Die Großmutter
Ömken so nannten wir drei Schwestern unsere Großmutter.
Sie wurde am 27.9.1891 in Wassenberg geboren. Maria war die Älteste von sieben Kindern der Eheleute Anna und Franz Jansen. Früh schon half sie ihrer Mutter bei den vielen Arbeiten in der ständig wachsenden Familie und diese Rolle behielt sie bis zu ihrem Todestag am
3.5.1976.
Die „Oma fürs Gröbste“, in des Wortes schönster Bedeutung, so war und blieb sie für uns alle. Ihr Tod war ein Spiegelbild ihres Lebens: nur niemandem zur Last fallen. Am Morgen war sie noch ohne jedwede Beschwerden einkaufen gegangen, am Mittag wurde ihr übel und sie klagte über Schmerzen in der Brust. Der herbeigerufene Arzt ließ sie in ein Krankenhaus einweisen und da dies so unglaublich war, rief meine Mutter ihre drei Töchter an.
Ich fuhr ins Krankenhaus und kam mit dem Krankenwagen, der „Ömken“ transportierte, gleichzeitig an.
Als ich mich über sie beugte und sie küsste, drückte sie meine Hand und sagte: „ Denk dran, Kind, sag in der Aufnahmestation, dass ich in Wassenberg, nicht in Keyenberg geboren bin.“
Dies waren ihre letzten Worte. Dann wurde sie in einen Untersuchungsraum gefahren. Sie war zu diesem Zeitpunkt noch klar ansprechbar. Als nach einer halben Stunde der sie behandelnde Arzt uns mitteilte, dass sie ihm soeben unter den Händen verstorben sei, war dies für uns so unfasslich, dass meine Mutter, meine Schwestern und ich wie betäub an ihr Sterbebett traten.
Wie konnte sie so einfach sterben, ohne jede Vorwarnung und ohne dass wir ihr für selbstloses, immer helfendes Dasein danken konnten?
Ich war ihre älteste Enkelin und ihr Patenkind und hatte ein besonders inniges Verhältnis zu ihr. Ihren plötzlichen Tod konnte ich nur akzeptieren, weil mich ihr schnelles Sterben, ohne eine vorhergehende lange Leidenszeit, wirklich tröstete.
Im Jahre 1913 heiratete die Großmutter den Postbeamten Hubert Korsten. Meine Mutter war ihr einziges Kind. Eine zweite Tochter Anni starb kurz nach ihrer Geburt. Nach ihrem Vater wurde meine Mutter Hubertine genannt, aber immer Tinni gerufen.
Die Ehe der Großeltern dauerte nur wenige Jahre, denn der Großvater starb an den Folgen einer Schusswunde am Hals, die er kurz vor Ende des ersten Weltkrieges 1918 erlitt. Er wurde in seinem Heimatort auf dem Ehrenfriedhof in Mönchengladbach-Holt beigesetzt und sein Grabkreuz, des zweite von links neben dem Kriegerdenkmal, ist bis auf den heutigen Tag dort erhalten.
Als junge Witwe mit einer Tochter kehrte meine Großmutter in ihr Elternhaus zurück und lebte ausschließlich im Kreis der Großfamilie als dienstbarer Geist und Blitzableiter für alle.
Sie hat nie so etwas wie Selbstverwirklichung gekannt, dabei war sie eine gutaussehende Frau, wie auf vielen Fotos zu erkennen ist, die durchaus einen neuen Mann gefunden hätte.
Sie war groß und schlank und hatte dunkle große Augen. Das dunkle, dichte Haar trug sie in jungen Jahren in schwungvollen Hochsteckfrisuren. Selbst als sie über siebzig Jahre alt war, blieb ihr Haar fast gänzlich schwarz ohne chemische Zutaten.
Sie legte großen Wert auf gepflegte Kleidung, obwohl sie als junge Kriegerwitwe mit einem Kind nicht viel Geld zur Verfügung hatte. Aber eine ihrer Schwestern war Schneiderin geworden und sie konnte ihr bei dieser der Arbeit zur Hand gehen und so trugen sie und ihre Tochter stets modische Kleider.
Immer war sie für alle in der Familie da, hart arbeitend, denn sie wollte es stets jedem Recht machen und ich kann mich nicht entsinnen, dass sie einmal aus dieser dienenden, helfenden Rolle herausgekommen wäre.
Im Haus lebten vier Generationen unter einem Dach. Dazu gehörten die Urgroßmutter Anna, die Großmutter Maria, ihr geistigbehinderter Bruder Willi, meine Mutter Tinni, mein Vater Josef, meine jüngeren Schwestern Else und Hiltrud und ich
Ohne Unterlass musste für acht Personen gekocht, gewaschen, gebügelt geflickt und das Haus in Ordnung gehalten werden. Im Sommer wurden Berge von Obst und Gemüse aus dem großen Nutzgarten für den Winter eingeweckt und in allen möglichen Variationen haltbar gemacht werden. In meiner Kindheit gab es so gut wie keine der heute
selbstverständlichen elektrischen Hilfen. Von der „guten alten Zeit“ konnten die Frauen damals sicherlich wenig für sich selber erkennen.
