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Tante Klara und Tante Alwine waren für mich untrennbar verbunden.

Tante Klara war eine der jüngeren Schwestern meiner Großmutter, klein und rosig und rund.

Die Tante Alwine, ein Jahr älter, war ihre Freundin, groß und grobknochig und mittelschlank.

Irgendwann hatten sie beschlossen, für immer zusammen zu bleiben und bauten in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts ein Haus.
Genau genommen ein halbes Haus, denn die andere Hälfte gehörte einem Bruder der Tante Alwine. Das Haus war im Stil der damaligen Zeit, aus dunkelroten Backsteinen errichtet worden und steht heute noch in der Karstraße in Mönchengladbach.

Die beiden bewohnten das Erdgeschoss. Trat man durch die Eingangstür, ging man sechs Stufen hinauf. Gleich rechts war ein sehr schmaler, etwas längerer Raum mit einem länglichen Fenster, unter dem nur das Klo mit einer Wasserspülung stand. Für die damalige Zeit keine Selbstverständlichkeit.

Gleich neben dieser Räumlichkeit kam man über den Flur in das Wohnzimmer. Es war ausschließlich im Chippendalestil eingerichtet und mit vielen Gobelinstickereien, Kissen und Bilder, die von den Tanten angefertigt worden waren, geschmückt.
Das große Fenster bedeckte ein Wolkenstore aus Florentiner Gardinenstoff.
Die Tanten ließen sich von einem Maler ein Bild mit ihrem Lieblingsmotiv, einer Landschaft vom Niederrhein malen. Ein altes Bauernhaus stand im Hintergrund und ein kleiner Fluss, der am Haus vorbei floss. Von einem Kahn aus wusch eine Frau die Wäsche. Mit einem goldfarbenen Barockrahmen versehen,
prangte dieses Bild über einer Couchgarnitur. Gegenüber stand eine Fernsehtruhe der ersten Generation. Die Bilder sah man in schwarz-weiß und es war immer ein Erlebnis für uns Kinder, wenn wir die Tanten besuchten und einen Heimatfilm dort ansehen durften.

Durch einen schmalen Durchbruch in der Wand, der mit einem grünene Samtvorhang versehen war, gelangte man in die große Küche.
Hier hatten die Tanten, in Ermanglung einer Bademöglichkeit, eine Badewanne einbauen lassen, die durch grüne Resopalplatten so abgedeckt war, dass es aussah, als wäre dort eine Sitzbank, vor der ein großer Küchentisch und noch einige Stühle standen.
Ein großer Herd und ein Küchenschrank, sowie Tante Klaras Handwerkszeug, eine Nähmaschine, vervollständigten den Raum.

Von hieraus ging man durch eine Tür in das Schlafzimmer der Beiden.
Dunkles Nussbaum und wie ein übliches Eheschlafzimmer eingerichtet. Ein Waschbecken hing noch in einer Ecke des Raumes.

„Ess och nix janz normales“ hörten wir die eine oder andere Verwandte, sich zu diesem Schlafzimmer äußern.

Aber was „nix janz normales“ war, haben wir Kinder nicht in Erfahrung bringen können.

Man bedenke, dass 1950 Kinder von sexuellen Dingen nichts wussten und katholische Kinder schon überhaupt gar nichts wissen durften.

Jedenfalls sagte die Tante Alwine, die die gröbere der Beiden war, Klara würde keinen Mann vermissen.
Das war uns auch klar, denn der Krieg hatte so viele Männer hinweggerafft, dass nicht für jede Frau ein Mann übrig geblieben war.

Tante Alwine arbeitete von früh bis spät in einer Weberei und wurde von dem Krach dort mit der Zeit schwerhörig.

Tante Klara hatte das Schneiderhandwerk erlernt und nähte ebenfalls von früh bis spät, auf einer Nähmaschine mit Tretvorrichtung, die in unter dem Küchenfenster stand.
Dabei sang sie unentwegt alte Balladen von liebeskranken Mädchen und treulosen Knaben.

Ich kann mich nicht erinnern, dass die gesamte Großfamilie je ein gekauftes Kleidungsstück besessen hat. Alles, wirklich alles, wurde von Tante Klara genäht.

Die beiden waren mir und meinen zwei Schwestern sehr zugetan und äußerst freigebig.
Die Geschenke zu Weihnachten fielen immer sehr großzügig aus.
Andererseits konnte die Tante Klara sehr energisch werden, wenn wir sie als Teenager baten, unsere Röcke und Kleider enger und kürzer zu nähen, als sie sich das vorstellte.

Es war zur Zeit der Minimode und der dünnen Twiggy aus England. So wollten wir auch ausstaffiert werden.
„Nix da,“ rief sie „ ihr lauft mir net wie die Nutta Tutta herum.“

Was mit “Nutta Tutta“ gemeint war, haben wir auch nicht erfahren können.

Die beiden Tanten lebten bis zu ihrem Tode zusammen und als die Tante Alwine mit siebzig Jahren verstarb, überlebte die Tante Klara sie nur um ein halbes Jahr.

Die Familie hat die Beiden sehr vermisst, denn sie waren durch ihre Großzügigkeit und Feierfreudigkeit, stets ein Mittelpunkt der Freude und der Erholung in unserer turbulenten Familie gewesen.
Jedes größere Familienfest bereiteten die beiden vor, kochten, buken und garnierten die Festtische, dass es eine helle Freude war. Mein Brautkleid nähte Tante Klara auch und es war wirklich so wunderschön, als ob es in einem Brautgeschäft angefertigt worden wäre.


Eine der traurigen Balladen die Tante Klara sang, hab’ ich noch im Ohr:
Sie sang es etwas schrill und im Stil der Berliner Drehorgelspieler, die von Hinterhof zu Hinterhof zogen:

"Als Bänkelsänger zieh ich durchs Land
ein armer Sänger, so bin ich bekannt.

Einmal da spielt’ ich vor preußisch Drakehn,
da spielt ich das Liedchen, wie bist du so scheen.

Da kam ein Schutzmann,
schrie: “Welch ein Graus,
fort mit dem Kasten, orgeln Sie zu Haus!“

Ich fing an zu bitten: „Herr Polizist,
die Orgel mein einzigster Trost noch ist!“
Er aber rief weiter :“Wenn Sie nicht gleich gehen,
dann muss ich Ihnen den Schwengel abdrehn!“

Ich hätt’ ja so gerne noch einmal gedreht,
doch was nutzt mir der Kasten,
wenn der Schwengel fehlt!!!


Tante Klara trat unentwegt das Fußgestell ihrer Nähmaschine, welches das Schwungrad in Bewegung hielt und sang dazu diese und ähnliche Balladen, die sehr zu Herzen gingen.
So habe ich sie heute noch in Erinnerung!


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Tag der Veröffentlichung: 06.08.2010

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