel des 14. Earl of Greenmeadowchester schmücken. Ich selbst pflege aber auf diese Titulierungen nicht so viel zu geben, obgleich mir mein Stand einen Sitz im Oberhaus unseres Parlaments einbringt – denn im Laufe seines Lebens genießt man die mehr oder weniger unschöne Erfahrung, dass die wenigsten Edelleute wirklich edel sind.«,
»So wie die wenigsten großen Leute wirklich groß sind«, gab Herr Krone lächelnd zur Antwort. »Und wie ist das jetzt mit Ihnen?«, wandte sich Krone wieder Richard zu. »Wo wird nun Ihre Frau den Urlaub verbringen?«
Richard zögerte, da ihm dieses Thema nicht recht war und da er außerdem meinte, dass das den Fremden doch nicht allzu viel anginge.
»In Ägypten«, antwortete Mrs. Blayton für ihn. »Wenn sie zurück ist, wird sie wahrscheinlich Kamele und Pyramiden aus Gips konstruieren. Sie müssen wissen, dass sie nämlich eine hochbegabte Künstlerin ist.«
»So, muss ich das wissen?«, fragte der Alte.
Richard stand auf. »Wenn ihr wieder ein gediegeneres Thema habt«, sagte er beleidigt, »könnt ihr mich ja rufen.«
Darauf öffnete er das Abteil, ging achtlos hinaus und donnerte die Tür beim Schließen zu, dass die Schiebetüren in ihren Verankerungen vibrierten.
»Jetzt ist er gekränkt«, sagte Lord Pickelhorn.
»Sicher«, sagte Mrs. Blayton. »Aber über sich selbst. Er weiß, dass wir Alten recht haben.«
»Ihr Neffe ist Schriftsteller?«, fragte der Fremde Herr, der sich Krone nannte. »Was schreibt er denn?«
»Oh, er schreibt ..., ich glaub' man nennt das gesellschaftskritisch. Sein wichtigstes Werk heißt 'GORGOPOLIS'. Das ist eine Romantrilogie über den Wert und den Sinn des Lebens, dargestellt am Leben zweier Brüder, die in einer gnadenlosen und ruchlosen Stadt aufwachsen. Einer Stadt, die die Menschheit in sklavischer Gefangenschaft hält. Woran man sieht, dass diese Stadt eine allegorische Darstellung unserer Gesellschaft ist.«
»Aha!«, sagte der ältere Herr. »Und wie wird das Wetter heute in Innsbruck?«
Herr Krone konnte auf Mrs. Blaytons Lippen ein zustimmendes Lächeln erkennen.
»Fahren Sie auch nach Innsbruck?«, fragte Lord Pickelhorn.
»Ich wohne dort«, sagte Herr Krone. »Ich war in München nur zu Besuch, bei Verwandten.«
»Wir wollen in Österreich mal auf die Berge. Mindestens zweieinhalbtausend Meter!«, erklärte Lord Pickelhorn in heller Vorfreude. »Bislang war ich nur in die schottischen Highlands gekommen. Auf den 'Ben Nevis' falls Ihnen das was sagt.«
»Sagt mir nichts«, antwortete Herr Krone. »Aber ich glaube, Berg ist nicht gleich Berg. Bei uns werden Sie eine ordentliche Ausrüstung brauchen. Haben Sie die?«
»Wanderschuhe und Stock habe ich mit.«
»Und Sie?«, fragte Herr Krone.
»Ich?«, zeigte Mrs. Blayton fragend auf sich selbst. »Ich bin nicht fürs Kraxeln. Nicht so wie Lord Pickelhorn. Vermutlich verlege ich mich eher darauf, die Sessellifte zu nutzen.«
»Wenn Sie in die Berge wollen«, sagte Herr Krone an Pickelhorn gewandt, »nehmen Sie sich 'n Führer. Einen der sich auskennt und eine kleine Gruppe führt. Und wenn ich Ihnen raten darf, nehmen Sie den Innau, den Alois. Der kennt sich aus. Der ist vom Fach. Der wird Ihnen auch gleich sagen, was Ihnen an Ihrer Ausrüstung noch fehlt und das können sie sich bei ihm gegen eine kleine Gebühr ausleihen.«
»Das ist ein hervorragender Tipp, danke schön!«, nickte Lord Pickelhorn freundlich.
»Wenn wir schon das Glück haben, einen Einheimischen kennenzulernen«, sagte Mrs. Blayton, »haben Sie dann auch einen Vorschlag für eine ältere Dame, die nicht die Gipfel stürmen möchte?«
»Wie lange bleiben Sie denn?«
»Eine Woche«, sagte Mrs. Blayton. »Im Anschluss gedenken dann in die Schweiz weiterzureisen, ins Tessin, und noch einige Tage am Lago Maggiore zu verbringen.«
»Also eine Woche Innsbruck«, sagte Herr Krone. »Nun ich denke, manches, was Sie hier tun möchten, wird sich ergeben. Unsere Natur ist phantastisch. Aber was ich Ihnen in jedem Fall anempfehlen kann, sind die Kristallwelten. Die sollten Sie sich anschauen. Die finden Sie etwas außerhalb von Innsbruck, in Wattens. Dahin fährt mehrmals am Tag ein Bus, im Pendelverkehr.«
»Und was erwartet mich da?«
»Ich sage nichts«, winkte der Vollbart ab, »aber anschauen sollten Sie sich's.«
»Kostet das Eintritt?«
»Ein Bruchteil dieser Bahnfahrt. Und wir fahren immerhin erster Klasse.«
Lord Pickelhorn schaute verschmitzt. »So wie Herr Krone es sagt, scheint es, sind unsere ersten Tage an unserem Urlaubsziel gerettet.«
»Das sehe ich auch so«, nickte Mrs. Blayton. »Und mein lieber Neffe weiß von nichts.«
»Haben Sie schon Quartier?«, erkundigte sich Herr Krone.
»Ja, wir wohnen allerdings getrennt«, sagte Mrs. Blayton. »Lord Pickelhorn wohnt in einer kleinen Pension ...«
»Große Schlösser habe ich auf der Insel genug«, erklärte der Lord lakonisch.
»Was Sie nicht sagen?«, schaute Herr Krone perplex aus der Wäsche. »Wie heißt denn Ihre hiesige Pension?«
»Zur Innbrücke«, antwortete Lord Pickelhorn.
»Ja, die kenne ich ein wenig«, sagte Herr Krone. »Die ist aber sehr klein ...«
»Für mich wird es reichen«, lächelte der Lord.
»Ich selber brauche ein wenig Freiraum«, erklärte sich nun Mrs. Blayton, »und habe deswegen eine kleine Ferien-wohnung mit Küche angemietet.«
»Und Ihr Neffe?«, fragte Herr Krone.
»Richard? Oh, deeer ...«, sagte Mrs. Blayton langgezogen, »der braucht es jugendlich luxuriös. Seine Edelherberge hat Sauna, Pool, Fitnessraum und allen Schickimicki. Das Grandhotel 'Kolbe'.«
»Oh, gewiss«, nickte Herr Krone, »Kolbe ist allerdings ein prächtiger Unterschlupf. Gehört zu den ersten Adressen am Ort.«
»Das bestimmt«, sagte Mrs. Blayton. »Ich hab Fotos davon im Internet gesehen – da gehen einem die Augen über. Aber ich denke, nach der Woche Wellness auf höchstem Niveau, wird mein lieber Neffe mit Blick auf sein Portmonee, wahrscheinlich noch einen Bestseller mehr schreiben müssen.«
(1) Mrs. Anne Blayton
eine verwitwete ältere Dame, die Frau eines vor langen Jahren verstorbenen Archäologen, wohnhaft in Yaletown (einem Vorort der Riesenmetropole London), klärt den Mord an einem Juwelier der höchsten Kreise auf. Nicht durch Zufall, sondern durch akribische Arbeit. Ein fast gleichaltriger Zeuge der Tat (und guter Bekannter des Opfers), der von da an eine freundschaftliche Bande mit ihr eingeht, der adelige Maximilian William Lord Pickelhorn, erklärte später den Behörden und der Presse: Dass Mrs. Blayton in faszinierender Weise geradlinig den Fakten folgte, bis sie unfehlbar den Mörder überführt hatte. Auf die Frage nach den größten Schwierigkeiten, bei der Aufklärung des Verbrechens, antwortete Mrs. Blayton: »Die britische Polizei«. Was ihr nicht nur Freunde beim Scotland Yard einträgt. Womit sie aber, wie Insider wissen, im Wesentlichen den damaligen Inspektor und jetzigen Chefinspektor Corey Clumdog meinte. Ein Mann, der, mangels Kompetenz, Mrs. Blayton von Beginn an bei ihren Ermittlungen im Wege stand, und sie erst in letzter Sekunde aus Gefahren gerettet hat, in die sie allerdings bei besserer Polizeiarbeit nie geraten wäre, und die aber jedes Mal dazu führten, dass Clumdog beruflich eine Treppenstufe nach oben fiel. Die Ermittlungsarbeit Mrs. Blaytons setzte dabei vor allem auf eigene Recherche, gepaart mit gesundem Menschenverstand und dem resoluten Vorgehen, gegenden behördlichen Widerstand vonseiten des Scotland Yard.
