Fünf Jahre nach Ende des Krieges, ich war acht Jahre alt, immer recht blass und hatte nie rechten Appetit. Das Essen in unserer Großfamilie war recht deftig und fettige Mahlzeiten,warme Milch oder Milchspeisen mit einer Haut obenauf konnte ich schon nicht ansehen, geschweige essen. Wir hatten einen großen Garten und Gemüse und Obst kamen immer auf den Tisch.
Es wurde keinem von uns extra Speisen nach Wunsch aufgetragen und so versuchte meine Mutter es mit Lebertran, damit ich mehr essen würde und wichtige Zusatzstoffe erhalten würde. Wer es je – einen Esslöffel am Abend - geschluckt hat, kann bestätigen, dass ich da jeden Abend noch blasser wurde, wenn dieser Löffel sich meinem Mund näherte!
Dann stellte sich heraus, dass wir Kinder alle Würmer hatten und die konnten dann durch die Einnahme einer Entwurmungskur ans Licht des Tages befördert werden. Hinzu kam, dass ich häufig von Bronchitis und Erkältungskrankheiten geplagt wurde.
Ich wurde nicht rund und rosig wie meine jüngeren Schwestern – im Gegensatz zu heute!!
Eines Tages bekamen wir Besuch von unserem Pfarrer, der ein wirklicher „Hirte für seine Herde“ war. „Ich komme zu euch, weil eine Erholungsreise in den Schwarzwald für Kinder, die an Untergewicht leiden, geplant ist.“ Er sah gleich mich an. „Annelie, ich glaube, du könntest so eine Luftveränderung sehr gut gebrauchen?!“ Zu meiner Mutter gewandt sprach er weiter:“ Überlegen Sie es sich, sprechen Sie mit Ihrem Mann darüber und geben Sie mir bis Ende der nächsten Woche Bescheid."
Ich war noch nie weiter und alleine von zuhause weg gewesen, wohl schon bei unseren Tanten, die in der Nähe wohnten, war ich hin und wieder einige Tage zu Besuch!
Mit dem Zug war ich auch noch nicht gefahren und ich stellte mit alles sehr abenteuerlich vor.
Meine Eltern bedachten natürlich, dass die Luftveränderung im Schwarzwald bestimmt das Richtige für mich sei und da ich keine Angst zeigte so alleine zu fahren, wurde ich angemeldet. Ich weiß noch, wie viel Arbeit Mutter und Großmutter hatten alle meine Gepäckstücke zu kennzeichnen. Ein kleiner Rucksack wurde mit den Utensilien für die Reise bestückt. Die ganzen Schulferien – also sechs Wochen – sollte ich in Kur fahren.
Meine Mutter brachte mich und meinen Koffer mit einem Taxi zum Bahnhof und hier ware viele Kinder, welche von Caritas-Schwestern in Empfang genommen wurden. Wir bekamen alle ein Kärtchen, mit unserem Namen,Adresse und Reiseziel, Bad Rippoldsau im Schwarzwald, mit einem bunten Band umgehangen und dann verabschiedete ich mich von meiner Mutter, fiel ihr um den Hals, küsste sie und plötzlich weinten wir beide und nur meine Erziehung - Gehorsam und Beherrschung -ließ mich nicht auf die Idee kommen, zu schreien und wieder mit Mutter nach Hause zu fahren.
Im Zug saßen viele Kinder, die noch eine zeitlang weinten, bevor sie sich durch die tröstenden Worte der aufsichtführenden Schwestern und den Eindrücken der vorbeiziehenden Landschaften, beruhigten.
Am späten Nachmittag erreichten wir Bad Rippoldsau und wurden mit unserem Gepäck in Bussen zum Kinderheim gefahren. Dort nahm uns das freundliche Kinderheimpersonal in Empfang und zeigten uns unsere Schlafsäle, die Schränke, wo wir unsere Sachen einräumen konnten und das Bett, getrennt durch ein kleines Nachtschränkchen, zum nächsten Bett. In diesem Saal würde in den nächsten sechs Wochen meine Schlafstätte sein.
Zunächst bekamen wir ein warmes Abendessen. Auch hier erhielten wir feste Plätze an Tischen, wo je acht Kinder saßen.
Das erste Essen war für mich unbekannt und schmeckte mir so sehr, dass ich sicher zweimal nachnahm. Es gab Gabelspaghetti mit Tomatensoße. Solche Gerichte – Nudeln und Tomatenmark - wuchsen nicht in unserem großen Garten. Da benötigten wir täglich Kartoffeln, Gemüse, Salate und am Abend gab es aus den Resten der gekochten Kartoffeln stets Bratkartoffeln, dazu einen Teller Milchsuppe in verschiedenen Geschmacksrichtungen, die ich allesamt nicht mochte, erst recht nicht, wenn sich eine Haut darüber gebildet hatte!
