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Das vorliegende Buch:

Bei ANRUF [kein] MORD


ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne schriftliche Genehmigung des Autors oder Verlages weder im Ganzen noch teilweise reproduziert, vervielfältigt oder verändert werden. Dieses Verbot beinhaltet ausdrücklich auch die Übersetzung in andere Sprachen, die Verwendung in elektronischen Systemen sowie sämtliche gewerblichen Aufführungen. Alle Rechte sind ausdrücklich vorbehalten.

Andreas Kräft Geoden-Buch, 01.04.2012


Sämtliche Personen, Hotelbetriebe
und Medien sind, Dank der gewaltigen, geistigen Eigenleistung des Autors, frei erfunden.
Jede Ähnlichkeit mit noch lebenden Taxifahrern
oder bereits verstorbenen Kredithaien
oder Nachbarn ist rein zufällig.
(Ich kann ja nicht jeden kennen)


Impressum:
Andreas-Kräft-Geoden-Buch
Copyright © by A. Kräft Geoden-Buch
Einbandgestaltung: A. Kräft Geoden-Buch
1. Auflage – 2012
Kontakt:
www.geoden-buch.de
www.leserstrahl.de
E-Mail: andreas.kraeft@freenet.de


Bildnachweis:
Umschlag Titelfoto: © Fotoatelier Andreas-Kräft-Geoden-Buch


Wer sein Geld verliert,
hat ein wertloses Portmonee.

Wer sein Gewissen verliert,
hat einen wertlosen Charakter.



Inhalt


1. Kapitel: Dienstag, 14. Februar..............................9
Ein geheimnisvoller Besucher

2. Kapitel: Mittwoch, 15. Februar...........................46
Der Wechselkredit

3. Kapitel: Donnerstag, 16. Februar.......................55
Unerkannte Gäste

4. Kapitel: Freitag, 17. Februar................................63
Kinobesuch

5. Kapitel: Samstag, 18. Februar..............................71
Brief eines Wahnsinnigen

6. Kapitel: Sonntag, 19. Februar............................98
Fahndung nach einer Vermissten

7. Kapitel: Montag, 20. Februar..............................109
Tattoos und Phantombilder

8. Kapitel: Dienstag, 21. Februar............................120
Taxis, Kommissare und süße Albträume

9. Kapitel: Mittwoch, 22. Februar...........................162
Die Vermisste ist tot

10. Kapitel: Donnerstag, 23. Februar......................168
Eine griechische Tragödie

11. Kapitel: Nachtrag: Etwa acht Monate später....179
»Guten Morgen!«, sagt der Kommissar


Kapitel 1




Es war der Abend des 14. Februar.

»Dienstag«


Ein geheimnisvoller Besucher


Unsere Geschichte begann in einem Zweifamilienhaus in Hannover, im Stadtteil Herrenhausen, den meisten durch die berühmten „Herrenhäuser Gärten“ bekannt. Das Haus befand sich in einer kleinen Seitenstraße, der Blumenstiege, Hausnummer 11. Es hatte einen kleinen, von einem niedrigen Jägerzaun umgrenzten Vorgarten und einen geräumigen Hinterhof, der zum größeren Teil aus Rasenfläche bestand, im nahe am Haus gelegenen Bereich aber auch gartenähnlich, von Rhododendron-Sträuchern eingefasst und mit Blumenbeeten angelegt war. In der warmen Jahreszeit wurde dieser Garten mit einer rustikalen Sitzgruppe, einem Grill und – weil hier Liebhaber der See wohnten – auch mit einem Strandkorb ausgestaltet.
Es war ein mondloser Abend. Die Straßenlaternen brannten. Die beiden Garagen am Haus standen offen. In der einen stand ein roter Toyota Auris, vor der anderen Garage ein schwarzer BMW X5.
Die Namensschilder an der Tür lauteten auf »König« im Parterre, den Eigentümern dieses Hauses und auf »Bertram«, den Mietern der oberen Etage.
Im Parterre standen im Wohnzimmer einige gepackte Koffer und Taschen bereit und ansonsten herrschte vergnügliches Scherzen.
»Ich weiß nicht, wann ich zuletzt Billard gespielt habe«, sagte Michael Lehmann. »Eigentlich bin ich Billardallergiker. Wahrscheinlich habe ich auch schon vergessen, wie herum man den Stock halten muss ...«
»Das Queue«, sagte Axel König.
»Ja, sicher, Queue! Da haben wir's schon. Und das in einem Club. Ich mach' mich ja lächerlich, wenn ich da aufkreuze ...« Und er schaute so jammervoll drein, wie ein spinatgedungenes Kleinkind.
»Nehmen Sie's gelassen, junger Freund«, lachte da Axel König – und zwar, in Anbetracht seiner Größe, buchstäblich von oben herab. »Ich, der König, bin ja bei Ihnen!«, frotzelte er hochtrabend und schlug Michael auf die untröstlichen Schultern.
»Ja, und du weißt«, witzelte die junge Franziska in dieselbe Kerbe, »der Kodex unserer erhabenen Dynastie besagt ausdrücklich: dass in die königliche Familie nur der Einlass findet, der des Billards, ob Pool oder Karambol, in Theorie und Praxis sich mächtig erweist.«
»Ach, das darf niemals sein!«, flehte Michael Lehmann, sich seiner Rollen im Schultheater erinnernd. »Wer könnt' uns nur vor solch Geschick bewahren?«, hob der junge Mann zu einem qualerfüllten Wehgeschrei an. »Denn dann ist's – oh, bei sämtlichen Billardkugeln dieser elenden Welt – alles aus, geliebte Franziska!«, rief er, vor unerfüllter Liebe schmachtend. »So bleibet denn also, unsere hochzeitliche Vermählung, nichts, als nur ein ewiges, bittersüßes Traumbild! Ach, welche Schmach muss ich erleiden! Welche Pein!« Und er schluchzte, als sei er von Shakespeare persönlich dazu aufgerufen.
Da aber warf Franziska, theatralisch nicht weniger begabt als ihr Romeo, und seinerzeit vom selben Theater geformt, sich zu Füßen ihres Verlobten nieder und flehte inniglich, ja voller glühender Inbrunst:
»Geliebter Michael! Oh, gebe Er nicht auf, ehe Er's versucht! Greife Er zum Queue! Greife Er zu den Bällen! Denke Er sich, es sei das Schwert des Odysseus – ja, die Fackel Trojas! Wohlan mag Ihm ein Stoß gelingen, der König Axel lässt jubeln und singen!«
Dies inspirierte wiederum den angerufenen Geliebten zu folgendem tragischen Versepos:

