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Katharina im Herbst ihres Lebens

So hatte sie sich ihren Herbst des Lebens nie vorgestellt.

 

Den Gedanken, in einem Altenheim die letzten Jahre ihres Lebens zu verbringen, hatte Katharina stets mit mehr oder weniger Erfolg verdrängt. Einfach alles auf sich zukommen lassen, so hatten sie und ihr Mann immer gesagt.

Bei gelegentlichen Besuchen alter Freundinnen, die bereits im Heim ihr Leben fristeten, kam sie stets voller Grauen zurück in ihre so gemütliche Wohnung. Viele der Alten saßen wortlos auf dem Flur, dösten vor sich hin, wurden ein wenig wacher, wenn die Eingangstür aufging und Besucher kamen. Diese eilten peinlich berührt, ob des geballten Elends, kurz grüßend, an trostlosen Gesichtern vorüber.

 

Bei keiner ihrer Besuche fand sie fröhliche oder zufriedene Bekannte. Der Alltag im Heim, geprägt von Langeweile, dümmlichen Spielchen, die für die noch geistig fit Gebliebenen das Niveau einer Kindergartenbespaßung darstellte, war eine Zumutung.

Wer noch in der Lage dazu war, entfloh der Tristesse und machte Spaziergänge oder Besorgungen in der Stadt. Froh, der immer leicht nach Urin geschwängerten Luft oder den unverkennbaren Gerüchen nach Alter und Verfall, eine Weile hinter sich lassen zu können.

 

Nein, das wollte Katharina nie erleben.

 

Doch nun war sie hier.

 

Vor wenigen Wochen war sie zuhause hingefallen, wie es passierte, war ihr nicht genau erinnerlich. Jedenfalls konnte sie nicht alleine aufstehen und ihre Hilfeschreie wurden von Nachbarn gehört, die ihr aufhalfen, sie auf die Couch legten und einen Notarzt kommen ließen und ihre beiden Söhne anriefen.

Katharina beantwortete die Fragen des Arztes ein wenig verwirrt, ihr Kopf und ihre Hüfte schmerzten. Um sie genauer untersuchen zu lassen, wurde sie ins Krankenhaus eingeliefert. Kein Knochenbruch konnte diagnostiziert werden, doch sollte sie einige Tage zur Beobachtung dableiben.

 

Hätte sie das doch abgelehnt !!! Ihre Söhne sprachen wohl intensiver mit dem behandelnden Arzt und der machte ihr klar, dass sie nicht mehr alleine in ihrer Wohnung bleiben konnte.

 

Aber nicht, dass ihr Zeit gelassen oder der Vorschlag gemacht worden wäre, erst einmal eine andere Möglichkeit in Erwägung zu ziehen!! Man hätte mit ihr gemeinsam ein Heim auszusuchen können! Nein, über ihren Kopf hinweg war – welch ein unglaubliches Glück, Mutter, so schnell ein kleines Apartment in einem Altenheim gefunden zu haben, so redete man Katharina ein – wurde sie gleich nach dem Krankenhausaufenthalt in ihr neues Heim gebracht. Wenige ihrer eigenen Möbel hatten hier Platz gefunden. Nicht einer ihrer kostbaren Teppiche lag auf dem Parkettfußboden. Leider sei das eine Stolpergefahr, so bekam sie zu hören.

 

Die völlig fremde Umgebung, kein bekanntes Gesicht und Personal, welches nur in Eile war und keine Zeit für ein Gespräch fand. Dabei hatte sie so viele Fragen. Zum Glück war sie kein Pflegefall und zu ihrer Sicherheit benutzte sie nun einen Rollator. Damit verließ sie so oft es möglich war das Heim. Frische Luft und die Bewegung halfen ihr gegen die aufkommende Depression.