Bereits nach diesem Fall, der ihr erster ünerhaupt war und den besonders der in hohem Adel stehende Maximilian Lord Pickelhorn den Medien zugänglich machte, folgte hierauf ein gewaltiges Echo in Presse und Fernsehen. London stand Kopf.
Mrs. Blayton löst Fall auf Fall. Einmal auch wird sie Zeuge ungereimter Vorbereitungen eines Verbrechens. Indem sie genauestens recherchiert, verhindert sie in letzter Sekunde ein Attentat an einem prominenten Strafverteidiger.
So hat Mrs. Blayton im Laufe der letzten zehn Jahre sieben Mordfälle aufgeklärt und einen verhindert. Mordfälle, beziehungsweise -versuche, von denen keiner in den Archiven von Scotland Yard jemals zu finden gewesen wäre.
Danach machte man sich vonseiten der Filmindustrie daran, das Leben, aber hier im Besonderen die Fälle, der Witwe Blayton – in Person der Filmfigur Miss Janis Pample – zu verfilmen. Ihr zur Seite steht in allen Folgen ein, in diesem Fall bürgerlicher, älterer Herr, namens John Striker.
Die Filmtitel in chronologischer Folge sind:
Miss Pample: Habgier, Tod und blaues Blut (1)
Miss Pample: Der Schaukelstuhlmord (2)
Miss Pample: Der Erbe von Blackstone (3)
Miss Pample: Ein Tee zum Sudoku (4)
Miss Pample: Die verwundete Seele (5)
Miss Pample: Der Strafverteidiger (6)
Miss Pample: Die blutrote Ampel (7)
Miss Pample: Tödlicher Freigang (8)
Mrs. Blayton liebt klassische Musik und spielt selbst Violine und Klavier.
2) M. G. Colligan
(Polizei-Inspektor beim San Francisco Police Department), ein kleiner, etwas dicklicher Wuschelkopf, vom Alter her Mitte dreißig, Träger eines creme-weißen Kurzmantels, mit Gürtel, der sichtlich in die Jahre gekommen ist, klärt den schon in den Archiven verstaubenden, weil bereits Jahrzehnte zurückliegenden, Doppelmord an einem kalifornischen Politiker-Ehepaar auf. Das bringt ihm Ruhm und Publicity.
Colligan's Aufklärungsquote ist nicht nur atemberaubend hoch, sondern auch ausgesprochen zeitnah und vor allem mit Geständnissen und wasserdichten Indizien versehen, die der Gerichtsbarkeit eine präzise und zügige Urteilsfindung ermöglicht.
In Konkurrenz zur weiblichen Hobbydetektivin, von der britischen Insel, ist nun auch der amerikanische Ehrgeiz erwacht, die Fälle ihres fähigsten, in diesem Falle professionellen Mörderfängers, auf Zelluloid zu bannen.
Die Filmtitel in chronologischer Folge sind:
Armbruster ermittel – Makaberes Mosaik (1)
Armbruster ermittel – Ungeplanter Doppelmord (2)
Armbruster ermittel – Das Treffen in der Bucht (3)
Armbruster ermittel – Die Rachegöttin (4)
Armbruster ermittel – Endstation Schlucht (5)
Armbruster ermittel – Geld ist nicht alles (6)
Armbruster ermittel – Das Wasser des Todes (7)
Manchmal lässt sich Colligan über die Wintermonate einen kleinen Schnauzbart stehen.
3) Maximilian W. Lord Pickelhorn
ein Glied des britischen Hochadels mit Sitz im Ober haus des Parlamentes wird Zeuge der Ermordung seines langjährigen Juwelieres. Doch niemand vermag den Täter zu ermitteln. Bis sich Mrs. Blayton aufschwingt, Fakten zu sammeln. Und obgleich Scotland Yard ihre Privataktionen keineswegs gutheißt und nicht selten sogar torpediert, setzt sich die resolute Dame durch und bringt den Täter schließlich zur Strecke.
Von da ab verbindet Lord Pickelhorn eine tiefe platonische Freundschaft zu dieser bürgerlichen Lady.
Lord Pickelhorn zeigt sich immer mal wieder als sehr belesen, was die Ermittlungsarbeit Mrs. Blaytons sehr fruchtbar ergänzt.
Kalenderblatt: Dienstag, 4. (32. KW)
Eine Gruppe von sechs Urlaubern, vier Männer und zwei Frauen, alle etwa Mitte vierzig – außer einer –, wird von einem einheimischen Bergführer durchs Gebirge geführt. Es gerät zu einer üppigen Wanderung.
»Können wir nicht bald umkehren?«, bat ein etwa 70‑jähriger Herr, der sich der Gruppe nur unter dem Namen Pickelhorn vorgestellt hatte, den Bergführer Alois Innau. »Es wird doch schon dunkel.«
Der Bergführer blickte den Engländer lange an. »Noch jemand hier, der dringend umkehren muss?«, fragte er in die Runde.
»Ach, wird es dem Herrn zu viel?«, fragte Jana Hartmann aus Göttingen. »Von mir aus geht's noch.«
Und ihr Mann Jochen sowie Herr und Frau Pelzer aus Wismar und der Niederländer Jan van Haegenen stimmten ihr zu.
»Waren Sie es nicht, Mr. Pickelhorn, dem die Strecke heute Morgen gar nicht lang genug werden konnte?«
»Ich gebe zu – ich habe mich wohl ein wenig überschätzt«, sagte Pickelhorn kleinlaut.
Innau nickte wenig schmeichelhaft. »Wir sind ja schon auf dem Rückweg«, sagte er dann. »In einer reichlichen Stunde können Sie Ihren Muskelkater pflegen.«
»Und wahrscheinlich den Rest der Woche«, sagte Mr. Pickelhorn.
»Es wird Ihnen eine schöne Urlaubserinnerung sein«, lächelte der Alpinist mit rauer Stimme.
Mr. Pickelhorn lächelte betreten zurück. Er überlegte, ob er sich vielleicht doch besser als Lord mit einem ganzen Sack voller Schlösser und Herrenhäuser hätte vorstellen sollen. Womöglich hätte man ihm dann etwas mehr Respekt entgegengebracht.
Die Gruppe aber marschierte fröhlich weiter, indem man sich hörbar über den 70-jährigen Möchtegern-Messner amüsierte. Sogar die, denen selbst die Füße wehtaten, vergaßen nun ihren Schmerz und wurden zunehmend scherzhaft, da sie in dem lahmenden John Bull ein genügend wehrloses Ventil für ihre eigene Pein gefunden hatten.
Mr. Pickelhorn versuchte nicht hinzuhören und ließ sich etwas zurückfallen. Demonstrativ die Gruppe ignorierend schaute er an den schroffen Felswänden entlang und quälte sich als Schlusslicht der Gruppe weiter. Da hinten war noch einmal die Sonne zu sehen, wie sie gleich hinter einem Berg verschwinden würde. Pickelhorn nahm seine kleine Kamera und fotografierte. Wenig optimistisch fragte er sich, ob's überhaupt was geworden war. Kurze Zeit später bogen sie um eine Ecke herum, wonach ihre Bergseite im Schatten lag. Eine kantige Schlucht zeigte sich. Wieder griff er zu seiner Kamera und wollte in die Schlucht hinein fotografieren, die sich beeindruckend steil und tief vor ihm auftat. Er lehnte sich an das rustikale Geländer, das an dieser Stelle des Bergwegs zur Sicherung angebracht war und hielt seinen Sucher in Richtung Tiefe. Aber es war zu dunkel. Zwar zuckte sein Finger trotzdem, was Kamera und Blitz auslöste, aber das Bild konnte einfach nichts geworden sein. So tief würde der Blitz niemals reichen. Da gewahrte er eine Sitzbank, die ihm sehr gelegen kam. Hier könnte man eine Rast machen. Aber die anderen gingen einfach weiter. Und auch Mr. Pickelhorn sah schließlich ein, dass es beim Dunkelwerden nicht mehr so ideal ist, eine Pause einzulegen. Weiter quälte er seine brennenden, müden Füße über die spitzen Steine. Er hatte gutes Schuhwerk, sicherlich, aber mittlerweile nutzte auch das nichts mehr. Er hatte das Gefühl, seine Füße kämen ihm bei jedem Schritt durch seine Schädelplatte wieder heraus. Krampfhaft biss der Malträtierte die Zähne zusammen, doch wurde sein Abstand zur Gruppe immer größer. Es mochten schon an die fünfzehn Meter sein, als Mr. Pickelhorn in die Tiefe blickend, meinte, auf einem Felsvorsprung, etwa 30 bis 40 Meter unter ihm, etwas Merkwürdiges liegen zu sehen. Er schaute angestrengt noch einmal hin und meinte schließlich, einen menschlichen Körper zu erkennen. Einen Körper, der reglos dalag. Pickelhorn riss die Augen auf und wollte schreien. Doch ließ er seinen aufkeimenden Schrei sofort wieder verstummen und schaute angestrengt noch einmal zu dem reglosen Leib. Jedoch war, bei aller Mühe, die Pickelhorn sich gab, nichts wirklich klar zu erkennen. Die Konturen verschwammen. Die Dämmerung war schon zu stark. Er holte sein Fernglas hervor ...