»Oh – du spornest mich zum Kampfe an,
Franziska, du edle und treue,
noch bevor ich dich einst freie,
gleich einem wilden Trompetengesang!

So wird auch mein Kriegsruf lauthals hallen,
denn wenn eine schöne Frau, wie diese beleibt,
einen ausdrucksstark in die Schlacht hinein treibt,
dann muss ein jeder Held in seinem Blute fallen.«

»Braaavo!«, rief Franziska da und applaudierte.
»Na, so schlimm wird's hoffentlich nicht werden«, lächelte Axel König mit einer Art Stan-Laurel-Grimasse dazu. »Aber eines ist wahrlich gewiss«, verkündete er in der erhabenen Haltung eines Gekrönten, »wer des Billards nicht kundig, der darf niemals nicht eine Königstochter freien ...!«
»Und wenn ich die Prinzessin raube ...?«, rief Michael.
»Waaas!?«, rief da Axel König in Zornesröte, dessen Augäpfel sich in seiner Wut zu den übergroßen Glotzaugen eines madagassischen Halbaffen weiteten. »Dann ... ja, dann ... oh, wehe Euch, Michael!«, drohte der baldige Schwiegermaki in majestätischer Pose. »Solchen Falles, da seit Euch gewiss«, donnerte er, »währet Ihr der Haderlumperie überführt, und der König kennte keine Gnade mehr! Am nämlichen Morgen, so sagen wir es Euch, hättet Ihr die Augen das letzte Mal zur Begrüßung lieblicher Sonnenstrahlen aufgeschlagen, denn Euer Kopf würde von jenem Tage an alleine zu Fuß gehen!«
Michael hörte dies mit Bangen und betastete sich zerknirscht am Hals.
»Bei näherer Betrachtung dieser Alternative«, hüstelte er verzagt, »führe mich der König doch besser ins Poolbillard ein. Das ist doch das mit den Löchern?«
»Mit den Taschen!«, sagte der König und griff sich an den Kopf. »Oh, welch Verunglimpfung dieses wunderbaren Zeitvertreibs«, klagte er. »Wieso geb' ich mich eigentlich mit Euch ab?«
»Mein Vater!«, rief da die Tochter. »Oh, bitte, verzeih ihm den Missgriff im Ausdruck. Zeigt er sich doch, als Folge deiner begeisternden Rede, begierig, dir zu Willen zu sein!«
»Wohlan! Du hast gut gesprochen, meine Tochter!«, rief der König, der eigentlich mit Namen nur so hieß. »So scheint mir, bin ich, meiner hochgelobten Überredungskunst, wohl doch noch nicht beraubt! Und deshalb allein zeige ich mich , um deinetwillen – meine geliebte Tochter ...! Um deinetwillen allein, bereit: Vergebung zu gewähren!«
»Der Dank Eures Knechtes wird Euch ewig nachschleichen!«, verbeugte sich Michael tief.
»Ach, wir haben so viel Spaß«, lachte Franziska, indem sie auf ihren Zehenspitzen ballettartig tanzte, »ich freue mich schon, wenn wir drei morgen nach Fehmarn fahren. Es wird bestimmt herrlich werden!«
»Obwohl wir noch Winter haben«, warf Michael ein. »Mit dem Baden wird's da nichts – jedenfalls was mich betrifft. Sonst klappern mich meine Zähne zu Tode.«
»Ach was, wir haben doch uns – Paps, du und ich. Da ist doch die Kulisse zweitrangig«, lachte Franziska entwaffnend. »Und außerdem wohnen wir dann gleichmal auf unserem neuen Anwesen. Du wirst Augen machen ...«
Da klingelte es an der Tür.
»Sooo!«, sagte der Hausherr spaßhaft. »Das war das Signal. Wir könnten für unsere Rollen zwar Eintritt verlangen, aber jetzt ist Schluss mit den Albereien. Unser Taxi ist da. Ab nun wird's ernst!
»Besonders für mich«, klagte Michael gequält.
»Jawohl, ganz besonders für dich, mein lieber Michael!«, ließ sich Axel König vernehmen. Und er betonte diese Worte, wie ein absolutistischer Herrscher gegenüber seinem leibeigenen Knecht.
»Ich bin bereit, den Drachen zu töten!«, sagte Michael kühn. »Oder auch, gefressen zu werden. Was wahrscheinlicher ist.«
