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Trude war das dritte Kind meiner Urgroßmutter und wurde am 25.1.1896 in Mönchengladbach geboren.

Nach der Schulzeit erlernte sie den Beruf einer Stickerin und arbeitete in einer Gobelinstickerei der jüdischen Firma Bellerstein, die im zweiten Weltkrieg in Flammen aufging und deren Besitzer das Schicksal vieler Juden erlitt. Sie kehrten nach Ende des Krieges nicht mehr zurück.

Tante Trude lebte bis zum Jahre 1946 in ihrem Elternhaus und sie blieb unverheiratet.

Hin und wieder nahm sie mich mit in die städtische Badeanstalt. Dort konnte man für eine dreiviertel Stunde eine Badewanne mieten. Eine Tablette mit Fichtennadelgeruch und Handtücher brachten wir mit, das war dann billiger. So bezahlte die Tante Trude 2Mark und stieg mit mir in die Wanne.
Das war für mich, die ich noch klein war, ein umwerfendes Erlebnis. Eine große, weiße Badewanne, ein Raum, der mit weißen Platten gekachelt war und stämmige, weibliche Badefrauen, die in weißen Kitteln und weißen Hauben die Wannen nach Gebrauch ausschrubbten und auf Einhaltung der Badezeiten achteten!

Im Januar 1946 verstarb ihre jüngste Schwester Else nach einer kleinen Operation an einer Embolie.
Als sie fühlte, dass sie sterben würde, bat sie ihre Schwester Trude, ihren11jährigen Sohn so lange zu betreuen, bis ihr Mann, der nach Ende des Krieges als vermisst galt, zurückkehren würde.

Er kam nie wieder und keiner erfuhr etwas über sein Schicksal.

So blieb Tante Trude bis zu ihrem Tode am 4.12.1970, über 24 Jahre hinweg, im Hause ihres Neffen Max.

Das Haus, eine wunderschöne Jugendstilvilla, bewohnten zum damaligen Zeitpunkt noch die Großeltern des Jungen.
Innerhalb der nächsten beiden Jahre verstarben sie, die auch die Erbauer des Hauses gewesen waren.
Außer Max gab es keine weiteren Erben und so lebte er mit seiner Tante alleine in diesem Anwesen.

Eine kleine Waisenrente für den Jungen aber ansonsten hatte Trude keinerlei Einnahmen und um ihn durchzubringen. So vermietete sie drei Zimmer möbliert an zwei Studenten und an eine allein stehende Realschullehrerin.
Mit Frühstück und Reinigung der Zimmer.
Die untere Etage wurde ebenfalls vermietet und von diesen Einnahmen und dem Ertrag eines großen Gartens, den die Tante mit Hilfe meines Vaters und ihres Bruders bearbeitete, konnten beide leben.
Hinzu kam, dass Tante Trude extrem sparsam war. In der Währungsreform nach dem Krieg waren ihr 30 000 Reichsmark verloren gegangen. Das hatte sie sehr getroffen und häufig hörten auch wir Kinder von diesem Drama, denn sie hatte sich dieses Geld in jahrelanger Arbeit zusammen gespart und sich nichts gegönnt.
Die Kleider meiner Großmutter, ihrer älteren Schwester, ließ sie für sich umarbeiten.
Fleisch kaufte sie nur selten und sie hielt auch noch einige Hühner, deren Eier sie an uns verkaufte.
In meiner Familie ging es immer turbulent zu, denn wir lebten mit acht Personen in einem Haushalt.
Häufig nahm Tante Trude mich für einige Tage mit. Das genoss ich stets sehr, denn hier konnte ich in Ruhe lesen und niemand störte mich.
Mein Vetter Max, der sieben Jahre älter als ich war, erschien mir wie ein Bruder und bis zum heutigen Tag verstehen wir uns prima.

Ich hatte diese Tante besonders lieb, weil ich bei ihr Dinge erlebte, die ich von zu Hause nicht kannte.

