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Meine Urgroßmutter kam aus Wassenberg, der Urgroßvater aus Keyenberg. Diese Orte, im heutigen Kreis Heinsberg, liegen etwa 30 km auseinander. Geht man querfeldein, dies tat der Urgroßvater Franz wohl auch, als er 1885 die Urgroßmutter freite, dann wird er, trotz Abkür-
zungen sicherlich mehrere Stunden gelaufen sein. Ein Fortbewegungsmittel hatte er nicht.

Das machte der Urgroßvater jeden Sonntag, ein Jahr lang, dann hatte er die Mutter seiner Auserwählten von seinen ehrlichen Absichten überzeugt und die Ur-Urgrossmutter gab ihren
Segen zu dieser Verbindung. Der Ur-Urgroßvater war bereits am 27.11.1876 in Wassenberg gestorben.

Der Ur-Urgroßvater, Hubertus Jacobus Wittgens geb. am 2.12.1824 in Neuß, war ein hoch angesehener, künstlerisch begabter Tischlermeister,der in der alten Wassenberger Propsteipfarrkirche St. Georg die Kirchenbänke geschreinert und mit kunstvollen Schnitzereien an den Seiten gestaltet hatte Bei einem Luftangriff während des Krieges im Jahre 1944 brannte die Kirche bis auf den Turm ab und von den Kirchenbänken blieb keine erhalten.
In erster Ehe war er mit einer Elisabeth Thißen verheiratet, die am 30.7. 1859, nach nur dreijähriger Ehe, verstarb. Seine zweite Frau, meine Ur-Urgrossmutter Maria Antonetta Wittgens geb. Messmann vermählte sich mit dem Witwer am 18.10. 1861 in Wassenberg.

Sie bekamen drei Kinder, zwei Töchter, Gertrud und Anna und einen Sohn Petrus.
Die älteste Tochter, die Urgroßtante Gertrud heiratete nicht und ließ aus ihrem elterlichen Vermögen einen begabten Waisenknaben studieren. Sie begleitete ihn sein Leben lang und er war in unserer Familie als der „Studienrat Bock aus Beckum bei Münster“ ein Begriff.

Meine Urgroßmutter Anna Catharina wurde als zweites Kind der Familie am 17. Oktober 1865 in Wassenberg geboren. Nach ihrer Heirat hieß sie Anna Jansen und zog mit ihrem Mann nach Mönchengladbach. In den ersten Jahren bekamen sie keine Kinder. So pilgerten sie zu verschiedenen Marienwallfahrtsorte und baten die Gottesmutter um Kindersegen.
Als 1891 das erste Kind, meine spätere Großmutter, geboren wurde, gab man ihr den Namen Maria zum Dank an die Gottesmutter
Es folgten in schöner Reihenfolge, bis zum Jahre 1907, die Kinder Jakob, Gertrud, Josef, Klara, Willi und Else. Ein kleiner Sohn Franz starb kurz nach seiner Geburt.

Nun beteten die Urgroßeltern: Herr, hör auf mit deinem Segen!

Anfang 1910 bauten meine Urgroßeltern in Mönchengladbach-Holt, Immelmannstr.124
ein Haus, welches bis zum Jahre 1986 in der Familie verblieb und in dem ich meine Kindheit und Jugendzeit verbrachte.

Schwere Schicksalsschläge blieben der wachsenden Familie nicht erspart.
So erkrankte während einer großen Typhusepidemie im Jahre 1912, bis auf den Sohn Willi, alle Familienangehörige. Der älteste Sohn Jakob starb und der Sohn Josef erblindete auf einem Auge.
Über den Tod seines Sohnes Jakob kam der Urgroßvater nicht hinweg, denn gerade er war sein ganzer Stolz, da er außergewöhnlich begabt gewesen war. Er spielte wunderschön die
Zither und befand sich mit seinen erst 18 Jahren bereits in der höheren Laufbahn ein Post-
inspektors.
Der Urgroßvater haderte mit seinem Gott und rief in seiner Verzweiflung: „Herrgott, lieber diese beiden als den einen.“

Mit den beiden anderen meinte er den halb erblindeten Josef und den geistig zurückge-
bliebenen Willi.
Diesen Satz hat seine Familie ihm lange Zeit nicht vergeben können und es wurde still im Haus.
Nur allmählich konnte er diesen Schlag verwinden.