»Das nenne ich „die richtige Einstellung“!«, posaunte der angehende Schwiegervater. »Ein Mann, dem kein Opfer zu groß ist. Du wirst es noch weit bringen, als Michi, der galante Drachentöter! So denn: Fortsetzung folgt.« – »Tschüs, mein Liebes«, verabschiedete sich Axel König darauf von seiner Tochter und sie küssten sich gegenseitig auf die Wange.
»Tschüs, Liebling!«, sagte Michael und küsste Franziska spritzig auf den Mund.
»Tschüs, Ihr beiden!«, rief sie den Männern hinterher. »Wenn Ihr wiederkommt, liege ich wahrscheinlich schon im Bett. Kommt aber nicht zu spät, wegen morgen, hört Ihr!«
Die letzten Worte wurden von der zuschnappenden Haustür abgeschnitten. Gut gelaunt begaben sich die beiden Männer zum Taxi. Der Abend war kühl. Sie stiegen ein und fuhren los.
Ihnen folgte unmittelbar ein anderer Wagen, der in einem gewissen Abstand zum Haus der Königs gewartet hatte. Ein dunkelblauer Mercedes der A-Klasse.
Als das Taxi nach etwa zehn Minuten hielt, hielt auch die A-Klasse in einigem Abstand.
Axel König und sein junger Begleiter entstiegen dem Taxi und begaben sich in ein Billardlokal.
Der A-Klasse-Fahrer wartete noch einige Minuten, dann fuhr er zurück zur Blumenstiege. Er parkte in einer Seitenstraße, nahm vom Rücksitz seines Wagens die erste Seite einer Zeitung, die er faltete und einsteckte, und ging dann, wie selbstverständlich, auf das Haus mit der Nummer 11 zu. Er trug einen dunklen Wintermantel und einen Hut, etwa wie Kommissar Maigret. Der Mann blickte um sich, als wolle er sich der Bedecktheit seiner Identität vergewissern und betrat sodann, durch die kleine Vorgartenpforte, das Grundstück der Königs.
Franziska saß zu dieser Zeit vor ihrem Notebook und prüfte die Eintragungen in ihrem sozialen Netzwerk. Mittendrin stand sie auf, um sich in der Küche einen schwarzen Tee zuzubereiten. Der Wasserkocher hatte sich gerade kochend abgeschaltet, als es an der Haustür klingelte.
Franziska wunderte sich und drückte auf den Summer. Mit einem mechanischen Klacken ging die Tür auf. Franziska meinte, ihr Vater hätte noch irgendetwas vergessen, doch nun stand plötzlich, unangekündigt und unvermittelt, dieser nicht sehr große Mann vor ihr. Er war ihr fremd. Sie war überrascht und unsicher, beinahe ängstlich.
»Ja, Sie wünschen?«, fragte sie beklommen.
Vor dem Fremden zeigte sich eine junge Frau von sehr schönem Antlitz. Etwas verlegen geworden, stellte er sich vor:
»Verzeih'n Sie, mein Name ist Grossmann. Sind Sie Frau Franziska König?«
»Warum wollen Sie das wissen, und wer sind Sie?«
»Bitte halten Sie mich nicht für aufdringlich«, sagte Herr Grossmann. »Aber es wäre vielleicht besser, wenn ich eintreten dürfte, nicht dass wir hier im Treppenhaus ...«
»Wie bitte? Ich werde Sie doch nicht hereinlassen! Wie komme ich dazu? Ich kenne Sie ja gar nicht.«
»Ihre Widerscheu ist begreiflich, Fräulein König«, sagte der Mann in devoter Haltung. »Die Angelegenheit sollte aber besser im privaten Rahmen besprochen werden ...«, fügte er hinzu.
»Mein Vater ist nicht da! Ich werde in seiner Abwesenheit bestimmt niemanden in die Wohnung lassen«, sagte Franziska energisch.
»Das verstehe ich. Offen gestanden habe ich auch nicht gewusst, wie ich's richtig mache. Ich hatte mir natürlich überlegt, Sie anzurufen, gnädige Frau, um Sie nicht zu erschrecken und einer Situation wie dieser auszusetzen. Aber am Telefon wäre es mir noch unmöglicher gewesen als so schon, zu vermitteln, wie brisant sich die Angelegenheit darstellt, wegen derer ich vor Ihnen stehe.«