So nahm sie mich zweimal im Jahr mit in die Stadt und das war ein Ereignis. Es waren die Zeiten des Sommer- oder Winterschlussverkaufs.
Sie hatte einen Briefumschlag, in welchem sie jeden Monat einen bestimmten Betrag hinterlegte. Obenauf stand „Schlussverkauf“.
Nun kaufte sie Unterwäsche, Strümpfe, Handtücher, Kittelschürzen, Haushaltsgeräte und Schuhe.
Überall war ein großes Gedränge, denn Sommer- und Winterschlussverkauf waren eine Möglichkeit, günstig etwas zu erwerben.
Das schönste aber war, dass sie mit mir am Ende des Tages in den Kaufhof und dort in das Restaurant ging. Hier durfte ich mir mein Lieblingsessen aussuchen: Ein“ Russenei“!

Bis heute habe ich nirgendwo mehr ein solch leckeres „Russenei“ bekommen, wie damals im Kaufhof.
Um den Tag noch zum Höhepunkt zu steigern, gingen wir zum Abschluss in das nebenan gelegene Büchergeschäft und dort durfte ich mir noch ein Buch kaufen.

Dabei ließ mir Tante Trude alle Zeit der Welt, denn das überwältigende Angebot brauchte schon eine Weile für die endgültige Entscheidung.

Ich hatte in diesen Jahren immer das Gefühl dreimal im Jahr Weihnachten zu erleben.

Als ich zehn Jahre alt war, wurde ich in ein Erholungsheim in den Schwarzwald geschickt und litt dort unter entsetzlichem Heimweh.
Von zu Hause wurde ich ermahnt, mich nicht so anzustellen, in wenigen Wochen sei ich ja wieder da.
Nur die Tante Trude schickte mir ein Päckchen mit Süßigkeiten und einem Tierbuch, eingepackt in eine Pralinenschachtel von Stollwerk mit bunten Papageien bedruckt.
Das hat mein Heimweh gelindert und diese Dose besitze ich heute noch und ist meine Knopfdose und erinnert mich an Zeiten, die über ein halbes Jahrhundert zurück liegen.

Diese Tante legte auch den Grundstock für mein Silberbesteck. Ab dem sechzehnten Lebensjahr schenkte sie mir zu allen Fest- und Feiertagen weitere Teile zur Vervollständigung meines zwölfteiligen Bestecks, dass ich natürlich heute noch besitze und es strahlt immer noch auf meinem festlich gedeckten Tisch. Genau so verfuhr sie mit meinen beiden jüngeren Schwestern. Jeder von uns erhielt ein anderes Muster von der gleichen Firma.

Auch ihr wurde durch die Kriegswirren ein völlig anderes Schicksal zuteil, als sie es sich wohl erträumt hatte.

Sie blieb mit ihrem Neffen zusammen. Max litt schrecklich unter dem Verlust seiner geliebten Mutter . Gerade mit dieser Tante verstand er sich nicht so besonders. Viele Male hat er mir gesagt:“ Hätte meine Mutter mich doch zu euch gegeben, bis Vater wiederkam, da hätte ich mich wohl gefühlt.“
Die Tante Trude war eine betuliche, ältere Jungfrau und für einen Jungen von 11 Jahren sicher nicht die richtige Hauptansprechpartnerin. Sie hoffte auch, dass der Vater, ihr Schwager wiederkäme, noch eine Frau fände und sie dann die Verantwortung abgeben konnte.
Aber er kam nicht wieder und so blieb alles, wie es beim Tode der Mutter von Max, beschlossen worden war. Hätte wir alle diese Dinge vorher sehen können, wäre es tatsächlich viel praktischer gewesen, wir wären mit allen acht Personen in diese große Villa eingezogen.
Unser sehr viel kleineres Haus hätte vermietet werden können bis Max groß und selbstständig war.

