Eine Woche nach Ostern 1948, an einem Montag wurde ich eingeschult.
Es war ein nebliger, kühler Tag und unter vielen Tränen musste ich doch die langen, kratzigen Wollstrümpfe, die Urgroßmutter ohne Unterbrechung und in großer Zahl für uns Kinder strickte, anziehen. Mit Leibchen, auch von ihr gestrickt, und langen rosafarbenen Strumpfbändern, an welchen die Strümpfe befestigt waren. Wollweiß waren sie und darüber zog mir Mutter auch noch eine Wollhose, die den noch nackten Teil der Oberschenkel bedeckten. Zum Glück zog ich vorher ein Unterhemdchen und Unterhöschen an, weiße Baumwolle, nicht gestrickt - mit den Schuhen, die einzigen Dinge, die nicht selbstangefertigt waren - nun kam das dunkelblaue Kleid mit weißem Kragen, das hatte die Tante Klara genäht. Hier hätte ich zu gerne die weißen, baumwollenen Kniestrümpfe dazu getragen. „Nein“ erklärte Mutter kategorisch, dafür ist es heute zu kalt!“ Widerworte gehörten sich nicht und erst recht kein Geschrei.
Das sparte ich mir für die Prozedur des Kämmens auf. Meine lange Haare wollten nicht so, wie ich es gerne gehabt hätte: Es ziepte und zog, musste aber glatt sein, bevor oben zwei Tollen mit kleinen Haarkämmen gegeneinander festgesteckt wurden. Das Flechten der Zöpfe ging schon hurtiger, diese wiederum nach oben gebogen - Affenschaukeln hieß diese Frisur - und dicht am Kopf mit weißen, steifen Schleifen verziert.
Wenigstens brauchte ich nicht die hohen Winterschuhe anzuziehen, sondern rote Halbschuhe, die ich über alles liebte. Ein dunkelblauer Mantel und ein roter, gestrickter Schal – ihr wisst schon von wem die Teile waren – und einem braunen Ranzen, bestückt mit Schiefertafel, Holzkästchen mit zwei dünnen Griffeln, eine Packung mit Buntstiften, einen kleinen Zeichenblock, einem grünen Döschen für das nasse Schwämmchen, ein blau-rotes Tafelläppchen baumelte seitlich aus dem Tornister, der auf meinem Rücken prangte, so ging ich an Mutters Hand, die mich vorher noch mit Weihwasser gesegnet hatte – in den „Ernst des Lebens!" Keiner hatte eine Schultüte, die gab es bei uns nicht.
Noch einige Kinder mit ihren Müttern nahmen den gleichen Weg, der zwei Kilometer lang war. Das Schulgebäude wies noch große Einschusslöcher auf und sah insgesamt recht trist aus. Der Rektor der Schule nahm uns in Empfang, erkundigte sich nach dem Namen und schickte uns in die vorgesehene Klasse. Dort begrüßte uns an der geöffneten Tür die Klassenlehrerin, Fräulein Andermal, eine zierliche, junge Frau. Ihre schwarzen Haare waren kurz und modisch geschnitten. Ihre dunklen Augen blickten mich freundlich an und ich fühlte mich gleich zu ihr hingezogen. Einen Sitzplatz durfte sich jeder aussuchen und die Mütter standen rundum an den Wänden.
Die Klasse hatte vier lange Reihen mit zweisitzigen Bänken und schräger Tischplatte. Diese konnten hochgeklappt werden und immer mit Schulmaterialien versehen werden, die nicht täglich mit nach Hause genommen werden mussten.
Erst einmal stellte sich Fräulein Andermal vor, begrüßte uns alle und erzählte, was uns nun täglich erwarten würde. Nun teilte sie für jedes Kind eine Fibel aus. Trotz der einfachen Ausführung, graues einfaches Papier und wenigen Bildern, war ich begeistert. Nun würde ich lesen lernen und selber Geschichten lesen können. Nicht mehr angewiesen sein auf das Vorlesen der Erwachsenen, die wenig Zeit hatten.
Danach gab es noch eine Rechenfibel. Die Mütter wurde gebeten, die Bücher mit Schutzumschlägen, unseren Namen und der entsprechenden Klasse, zu versehen. Heute noch habe ich einen dieser blauen Papierumschläge und das Namensschild, denn mein Zeugnisheft der Volksschule ist erhalten.
Weiterhin sollten wir ab dem nächsten Tag einen „Essensträger“ oder mundsprachlich „Knibbel“ und einen Esslöffel mitbringen, denn die englische Besatzung würde jeden Tag um halb zwölf eine „Schulspeisung“ durchführen. Das freute alle, Kinder und Mütter gleichermaßen.
Die Mütter wurden nach Hause geschickt und wer nicht alleine den Heimweg fand, konnte dann abgeholt werden. Das war aber nicht nötig, den Weg kannten in diesem Vorort alle.
Endlich durften wir die Tafeln und Griffeldöschen herausnehmen. Alle Kinder waren still und aufmerksam. Die Lehrerin malte nun an die Tafel, die teilweise mit den gleichen Zeilen wie unsere Tafel ausgestattet war, eine Reihe mit kleinen Spazierstöckchen. Die durften wir genau so auf unsere Tafel kratzen. Die Griffel kreischten und die ersten Finger wurden mit Spucke befeuchtet und ein nicht so gut gelungenes Spazierstöckchen ausgelöscht. In der Pause liefen wir auf den Pausenhof und Fräulein Andermal blieb bei uns, damit wir nicht von den älteren Schülern mit dem üblichen Gesang „I-Dötzchen- Kaffeerötzchen“ geärgert wurden.
Nach der Pause durften wir auf das erste Blatt des Zeichenblocks mit den Buntstiften ein Bild nach unseren Vorstellungen malen. Ich weiß noch, dass ich eine Wiese mit Blumen und Bäumen malte. Ein Osterhase, der mir in der vorigen Woche bunte Eier in einem Körbchen gebracht hatte, nahm noch Gestalt an. Alle Bilder wurden nacheinander hochgehalten und jeder durfte sagen, was er sich vorgestellt hatte.
Fräulein Andermal nahm ihre Gitarre zur Hand und wir sollten ihr sagen, welche Lieder wir denn schon kennen würden. Die spielte sie dann und wer konnte, sang laut mit. „Nah, das hört sich ja schon sehr schön an und nun bringe ich euch ein neues Lied bei“, sagte sie. Auch das weiß ich noch, weil ich es immer wieder mal gesungen habe.
„Vöglein im hohen Baum, klein ist’s ihr seht es kaum“
Zum Schluss las sie uns noch eine Geschichte vor und sagte, dass wir für morgen als erste Hausaufgabe, drei weitere Reihen von Spazierstöckchen auf die Tafel schreiben sollten.
Kleiner Zusatz:
Die Schulspeisung war immer sehr lecker. Ich lernte zum ersten Mal Nudeln mit Tomatenmarksoße kennen. Davon aß ich so viel, dass mir leider schlecht wurde und die Speise in der Schultoilette landete. Da wir alle dünn, blass und kränklich aussahen, brachten uns die Engländer große Portionen und manchmal Schokolade, Kekse und Obst mit.
Tag der Veröffentlichung: 01.02.2014
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