»Hey! Pickelhorn!«, rief da der Bergführer. »Wollen Sie hier oben überwintern?«
»Ich komme!«, rief Pickelhorn. »Ich komme!« Und dann schaute er durch das Vergrößerungsglas, doch war es dorthindurch noch unmöglicher in dieser Finsternis etwas vernünftig erkennen zu können. Nur des einen wollte er sich sicher sein: Es war bestimmt ein menschlicher Körper. Daran gab's für ihn kaum einen Zweifel. Und der lag regungslos auf dem Felsen. Und einen Weg dorthin, zu der Stelle, schien es nicht zu geben. Dieser Körper musste auf andere Weise dorthin gelang sein. Sollte er gestürzt sein? Hier? Wie sollte das geschehen sein? Pickelhorn blickte sich um. An dieser Stelle wäre das merkwürdig, denn der Weg war hier ziemlich breit. Natürlich hätte er gestolpert oder ausgerutscht sein können. Aber auch da bot sich seinen Blicken nichts Zwingendes an. Pickelhorns Herz klopfte.
»Pickelhorn! Was machen Sie da?«, rief der Bergführer ärgerlich. »Wir müssen hier schon zusammenbleiben!«
»Komme!«, rief er und machte noch ein Foto in Richtung des Körpers. Der Blitz leuchtete auf. Dann eilte er der Gruppe hinterher.
»Es ist nicht besonders angenehm, Sie zu führen, Pickelhorn«, schimpfte Alois Innau. »Ich denke, Sie waren schon öfters in den Bergen? Da müssen Sie doch wissen, dass man als Gruppe zusammenbleibt.«
»Verzeihen Sie. Ich bin mir meiner Schuld bewusst, Herr Innau«, sagte Mr. Pickelhorn. Obwohl ihm ganz anderes auf der Zunge brannte.
Zuerst nämlich meinte Pickelhorn noch, sich verteidigen zu müssen und wollte dieserhalb den menschlichen Körper im Abgrund erwähnen. Aber da ihm ja nun einmal ein versehentlicher Absturz an dieser Stelle kaum denkbar schien, kam er zu dem Schluss, womöglich erst seiner berühmten Reisebegleitung, einer scharfsinnigen Hobbydetektivin, von dem Toten zu erzählen. Und so schwieg er zunächst von dem menschlichen Leib. Doch fragte er zur Sicherheit:
»Sagen Sie, Herr Innau: Wenn ich hier abstürzen würde, könnte man mich dann heute Abend noch retten?«
Innau starrte den eigentümlichen Alten an und schüttelte den Kopf. »Haben Sie Angst?«
»Nein, ich wollt's nur gern wissen ...«
»Das ist eine interessante Frage, obwohl sie von Mr. Pickelhorn kommt«, sagte Herr Pelzer, der von der Waterkant kam. »Das hätt' ich auch gern gewusst.«
»Schön«, sagte Innau. »Dann lassen Sie sich Folgendes gesagt sein: In dieser Dunkelheit wäre nichts mehr zu machen. Da müssten Sie bis Tagesanbruch warten.«
»Und wenn es dann zu spät wäre?«, fragte der Niederländer, van Haegenen.
»Dann wäre es zu spät!«, sagte der Bergführer. »Sie müssen sich halt dran gewöhnen, meine Herrschaften, die Berge sind wunderschön, aber mit ihnen ist nicht zu spaßen. Sie müssen sich schon an die Vorgaben halten, die Ihnen das Hochgebirge gibt. So wie es auch Sie an der See tun müssen«, wies er auf Herrn und Frau Pelzer. »Alles in der Natur hat seine eigenen Gefahren. Und bei Missachtung derselbigen verliert nicht das Meer und nicht das Gebirge. Sie allein sind der Verlierer. Und wenn sie richtig verloren haben«, sagte er, »dann sind Sie ganz tot.«
So wusste Mr. Pickelhorn, dass er dem Verunglückten an diesem Abend nicht mehr würde helfen können. Und so entschloss er sich, zuerst Mrs. Blayton von dem Verunglückten zu berichten.
Mrs. Blayton hatte diesen ersten richtigen Tag ihres Urlaubs nicht ganz so sportlich aktiv verbracht, wie ihr sich rüstig gebender Begleiter. Sie war stattdessen gemütlich durch einige Gässchen geschlendert, war an der Triumphpforte, am Stadtturm und am Goldenen Dachl, und hatte sich ein köstliches Stück Torte in einem Café wohlschmecken lassen.
Nun war es mittlerweile Nachmittag und ihr war aus irgendeinem Grund ein bisschen langweilig geworden, denn Mr. Pickelhorn war noch immer nicht von seiner Bergwanderung zurück. So fasste sie kurzerhand den Entschluss, sich die Kristallwelten anzusehen, von welcher der Herr Krone im Zug so geschwärmt hatte.
Sie bestieg den Shuttle-Bus, kaufte eine Fahrkarte, die auch gleichzeitig als Eintrittskarte für die Kristallwelten fungierte, und stand, kaum eine halbe Stunde später, auch schon vor dem Riesen der Kristallwelten und schaute verzückt dem originellen Wasserfall zu. Dann betrat sie den Bauch des Riesen. Und sofort nach ihrem Eintritt, wurde sie auch schon berückt und erschlagen, von dem Glanz, der sie mit solcher Plötzlichkeit umgab. Kristalle in jeder Form, von Lichtern angestrahlt, funkelten in allen Farben. Kristallene Skulpturen boten betörende Reize. Musik ertönte dazu. Dann sogar die Stimme der Operngröße Jessy Norman, die mit ihrem Sopran auf überwältigende Art die Hallen durchströmte. »Thy Hand Belinda – wen I am laid in earth«, ist das, was, als Jessy Normans Gesang, wohl einem jeden Besucher der es jemals hörte, eine ehrfürchtige Gänsehaut verursachte.
Entzückt ließ Mrs. Blayton die ganze Großartigkeit auf sich einwirken.
»Wunderbar, nicht?«, sprach sie mit einem Male ein Herr, nicht nur von der Seite, sondern auch in einer breiten Mundart an.
Sie schaute sich um und entdeckte den Herrn und das Gesicht dazu, worauf sie, ohne es zu merken, zu blinzeln begann. Denn in Kombination mit einem abgehalfterten hellblassfarbenen Polyestermantel, aus welchem dieses Antlitz herausguckte, wollte ihr die ganze, etwas dickliche und untersetzte Figur überraschenderweise sehr bekannt vorkommen. Doch, vielleicht war es der Umgebung geschuldet, noch konnte sie ihn nirgendwohin stecken.
Der Herr gegenüber schien nicht minder verdutzt. Denn als sie sich umwandte, zuckte er mit dem Kopf ein wenig zurück und verdrehte bei ihrem Anblick die Augen, wobei anschließend sein rechtes Sehorgan Mrs. Blayton fixierte, während das linke in die Höhe blickte.
Unsicher schaute Mrs. Blayton von einem Auge zum anderen.
»Verzeihen Sie, Ma'm«, sagte der Herr und zeigte auf seine Augen. »Erschrecken Sie bitte nicht. Das ist nur ein Höhenschielen. Nichts von Bedeutung. Wirkt nur manchmal etwas deplatziert.«
»Oh, es ist alles in Ordnung«, sagte Mrs. Blayton. »Und um auf Ihre Frage einzugehen: Ja, ich finde es hier auch ganz ausgesprochen wundervoll.«
»Ja«, sagte der Herr. »Ja, ja. – Ähem, verzeihen Sie bitte noch einmal, Ma'm, aber, das mag am Licht hier liegen«, zeigte er sich unverkennbar verwundert, »aber ... kann ich Sie von irgendwoher kennen?«
»Das Gleiche möchte ich Sie fragen?«, erwiderte Mrs. Blayton.