Franziska konnte das gedanklich gar nicht wechseln, was dieser Mensch da sagte. Was ist das für ein eigenartiger Knilch?, dachte sie bei sich. Kommt hierher und redet hier von sonst was. Und in ihrem Kopfe schwirrten die Begriffe Räuber und Trickbetrüger umher. Sie schüttelte sich und wurde noch energischer.
»Bei Angelegenheiten von solcher Brisanz, wie Sie es nennen, sollten Sie kommen, wenn mein Vater daheim ist. Guten Abend«, sagte Franziska und wollte die Tür mit Schwung schließen.
Grossmann nickte und sagte gleichzeitig: »Wie viele Schlüssel gibt es zu Ihrer Wohnung, Frau König?«
Franziska hielt in ihrer Schließbewegung inne und stutzte. »Warum wollen Sie das wissen?«
»Es gibt drei«, sagte der Fremde trocken. »Den Ihren, den Ihres Vaters und den Ihrer befreundeten Nachbarn über Ihnen, den Bertrams. Aber die sind im Urlaub.«
Franziska stutzte abermals, wirkte diesmal sogar noch verblüffter.
»Ihr Herr Vater hat mir das alles erzählt,« schob Grossmann noch nach.
»Was? Wieso sollte mein Vater Ihnen das erzählen?«
»Schauen Sie bitte nach, ob Sie Ihren Schlüssel noch haben und wenn das der Fall ist, ob der bei den Bertrams vielleicht fehlt«, sagte Grossmann.
»Jetzt wird es mir aber zu dumm«, erwiderte Franziska unwillig und wollte die Tür abermals schließen.
Jetzt aber zeigte Grossmann seinen Schlüssel vor.
»Das dürfte Ihr Schlüssel sein, Frau König. Oder der, der Bertrams. Einer von beiden hat den Schlüssel nicht mehr.«
Franziska bekam große Augen.
»Sie behaupten, Sie hätten einen unserer Schlüssel?«
Grossmann zuckte mit den Achseln und hielt den Schlüssel weiterhin hoch.
»Sie erzählen Märchen«, schüttelte sich Franziska, »mein Schlüssel liegt im Wohnzimmer auf dem Tisch.«
Grossmann antwortete nicht. Stand da wie zuvor.
Franziska grübelte. Dann nahm sie vom Schlüsselbrett, das unmittelbar neben ihr hing, einen anderen Schlüssel, auf dessen Anhänger der Name ‚Ingrid’ vermerkt war.
Sie schaute Grossmann prüfend an. »Ich möchte zunächst wissen, ob Ihr Schlüssel passt«, sagte sie zu Grossmann.
Der steckte den Seinen ins Schloss – und betätigte die Schließung: ... auf und zu, auf und zu.
»Sie sehen, Frau König, ich hätte einfach hereinkommen können«, sagte der fremde Mann, »aber ich wollte Sie nicht erschrecken.«
Doch auch so sah Franziska höchst erschrocken aus. »Nein«, winkte sie dann jedoch ab, »Sie hätten mitnichten einfach hereinkommen können. Sie waren darauf angewiesen, dass ich Ihnen die Tür öffne.«
Grossmann blickte sie an, als wüsste er mehr.
»Schauen Sie doch mal unter Ihren Fußabtreter, bitte«, sagte er, mit einer leicht auffordernden Handbewegung.
Franziskas Blick zeigte Verwirrung.
»Was wollen Sie denn jetzt von mir?«, sagte sie entrüstet.
»Es ist wichtig«, sagte er. »Sie werden unter dem Fußabtreter etwas finden.«
»Ich werde mich doch nicht ...«, schüttelte sie sich, »ich werde mich doch nicht von Ihnen am Nasenring herumführen lassen!«, antwortete sie erbost.
»Ihre Verstörung ist begreiflich«, erklärte Grossmann. »Sie müssen mich für einen Kretin halten. Aber Sie werden unter Ihrem Abtreter eine Zeitungsseite finden«, sagte er bedächtig.
Franziska war völlig aus der Bahn geworfen. Sie starrte den Fremdling an, dessen Äußerungen sie nicht im Mindesten verstand, und schob aber gleichzeitig mit einem Fuß den Abtreter zur Seite. Die Ecke eines Papiers kam zum Vorschein. Es wurde immer unglaublicher mit diesem Fremden. Sie bückte sich, indem sie diesen Grossmann aber keine Sekunde aus den Augen ließ, und zog das Papier unter der Matte hervor. Es war die Zeitungsseite einer hannoverschen Zeitung.
