Er war das sechste Kind meiner Urgroßmutter und wurde im April 1903 in Mönchengladbach geboren. Im Alter von drei Jahren setzten ihm spielende Kinder eine Katze in den Nacken. Das Tier krallte sich an den Kopf des schreienden Jungen fest, der kurz darauf bewusstlos zu Boden fiel. Die Kinder rannten weg und Willi wurde erst nach einer Weile von einem vorüber kommenden Nachbarn entdeckt, der die Mutter alarmierte. Man trug das Kind ins Haus und legte ihm kalte Umschläge auf die Stirn. Als er nach einiger Zeit das Bewusstsein nicht wieder erlangte, rief man einen Arzt herbei.
Zu damaliger Zeit waren die medizinischen Mittel noch begrenzt. Der Arzt stellte wohl einen Schock fest, der aber mit Ruhe und Geduld zur Besserung führen würde. Mittlerweile konnten die Geschwister feststellen, wie es zu dem Vorfall gekommen war.
Es dauerte drei Tage, bis Willi wieder völlig zu sich kam. Von nun an ging eine Veränderung mit ihm vor. Der einst völlig normal entwickelte Junge sprach unverständlich und stark stotternd .Er begriff vieles nicht gleich und es schien, als sei sein Verstand stehen geblieben. Die Eltern suchten verschiedene Ärzte auf, die aber auch keine Möglichkeit der Besserung versprechen konnten. So blieb Willi zeitlebens auf dem geistigen Stand eines 5-6Jährigen und das Sorgenkind der Familie. Dazumal gab es keine Einrichtungen, die geistig Behinderte gefördert hätte, so wie dies heute in zahlreichen Kindergärten, Schulen und betreuten Werkstätten der Fall ist. Willi besuchte keine Schule und erlernte auch keinen Beruf. Die größte Angst seiner Eltern bestand darin, was aus ihm werden würde, wenn sie nicht mehr da wären. Die Eltern kamen zu dem Entschluss, dass er stets im Elternhaus wohnen bleiben könnte und wer von seinen Geschwistern das Haus übernehmen würde, sollte weiterhin für den behinderten Bruder sorgen.So geschah es bis zum Jahre 1984: das Haus und Willi blieben zusammen.
Durch die Ereignisse des zweiten Weltkrieges fiel diese Aufgabe meinen Eltern zu und so kannte ich Willi, seit ich denke konnte. Er war für uns Kinder so etwas wie ein älterer Bruder.
Seine Sprache, die Außenstehende nicht verstanden,nahmen wir auf wie eine Fremdsprache, die man durch ständiges Hören auch verstehen lernt.
Auf die Frage, wann er geboren sei, antwortete er: „ Pöö Bottag, Mai Nammtag, aawanti, Jaajang nuu dei.“ – April Geburtstag, Mai Namenstag, am achtundzwanzigsten, Jahrgang 03 -
Er konnte mit uns stundenlang „Mensch ärgere dich nicht“ spielen, da er bis sechs gut zählen konnte und die Regeln des Spiels begriff. Am Abend wurde er mit uns zu Bett geschickt und so hatte ich als Älteste immer das Gefühl, es sei ein Erwachsener in der Nähe. Sein Bett stand gleich neben dem Kinderzimmer und ich konnte ihn hören, wenn er seine Nachtgebete murmelte.
Am Morgen war auf der einzigen Toilette des Hauses immer Stress und Stau. Acht Personen hatten ihre Bedürfnisse, nach den Erfordernissen des Alltags jedes Einzelnen, einzurichten.
Willi sollte da erst einmal im Bett zu bleiben und warten, bis alle anderen, die zur Arbeit oder zur Schule gingen, das Örtchen verlassen hatten. Aber sobald alle aus den Betten waren, hielt es ihn auch nicht mehr an seinem Schlafplatz und er stand jedem im Weg.
„Mott ens. Kann nett mie uuthalde!“ – Muss mal. Kann nicht mehr aushalten –
Mehrfach wurde er von Mutter energisch wieder nach oben geschickt. Sie war seine Nichte und elf Jahre jünger als er, aber er gehorchte ihr bedingungslos. Willi hatte im Laufe der Zeit begriffen, dass sie Respekt einforderte und in der Familie das Regiment führte. Er hatte durchaus seinen eigenen Kopf und wenn er etwas nicht wollte, so reagierte er wie ein trotziges Kind oder er freute sich diebisch über Aufregungen, die er häufig auslöste, in dem er unentwegt Redensarten wiederholte.
So stand er etwa am Fenster, schaute hinaus und wiederholte dutzende Male: „ Söpt ten Rän, wöd tojer!“ – Es gibt keinen Regen, es klart auf – und dass, obwohl es in Strömen regnete.