»Oh, ja sicher, verzeihen Sie, ich bin natürlich dran mich vorzustellen ...«
»Lassen Sie es gut sein, Herr Inspektor«, winkte sie ab. »Dann sind Sie's also doch!«, strahlte sie übers ganze Gesicht. »Na, das ist ja eine Überraschung. Da steht doch leibhaftig der berühmte amerikanische Polizeidetektiv Colligan vor mir!«
»Oooh, nein, das trifft mich jetzt aber«, sagte der andere und rollte wieder seine Augen in der gehabten Weise. »Da hab ich mich doch glatt von der gewieftesten Detektivin Englands ertappen lassen. Ich möchte Sie gern begrüßen, Mrs. Blayton. Und ich muss sagen, ich freue mich überaus, einmal Ihre direkte Bekanntschaft zu machen!«, sagte er. Und seine Freude über diese Begegnung zierte sein ganzes Gesicht.
Erwartungsvoll streckte er dem Grund seiner Freude die Hand entgegen.
»Ganz meinerseits, Herr Inspektor!«, sagte wiederum Mrs. Blayton ergriffen und schnappte sich die Hand des Inspektors. »Auch ich bin immer wieder aufs Neue fasziniert, wenn ich Ihre Fälle sehen darf. Ach, und wie viel Unschuldige würden wohl ohne unser Zutun noch im Gefängnis sitzen, weil man den wahren Halunken nicht auf die Schliche gekommen ist?«
»Denken Sie an, Ma'm, genau das habe ich neulich noch zu meiner Frau gesagt. Allein wenn ich da an den Fall denke, als zwei College-Schülerinnen einem ehemaligen Lehrer ihren Mord in die Schuhe schieben wollten.«
»Ich weiß«, nickte Mrs. Blayton, »und Sie tricksten sie aus, mit dem vermeintlichen Täterwissen und dem Wagenheber Ihrer Frau.«
»Oh, ja, was wäre ich ohne meine Frau. Sie spielt in meinem Leben die Hauptrolle, auch wenn sie eigentlich gar keine Rolle spielt.«
»Sagen Sie, Inspektor, was tun Sie hier?«
»Ich habe Verwandtschaft in Italien, in Mailand besucht. Meine Schwester hat vor etwa zehn Jahren einen Italiener geheiratet und lebt nun mit ihrem Mann in Bella Italia. Und da bin ich nun zum ersten Mal zu Besuch gewesen. Von dort aus bin ich dann noch nach Meran, für zwei Tage. Wissen Sie, ich bin noch niemals in diesem zauberhaften Südtirol gewesen – können Sie sich das vorstellen? Ja und die dortige Bergwelt, hat mich so bezaubert, Ma'm, dass ich beschlossen habe, mich noch ein wenig weiter im bergigen Europa umzusehen.«
»Wollen wir ein bisschen weiter gehen?«, fragte Mrs. Blayton.
»Sehr gern.«
Und immer aufs Neue blendete die Schönheit der Kristalle und Lichter ihren Sinn.
»Schauen Sie, ist das nicht großartig?«, lobte Colligan vergnügt.
»Prächtig!«, sagte die Dame. »Ganz prächtig.«
»So etwas gibt es noch nicht einmal in Las Vegas«, erklärte Colligan seinem britischen Pendant. »Und dort gibt es schon eine Menge.«
Sie gingen weiter und kamen aus dem Staunen nicht heraus, bis sie schließlich die Kristallwelten wieder verlassen hatten.
Beide standen vor dem Ausgang wie betäubt. Der Abend dämmerte.
»Das muss ich meiner Frau erzählen?«, sagte Colligan. »Das glaubt die mir nie. Die Kristallwelten – diese unendliche Pracht. Empfinden Sie nicht auch so?«
»Ganz genauso, Herr Inspektor. Ganz genauso.«
»Und in all dem funkelnden Glanz, treffe ich Sie!«, zeigte er auf Mrs. Blayton. »Das kann meine Frau nicht glauben. Sie wird denken, ich will aufschneiden, weil ich ihre Kreuzfahrt übertrumpfen will.«
Indem kam ein Ehepaar in mittleren Jahren heraus und ging an den beiden vorüber.
»Hallo Sie!«, stürzte Colligan auf die beiden los.
Das Ehepaar drehte sich verdutzt um.
»Bitte?«, sagte der Mann.
»Verzeihen Sie«, nickte Colligan den beiden zu. »Ich hab hier einen Fotoapparat. Könnten Sie von uns beiden ein Foto machen?«
»Ja, das sollte wohl gehen«, sagte der Mann.
Die Frau sah den kleinen, dicklichen Mann und vor allem den doppelreihigen, zerknitterten Kurzmantel, indem er steckte und schüttelte sich verächtlich. »Ich gehe schon zum Wagen«, sagte die Frau. »Ich kann nicht mehr stehen. Ich muss meine Schuhe ausziehen, meine Füße brennen wie Feuer.«
»Ist gut, Moni, ich komme gleich«, erwiderte der Gatte seiner Frau. »Und wo?«, fragte er jetzt den fremden Mann in der abgewetzten Verkleidung.
»Hier so vorm Hauptportal«, zeigte Colligan mittels diffusem Armschwenken. »So, dass irgendwie der Eingang mit zu sehen ist.«
»Ja, da mache ich aber am Besten zwei Fotos«, sagte der Mann. »Sonst sind Sie auf dem Foto zu klein. Einmal mit Eingang und einmal als Porträt, nur Sie beide.«
»Danke, sehr freundlich«, sagte Colligan, »wirklich sehr freundlich«, und stellte sich links neben Mrs. Blayton.
Der Mann machte das erste Foto, mehr in der Totalen mit dem Eingang darauf, und ging dann näher heran, um das Porträtfoto zu schießen.
»Damit das Foto richtig wirkt, werde ich den Blitz brauchen«, sagte der Mann.
»Oben rechts, können Sie's einstellen«, sagte Colligan.
Der Mann fand den Einstellring und stellte die Kamera auf Blitz.
»Sagen Sie«, sagte der Mann zögernd, »täusche ich mich, oder kenne ich Sie?«
»Sollte er uns kennen?«, fragte Colligan Mrs. Blayton.
»Das wäre zu viel der Schmeichelei«, antwortete die Dame. »Machen wir doch nur einfach das Foto.«
»Aber sicher, kenne ich Sie!«, tönte der Mann wie ein Hafendampfer. »Sie sind dieser ... Amerikaner – ich hör' das an der Aussprache. Sie sind dieser ... na«, sagte er und schnippte mit dem Finger, »dieser ... Und Sie sind«, zeigte er auf Mrs. Blayton, »Sie sind ... Moment, das muss ich unbedingt meiner Frau sagen. Momeeeent! Laufen Sie nicht weg!«
»Sie haben noch meinen Fotoapparat!«, rief Colligan hinter ihm her.
»Ja, ja!«, rief der Mann atemlos. »Laufen Sie nicht weg!«
»Moni!«, schrie der Mann mit Seitenstichen zum Auto laufend. »Moni! Moooniiiii!«
»Was ist denn los, Edgar?«, rief sie durchs geöffnete Fenster.
»Da vorne!«, rief der Mann, noch immer laufend. »Das glaubst du nicht, wen ich da gerade fotografiere!«
»Diesen Asozialen mit seiner Mutter?«, fragte sie.
»Asozial?«, rief er verdattert. Er war angekommen. »Du hast ja keine Ahnung! Mensch, Moni! Das ist dieser amerikanische ... dieser ... ja, was immer im Fernsehen kommt.«
»Ins Fernsehen kommen nur Asoziale«, sagte die Frau.
»Ja, Schätzelchen, stimmt – aber der spielt den nur!«
»Ein Amerikaner spielt 'n Asozialen?«, fragte die Frau.
»Ja, aber nur um die Verbrecher zu fangen«, erklärte der Mann.
Seine Frau riss die Augen auf. »Edgar, was redest du da? Du meinst nicht: Armbruster?«
»Doooch! Genau, Schatzilein! Armbruster!«, trompetete Edgar völlig aus dem Häuschen.
»Du hast 'n Sonnenstich!«, sagte die Frau.
»Nein, Moni! Das ist Armbruster ...!«
»Edgar, das kann unmöglich Armbruster sein!«
»Aber Moni, das ist Armbruster. Wenn ich's dir doch sage. Das ist Armbruster! Und Miss Pample ist bei ihm. Verstehst du? Miss Pample ist bei ihm!«
»Aaahaahaah!«, schrie die Frau. »Geben die Autogramme? Ich will ein Autogramm!«
»Bestimmt geben die Autogramme!«, sagte der Mann.,
»Aaaahaaahaaah!«, schrie die Frau noch schriller auf, ergriff ihre Handtasche und sprang barfuß aus dem Auto. »Ein Autogramm! Ich muss ein Autogramm haben!«, schrie sie hysterisch und trat auf dem Parkplatz mit ihren blanken Füßen serienweise in spitze Steine. »Aaaahaaahaaah!«, schrie sie immer wieder. Und fortwährend »Aaaahaaahaaah!«
Der Mann, den die Seitenstiche plagten, folgte ihr unterdessen im Seitenstichtempo.