 

Katharinas tiefe Enttäuschung, ihr Unverständnis über die Behandlung durch ihre Kinder, die so offensichtlich erleichtert über ihre endgültige Unterbringung waren, ließ sie verbittern. Ihre uneingeschränkte Liebe zu ihrer Familie ihre große Zuverlässigkeit wenn sie gebraucht wurde, ihre Freude an ihren Enkelkinder, die von ihr und ihrem Mann über alles geliebt wurden, die vielen Unternehmungen mit ihnen, die sie alle genossen hatten, nichts war mehr davon übriggeblieben.

 

Der Tod ihres Mannes vor einigen Jahren hatte ihr die ganze Grausamkeit des Alleinseins klargemacht. Sicher, sie war nicht pflegebedürftig und konnte ihre Geldgeschäfte noch alleine regeln.

Ihre Großzügigkeit, den Kindern eine Freude zu machen, diese Einstellung die auch schon zu Lebzeiten ihres wunderbaren Mannes volle Unterstützung fand und war ihrer beider größter Wunsch gewesen. Und mit vollen Händen hatten sie gegeben.

Dankbarkeit sollte man nicht erwarten, wenn sie nicht selbstverständlich kam. Alles wurde, je mehr sie erhielten, völlig selbstverständlich angenommen! Eine herzliche Umarmung und ein strahlendes „Dankeschön“ hätten völlig ausgereicht! Aber da warteten sie und ihr Mann vergeblich.

 

Doch nun diese Gedankenlosigkeit, sie hier, ohne wenn und aber, so einfach abzuschieben, das hätte sie nie für möglich gehalten!

Kalte Wut stieg in ihr hoch! Noch war sie im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte. Nein, in diesem Heim würde sie nicht bleiben.

Erst einmal betrat sie ein Cafe und bestellte ihre Lieblingstorte und einen Cappucciono.

Als sie am späten Nachmittag zurück ins Heim kam, hörte sie schon auf dem Flur vor ihrem Apartment, schreckliche Schreie. Grell und unentwegt schrie eine Frau um Hilfe. Das Zimmer lag genau ihr gegenüber.

„Um Gottes Willen, warum schreit die Frau so?“, fragte Katharina die Pflegerin, die gerade aus deren Zimmer trat.

Sie bekam zu hören, dass die Patientin eben erst eingeliefert worden, völlig dement   und ihre Schreie ihr selber unbewusst seien. Mittlerweile kamen weitere Heimbewohner aus ihren Zimmern und wollten die Heimleitung sprechen. Niemand konnte sich mit diesem unentwegten entsetzlichen Geschrei abfinden.

Aber es war keine andere Unterbringungsmöglichkeit der Patientin möglich und alle wurden mehr oder weniger kühl abgefertigt. Katharina rief ihre Angehörigen an und bat um sofortiges Kommen.

Sie kamen erst am nächsten Tag und fanden ihre Mutter nach einer durchwachten Nacht völlig aufgelöst. Auch sie hörten die unmenschlichen Schreie aber etwas zu ändern, war keiner von ihnen in der Lage.

 

„Ich verlange sofort, dass ihr mich hier wegbringt. Das halte ich nicht aus!“ „Wie denkst du dir das, Mutter, wo sollen wir so schnell ein neues Heim finden?!“

„Sollen wir dir Oropax besorgen?“ erkundigte sich eine Schwiegertochter. " Und du darfst sehr froh und dankbar sein, dass du nicht ein Zwei-Bett Zimmer bekommen hast. Das brachte das Fass zum überlaufen.

„Macht, dass ihr wegkommt,“ schrie Katharina, „ich will keinen mehr von euch sehen! Ihr werdet mich noch kennenlernen! So springt ihr nicht mit mir um! Das habe ich nicht verdient!

 

Nach einer weiteren schlaflosen Nacht eilte sie am nächsten Morgen zu ihrer Bank. Die Kosten für das Heim übertrafen ihre schlimmsten Vorstellungen. Dafür konnte sie sich andere Wohnmöglichkeiten leisten. Noch konnte sie bestimmen, was sie wollte. Ein einmaliger Sturz in ihrem Heim sollte kein Hinderungsgrund für ein selbstbestimmtes Leben sein!