Nun aß ich also das erste Mal in meinem Leben - Nudeln mit Tomatensoße – und ich glaubte nie etwas Schmackhafteres gegessen zu haben.
Doch ich hatte wohl zu viel des Guten genommen. In der Nacht wurde mit schrecklich übel und ich erbrach das ganze leckere Essen. Ich weinte und rief nach meiner Mutter! Die Schwester des Nachtdienstes brachte mich in eine Badewanne, die hatten wir damals in dieser Form zuhause auch noch nicht, war sehr lieb zu mir, tröstete mich und gab noch duftendes Fichtennadelbadesalz ins Wasser. Als ich wieder sauber im frischbezogenen Bett lag, brachte sie mir noch einen Becher mit Kamillentee und blieb bei mir sitzen, bis ich wieder eingeschlafen war.
Am nächsten Morgen hatte ich hohes Fieber und eine Erkältung, mit stets nachfolgender Bronchitis, ließen mich die nächsten zwei Wochen im Bett verbringen.
Ich wurde mit warmen Moorpackungen und aufbauenden Getränken und Speisen aufgepäppelt, da ich in der Zeit des hohen Fiebers und der Hustenanfällen gar nichts bei mir behalten konnte.
Das Heimweh war schrecklich, schlimmer als das Kranksein!!! Telefon hatten wir noch nicht, aufmunternde Worte der Eltern und Tanten in Briefen und Postkarten konnten mich nicht für lange Zeit ablenken. Tante Trude sandte mir ein Päckchen, das ich heute noch besitze und darin meine Stifte und Briefmarken aufhebe. Ein schwarzes Kästchen von Stollwerk „Knuspergold“ mit vier bunten Papageien darauf. Darin hatte sie mir Süßigkeiten und kleine Spiele verpackt.
Das Traurigste war, dass ich die einzige Kranke war und nicht mit den übrigen Kindern spielen und in den Wald gehen konnte. Es war ein sehr schöner Sommer und als das Fieber abgeklungen war, machten mir die jungen, freundlichen Schwestern ein Ruhelager auf der Terrasse und so konnte ich die großartige Waldluft genießen und bekam auch viele Bilder- und Kinderbücher, die ich - damals schon ein Bücherwurm - alle verschlang.
Wenn es anfing zu dämmern, machten die Schwestern mit den Kindern vor dem Schlafengehen noch einen kurzen Spaziergang auf einem Waldweg in der Nähe des Heimes, wo ich sie sehen und hören konnte als ich noch krank darniederlag und noch nicht mitgehen konnte. Dabei sangen sie mit den Schwestern im Kanon: „Abendstille überall – nur am Bach die Nachtigall – singt ihre Weise klagend und leise durch das Tal - Abendstille überall!
So wunderschön klang das Lied in der Abenddämmerung, dazu der Anblick der vielen Tannen, der würzigen Holzgeruch, das leise Zwitschern der Vögel, dass mir diese Szene bis heute noch in Erinnerung geblieben ist!
Ja, und dann hatte ich eine ältere Bettnachbarin, die mich aufklären wollte! Bevor wir einschliefen, beugte sie sich zu mir hinüber und fragte mich erst einmal aus, was ich schon so von Mann und Frau wüsste? Da ich nichts wusste, noch nie einen nackten Mann gesehen und auch keine Brüder hatte, wollte sie mir ihr Wissen mitteilen. Marita, so hieß sie, ließ mich erst schwören, niemandem davon zu erzählen.
„Also“, flüsterte sie, „ wie meinst du, kommen die Babys auf die Welt?“
Ich erinnerte mich nur, dass meine Mama im Krankenhaus gewesen war und dann ein neues Schwesterchen mitgebracht hatte.
„Die Männer haben einen langen Schlauch zwischen den Beinen und den stecken sie den Frauen in den Bauch und dann kommt aus dem Schlauch etwas, woraus dann Babys im Bauch der Mutter wachsen und die werden dann, wenn das Kind im Bauch groß genug ist, meist im Krankenhaus herausgeholt!“
Genaueres wusste Marita auch nicht und woher sie das hatte, habe ich nicht gefragt. Ich konnte damit so gar nichts anfangen, war ich doch erst acht Jahre und Marita zehn Jahre alt.
Nach sechs Wochen sprach ich perfekt den Dialekt des Ortes, hatte mich doch noch gut erholt und einige Pfund zugenommen.
Mit dem Zug ging es wieder nach Hause und diesmal weinte kein Kind. Alle freuten sich auf ihre Familie und am nächsten Tag begrüßten mich alle meine Tanten und die Kinder aus der Nachbarschaft. Extra mir zu Ehren gab es Kuchen und Kakao, sogar kleine Geschenke hatte jeder mitgebracht und ich war glücklich wieder zuhause zu sein.
Texte: Annelie Heyer
Bildmaterialien: Cover: mit Hilfe von Horst Hübner
Tag der Veröffentlichung: 01.03.2013
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