Colligan sah die schreiende Kreatur auf sich zu kommen und blickte Mrs. Blayton verkniffen an. »Was hat denn die Furie?«, fragte er seine Begleiterin. »Ob die was mit uns vorhat?«
»Schätze, wir haben einen Fan getroffen«, sagte Mrs. Blayton trocken. »Wahrscheinlich die übliche Verwechslung.«
»Oh, das kann ja wieder heiter werden«, litt Colligan bereits an bösen Vorahnungen.
Und da war der weibliche Fan auch schon bis auf wenige Schritte herangekommen. »Oh, das ist ja so wundervoll!«, kreischte die Barfüßige. »Sie sind es tatsächlich. Sie sind es tatsächlich!« Und dann fiel sie der vermeintlichen Miss Pample um den Hals, dass diese beinahe umfiel.
Mrs. Blayton bekam große Augen und wenig Luft. Konnte sich aber diesem überraschenden Ansturm nicht überzeugend erwehren.
Colligan überkam indes bannige Sorge, in Bezug auf seine englische Kollegin. Die Frau, die Moni genannt wurde, herzte ihr verwechseltes Idol, ohne zu enden.
Colligan tickte ihr leicht auf die Schulter. »Verzeihen Sie, Ma'm ...«
»Ach sicher!«, kreischte die Frau, völlig von den Socken. »Ich wollte doch Sie nicht vergessen!«, flötete sie und fiel nun dem Inspektor um den Hals, den Sie mit abwechselnden und flinken Küssen auf beide Wangen bedeckte.
»Hilf...!«, röchelte Colligan einen abgewürgten Notruf und streckte wie ein Ertrinkender seinen Arm in die Höhe. Doch der Schrei, in Panik abgesetzt, konnte kaum seinen abgedrückten Kehlkopf verlassen.
Die Frau presste ihm vor Leidenschaft alles zusammen, und den Erstickenden weiterhin herzend, jodelte sie etwas von Autogrammen.
Colligan wollte gerade das Bewusstsein verlieren, als in letzter Rettung endlich Monis Mann eintraf, der irgendwie aus Versehen den Fotoapparat auslöste. Es blitzte. Die Frau hing mit ihren Lippen derweil fast an Colligans linkem Auge.
Doch der Blitz verdarb die Euphorie. Jetzt ließ sie von ihrem Opfer ab.
»Meine Frau freut sich, Sie zu sehen«, sagte der Mann.
»Ach, tatsächlich?«, hüstelte Colligan. Er prüfte, ob seine Gesichtspartien noch an der vorgesehenen Stelle saßen.
»Ein Autogramm!«, seufzte die Frau. »Oh bitte, seien Sie so gut. Miss Pample, Mr. Armbruster!«, sagte sie wie eindringlich flehend.
»Von meiner Seite aus gern«, sagte Mrs. Blayton. »Aber ich habe nichts zu schreiben.«
»Ich leider auch nicht«, zuckte der Inspektor die Schultern. »Vielleicht können wir noch das Foto machen«, bat er den Ehemann.
»Ja, prima!«, rief Moni enthusiastisch. »Mach ein Foto, Edgar! Das können uns unsere Meisterdetektive dann schicken!«
»Meinetwegen«, sagte der Ehemann namens Edgar und hielt die Kamera im Anschlag.
»Halt! Nein! Ich muss auch mit drauf!«, rief da Monika und lief ins Bild, wo sie den Blick auf Mrs. Blayton verstellte, gerade da Edgar den Blitz auslöste.
»Gut, ich denke, dann haben wir alles«, sagte Colligan und wollte gehen.«
»Aber nein, nein!«, rief Moni. »Um das Autogramm kommen Sie nicht herum.«
»Aber ich habe nichts zu schreiben und äh ... Mrs. ... – wie soll ich Sie nennen?«, fragte Colligan mit katafalkischem Blick.
»Pample!«, antwortete seine Begleitung.
Er nickte. »Und Miss Pample auch nicht!«, sagte er die Arme ausbreitend.
Moni schaute ärgerlich drein, wie ein hungriger Habicht. »Und du?«, stieß sie ihren Ehemann in die Seite.
Der zuckte erst zusammen und dann mühsam die Achseln. »Na, ja, vielleicht im Wagen«, sagte er. »Hier habe ich jetzt auch nichts.«
»Du taugst auch zu gar nichts!«, rüffelte sie ihn wegwerfend.
Mrs. Blayton und Colligan zogen leicht die Köpfe ein, bei diesem Ausspruch.
»Verdammt, ausgerechnet jetzt habe ich auch keinen Schreiber!«, stöhnte sie. »Aber Moment mal!«, rief sie und ihre Miene hellte sich auf. »Mein Augenbrauenstift«, sagte sie mit erhobenem Finger. »Damit können Sie schreiben.«
»Aber worauf?«, fragte Colligan. »Ich hab' wirklich nicht ...«
»Oh doch, Sie haben!«, rief Moni aufgeregt. »Ich habe eine tolle Idee! Wir nehmen den Gürtel von ihrem Regenmantel, Mister Armbruster ...!«
»Meinen Gürtel ...?«, schaute der Inspektor verkniffen drein.
»Aber sicher!«, trällerte Moni. »Mein Augenbrauenstift eignet sich dafür bestimmt ganz wundervoll!«
Jetzt aber mischte ihr Mann sich ein.
»Ich glaube nicht, dass das Herrn Armbruster recht ist«, sagte Edgar vorsichtig.
»Und es ist auch kein Regen- sondern ein Travelmantel«, brachte Colligan vorsichtig aber mit erhobenem Zeigefinger einen konkreten Einwand vor.
»Papperlapapp«, winkte sie den Gatten von ihrer Seite, ohne auch die Meinung des Inspektors zu beachten. »Mister Armbruster – raus mit dem Gürtel!«, zischte sie wie ein Python.
»Nein, also – das meinen Sie nicht ernst ...«, wandte sich Colligan um und hielt seinen Gürtel fest.
»Was sollen wir so lange reden?«, sagte die Dame, drehte Armbruster flugs wieder herum und griff auch schon nach dem Mantel.
»Was machen Sie mit mir, Lady?«, wehrte sich Colligan eingeschüchtert. »Bitte tun Sie das nicht.«
Doch die Dame hatte flinke Finger und deshalb, gegen alle Proteste des Inspektors, in Windeseile den Gürtel von seinem Mantel gelöst. Triumphierend wedelte sie ihn in der Luft herum.
»Sehen Sie, Herr Inspektor!«, rief sie, »hat doch gar nicht wehgetan. Und jetzt musst du dich mal bücken, Edgar, damit unsere Meisterdetektive ihr Autogramm auf dem Gürtel verewigen können.«
Darauf bückte sich der übertölpelte Edgar – wenn auch fast zähnefletschend, so doch gehorsam. Sodann platzierte Moni den erbeuteten Gürtel auf seinem Rücken und Colligan und Mrs. Blayton mussten nacheinander den erbeuteten Travelmantelgürtel mit ihren vermeintlichen Namenszügen signieren, als:
Miss Janis Pample & Inspektor Reginald Armbruster.
Alsdann überreichte Edgar den beiden Detektiven je eine seiner Bankvorstands-Visitenkarten, damit sie auch wüssten, wohin sie die Fotos für seine Frau schicken könnten und wünschte den gebügelten Detektiven noch einen schönen Urlaub.
Apathisch nahmen unsere Helden die Karten entgegen und hofften nur, der belämmerte Edgar und die barfüßige Monika, würden sich jetzt endlich, endlich vom Acker machen.
Und so war es. Das Pärchen drehte sich um und Colligan rief: »Mein Fotoapparat!«
»Ach, Verzeihung!«, druckste der Bankvorstand und überreichte die Kamera ihrem gürtellosen Eigentümer.
Darauf entfernte sich das Pärchen endlich ohne drohende Wiederkehr. Arm in Arm, voller Zufriedenheit, weil bewaffnet mit dem wertvollsten Utensil, welches sie jemals ihr eigen nennen durften, schritten sie auf ihr Auto zu.
»Au!«, rief da aber plötzlich die barfüßige Monika. »Au, au!«, rief sie nun immer öfter, da die erste überwallende Euphorie verflogen war und sie jetzt all die spitzen Steine wieder spürte, auf die sie unentwegt trat.
»Au, au – au, au! Aua, verdammt!«
Doch Edgar grinste fröhlich, als seine Frau immer wieder aufschrie. »Wir sind gleich am Wagen«, sprach er einen mitleidlosen, von einem ironischen Grinsen überzogenen, singenden Trost, indem er sich tänzelnd bewegte wie Charleys Tante.
»Was grinst du denn so blöd?«, fragte seine Frau erbost. »Siehst du nicht, wie mich die Steine foltern?«
»Doch, das sehe ich!«, lächelte er belustigt und voller Entzücken.