Als nächstes kündigte sie ihren Heimplatz, doch so ohne weiteres konnte sie nicht aus dem Vertrag kommen und eine neue Bleibe musste sie nun auch erst einmal finden.

 

Ein sofortiges Entkommen aus diesem Seniorenheim war in Kürze nicht möglich.

 

Zornig und voller trüber Gedanken betrat sie ihr Apartment. Die Schreie der gegenüber wohnenden Frau trieben sie an die Grenzen ihrer Einsicht und Geduld. Katharina ging hinüber und trat an das Bett der Patientin. Sie nahm ihre Hand, streichelte sie ein wenig und nahm gleichzeitig wahr, dass sie die Frau nicht erreichen konnte. Keine Minute hörte ihr Schreien auf und Katharina verließ schnell den Raum.

 

Der Tag hatte sie so mitgenommen, dass sie früh zu Bett ging und irgendwann musste sie eingeschlafen sein. Plötzlich erwachte sie und bemerkte, dass noch jemand im Zimmer war. Sie wollte um Hilfe schreien. Gleichzeitig erreichte sie ihre Nachtischlampe und sah einen Mitbewohner der versuchte, zu ihr ins Bett zu kommen.

Sie kannte ihn nur flüchtig durch die gemeinsamen Mahlzeiten. Er hatte sie immer freundlich gegrüßt und sie hatte genau so geantwortet. Sie wusste nicht seinen Namen und offensichtlich hatte ihm vorgeschwebt, sie wäre einem Abenteuer nicht abgeneigt.

„Du hast mir gleich gefallen und ich würde dich gerne ein wenig verwöhnen. Was meinst du dazu?“ Katharina sah und fühlte, dass Geschrei und Wehren nichts nützen würde. Er war größer und stärker als sie. Ihr wurde eiskalt aber ihr Gehirn arbeitete klar und ihr Ekel vor dem Mann, der sich nun über sie beugte und dessen Altmännergeruch ihr in die Nase stieg, ließ sie genau das Richtige sagen und tun.

„Oh, wie schön, dass du zu mir kommst. Aber ich möchte ein wenig in Stimmung kommen. Warte, ich gehe nur schnell ins Bad und dann schleichen wir uns in die Küche. Da habe ich zufällig in einem kleinen Nebenraum einen Vorrat an Wein gesehen. So machen wir uns einen gemütlichen Abend, denn körperlichen Kontakt zu einem Mann hatte ich schon sehr lange nicht mehr und ich brauche erst einmal eine kleine Aufmunterung.!“

 

Da sie völlig zugänglich schien, ließ er von ihr ab und nahm ihren Vorschlag vergnügt an, hatte er doch mit so schneller Zustimmung und keinerlei Gegenwehr offensichtlich nicht gerechnet.

„Wir gehen am besten über die Hintertreppe, damit wir nicht auf die Nachtschwester treffen,“ schlug sie vor. Sie hakte sich bei ihm ein. Im gedämpften Nachtlicht des Flurs erreichten sie kurz darauf die Treppe, welche ins Erdgeschoss führte. Katharina ging an der Seite des Treppengeländers und kaum hatten sie die erste Stufe betreten, riss sie ihren Arm aus seinem Arm und gab ihm einen kräftigen Stoß. Völlig überrascht und lautlos und stürzte er die lange steile Treppe hinunter und blieb seltsam verrenkt unten liegen.

Katharina umklammerte das Geländer und lauschte, ob jemand etwas gehört hatte und sich blicken ließe. Doch alles blieb still. Mit zitternden Beinen ging sie langsam die Treppe nach unten. Der Mann, dessen Namen sie noch nicht einmal kannte, gab kein Lebenszeichen von sich.

„Du wirst niemals mehr über eine Frau herfallen, du widerlicher Lustgreis!“ murmelte sie und hatte Mühe, die Treppe wieder nach oben zu gehen .