»Was ist das und was soll mir das sagen?«, fragte sie zaghaft.
»Wenn Sie auf das Datum schauen, Fräulein König, sehen Sie, dass das die Zeitung von heute ist«, sagte Grossmann. »Und diese Zeitung habe ich Ihnen unter die Fußmatte gelegt. Ein paar Minuten, bevor ich bei Ihnen klingelte. Ich stand also heute Abend schon einmal vor Ihrer Wohnungstür, mit einem Schlüssel, der passt. Und ich war nicht darauf angewiesen, dass Sie mir die Haustür öffnen, wie Sie daran sehen.«
»Wie wollen Sie denn ins Haus gekommen sein?«
»Durch den Seiteneingang des Hauses zum Keller. Der nie abgeschlossen wird, weil es dafür keinen Schlüssel mehr gibt. Ich weiß das von Ihrem Vater.«
Franziskas Augen blitzten auf. »Von meinem Vater – Sie können mir viel erzählen. Geben Sie mir sofort den Wohnungsschlüssel«, forderte sie den Fremden auf.
»Das kann ich nicht tun«, verweigerte der Mann die Herausgabe.
»Das ist ein Schlüssel zu meiner Wohnung. Und ich dulde nicht, dass wer Fremdes in dessen Besitz ist.«
»Ich werde Ihnen den Schlüssel nicht aushändigen, Frau König. Und Sie sollten überprüfen, ob der bei den Bertrams noch vorhanden ist.«
Franziska schaute diesen Grossmann, wie er sich nannte, böse an.
»Ich könnte die Polizei rufen!«
Da zog Grossmann eine Waffe.
Franziska erschrak noch mehr, als bislang schon.
»Was tun Sie? Was tun Sie?«, stammelte sie in Todesangst.
»Wenn ich so böse wäre, dass Sie die Polizei rufen müssten, dann wären Sie jetzt tot. Verstehen Sie! Ich will Ihnen aber nichts Böses. Und die Polizei brauchen wir vielleicht sogar auch, aber erst müssen Sie wissen, was hier eigentlich vorgeht«, sagte Grossmann und steckte seine Waffe wieder weg. »Sie brauchen vor mir keine Angst zu haben«, sagte er in vertraulichem Tonfall.
»Ich werde meinen Vater anrufen.«
»Bitte, tun sie das nicht«, sagte Grossmann. »Hören Sie zuerst, was ich Ihnen zu sagen habe.«
Franziska atmete schwer. »Ich werde das jetzt mit den Schlüsseln überprüfen, aber Sie verlassen solange das Haus. Nicht dass Sie meine Wohnung ausräumen, während ich oben bin.«
Grossmann nickte und verließ das Haus.
»Sie bleiben hier stehen!«, sagte Franziska mit flackernden Augen und schloss hinter ihm die Haustür ab. Dann stieg sie die Treppe empor. Ihr Herz pochte. Ihr Atem wurde hörbar.
Sie betrat die Wohnung Bertram, sah dort am Schlüsselbrett nach und fand den Schlüssel zu ihrer Wohnung nicht. Ihr Gesicht verriet weiteres Unbehagen. Mit sorgenvoller Miene, grübelnd und unsicheren Schrittes, kam sie die Treppe wieder herab. Sie fühlte sich müde, überfordert, der Situation nicht gewachsen. Sie stand vor ihrer Wohnungstür und konnte doch nicht hineingehen. Steif und gebannt stand sie da und blickte in einem fort zur Haustür, vor der ein völlig fremder Mann auf Einlass wartete. Wie sollte sie sich verhalten? Was war das Geheimnis, dieses ungebetenen Gastes? Immerhin war er bewaffnet. Das Logischste wäre allemal, sie würde die Polizei rufen oder mit ihrem Vater telefonieren. Aber dieser Mann da draußen, ... er hatte tatsächlich einen Schlüssel. Und er besaß die Kenntnis, dass Bertrams im Urlaub waren. Woher?
Da spürte Franziska, wie sich ihre Füße zur Haustür bewegten. Sie wusste nicht, ob sie das wollte. Aber sie ging zur Haustür. Sich wie einem mächtigen Schicksal fügend, schloss sie auf und öffnete die Tür. Wenn dieser Mann etwas Böses vorhatte, war es jetzt zu spät. Misstrauisch musterten ihre Augen den Fremden. Wie ein Flughafenscanner.