»Mensch dann hol, aua, endlich den Wagen, du Kamel!«, zeterte sie. »So dumm, aua, aua, kannst du doch nicht sein. Autsch, autsch, autsch!«, rief sie verzweifelt. »Also manchmal verstehe ich dich nicht!«, giftete sie ihren Mann an. »Nein, manchmal verstehe ich dich wirklich nicht.«
»Schauen Sie, wie ich jetzt aussehe«, sagte Colligan zu Mrs. Blayton. »Der Mantel hängt an mir herunter wie ein nasser Feudel.«
»Na und, Inspektor. Das braucht Sie doch nicht zu kümmern. Schauen Sie mich an. Bin ich etwa noch eine Schönheit? Also. Wir beide haben andere Qualitäten. Und die müssen so meisterhaft sein, dass man, nur weil man es in Hollywood nicht lassen konnte, unser beider Leben zu verfilmen, meint, unsere Filmfiguren seien echt und sogar mit uns beiden identisch, sodass man noch am anderen Ende der Welt ein Autogramm von uns erpresst. Dabei haben wir beide noch niemals ein Filmstudio von innen gesehen, stimmt's nicht?«
Colligan lächelte. »Sie sind eine bemerkenswerte Frau, Miss Pample – ach, jetzt fange ich auch schon an – Mrs. Blayton. Wissen Sie, ich kann mich nicht gut unter Menschen bewegen. Nie weiß ich: Soll ich 'ja' sagen, soll ich 'nein' sagen, soll ich überhaupt etwas sagen? Immer bin ich voller Zweifel, was ich gerade tun soll. Und immer mache ich, nach vielem Nachdenken, garantiert das Falsche. Das Einzige, was ich wirklich kann, sind Mordfälle lösen. Dann bin ich in meinem Metier. Und da weiß ich inzwischen, dass ich das kann. Aber einfach nur normal unter Menschen sein – das schaffe ich nicht. Das geht mir unter Garantie schief.«
»Und das macht Sie so sympathisch, Inspektor«, lächelte Mrs. Blayton ihn direkt an. Und dann wurde sie nachdenklich. »Sagen Sie – mein lieber Kollege –, da haben wir doch eben Autogramme gegeben, im Namen unserer Filmdarsteller. War das eigentlich Urkundenfälschung?«
Colligan griff sich durch die Haare. »Das kann ich mir nur sehr schlecht vorstellen«, sagte er mit verständigem Blick. »Denn immerhin sind wir das Original!«
»Sie haben ja so recht, Herr Inspektor!«, nickte die ältere Dame resolut. »Wir sind das Original! Das andere sind alles Falsifikate.
»Daran besteht kein Zweifel, Ma'm!«, lächelte Colligan in gespielter Hochmütigkeit.
»Wir sind das Original!«, wiederholte Mrs. Blayton und freute sich. »Sehr gut gesagt«, lobte sie ihren kongenialen Partner. »Und wenn ich bemerken darf: Ihr Wort bildet auch einen sehr schönen Abschluss für unseren Tag heute. Denn nun, Mr. Colligan, muss ich leider in meine Unterkunft. Für heute war ich genug auf den Beinen.«
Sie riefen ein Taxi und nahmen beide auf der Rückbank Platz, mussten sich jedoch zuvor einigen, wie der Chauffeur zu fahren hätte.
»Wo wohnen Sie denn?«, fragte der Taxifahrer.
»Rotdornweg«, sagte Mrs. Blayton, »Nummer elf.«
»Tja, ich muss ins Hotel 'zum Schwänlein', im Mozartring«, sagte Colligan.
»Gut, dann muss die Dame zuerst aussteigen«, sagte der Taxifahrer und brachte Mrs. Blayton als Erstes ans Ziel.
»Tja, Herr Inspektor, dann gute Nacht«, verabschiedete sie sich mit einem Händedruck.
»Danke, werd' ich haben«, nickte der Inspektor. »Auch ich bin für heute einigermaßen gerädert.«
»Ach, ähem, wie lange bleiben Sie übrigens noch in Innsbruck?«, fragte seine Begleiterin.
»Och, vielleicht zwei Tage, vielleicht drei«, antwortete Colligan unschlüssig. »Mal abwarten, wann mir langweilig wird.«
»Gut«, sagte Mrs. Blayton, »dann sehen wir uns vielleicht noch mal.«
»Ma'm«, sagte der Inspektor, »es wäre mir eine ausdrückliche Freude.«
Mrs. Blayton war dem Taxi entstiegen und winkte dem Inspektor freundlich nach.
Dann war das Taxi fort. Mrs. Blayton spürte heftig ihre Beine und hatte gerade die Tür zu ihrer Ferienwohnung aufgeschlossen, als jemand völlig atemlos auf sie zugelaufen kam. Es war der begnadete Bergkletterer Lord Pickelhorn.
»Mrs. Blayton! Mrs. Blayton!«
Die Dame schaute sich höchst verwundert um.
»Pickelhorn! My Lord! Was haben Sie denn?«, war sie bass erstaunt.
»Ich ..., ich ...«, hechelte Lord Pickelhorn atemringend. »Ich war schon zweimal hier, Mrs. Blayton. Ich muss Sie sprechen. Dringend!«
»Eigentlich bin ich für heute ein wenig erschöpft. Können wir nicht auch morgen reden?«
»Dann hätte ich's bestimmt nicht so oft bei Ihnen versucht.« Er machte seine Augen ganz weit auf und flüsterte geheimnisvoll: »Ein Toter. Es geht vielleicht um Mord!«
»Hier, im Urlaub?«, fragte Mrs. Blayton verdutzt.
»Ich hab ihn mit eigenen Augen gesehen«, flüsterte Lord Pickelhorn. »Oben in den Bergen!«, zeigte er schräg hoch in die Dunkelheit hinein und schaute sich immer wieder verängstigt um.
Jetzt wurden auch die Augen von Mrs. Blayton größer. Sie reckte ihren kurzen Hals empor und sagte: »Dann kommen Sie, My Lord. Das müssen Sie mir näher berichten.«
Sie traten ein.
»Möchten Sie ein Bier?«, fragte sie ihren langjährigen Freund.
»Gerne, Mrs. Blayton.«
»Gut«, sagte sie, »ich nehme auch eines.«
Und dann berichtete Lord Pickelhorn, was er an diesem Tag Fürchterliches beim Bergwandern erlebt hatte.
Mrs. Blayton hatte ihr außergewöhnliches Erlebnis in den Kristallwelten gar nicht berichten können. Denn es verblasste gar sehr, gegen die Möglichkeit eines Mordes. Geduldig und mit einigen pointierten Nachfragen hörte sie sich die Geschichte ihres Busenfreundes an. Als er geendet hatte, zog Mrs. Blayton eine bedenkliche Miene.
»Hoffentlich haben Sie sich nicht strafbar gemacht, mein Bester«, äußerte sie sich besorgt. »Einfach so den Absturz eines Menschen nicht zu melden ...«
»Nun ja, Mrs. Blayton – ich hab doch gedacht, weil ihn heute sowieso niemand mehr retten konnte ...«
»Schon ...«, sagte Mrs. Blayton bedächtig, »schon ...«
Sie nahm ein Schluck Bier aus dem Glas.
»Sie meinen, ich habe vielleicht einen schlimmen Fehler gemacht, Mrs. Blayton?«, sagte der Lord bebend. »Sie müssen mir glauben«, flehte er weinerlich, »das war nicht meine Absicht. Sie müssen mir glauben, das lag nie in meiner Absicht ...«
Der arme Mann war ganz außer sich, wie er sich die Konsequenzen so vorstellte.
»Ich muss laut denken, Max«, winkte Mrs. Blayton ab. »Ich muss laut denken«, wiederholte sie und wackelte leicht mit ihrem ergrauten Haupt. »Für heute können wir nichts mehr bewerkstelligen«, sagte sie eroierend. »Aber wenn wir noch etwas Entscheidendes tun wollen, dann müssen wir beide den Verunglückten als Erstes sehen, das ist klar. Somit ist uns geheißen, dass wir bereits morgen in aller Frühe, noch vor jedem anderen, oben am Berg sein müssen.«
»Sie wollen wirklich auf den Berg?«, fragte Pickelhorn.
»Ja, was bleibt uns übrig, eure Lordschaft?«, erwiderte Mrs. Blayton. »Nur frage ich mich, wie wir das schaffen können? Sie haben ja gesagt, Sie hätten schon fast einen ganzen Tag gebraucht, nur um dorthin zu gelangen ...«
»Gewiss, aber das war der lange Weg«, erklärte Lord Pickelhorn. »Von da ab, wo ich den Toten gesehen habe, benötigten wir für den Abstieg nur knapp eineinhalb Stunden. Das heißt, wenn wir's umgekehrt machen ...«
»Sie meinen, wenn wir Ihren Abstiegsweg wieder hinaufgehen würden?«, fragte Mrs. Blayton.