Langsam schlich sie durch den Flur und betrat ihr Zimmer. Sie sollte sich hinlegen, denn ihr Herz hämmerte und ihr schwindelte. Doch sie konnte einfach noch nicht dieses Bett benutzen. Sie nahm in ihrem Lehnsessel Platz und ihre Gedanken überschlugen sich.

Nein, sie war keine Mörderin, sie hatte sich nur gewehrt und klaren Kopf behalten. Sie würde sich nichts anmerken lassen und sich verhalten, wie immer. Niemand konnte ihr beweisen, dass sie mit diesem Todesfall irgendetwas zu tun hatte. Keiner hatte sie je mit diesem Kerl zusammen gesehen.

Ruhe fand Katharina nicht. Unmenschliche Laute schallten aus dem Zimmer der dementen Patientin. Warum konnte niemand helfen? Welche schrecklichen Dinge mussten ihr widerfahren sein? Welche Kräfte trieben sie um? Seit sie hier war gab es kaum eine Pause der entsetzlichen Schreie. Irgendwann musste sie doch schlafen?

Wie in Trance stand Katharina auf, es war mittlerweile drei Uhr in der Nacht. Im Flur war niemand zu sehen. Die Nachtschwester hatte keinen Grund, die unaufhörlichen Schreie der Frau zu beachten. Alle betroffenen Nachbarn hatten seit Tagen aufgrund dieser ständigen Störungen Schlafmittel und Oropax bekommen. Alle Beschwerden hatten nichts genutzt, wer würde auch schon auf sie hören, sollten die Alten doch froh sein, hier ein Zimmer bekommen zu haben!!!

Katharina betrat das Zimmer der Schreienden. Ein Nachtlicht leuchtete schwach und zeigte ihr das Bett der Patientin. Bettgitter schützen die Frau vor dem Herausfallen und ihre Hände waren daran fixiert. Sie hatte die Augen geschlossen und öffnete sie auch nicht, als Katharina ihre Hand berührte.

„Dir wird niemand helfen aus deiner fürchterlichen Lage herauszukommen, du wirst dir noch lange Zeit die Seele aus dem Leib schreien. Aber ich werde dir helfen. Heute erst habe ich erfahren, wie es ist, wenn niemand da ist, der einem helfen kann!“ flüsterte Kathrina.

Sie nahm ein Kissen, welches unter einem der Arme lag. Sanft und ohne Hast drückte sie das Kissen auf das Gesicht der Schreienden. Die plötzliche Stille war so unwirklich, dass Katharina leise eine Strophe ihres Lieblingsschlafliedes sang: Der Mond ist aufgegangen.

 

„ Wollst endlich sonder Grämen aus dieser Welt uns nehmen durch einen sanften Tod! Und wenn du uns genommen, lass uns in’n Himmel kommen, du unser Herr und unser Gott!“

 

Keinerlei Gegenwehr spürte sie, nach kurzer Zeit durchlief ein Zittern den Körper und die Gliedmaßen der Sterbenden.

Als Katharina endlich das Kissen hob, erblickte sie ein entspanntes, leicht lächelndes Gesicht. Das Kissen legte sie wieder unter den Arm der Toten und verließ langsam das Zimmer.

Nun konnte sie sich hinlegen und schlief augenblicklich ein.

 

Am anderen Morgen gab der Tod der beiden Insassen des Heimes erst einmal eine große Unruhe. Der Arzt konnte den Tod des Mannes als einen Unfall bescheinigen und das Herz der dementen Patientin hatte wohl nicht weiter ihre unaufhörliche Schreie verkraftet und so war sie an einem Herzversagen verstorben.

 

Katharina hatte das Gefühl, dass der Spätherbst ihres Lebens vielleicht noch einige schöne Tage für sie bereit hielt.

 

 

 

Impressum

Texte: Annelie Heyer
Lektorat: Annelie Heyer
Tag der Veröffentlichung: 16.08.2016

Alle Rechte vorbehalten

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