Mein Vater
Beim Auferstehungsgottesdienst zur Beerdigung meines Vaters war die Pfarrkirche „St. Michael“ in Mönchengladbach-Holt bis auf den letzten Platz gefüllt. Vier Jahre zuvor hatten meine Eltern ihr Haus in Holt verkauft und waren nach Wachtendonk gezogen. Sie hatten sich ausbedungen, in ihrer alten Heimat beerdigt zu werden. Der Pfarrer kannte meinen Vater sehr gut, der als strenggläubiger Katholik, stets eng mit der Kirche verbunden und zahlreiche Aufgaben in der Pfarre jahrelang wahrgenommen und gewissenhaft ausgeführt hatte.
In der Predigt, die ganz auf das Wirken und Leben meines Vaters zugeschnitten war, sagte der Pfarrer einen Satz, der mich nachdenklich machte, den ich aber im Nachhinein wohl verstand.
„Herr Schmitz, “ so sagte der Pfarrer „ war sein Leben lang gewissenhaft bemüht, das Richtige zu tun, aber man konnte sich an ihm reiben.“
Der Pfarrer war beim Tode meines Vaters 1991 etwa Mitte vierzig, mein Vater achtundsiebzig Jahre alt. Mit seiner konservativen Haltung hatte er den Pfarrer sicher manches Mal genervt.
Mein Vater, der mittlere von drei Brüdern, Hans, Josef und Albert, war erst neun Jahre alt, als sein Vater starb.
Seine Mutter, eine ruhige, arbeitsame und sehr wohltätige Frau, erzog ihre Söhne von nun an alleine. Sie lebte in ihren letzten Lebensjahren mit ihrem jüngeren Sohn Albert in Mönchengladbach-Hardterbroich, die letzten neun Monate in einer Nervenheilanstalt.
Ich kannte sie durch Besuche, die sie gelegentlich bei uns machte. Im Sommer fuhr ich hin und wieder zu ihr. Mein Vater, der den großen Nutzgarten seiner Mutter in Ordnung hielt, nahm mich dann manchmal mit zu der „Hardter-Oma –broich“. So nannten wir Kinder die Mutter meines Vaters. Sie starb, als ich neun Jahre alt war. Ich habe sie stets in schwarz gekleidet und mit einem geflochtenen Knoten im Nacken gesehen. Liebvoll, immer ernsthaft und sehr still, geprägt von einem harten Leben in großer Frömmigkeit.
Mein Vater glich ihr wohl am meisten und hing sehr an ihr. Das Grab seiner Mutter pflegte er über dreißig Jahre, obwohl er hierzu einen langen Anfahrtsweg benötigte. In seinem Elternhaus in Mönchengladbach-Hardterbroich erlebte er eine strenge Kindheit und er erlernte den Beruf eines Schneiders. Er arbeitete als Zuschneider in einer Herrenkonfektionsfirma in Mönchengladbach und hier lernte er 1938 meine Mutter kennen, die in der gleichen Firma als Buchhalterin beschäftigt war.
Meine Mutter verliebte sich in den großen, schwarzhaarigen, sehr gut aussehenden Mann. Auch charakterlich erwies er sich als tadellos und so stand einer Verbindung nichts im Wege. Am 30.3.1940 heirateten sie und konnten ihre ersten Ehejahre wenig genießen, da der 2. Weltkrieg ihre Lebensplanung nicht ermöglichte. Als Soldat wurde Vater bei Kämpfen im russischen Dnjeperpetrowsk und in Stalingrad verwundet und geriet nach einem Genesungsurlaub, am Ende des Krieges, noch in amerikanische Gefangenschaft.
Als er im Juni 1945 entlassen wurde und nach Hause kam, war meine Mutter mit mir nach Ostdeutschland, in dem Ort Oschersleben. Dieser Bezirk gehörte seit Mai 1945 zur russischen Besatzungszone. Hierhin waren wir Mitte 1944 evakuiert worden und saßen nun dort fest. Ich war damals drei Jahre alt und Vater hatte mich erst einmal gesehen. Er eilte in tagelanger mühsamer Reise durch das zerstörte Deutschland zu seiner kleinen Familie und holte uns auf gefahrvollen Wegen zurück.