»Sehr richtig!«, sagte der Adelsmann. »Dann wären wir viel zügiger an der Absturzstelle. Und die Hälfte der Strecke besteht sogar eine Straße, weil dort nämlich ein Gasthaus ist. Wenn wir also ein Taxi nehmen, sind wir schon nach wenigen Minuten am Gasthaus. Und von dort aus ist es dann auch nicht mehr so weit.«
Mrs. Blayton rieb sich über den Mund, während ihre Augen den Raum durchwanderten. »Dann wäre es vielleicht machbar«, züngelte sie mit Denkfalten auf der Stirn. »Wann geht morgen die Sonne auf?«
»Ich vermute gegen sechs«, sagte Pickelhorn.
»Gut«, nickte Mrs. Blayton, »dann sollten wir gegen sechs Uhr oben am Gasthaus sein. Demgemäß würden wir um 5:30 Uhr hier wegfahren.«
Lord Pickelhorn verdrehte den Hals. »Um 5:30 Uhr?«, fragte er aufstöhnend.
»Und wir sollten vorher gut frühstücken«, ergänzte Mrs. Blayton. »Damit wir auch wirklich fit sind.«
»Das klingt alles fürchterlich früh, für einen Urlaub, Mrs. Blayton«, klagte Mr. Pickelhorn.
»So ist das nun einmal, bei der Verbrecherjagd, Mr. Pickelhorn. Die Halunken warten nicht, bis es hell wird. Auch nicht auf Lords«, sprachs und nahm noch einen Schluck Bier zu sich. »Wie spät ist es jetzt?«, fragte sie.
»Gleich elf Uhr«, antwortete Pickelhorn und betonte 'elf' so stark, dass er hoffte, sie würde sich die Uhrzeit noch einmal deftig überlegen.
Mrs. Blayton schob mit ihrer Zunge eine Beule in die Wange, worauf sie aufstand und sich zum Telefon begab. Dort zog sie ein Informationsblatt unter dem Apparat hervor, welches sie überflog, und begann eine Nummer zu wählen.
Pickelhorn der ein richtiger Lord war, schaute irritiert. »Wen rufen Sie denn jetzt noch an?«, fragte er befremdet.
»Ja, guten Abend«, sagte aber Mrs. Blayton in den Hörer. »Ich hätte gern eine Auskunft für Innsbruck ... ja, der gesuchte Teilnehmer ist das Hotel 'zum Schwänlein' ... ja, ja, Schwänlein.«
Sie notierte eine Nummer.
»Ich danke Ihnen«, sagte Mrs. Blayton, unterbrach darauf die Verbindung und wählte sogleich die Nummer, die sie sich soeben notiert hatte.
Lord Pickelhorn aber schaute drein wie zuvor.
»Ja, ist dort das Hotel Schwänlein ... na, prima. Bitte, in Ihrem Hause residiert ein Herr Colligan. Würden Sie mich bitte auf sein Zimmer durchstellen?«
Lord Pickelhorn blickte seine Freundin sorgenvoll an. »Wen rufen Sie da an?«
Doch Mrs. Blayton winkte ab, denn sie musste das Gesagte am Telefon verstehen. Und dem Gesicht zufolge schien ihr die Antwort aus dem Hörer nicht zu gefallen.
»Ja, es ist nach 23:00 Uhr«, sagte sie. »Nein, und ich will ihn auch nicht stören. Aber wenn er wüsste, worum es geht, würde er bestimmt wert auf diesen Anruf legen ... Es ist ein Notfall. Jemand ist tot! – ... – Na, also! Danke.«
Der gute Lord Pickelhorn blickte unterdessen immer sorgenvoller drein. »Bitte, Mrs. Blayton, wen rufen Sie da an?«, fragte er ratlos.
Doch Mrs. Blayton winkte wiederum ab. Sie wartete, es klingelte ziemlich oft, schließlich ging jemand dran.
»Jaaaacccchhhh«, stöhnte ein schlapper Wuschelkopf mitleiderregend. Und man konnte es durch den Telefonhörer förmlich am eigenen Leibe spüren, dass derjenige, der da so kläglich stöhnte, seine Augen noch immer fest zugeklappt haben musste, als er sich meldete.
»Inspektor, schlafen Sie schon?«, fragte die Detektivin mit hochgerutschten Augenbrauen.
»Häää, phhh«, machte es apathisch in den Telefonhörer.
Die Londoner Detektivin konnte mit diesen Geräuschen nicht viel anfangen. »Inspektor, liegen Sie schon im Bett?«, fragte sie noch einmal und diesmal etwas lauter.
»Jaaaa ...«, klang es aus dem Mund des Inspektors als sei er im Schlaf geknebelt worden. »Wieso denn?«, klang es fast verzweifelt. »Wer will das eigentlich wissen?«, sagten die geschlossenen Augen mit einem unbeherrschbaren Gähnen.
»Hier Blayton, Herr Inspektor ...!«
»Blayton? (Gähn). Kennen wir uns? (Gähn).«
»Inspektor, bitte! Wir wurden um Autogramme angehalten.«
»Autowas? Ach ...gramme. Ja sicher ... ja, ja. Tschuldigung, Ma'm. (Gähn). Was ist denn los?«, fragte der Inspektor schwach und umnachtet und nur wenig Herr seiner wenigen Sinne. »Ich habe das Gefühl, es wäre mitten in der Nacht. (Gähn).«
»Ihr Gefühl trügt Sie nicht, Herr Inspektor. Können Sie morgen zu mir kommen?«
»Morgen? ... Wieso? ... Wann ist denn morgen?«, hauchte er Welt entsagend. »Ich bin so müde. Verzeihen Sie, aber ich habe keine Ahnung, wann morgen ist ... (Gähn).«
»Herr Inspektor«, sagte Mrs. Blayton, »es dreht sich um Ihr Spezialgebiet. Es gibt einen Toten!«
»Ja, das hört sich gut an«, hauchte der Inspektor mit gebrochener Stimme. »Aber ich habe jetzt kein Leben in mir.«
Mrs. Blayton schüttelte sich. »Das versteht sich, Inspektor. Aber wissen Sie was: Kommen Sie doch morgen früh um neun Uhr zu mir. Dann frühstücken wir zusammen.«
Doch es zeigte sich, dass es Colligan unmöglich war, den Zusammenhang des Gesagten zu erfassen. »Frühstücken?«, fragte er aus seinem todesähnlichen Zustand. Es war das einzige Wort, das in sein Bewusstsein gedrungen war. »Jetzt?«
Mrs. Blayton schaute zerknirscht in den Telefonhörer und schüttelte sich abermals. »Haben Sie einen Stift zum Schreiben, Inspektor?«, fragte sie mit wiegendem Kopfe.
»Einen Stift ...?«, hauchte der müde Amerikaner wie aus weiter Ferne.
»Nein, ist schon gut, Colligan«, sagte Mrs. Blayton. »Legen Sie sich wieder hin. Ich rufe Sie morgen früh um halb neun noch mal an.«
»Einen Stift ... wozu?« fragte Colligan.
»Nein, Inspektor. Vergessen Sie den Stift. Schlafen Sie jetzt.«
»Da bin ich doch gerade bei ...«
»Ganz genau«, sagte Mrs. Blayton. »Und jetzt machen Sie da einfach weiter.«
»Ja, Moment – und wieso rufen Sie mich da an, dass ich schlafen soll, wo ich doch aber schon am Schlafen bin ...?«
»Sie haben recht und es tut mir leid, wir sprechen uns morgen. Gute Nacht, Colligan.«
Sie legte auf.
Im selben Augenblick nun sackte, am anderen Ende der Leitung, einem verschlafenen, nordamerikanischen Inspektor die übermüdete rechte Hand darnieder, welcher, nun tauben Sinnes, der Telefonhörer entglitt und polternd neben das Bett fiel. Was aber keinen weiter störte.
Wiederum zur selben Sekunde und wieder am entgegengesetzten Ende der Leitung, wanderte inzwischen Lord Pickelhorns Blick, mal glasig mal wolkig, indizienlos an seiner Begleiterin herauf und herunter.
»Mir wem haben Sie telefoniert?«, fragte er wie Bert aus der Sesamstraße, welcher dereinst seinen Freund Ernie höchst sorgenvoll betrachtete, als er diesen das erste Mal mit einer reifen Banane telefonieren sah.
Die Angesprochene stülpte ihren Mund hervor und presste, wie es ihrer Art entsprach, die Zunge in eine ihrer Wangen, dass diese eine deutliche Ausbuchtung bekam.
»Mit Inspektor Colligan«, sagte Mrs. Blayton. Und sie betonte es absichtlich hochtrabend und nickte dazu.