Grossmann betrachtete sie genauso gespannt.
Franziskas Augen zeigten Furcht. Der Kerl war ihr unheimlich. Ihre Mundwinkel zuckten. Sie wirkte unschlüssig.
»Kommen Sie herein«, sagte sie schließlich. Doch ließ ihr Gehabe noch immer eine gehörige Spur Fassungslosigkeit erkennen, darüber, dass da ein völlig fremder und dazu bewaffneter Mann in Besitz ihres Wohnungsschlüssels sein sollte.
Grossmann ging geduckt, als er ihr folgte. Ja er schlich förmlich hinter ihr her, bis in die Wohnung.
»Möchten Sie Platz nehmen?«, fragte sie scheu.
Grossmann schüttelte sich zuerst, sagte dann aber: »Naja, vielleicht doch. Und ich denke, ich sollte Ihnen erst einmal erzählen, was es mit dem Schlüssel auf sich hat.«
»Ja, das scheint mir in der Tat höchst bedeutsam«, nickte Franziska, die sich noch immer sehr befangen zeigte.
»Frau König, Ihr Vater hat ihn mir gegeben. Den Schlüssel«, begann Grossmann hölzern.
Franziska blickte ihn an. »Oder Sie haben ihn den Bertrams gestohlen«, erwiderte sie hart.
»Ich kenne die Bertrams nicht. Und woher hätte ich wissen sollen, dass sie eine Kroatienreise unternehmen?«
Franziska runzelte die Stirn, bei so viel Detailreichtum, die der Fremde offenbarte.
»Was wird hier also gespielt?«, fragte sie mit Nachdruck.
Grossmann fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über die Lippen. »Ich wage es Ihnen gar nicht zu sagen, Frau König«, druckste er betreten. »Ich muss Ihnen etwas geradezu Furchtbares offenbaren ...«
Er senkte seinen Blick und hielt inne.
»Etwas Furchtbares?«, fragte Franziska beklommen.
Zögernd nickte Grossmann und schluckte schwer. Sein ganzes Verhalten, in Gestik und Mimik, war für Franziska glaubhaft. Sein Mienenspiel verriet ihr, dass er beträchtliche innere Kämpfe ausfocht.
»Ihr Vater …«, begann er schließlich, »Ihr Vater, er …– nein, ich muss anders beginnen«, sagte er, indem er den Kopf schüttelte und abwehrend winkte. Man konnte ihm ansehen, dass er versuchte, den Gedanken noch einmal neu zu fassen. »Sie, Fräulein König, haben vor Kurzem Ihre Mutter verloren, stimmt das ...?«
»Natürlich stimmt das. Warum erinnern Sie mich an so was Schreckliches?«
»Musste sie sehr leiden?«
»Sie litt an Darmkrebs. Zuletzt war es furchtbar, vor allem, wie sie in sich zusammenfiel.«
»Ja, es muss höchst schmerzhaft für Sie gewesen sein ...«
»Ist es noch!«, warf sie ein.
»Bestimmt sogar«, sagte er leise. »Und Sie sind fast die Alleinerbin, sozusagen ...?«, hob der Fremde zu einer Frage an.
»Wieso?«, fragte Franziska misstrauisch zurück.
»Ihr Herr Vater hat von sich aus kein Vermögen ...«
»Was spielt das für eine Rolle?«
»Bei der Testamentseröffnung stellte sich heraus, dass Ihre Frau Mutter, gemessen an dem, was sie Ihnen bereits vor Langem überschrieb, nicht mehr sehr viel zu vererben hatte.«
»Und weiter ...?«, fragte Franziska.
»Ja und so war Ihr Herr Vater herbe enttäuscht, beim Ableben Ihrer Mutter. Zumal Sie, Fräulein Franziska, nicht die leibliche Tochter von Herrn König sind, sondern noch aus erster Ehe Ihrer Mutter stammen.«
»Das ist fast gleich«, erwiderte Franziska unbeeindruckt. »Denn mein Vater hatte einen Zwillingsbruder. Und meine Mutter hatte zunächst diesen Zwillingsbruder geheiratet – Onkel Christian –, der aber eigentlich mein richtiger Vater ist. Aber Onkel Christian kam bei einem Lawinenunglück in Grenoble mit seinem Skilehrer zusammen ums Leben. Später hat dann mein Vater, also Axel, meine Mutter geheiratet. Aber ich kann mich an all dies nicht erinnern, denn damals war ich kaum zwei Jahre alt.«