Nach mehreren Ermahnungen, er solle endlich mit diesem Gerede aufhören, gab er erst Ruhe, wenn meine Mutter ihm androhte, er werde gleich ins Bett geschickt. Dann rieb er sich die Hände und freute sich,sie auf die Palme gebracht zu haben.
Soweit ich mich zurück erinnere, ging Willi morgens gegen neun Uhr aus dem Haus und zur Pfarrei. Hier war er so etwas wie ein Hausknecht. Er wurde von der Haushälterin des Pfarrers
zu Hilfsarbeiten herangezogen und putzte die Schuhe des Herrn Pfarrers, stapelte im Keller die Briketts, schlug Holz klein, welches zum Anfeuern der Heizung des Pfarrhauses benutzt wurde und grub den Garten um.
Jahre zuvor, als ich noch klein war, ging er schon um halb sechs los, da er die Glocken der Kirche läuten musste und um anschließend den Blasebalg der Orgel, für die Frühmesse um sechs Uhr, zu betätigen. Eine seiner Schwestern, die Großtante Trude, die damals auch im Haus lebte, weckte ihn dann um fünf Uhr in der Frühe. Sie kam an sein Bett geschlurft und rief leise: „ Willi, Willi opstonn.“ -aufstehen – Zu ihrem Unwillen antwortete er dann immer: „ Jo, jo, Pappi.“
Mit der Elektrisierung der Kirche und einer neuen Orgel brauchte er diese Arbeit dann nicht mehr zu verrichten.
Von allen diesen Tätigkeiten berichtete er voller Stolz und er wurde ganz rot vor Freude, wenn der Herr Pfarrer als einziger ihn mit: „ Guten Morgen, Herr Jansen!“ ansprach.
Alle anderen nannten ihn sonst nur „Willi“.
Die Haushälterin, Frau Maria Moselage, nur mit „ Fräulein Maria“ angesprochen, war eine gestrenge, gläubige Person, die immer in hochgeschlossener dunkler Bluse, langem Rock und einer weißen Schürze dem Pfarrhaushalt vorstand. Nur über sie erhielt man Zutritt zum Pfarrer Drauschke. Öfter kam es vor, dass sie unliebsame Besucher nicht einließ, mit der Begründung: „ Herr Pastor liest gerade sein Brevier!“
Willi nannte sie respektvoll: „Patur Maia“ - Pastor`s Maria -
Das Fräulein Maria wurde einmal im Jahr von Mutter zum Nachmittagskaffee eingeladen und mit leckerstem Kuchen bewirtet. Mutter saß dann alleine mit dem Fräulein im „guten Zimmer“ und die beiden Frauen hielten so etwas wie einen Elternsprechtag über Willis Verhalten ab.
So wurde erörtert, dass er ständig beaufsichtigt und alles genauestens erklärt bekommen musste. Sollte er z.B. ein Stück Erde im Garten umgraben, so mussten ihm haarkleine Instruktionen erteilt werden, wie weit er arbeiten sollte. Ansonsten hätte er immerzu weiter gegraben, bis zum Ortsausgang mindestens. Im Grunde genommen war er im Pfarrhaus mehr Last als Hilfe, aber aus christlicher Nächstenliebe wurde er vom jeweiligen Pfarrer - Willi überlebte ihrer drei – angestellt. „Patur Fettweiß, Patur Bommes, Patur Dauschke, feine Häär,“ - Pastor Fettweiß, Pastor Bommes, Pastor Drauschke, feine Herrn – so beschrieb Willi die Pfarrer.
Für seine Arbeit bekam der Onkel fünf DM in der Woche. Dies entsprach dem Wert der Reinigungsmittel, die für ihn nötig waren, wenn er schmutzig und verschwitzt nach Hause kam. Trotzdem war die Familie froh über diese kleine Anstellung. Der Pfarrer sorgte wenigstens dafür, dass er in einer Krankenkasse versichert wurde.