Das „Ömken“ war eine Frau, die bis in ihr hohes Alter von 85 Jahren, stets kerzengerade und mit schnellen Schritten einherging. Zwar teilten sich meine Mutter und sie die tägliche Arbeit, jedoch übernahm die Großmutter immer die körperlich anstrengenderen Aufgaben.
Meine Mutter, ihre einzige Tochter, die häufig krank war, konnte sich glücklich schätzen, eine so immerwährende Hilfe zu haben.
Nicht jeder von uns hatte aus Platzmangel in dem Einfamilienhaus ein eigenes Bett. So schlief ich viele Jahre als Kind mit „Ömken“ in einem breiten Bett, in ihrem damaligen Schlafzimmer im Erdgeschoss. Ich fand das herrlich, denn es war so schön kuschelig, fest an sie geschmiegt zu liegen und Geschichten von früher, die ich über alles liebte, ständig neu von ihr erzählt zu bekommen. Nicht immer ging sie gleichzeitig mit mir ins Bett und das fand ich traurig.
Die Großmutter konnte es auf den Tod nicht ausstehen, wenn im Hause Veränderungen und damit verbundene Renovierungen anstanden. Meine Mutter hingegen liebte es, unterstützt von der Schwester ihrer Mutter, der Großtante Klara, die wenige Minuten entfernt wohnte, wenigstens einmal im Jahr die Möbel umzustellen.
Ich kann es kaum noch vollständig zusammenbringen, wie oft und wann das Haus umgekrem-
pelt und damit, auch durch den Kauf neuer Möbel, verschönert wurde.
„ Watt enne Schwindel, de janze Pröll, de bruckt kä Mensch!“ rief „Ömken“ ein ums andere Mal. Sie konnte sich gut von Sachen trennen, die ihr nicht mehr nötig erschienen.
Gelegentlich gelang es meiner Mutter, sie vor solchen Maßnahmen für ein paar Tage mit ihrer Schwester Trude zur Erholung in ein Damenstift nach Rheinbreitbach zu schicken.
Ansonsten hat Großmutter selten das Haus verlassen.
Einmal im Jahr fuhr sie zu einer eintägigen Wallfahrt mit dem Bus nach Kevelaer. Wir drei Schwestern und der Onkel Willi, durften mit. Es wurde gebetet, gesungen und viele Kerzen für verschiedene Anliegen an die Gottesmutter in der Gnadenkapelle entzündet. Rosenkränze konnten gekauft und gesegnet werden und wir Kinder suchten uns ein kleines Andenken aus.
Sonntagnachmittags ging „ Ömken“ mit ihrer Schwester Trude zum Friedhof und trank anschließend eine Tasse Kaffee bei ihr.
Die Beiden fuhren eines Tages mit meinem Mann, unserem kleinen Sohn Erik und mir ans Meer nach Holland. Wir hatten uns einen Wohnwagen gemietet und landeten auf dem wunderschönen Campingplatz „Toppersheodje“ in der Nähe von Ouddorp.
Vorher hatte die Großmutter darauf bestanden, dass wir einen garantiert wasserdichten und unsinkbaren Campingwagen besorgten. Den fanden wir auch, leider war er etwas zu klein.
Da aber schönes heißes Wetter war, konnten wir den ganzen Tag im Freien verbringen.
Die Großmutter war damals 76 Jahre alt, die Tante Trude wenige Jahre jünger und beide hatten noch nie das Meer gesehen. Sie waren überwältigt und das Schauspiel von Ebbe und Flut faszinierte sie aufs höchste.
Auch das Campingleben begeisterte sie, zumal neben uns zwei ältere Holländerinnen wohnten, mit denen sie sich anfreundeten, nachdem die sie ihnen überzeugend ihren Abscheu vor den Nazis und dem zweiten Weltkrieg dargestellt hatten.
Am Eingang des Campingplatzes wurde jeden Tag die Uhrzeit des höchsten Wasserstandes angezeigt. Die Tante rief dann stets ihre Schwester: „ Komm, Meia, de Flut kütt!“ Dann gingen sie los und erfreuten sich an der weiten Sicht über das Meer und seinem würzig, salzigen Wohlgeruch. Dies alles gefiel den beiden so gut, dass sie noch mehrere Jahre mitfuhren.
Die Großmutter hatte sicher kein einfaches Leben und vielleicht auch Träume und Hoffnungen gehegt, die sich nicht erfüllten. Doch für uns Kinder war sie die liebste Großmutter, die man sich nur wünschen konnte.
Es gab noch eine kleine Seltsamkeit in unseren Generationen:
Ich wurde geboren als meine Großmutter noch 50 Jahre alt war.
Mein Sohn wurde geboren als meine Mutter 50 Jahre alt war.
Meine erste Enkelin wurde geboren als ich 50 Jahre alt war.
Tag der Veröffentlichung: 24.07.2010
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