Wie jeden Abend, immer pünktlich um 17.30 Uhr, goss sie das Wasser von den fertig gekochten Kartoffeln. Sie verteilte sie auf zwei flache Teller und stellte sie auf den gedeckten Tisch. Manchmal gab es auch vor der Hauptmahlzeit einen Teller Suppe, vorgefertigt aus der Tüte.
Im gleichen Augenblick betrat ihr Mann die Küche und küsste sie flüchtig auf die Wange. Während er sich die Hände wusch, füllte sie die Teller mit gekochtem Gemüse und einem Rührei mit Speck. Fleisch gab es nur am Sonntag.
Zum Nachtisch hatte Gerda einen Schokoladenpudding oder einen Vanillepudding mit Himbeersoße zubereitet. Immer abwechselnd.
Sie sprachen während des Essens von ihren Tageserlebnissen. Gerda hatte als Hausfrau nicht mehr viel zu erzählen, seit die Kinder aus dem Haus waren.
Hans berichtete von seiner Arbeit in einer Möbelschreinerei. Gerda hatte vor vielen Jahren ein Grundstück von ihren Eltern geerbt und mit äußerster Sparsamkeit und vielen Eigenleistungen hatten sie ein kleines Haus gebaut.
Ein kleines Zubrot kam ihnen noch zugute, da sie einen Hausverkauf für Getränke führten, der meist von den Nachbarn am Abend frequentiert wurde.
So führten die Beiden ein ruhiges Leben.
Das jahrelange Doppelleben ihres Mannes fiel Gerda nie auf, zumal jeder den Eindruck hatte, er stände vollkommen unter ihrer Fuchtel. Keiner hätte ihm zugetraut, irgendetwas zu tun, wovon Gerda nichts ahnte. Was sie wollte, wurde auch durchgeführt. Sei es die Einrichtung des Hauses, der Kauf eines kleinen gebrauchten Autos, die kurzen Tagesausflüge, die soeben noch zu verkraften waren oder was er im Garten anbauen und ernten sollte.
Am Abend gönnte sie ihm zwei kleine Bierflaschen – wie sie sagte „Stubis“ – mehr würde er auch nie trinken!!!
Hans hatte schweres Asthma und nur ein wenig hätte auffallen können, dass er jeden Abend mit einem scharf riechendem und schmeckenden Bonbon im Mund, Gerda begrüßte.
Das Unheil brach über beide Anfang Dezember 1969 herein! Hans war 54 Jahre alt geworden und es war eigentlich ein Tag wie immer, als Hans am Abend nicht heim kam.
Die Kartoffeln kühlten auf den beiden Tellern ab, das Gemüse wurde kalt und eine Scheibe durchwachsenen Specks verbrutzelte in der Pfanne.
Gerda war so geschockt, dass sie nicht in der Lage war, einen klaren Gedanken zu fassen. Noch nie war er auch nur eine Minute zu spät nach Hause gekommen!!
Schließlich rief sie alle Krankenhäuser an aber niemand konnte ihr zu einem Unfall mit seinen Personalien Auskunft geben. Ebenso keiner seiner Arbeitskollegen konnte ihr über seinen Verbleib etwas erklären. Sie ging zitternd und schlaflos ins Bett und ihre Gedanken drehten sich wie ein Mühlrad.
Erst am nächsten Tag rief sie ihre Kinder an und bat um Hilfe, Gerda wusste nicht mehr ein noch aus. Der Sohn fuhr zur nächsten Polizeistation und schilderte die Situation. Hier erfuhr er, dass seinem Vater vor zwei Tagen, wegen Volltrunkenheit, um 17.00 Uhr der Führerschein entzogen worden war. Er hätte mit zur Wache kommen müssen und dort eine Anzeige entgegengenommen. Der Entzug der Fahrerlaubnis wurde ihm da schon mitgeteilt.
Außerdem habe man ihm die Autoschlüssel abgenommen, da er gesagt habe, er wolle morgen mit seinem Sohn den Schlüssel bei der Wache abholen. Das Auto müsse noch am Bahnhof stehen, dort wo sie Hans angehalten hatte. Der Parkplatz wurde genau geschildert aber da stand sein Auto nicht mehr.
Er sei wohl in einen Bus gestiegen. Aber niemand hatte ihn danach mehr gesehen. Hans blieb verschwunden.
Die erwachsenen Kinder redeten stundenlang mit der Mutter. Alle konnten sich vorstellen, dass Hans nicht wagte nach Hause zu kommen, weil er wusste, was ihm bevorstand. Gerda war empört: sie hätten eine vorbildliche Ehe geführt und niemals Streit gehabt. „Ja,“ entgegneten die Kinder, „ aber nur, weil er alles tat, was du wolltest!“
Bis auf Gerda konnten sich alle in die Gedanken des Vaters hineinversetzen:
Sein Leben lang würde er sich von seiner Frau Vorhaltungen anhören müssen: wie konnte es nur so etwas machen! Die ganze Verwandtschaft, die Angeheirateten, die Nachbarschaft, die Bekannten, das ganze kleine Dorf – alle würden sich das Maul zerreißen!!!
Am nächsten Morgen kamen zwei Kollegen aus der Tischlerei und baten um ein Gespräch. Sie hätte ja schon längst etwas sagen sollen! Aber Hans war ein so feiner Kollege, da wollten sie ihn nicht herein reißen. Er habe jeden Morgen am Kiosk eine Flasche Korn gekauft und sie in eine Wasserflasche umgefüllt. Dies sei nur dadurch aufgefallen, weil ein Kollege seine Flasche zufällig mit Hans Flasche vertauscht habe und beim ersten Schluck den Irrtum bemerkte. Der Kollege hatte ihn zur Rede gestellt und Hans hatte eindringlich gebeten, nur ja keinem etwas zu sagen. Da er nie auffällig wurde, hatte man weiter nichts unternommen.
Gerda konnte nicht glauben, dass Hans sie jahrelang so getäuscht hatte. Nie war er in die Wirtschaft gegangen, in keinem Verein tätig gewesen, nur mit ihr hatte er sein Leben gelebt.
Es verging eine Woche, dann rief die Polizei den Sohn an und bat ihn, in die Pathologie zu kommen. Es sei eine Leiche aus dem Rhein gezogen worden und die Beschreibung könnte auf seinen Vater passen.
So war es auch. Geldbörse und Brieftasche steckte noch in seiner Lederjacke. Hans war in seiner Verzweiflung in den eiskalten Rhein gesprungen!!!
Er hatte nie das Schwimmen erlernt, doch das hätte ihn wohl auch nicht gerettet, weil er sterben wollte.
Die Obduktion stellte den Tod durch Ertrinken fest, bei einem Blutalkohol von drei Promille.
Der Wagen wurde im Frühjahr, in der Nähe einer der Rheinbrücken, total verschmutzt, gefunden. Hans war wohl mit einem Reserveschlüssel dorthin gefahren und dann total betrunken in den Rhein gesprungen!
Man stelle sich vor: alle, die je den Führerschein entzogen bekommen haben, würden in den Rhein springen – wahrscheinlich wäre kein Wasser mehr im Vater Rhein.
Texte: Annelie Heyer
Bildmaterialien: Cover - Google
Lektorat: Annelie Heyer
Tag der Veröffentlichung: 06.08.2016
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