Ich wäre beinahe der Anlass gewesen, dass mein Vater von russischen Soldaten auf dieser Flucht verschleppt worden wäre! Im Schutz der Dunkelheit mussten wir einen kleinen Fluss überqueren und mein Vater trug mich hinüber. Als ich merkte, dass er immer tiefer mit mir ins Wasser hineinging, fing ich an zu schreien. Daraufhin erschienen am anderen Ufer zwei russische Soldaten, leuchteten mit starken Taschenlampen und hielten ihre Gewehre im Anschlag. Es waren noch mehrere Frauen mit ihren Kindern bei uns und alle weinten und flehten um ihr Leben. Eine sprachliche Verständigung war nicht möglich und so hielten alle ihre Wertsachen den Soldaten hin. Diese ließen sich tatsächlich darauf ein.
Der Anblick eines dieser Soldaten hat sich in mein Gedächtnis eingeprägt. Einer schob einen Ärmel seiner Uniformjacke hoch und befestigte die erbeuteten Uhren an seinem Arm. Sie reichten vom Handgelenk bis zum Ellenbogen, dicht an dicht. Den Arm hocherhoben, in der anderen das Gewehr, stieg er mit seinem Kameraden in den Fluss und ließ uns laufen.
Der Freude der Familie in Mönchengladbach-Holt war riesig, als wir erschöpft aber heil und gesund nach vielen Wochen zurückkamen. Das Haus war nur durch eine kleinere Brand- Bombe auf dem Speicher leicht beschädigt worden und bewohnbar geblieben. Nach kurzer Zeit fand mein Vater auch wieder Arbeit und wurde Geschäftsführer in einer wieder aufgebauten Hosenfabrik in Rheydt-Geneiken.
Er verdiente für damalige Verhältnisse sehr gut und somit war der Unterhalt der wachsenden Familie gesichert. Im Oktober 1946 und im Juni 1949 wurden ihm noch zwei Töchter geboren und somit waren wir nun acht Personen im Haus.
Vater erbte ein Grundstück und kaufte aus diesem Erlös ein an unseren Garten grenzendes Stück Ackerland, welches er als Gartenliebhaber zu einem großen Nutzgarten verwandelte. Viele Obstbäumen, alle nur denkbaren Gemüse- und Blumensorten, versorgten uns alle stets mit frischem Obst und Gemüse. Im Sommer und Frühherbst war jeder in der Familie mit der Verwertung der Ernte wochenlang, Tag für Tag, beschäftigt. Es wurde eingeweckt, eingelegt, Obst zu Marmeladen und Gelees verarbeitet, Kartoffeln eingekellert und Äpfel und Birnen in die kühlen Kellerregalen eingelagert, Weißkohl und geschnibbelte Stangenbohnen in großen Tontöpfen eingestampft, damit auch im Winter die Mahlzeiten gesichert waren. So konnte viel Geld gespart werden, da diese Lebensmittel nicht eingekauft werden mussten.
Alle waren voll des Lobes über Vaters Fleiß und Geschick, so unermüdlich für alle zu sorgen. Sicher hat er auch ein wenig Abstand von der zahlreichen Familie gebraucht und genoss die ruhige Arbeit und das Alleinsein in seinem schönen Garten sehr. Sein zweites Hobby war das Fotografieren. Er stellte ganze Serien von Fotos und Dias zu verschiedenen Themen her. Seinen Garten fotografierte er liebevoll in den jeweiligen Jahreszeiten und erzählte dazu von seinen Eindrücken und Erlebnissen.
Ebenso verfuhr er mit seinen Reisen z. B. durch Finnland und den Besuchen in mehreren Wallfahrtsorten im In- und Ausland. Tausende von Dias und dazu gehörigen Tonbändern sind bis heute als Zeugnis seines Lebens erhalten und befinden sich noch in der Familie. Als er in Rente ging, stellte er aus diesem Material Vorträge zusammen, die er in Altenheimen und interessierten Vereinen vorstellte. Anschließend reichte er eine Sammelbüchse herum und schickte dieses Geld an eine Leprastation nach Afrika in Mutumba. Hier arbeitete eine Missionsstation eines katholischen Ordens, der in Vallendar am Rhein ein großes Kloster führte.