»Jedenfalls hatte sich Ihr Vater mehr von dem Erbe versprochen. Erheblich mehr.«
»Das stimmt nicht, so ist mein Vater nicht.«
»Doch, so ist er«, sagte Grossmann. »Und aus ebendiesem Grunde hat er Sie beiseite genommen, bald nachdem Ihre teure Mutter im letzten September verstarb – korrigieren Sie mich, wenn ich falsch liege –, und Sie gebeten, für den Fall, dass Ihnen ein Unglück widerfährt und zu seiner finanziellen Absicherung – er ist ja nur der Stiefvater –, eine Risikolebensversicherung über 1 Million Euro abzuschließen, mit ihm als Begünstigtem.«
»Ja, das ist doch auch ganz verständlich«, sagte Franziska. »Denn, wie Sie richtig sagten, ist er eben vor dem Gesetz nur mein Stiefvater und daheraus, ohne testamentarische Verfügung, nicht erbberechtigt. Und wenn man erbt, dann müssen oft erst viele Dinge abgewickelt werden, zum Beispiel müssen Grundstücke aufgeteilt oder veräußert werden, um alle Ansprüche zu befriedigen, oder auch mit Häusern ist es dasselbe.«
»So hat es Ihnen Ihr Vater erklärt ...«
»Ja, und es stimmt ja auch. Und so sagte mein Vater, wenn er, statt eines testamentarischen Erbanteils, so einen Geldbetrag von einer Versicherung bekäme, dann brauche es keine Erbstreitigkeiten und die damit oft einhergehenden Familienzwistigkeiten zu geben. Er bekäme das Geld und die anderen, will sagen Michael, also mein Verlobter und zukünftiger Mann, bekäme das volle Erbe. Ich habe natürlich meinen Vater schon gefragt, ob es gleich 1 Million Euro sein muss, also die Summe. Das erschien mir schon gewaltig. Ob da nicht auch eine Versicherung über 100.000 oder so genügen würde. Und dann sagte er (und da finde ich, hat er auch recht), dass man bei einer Absicherung von einer Million nur etwa 3.000 Euro Beitrag jährlich bezahlt – also monatlich gerade 250 Euro. Und das wäre ja eine läppische Belastung, für solch eine Absicherung. Zumal für unsere Vermögensverhältnisse.«
»Ich verstehe ...«, sagte Grossmann.
»Und ich stelle fest«, sagte Franziska vorwurfsvoll, »Sie wissen über unsere Versicherungspolicen Bescheid, wie kaum wir selber. Und Sie sagten vorhin, Sie wollten etwas über den Wohnungsschlüssel sagen, aber da haben Sie schön von abgelenkt. Was bezwecken Sie jetzt mit Ihren Ausführungen hier eigentlich?«
Grossmann nickte.
»Diese Lebensversicherung«, sagte er, »ist ... wie soll ich mich ausdrücken ... ein Schlüssel, um das mit dem Wohnungsschlüssel zu erklären. Also der Schlüssel zu dem Schlüssel. Ich weiß, es klingt dämlich ...«
»Richtig«, sagte Franziska.
Grossmann nickte schulterzuckend und nahm einen neuen Anlauf. »Wenn Sie begreifen, was hinter der Lebensversicherung steckt, Fräulein König, dann erfassen Sie auch, warum ich den Schlüssel habe.«
Einen Moment lang schien Franziska König mit Denken beschäftigt zu sein. Sie blickte diesen Mann mit Hut geradeheraus an, der ihr nun nicht mehr gefährlich schien, sondern schleimig. Der wollte Geld, meinte sie zu spüren. Vielleicht wollte er den Schlüssel und womöglich noch eine Information dazu an Sie verkaufen.
»Und ...?«, forschte Franziska mit nun schon fast respektlosem Unterton.
»Ihr Vater ... er … er will … er hat«, druckste Grossmann, »also ... er hat mir Geld ... gegeben. Viel ... Geld ...«
Jetzt musste Franziska fast lachen. Dass dieser einfältige Hutträger auf Geld aus war, hatte sie inzwischen schon vermutet. Dass er aber sagte, schon Geld von Ihrem Vater erhalten zu haben und sogar viel Geld, hielt sie für den Gipfel aller Torheiten.
»Mein Vater hat Ihnen Geld gegeben? Hä, ... wofür?«