Einen Arzt hat Willi, bis auf eine Ausnahme, nur kurz vor seinem Tod benötigt. Er war kerngesund, schlank, ja fast dürr, obwohl er große Mengen essen konnte. Nach jedem Essen putzte er sich mit seinem Taschentuch intensiv den Mund ab und sagte: „Dant sön, jut mettt!“ – Danke schön, gut geschmeckt –
Wenn er seine älteste Schwester, meine Großmutter, ärgern wollte, setzte er mehrere Male hintereinander seine bereits leer getrunkene Kaffeetasse an den Mund, legte den Kopf in den Nacken und tat, als ob er durch lautes Schlürfen noch einige Tropfen aus der Tasse gewinnen könnte. Genervt entriss ihm seine Schwester die Tasse und rief, indem sie ihren Zeigefinger
unter seine Nase hielt und dabei seinen Kopf hoch drückte: „ Iss ett bald jut!“ Schrill rufend setzte sich Willi zur Wehr: „ Owiiiee! Senn loote, mutt net donn!“ – Au weh! Sein lassen, musst nicht tun –
Das Essen schmeckte ihm immer und er aß alles, was er vorgesetzt bekam, jedoch gab er sein Lieblingsessen manchmal allen zur Kenntnis: „ Nuu, Pume, Pädflesch, mett hoofein!“ – Nudeln, Pflaumen, Pferdefleisch, schmeckt hochfein – Pferdefleisch wurde damals zu Sauerbraten verwendetet und dass mundete ihm besonders.
Er rauchte Pfeife und seine Hosentaschen waren stets voll gestopft mit Tabakbeutel, Pfeife, Pfeifenreiniger, Pfeifenstopfer und mehreren Döschen Streichhölzer. Da sonst niemand im Haus rauchte, ging er auf den Hof um sein Pfeifchen zu genießen. Dabei hielt er laute Selbstgespräche und lachte vor sich hin.
Am Nachmittag, wenn er aus dem Pfarrhaus kam, grub er, nach genauen Anweisungen, den Garten zu Hause oder den Garten im Anwesen seines Vetters um und machte sich auch durch andere kleine Aufgaben nützlich.
Nach dem Abendessen setzte er sich hin und mein Vater sagte: „ Ah, jetzt macht Willi seine Buchführung!“ Dazu benötigte Willi alte, noch nicht beschriebene Notizbücher und einen Bleistift, er bekam erst einen neuen Bleistift, wenn er so klein war, dass er ihn nicht mehr halten konnte. Nun schrieb Willi die Zahlen 1 bis 10 untereinander. Danach tippte er mit dem Stift von oben anfangend auf jede Zahl und las laut:„ ei,wei,dei,vär,fönf,sääs,sieve,aa, nüng,tän .“
- eins, zwei ,drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht ,neun ,zehn – bei der Zehn angekommen, strich er diese Zahl durch und fing wieder von vorne an zu zählen. Kam er bei der Neun an, strich er diese weg und so verfuhr er mit allen Ziffern, bis er zum Schluss die Eins durchstrich. Danach freute er sich, rief:„Pima, pima! – prima, prima – und fing wieder neu an.
So füllte er im Laufe seines Lebens hunderte von Notizbücher und zu Weihnachten und seinem Namenstag schenkten wir ihm, neben Kleidung, Pfeifen, Tabak und Süßigkeiten, stets eine Reihe von Schreibutensilien für seine „Buchführung“, über die er sich am meisten freute.
Am Samstagabend, nachdem er mit Hilfe meines Vaters gebadet und rasiert worden war, ging er in die Wirtschaft. Diese lag am Ende der Straße, etwa zehn Minuten entfernt. Hier hatte Willis Mutter, Jahre zuvor mit der ihr bekannten Wirtin, der "Wilms Trina" ein Abkommen ge-
schlossen: er saß an einem Tisch in Sichtweite der Wirtin und bekam nur von ihr seine Getränke, wie Willi stolz berichtete:„ wei Bier,wei Näpten.“ - zwei Bier, zwei Schnäpschen – dazu kaufte er sich zwei Zigarren. Willi genoss den Abend und hörte den Reden der immer gleichen Tischgenossen, die ihn auch kannten, zu. Dabei hielt"Wilms Trina immer ein Auge auf ihn damit niemand mit ihm Blödsinn veranstaltete oder ihm heimlich mehr zu trinken gab. Punkt neun Uhr schickte sie ihn nach Hause. Als diese Wirtin verstarb, übernahm ein Fremder das Lokal und da Willi nun über siebzig Jahre alt war, ging er nicht mehr dorthin.
Willi hatte einen Bruder Josef, welcher in Korschenbroich wohnte. Dort wurde jedes Jahr zu Pfingsten ein großes Schützenfest gefeiert. Der Bruder lud Willi stets am Pfingstmontag zur Parade ein. Meine Großmutter brachte ihn früh am morgen zur Straßenbahnhaltestelle und schärfte dem Fahrer ein, ihn bis zur Endhaltestelle der Linie sieben, im Stadtteil Lürrip, mitzunehmen.