Abermals besah sich Lord Pickelhorn seine Begleiterin. Und obgleich, gemäß seinem gesellschaftlichen Stand, seit Urzeiten in unverbrüchlicher Contenance geübt, zeigte sich nun aber dennoch eine Parade an Sorgenfalten auf seiner Stirn. Vorsichtig wie eine Porzellankiste, erhob er sich aus seinem Sessel.
»Mrs. Blayton, vielleicht hätte ich Sie heute doch nicht ...«, sagte er vorsichtig. »Vielleicht war ... ja, vielleicht war einfach der heutige Tag etwas zu viel für Sie ... etwas zu anstrengend ...«
Zaghaft schritt er ihr entgegen.
Mrs. Blayton, die Pickelhorn langsam auf sich zukommen sah, zog ein Gesicht wie Dirty Harry und wiegte dabei ihren Kopf wie ein Uhrpendel. Ihr Gehaben wirkte nicht einladend.
»Er kommt morgen zum Frühstück«, sagte sie tonlos, wobei ihr Kopf permanent nickte und sie den sich nähernden Lord direkt anvisierte. Gleichzeitig war ihre Stirn gerunzelt und der Mund stand vor. Es war nun eine drohende Pose.
Pickelhorn blieb stehen. Seine Gedanken kreisten.
»Ja, natürlich«, sagte er schließlich in der Güte eines Nervenarztes. »Morgen kommt Colligan zum Frühstück. Ich verstehe. Das wird bestimmt aufregend, Mrs. Blayton ...«
»Oh, das wird es«, bestätigte sie dem werten Adelsmann in derselben Pose wie zuvor.
»Sehen Sie – ...«, sagte Mr. Pickelhorn weiterhin besänftigend, als wolle er mündlich eine Bombe entschärfen. »Und da wollen wir doch bis dahin schön ausgeruht sein, nicht wahr Mrs. Blayton?«, sprach er sanft wie ein Frühlingshauch und wagte die nächsten vorsichtigen Schritte hin zu seiner Busenfreundin, die ihn, wenn auch mit flackerndem Blick, so doch immerhin gewähren ließ. Schließlich berührte er sie sogar lind und behutsam am rechten Arm und hakte diesen, da sie keinen Widerstand zeigte, bei sich unter und sagte voller angestrengter Güte: »Und deshalb ist es jetzt Zeit, um schlafen zu gehen, liebe Mrs. Blayton. Denn Morgen wollen wir ja immerhin schon um neun Uhr frühstücken.« Er sprach wirklich wie mit einer einschlägigen Patientin.
Doch hatte er diese letzten Worte noch nicht zu Ende gesprochen, als es seiner auf Mordfälle spezialisierten Begleiterin endgültig reichte. Burschikos zog die unfreiwillig betüddelte Detektivin ihren Arm aus seiner Umklammerung (was ihn verschreckte) und sagte mit ausgestrecktem Zeigefinger: »Das ist das zweite Frühstück, Pickelhorn!« Und ihre Augen blinzelten. »Glauben Sie nur nicht«, führte sie fort, »dass ich nicht mehr Herr meiner Sinne bin. Wir beide treffen uns hier um Viertel vor fünf!«
Der erschrockene Mr. Pickelhorn schluckte verzagt. Er spürte, es gab keine Widerrede mehr. Sein ganzer Plan war zerstäubt. Es war alles verloren.
»Ganz wie Sie denn meinen, Mrs. Blayton«, sagte er im Jammertone. »Dann werde ich wohl am besten jetzt noch eine Mütze Schlaf zu mir nehmen. Mehr wird es ja ohnehin nicht mehr werden.« Und um ihr Mitleid zu erwecken, schaute der für diese Art Auseinandersetzungen nicht gebaute, wehrlose Lord Pickelhorn, so betrübt drein, wie es seine Natur nur hergab.
Doch die Meisterdetektivin blieb ungerührt.
»Und seien Sie pünktlich, My Lord!«, sagte Mrs. Blayton gestreng, indem sie seine Verzagtheit kommentarlos überging. »Als Belohnung wartet Sie auch eine hervorragende Tasse Kaffee.«
Kalenderblatt: Mittwoch, 5. August (32. KW)
Am nächsten Morgen, um 4:45 Uhr, trat ein gerade einmal halbwacher englischer Lord namens Maximilian Pickelhorn bei Mrs. Blayton ein, um das allerfrüheste Urlaubsfrühstück seines Lebens einzunehmen.
Er fragte seine Meisterdetektivin, ob sie sich ein wenig erholt habe, was sie bejahte, unterließ es aber fürs Weitere auf ihren unerklärlichen Spleen einzugehen, sie habe mit Colligan telefoniert und ihn gar zum zweiten Frühstück eingeladen.
Sie tranken starken Kaffee, aßen dazu Brot mit Käse und Schinken, und machten sich dann für die Offensive fertig.
»Ich habe meine Ausrüstung von gestern noch«, sagte Lord Pickelhorn. »Das kostet bestimmt eine schöne Nachgebühr.«
»Hm, bei mir muss ich mal sehen«, sagte Mrs. Blayton. »Ich hab' zwar meine Wanderschuhe, aber wie gut die für die Berge geeignet sind, scheint mir zweifelhaft.«
»Vielleicht sollten wir dann doch besser hierbleiben«, sagte Lord Pickelhorn Weitsicht vortäuschend. »Nicht auszudenken, wenn Ihnen da oben etwas zustößt.«
»Papperlapapp!«, erwiderte Mrs. Blayton entrüstet und winkte ab.
»Papperlapapp?«, wiederholte der Adelige im englischen Kartoffeljargon. »Was ist denn das für ein Wort?«
Mrs. Blayton stemmte ihre Hand in die Seite. »Das hab' ich gestern gehört«, sagte sie. »Und es macht sich ganz gut, wenn jemand unbegründet widerspricht.«
Lord Pickelhorn zuckte ein wenig zurück. »So«, sagte er. »Unbegründet. – Na, wenn das so ist ...«, senkte er den Kopf.
Er nahm seinen Rucksack und stopfte seine Thermosflasche so lustlos hinein, wie ein trotziger Junge, dem ein großes Abenteuer verwehrt wird. Er schaute bedröppelt drein. Und man spürte, irgendetwas ließ ihm keine Ruhe.
»Mrs. Blayton«, sagte er schließlich. »Sie kennen mich und ich stehe immer ganz auf Ihrer Seite. Aber ich weiß einfach nicht, ob das gut geht«, sagte Lord Pickelhorn.
»Ja, das weiß ich auch nicht«, erwiderte Mrs. Blayton knapp, und zog sich die Stiefel an.
»Das ist unsere Lebensversicherung«, zeigte Lord Pickelhorn ein kleines flaches Ding. »Hoffentlich brauchen wir sie nicht.«
»Was soll das sein?«, fragte Mrs. Blayton.
»Ein Mobiltelefon.«
»Ich denke, Sie haben keines«, sagte Mrs. Blayton.
»Hab' ich auch nicht. Victoria hat es mir mitgegeben ...«
»Ihre Schwester?«
»Ja, ja. Sie sagt, sie braucht es eigentlich nie. Und meinte, vielleicht wäre es unterwegs nützlich. Aber ich hatte schon gar nicht mehr dran gedacht, dass ich es überhaupt eingesteckt hatte. Heute Morgen fiel es mir zufällig in die Hände.«
»Gut, hoffen wir also, dass wir es nicht brauchen«, sagte Mrs. Blayton. »Sind Sie fertig?«
»Meine Schuhe«, sagte Lord Pickelhorn. »Ich muss meine Wanderschuhe noch ...«
»Ja, dann wird's aber Zeit«, sagte sie ein wenig fordernd. »Ich telefoniere jetzt nach dem Taxi.«
Es war im Morgengrauen, gegen 5:50 Uhr, als das Taxi, mit zwei älteren Passagieren im Fond, an der Berggaststätte in etwa 1.400 Meter Höhe ankam. Maximilian Lord Pickelhorn, Herr über eine hinreichende Anzahl britischer Schlösser, bezahlte den opulenten Fahrpreis und hielt sein Portmonee, wie zum Gedenken, noch einige Sekunden mit wehmütigem Blicke in Händen, zum Zeichen, wie leid es ihm um das schöne Geld tat.
Pickelhorn und Blayton stiegen aus.
Pickelhorn bemerkte, dass das Gasthaus noch geschlossen hatte, und bewunderte nebenbei die lieblichen Vogelrufe.
Mrs. Blayton aber schritt unterdessen um das Taxi herum und reichte dem Taxifahrer durch das geöffnete Fenster einen Briefumschlag herein.
»Geben Sie diesen Umschlag bitte im Hotel 'zum Schwänlein' an der Rezeption ab«, sagte Mrs. Blayton und drehte den Umschlag um, worauf sich auf der anderen Seite ein 10,-Euroschein zeigte.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 14.06.2012
ISBN: 978-3-86479-808-5
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