Max besuchte damals die Quinta des humanistischen Gymnasiums aber sein Kummer war so groß, dass er einfach nicht mehr lernen wollte.
So ging er nach der Mittleren Reife ab und fing eine kaufmännische Lehre an.
Danach arbeitete er eine zeitlang in diesem Beruf, bis er den Wunsch äußerte, Priester zu werden.
Die Tante Trude war hellauf begeistert, denn ihre Patentante Gertrud hatte auch einen Jungen zum Priesteramt geführt und war dann, bis zu ihrem Lebensende, bei ihm als Haushälterin geblieben.
In diese Rolle sah sie sich nun auch schon. Die übrige Familie, alle sehr religiös, war hin- und hergerissen. Einerseits einen Priester in der Familie zu haben, andererseits machte die Tante Klara, unverblümt wie sie war, düstere Prophezeiungen! „Nie, steigt der auf eine Kanzel und hält eine Predigt oder hört sich Beichten an und gibt Mahnungen ab. Dafür is de kenne!“
Erst einmal machte er mit 21 Jahren das Abitur nach, dann studierte er fünf Jahre bei den Jesuiten in Frankfurt. „Da wür he ma besser jeblieben!“ sprach Tante Klara.
In der Zwischenzeit hatte die Tante Trude, die jahrzehntelang einmal wöchentlich im Paramentenverein der Pfarre tätig war und dort die kirchlichen Gewänder ausbesserte oder neue erstellte, emsig tätig gewesen und hatte in den fünf Jahren der Studienzeit ihres Neffen ihm sämtliche priesterlichen Gewänder geschneidert, bestickt und es war eine wahre Pracht, dies alles anzusehen. Er wäre damit für seine Jahre als Priester gewiss auf das Beste ausgestattet gewesen, es fehlte nichts.
Als er nun noch zwei Jahre in ein Priesterseminar eintreten sollte, um die entsprechenden Weihen zu erhalten, sagte er ihr, er fühle sich doch nicht zum Priesteramt berufen!
Wir dachten, die Tante bringt sich um. Ihre gesamte Lebensplanung war nun ganz dahin.

Sie nahm sämtliche, von ihr gefertigten Aussteuer für den Priester in einen riesigen Korb, trug diesen an das Grab ihrer Schwester Else, der Mutter von Max und legte alle Gewänder auf das Grab und rief unter lautem Weinen:“ Else, ich habe versagt, er wird nicht Priester!“
Leute, die diese Szene beobachtet hatten, sie gut kannten, liefen zu uns und unter Tränenströmen meiner Großmutter und Mutter, wurde alles wieder in den Korb geräumt und trat später, nachdem der Pastor der Pfarrei, Tante Trude in langen Gesprächen trösten konnte, seine Reise in eine indische Missionsstation an, wo man diese festlichen Gewänder sehr dankbar annahm.

Max nahm dann noch ein weiteres Studium auf und wurde letztendlich Bibliothekar.
Die Tante Trude blieb bis zu ihrem plötzlichen Tod bei ihm.

In der Adventszeit der 70iger Jahre des vorigen Jahrhunderts wurde sie von einem Auto überfahren als sie vom Einkauf nach Hause wollte und starb noch vor der Einlieferung ins Krankenhaus.

Durch die Währungsreform hatte sie ihr gesamtes Geld verloren. Tatsächlich sparte sie die gleiche Summe in DM in den folgenden vierundzwanzig Jahren wieder zusammen und zur Verwunderung ihres Neffen vererbte sie ihm die gesamte Summe. Trotz ihrer Enttäuschung über seinen Werdegang, hatte sie in all den Jahren mit Max ihm sicher die Mutter ersetzen wollen und ihn, wie ein eigenes Kind, zum Alleinerben bestimmt.

Ein arbeitsreiches und dienendes Leben, eingebunden in unsere Großfamilie fand ein jähes Ende aber in meiner Erinnerung ist sie meine Tante, die mir immer nur freundlich gesinnt war.


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Tag der Veröffentlichung: 09.08.2010

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