Sie bezahlte seine Fahrkarte und er bekam einen Sitzplatz hinter dem Fahrer und er hatte einen Zettel mit seinem Namen und seiner Anschrift im Geldbeutel stecken. An der Endhalte- stelle holte sein Bruder ihn ab und man ging zu Fuß bis nach Korschenbroich.Ein Auto hatte damals niemand und stundenlange Fußmärsche waren selbstverständlich. Nach der farben-
prächtigen Parade und der Kaffeetafel bei seinem Bruder, kam Willi abends auf umgekehrtem Weg zurück und er schwärmte wochenlang von dieser Reise.
Meine Mutter war, selbst als alle Kinder aus dem Haus waren und ihre Großmutter und Mutter verstorben waren, noch immer durch Willi ans Haus gefesselt, den man nicht über Nacht alleine lassen konnte. Sie wäre liebend gern mit Vater auf Reisen gegangen und sie äußerte häufig, dass sie sich wünschte, endlich einmal die Haustüre hinter sich abzuschließen, ohne dass noch jemand im Haus wäre.
Als sie kurz nach dem Krieg, in dessen Verlauf sich ihr Schicksal entschied und sie den Onkel in ihre Familie übernahm, hat sie sehr wohl diese Bürde so manches Mal erdrückend empfunden.
Der Hausarzt, ein Dr. Hagen, erklärte ihr damals:„Den Jungen können sie ruhig nehmen, so Leute werden nicht alt.“ Einmal gingen ihr die Pferde durch, weil Willi ihr mal wieder sehr auf die Nerven ging und sie rief: „ Ech könnt demm Haage ut de Kess hole, de es aal lang fuul und de löpt noch emmer erömm!“ - Ich könnte diesen Dr. Hagen aus dem Sarg holen, der ist schon lange verfault und Willi läuft noch immer herum –
An einem späten Nachmittag, in der letzten Adventswoche Ende der fünfziger Jahre, schickte die Pfarrhaushälterin Willi mit einem Einkaufszettel in ein Geschäft, wo er noch einige Zutaten zur Weihnachtsbäckerei abholen sollte.
Willi war immer sehr aufmerksam und vorsichtig, wenn er eine Straße überqueren musste.
Es war schon dunkel und neblig und er hat wohl nicht richtig gesehen, dass ein Auto in unmittelbarere Nähe war. Ein großer Mannschaftswagen des englischen Militärs erfasste ihn und mehrere Leute, die diesen Unfall beobachteten, sprachen hinterher von einem Wunder. Willi wurde unter das Fahrzeug geschleudert, kam aber nicht unter die Räder und stand blitzschnell hinter dem Wagen wieder auf und lief weiter. Dann brach er jedoch bewusstlos am Straßenrand zusammen und wurde ins Krankenhaus gebracht. Hier diagnostizierte man keine Knochenbrüche oder schwere innere Verletzungen, nur einige Prellungen und Platzwunden, sowie eine leichte Gehirnerschütterung. Nach wenigen Tagen war er wieder genesen und konnte das Krankenhaus noch vor Weihnachten verlassen.
„Ja,ja“ sinnierte Mutter „wenn das ein Vater von vielen Kindern gewesen wäre, der hätte dies nicht überlebt.“
Es war schon erstaunlich, dass Willi am längsten von seinen sieben Geschwistern lebte.
Er wurde 81 Jahre alt und langsam immer schwächer, aber nicht krank.
Die Hausärztin konnte nichts feststellen und so lag Willi ruhig und meist schlafend auf der Couch im Wohnzimmer, damit meine Eltern ihn ständig im Blick hatten.
Essen wollte er kaum noch etwas, nur trinken.
Wir kamen alle zu ihm und Vater stand am Fußende seines Bettes und fragte ihn: „Willi, was darf man nie vergessen?“ Er erwartete, dass Willi sagen würde:„Beten.“
Aber seine Antwort war:„Oom schöppe!!“ – Atem schöpfen –
Wir lachten alle herzhaft und Willi lachte mit.
Wenige Tage später starb Willi friedlich im Schlaf, der letzte seiner sieben Geschwister.
Mein Vater überlebte ihn zehn Jahre, meine Mutter sechszehn Jahre und ihnen gehört große Anerkennung, dass sie ihr Versprechen gehalten haben und Willi nicht in ein Heim gaben, so wie sie es seiner Mutter versprochen hatten.
Wir Schwestern und mein Vetter Paul,erzählen bis heute am meisten über ihn und lassen seine Sprache auferstehen, in dem wir manchmal„Willisch“ miteinander reden.
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Texte: by Annelie Heyer
Tag der Veröffentlichung: 30.07.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Ich widme das Buch meiner Urgoßmutter, meiner Großmutter, meiner Mutter und meinem Vater.
Sie alle sorgten für ihn bis zu seinem Tod.