»Dafür ...«, stöhnte Grossmann, »dafür ... dass …, dass ich Sie töte, Fräulein König.«
Jetzt war es raus.
»Sie töte ... Sie töte ... Sie töte ...«, klang es in Franziskas Ohren und sie wollte das Bewusstsein verlieren. Alles um sie herum schwankte und schaukelte und wurde nur noch verzerrt wiedergegeben: Alle Bilder, Lampen, Möbel und dieser Grossmann – alles, wie irrsinnig verzerrt. Und sie wusste nicht, was sie denken und fühlen sollte. Und schließlich wollte es aus ihr herausplatzen: »Sie Lügen!« und »Raus hier!« wollte Franziska sagen, ja schreien. Doch tat sie es nicht. Zu ungeheuerlich war, was der Fremde offenbarte. Dennoch nahm sie sich vor, ihn hart anzufassen. Sie wollte nachfassen, doch wusste sie nicht recht, wie sie damit anfangen sollte.
»Ich weiß, dass Sie lügen«, sagte sie gefasst und harsch betonend. »Warum tun Sie das? Was hat mein Vater Ihnen getan? Was habe ich Ihnen getan?«
»Ich lüge nicht«, sagte Grossmann leise. »Ich war gestern hier, bei Ihrem Vater. Sie waren nicht hier. Denn Sie waren mit Ihrem Verlobten, Herrn Lehmann, irgendwo eingeladen.«
Wieder wollte Franziska nicht glauben, was da dieser Fremde alles vom Stapel ließ.
»Und dann gab mir Ihr Vater Geld«, sagte Grossmann ergänzend. »Und nicht wenig.«
»Wie viel Geld soll das denn gewesen sein, das mein Vater Ihnen gegeben hat, hm?«, bohrte Franziska.
»Als Anzahlung 10.000 Euro«, antwortete Grossmann.
»10.000?«, fragte Franziska.
»Ja.«
»Als Anzahlung?«
Grossmann nickte. »Und den Rest von 90.000 Euro soll ich bekommen, wenn ... na, Sie wissen schon ...«
»Sie sind ein Lügner!« entfuhr es Franziska lauthals. »Und Sie sind ein Trottel! So viel Geld hat mein Vater gar nicht. Hat er noch nie besessen! Ich bin diejenige, die bei uns das Geld besitzt. Natürlich hat auch mein Vater sein Auskommen, aber 10.000 auf'n Schlag hat er nicht. Und verschwenden tun wir unsere Finanzen auch nicht.«
Franziska hatte genug und sie tat alles, um diesen Fremden mit barschen Worten hinauszutreiben.
»Sie haben vor drei Monaten ein Haus auf Fehmarn gekauft«, sagte der Fremde glashart.
»Auch das wissen Sie?«, stutzte Franziska.
»Sie haben 250.000 Euro dafür bezahlt«, sagte Grossmann.
»Stimmt auffallend«, sagte Franziska, die jetzt eigentümlicherweise, sie wunderte sich selbst darüber, immer ruhiger wurde.
»Aber Sie sind noch nicht im Grundbuch eingetragen – stimmt das auch auffallend?«, forschte der Fremde.
Franziska zog eine irritierte Miene.
»Ja ... ja, schon – jetzt wo Sie's sagen.« Sie überlegte. »Warum, weiß ich nicht. Aber das wird sicher noch kommen.«
»Es wird nicht kommen«, schüttelte sich Grossmann. »Ihnen fehlt die Kenntnis, dass Ihr Vater ein Haus kaufte – Betonung auf: Ihr Vater –, das in Wahrheit nur 90.000 Euro gekostet hat«, sagte Grossmann.
»Das ist kompletter Unfug!«, versetzte Franziska. »Ich hab nicht nur die Bilder gesehen, sondern wir waren damals sogar auf Fehmarn, um das Haus zu besichtigen. Ich stand sogar drin, in dem Haus; nur damit Sie Bescheid wissen. Und so ein Anwesen gibt es nicht für 90.000 Euro.«
»Entschuldigungen Sie, junge Frau, aber wir sprechen von zwei verschiedenen Häusern«, erklärte Grossmann. »Ihr Vater hat nicht das Haus gekauft, dass Sie beide besichtigt haben, sondern ein anderes, das er Ihnen noch nie gezeigt hat ...«
»Was reden Sie da

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Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 27.05.2012
ISBN: 978-3-86479-713-2

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