Am Abend widmete er sich noch zahlreichen Vereinen. Wie dem Kolpingsverein, einem Gartenbauverein, der KAB, dem Kirchenvorstand und viele Jahre war er als Schöffe am Jugendgericht des Landgerichts Mönchengladbach. Das Leben in der Kirchengemeinde lag ihm besonders am Herzen und so organisierte er z.B. eine Gruppe von Frauen, die ehrenamtlich wechselweise wöchentlich die Pfarrkirche putzten.
Er rauchte und trank nicht, trotzdem war er ein humorvoller Mensch, der, wohl auch der Zeit entsprechend, ganz genaue Prinzipien hatte und davon nie abwich. Er war ein strenger Vater, der alles für seine drei Kinder tat, aber auch erwartete, dass seine Sicht der Dinge von allen akzeptiert wurde. Sonntags nach der Kinderandacht ging er mit uns Kindern viele Kilometer in den Hardter Wald und wanderte im Sommer mit uns von Jugendherberge zu Jugendherberge, häufig durch die Eifel.
Das Verhältnis zu meinem Vater wurde aber schwierig, als ich als Jugendliche heranwuchs. Ab achtzehn Jahren war ein Ausgehen mit der Auflage verbunden, um neun Uhr zu Hause zu sein. Der entsprechende junge Mann musste sich erst vorstellen und ihm wurden einige Fragen zu seinem Elternhaus und seiner Ausbildung gestellt. Mit wenigen Worten und einem sehr strengen Blick ließ mein Vater mich dann mitfahren.
Das aber schreckte so viele Jünglinge ab, dass ich auf die tollsten Ideen kam, ohne Musterung einmal wegzubleiben. Da kam es auch schon vor, dass mein Vater kontrollierte, wo ich wohl war und ob ich die Wahrheit gesagt hatte.
Damals war man erst mit 21 Jahren mündig und ein Fortziehen aus dem Elternhaus alleine und ohne Aufsicht, schier undenkbar. Nur so ist zu verstehen, dass ich an meinem 21. Geburtstag heiratete und nun dachte, endlich tun und lassen zu können, was ich wollte. Da ich hier die Geschichte meines Vaters schreibe, will ich nicht weiter auf meine frühe Heirat eingehen.
Erst als ich so etwa vierzig Jahre alt war, konnte ich meinem Vater besser verstehen und ein herzlicheres Verhältnis aufbauen. Seine oft harten Ansichten zu moralischen Bewertung wurden im Alter milder. Dazu trug auch meine Mutter bei, die den Wechsel des Zeitgeistes gelassener sah. Denn wenn Mutter sagte: „ Josef, ich bitte dich, wir leben nicht mehr wie vor fünfzig Jahren!“ – seufzte Vater tief, schüttelte mit dem Kopf und ich hatte den Eindruck, er resignierte und es war nicht ganz klar, was er am liebsten geantwortet hätte.
Für sich selber war er völlig anspruchslos und mit allem zufrieden, was sein körperliches Wohlbefinden betraf.
Da er sehr gesund lebte, erstaunte es umso mehr, dass er Anfang seines siebzigsten Lebensjahres an Osteoporose erkrankte und langsam immer mehr dahinsiechte. Dutzende verschiedene Behandlungen halfen nichts und er hatte große Schmerzen, die er, so wenig wie nur möglich, erwähnte.
Aber man sah es ihm an und ich verglich ihn einmal mit „Hiob“, der auch in größter Not und Krankheit nie an seinem Gott gezweifelt hatte und am Ende dafür belohnt wurde. Vater sah mich an und sagte matt: „ So schlimm, wie Hiob gelitten hat, ist es bei mir wohl noch lange nicht!“
Er starb am 28.1.1991 mit 78 Jahren nach einem Schlaganfall, den er drei Wochen, ohne das Bewusstsein wieder erlangt zu haben, überlebte.
Tag der Veröffentlichung: 26.07.2010
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