Ich selber habe den Urgroßvater nicht kennen gelernt, denn er starb vor meiner Geburt im Jahre 1937.
Die Urgroßmutter war eine strenge Mutter aber als Urgroßmutter – ich wohnte mit ihr in einer Großfamilie – eine sehr liebe Frau. Sie starb, als ich zwölf Jahre alt war, im Alter von fast
90 Jahren.
Mit 75 Jahren fiel sie bei einem Einkauf in einem Lebensmittelgeschäft in der Nachbarschaft
über eine zerbrochene Ölflasche und brach sich den Oberschenkelhalsknochen. Zu damaliger Zeit konnte der Bruch nicht so geheilt werden, dass sie wieder gehen konnte.

So saß sie die letzten 15 Jahre ihres Lebens am Fenster in der Wohnküche und strickte unentwegt für die ganze Familie Strümpfe, Socken, Pullover, Röcke, Hosen, Leibchen für die
Befestigung der langen Strümpfe, und alles mit hübschen Mustern und in wunderschönen Farbkombinationen.

Am Abend trug mein Vater sie in den ersten Stock hinauf in ihr Schlafzimmer und am frühen Morgen wieder hinunter.

Nie hörte ich sie jammern und klagen. Wenn sie nicht den Rosenkranz betete, erzählte sie uns drei Mädchen, ihren Urenkelinnen, Geschichten.
Im Sommer saß sie draußen auf dem Hof und half beim Einkochen, indem sie Obst und Gemüse vorbereitete. Ich sehe sie heute noch so sitzen, stets ganz in schwarz gekleidet.

Samstags nachmittags kam der Pfarrer mit einem Messdiener und brachte ihr die heilige
Kommunion. Dazu wurde ihr weißes Haar von meiner Mutter besonders schön zu einem Nackenknoten geflochten und die Urgroßmutter steckte eine wertvolle Brosche an den Stehkragen ihres Kleides.
Diese Brosche wurde stets an die älteste Tochter der Familie weitergegeben und somit ist sie nun in meinem Besitz und ich werde sie an meine älteste Enkelin Lisa weitergeben, da ich keine Tochter habe.
Bevor der Pfarrer kam, wurde der kleine Tisch, der vor der Urgroßmutter stand, mit einem weißen Tischtuch bedeckt. Darauf kam ein Standkruzifix mit einem Weihwasserbehälter und zwei Kerzen wurden neben dem Kreuz entzündet. Sobald der Pfarrer das Haus betrat, versammelte sich die ganze Familie im Raum und es wurde gebetet.
Wenn die Urgroßmutter zu beichten wünschte, verließen wir so lange den Raum. Nachdem die Urgroßmutter die Kommunion erhalten hatte, segnete uns der Pfarrer und der Messdiener ging vor ihm, mit einem Glöckchen klingend, hinaus.

Nach einer kleinen Operation verstarb 1946, zur größten Trauer der ganzen Familie, Else, die jüngste Tochter der Urgroßmutter im Alter von 39 Jahren an einer Embolie. Sie hinterließ einen elfjährigen Sohn. Ihr Mann Paul, der zu dieser Zeit noch als vermisster Soldat des zweiten Weltkrieges galt, kam nie wieder.
Ich kann mich sehr gut daran erinnern, wie die Familie nach der Beerdigung der Großtante Else nach Hause kam und alle laut weinend die Urgroßmutter umarmten. Ich war mit ihr, die ja nicht mehr gehen konnte, daheim geblieben und wir haben gebetet. Die verzweifelt traurige Stimmung dieses Tages habe ich nie vergessen können, denn ich hatte diese Tante sehr lieb gehabt und war von ihr stets geherzt und geküsst worden.

Durch diese fürchterlichen Ereignisse wurde die Lebensplanung der Familie völlig anders gestaltet als vorgesehen war.
Die Urgroßmutter starb am 20.10.1954. Sie wurde im Hausflur aufgebahrt und die Nachbarn kamen, beteten und nahmen Abschied von ihr. Ich sah sie so friedlich im Sarg liegen, dass ich sie häufig in den drei Tagen vor ihrer Beerdigung betrachtete und mit Weihwasser segnete, ganz so wie die Erwachsenen es taten.

Die letzte Ruhestätte der Urgroßeltern verblieb in der Familie und ist heute das Grab meiner Eltern in Mönchengladbach-Holt.


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Tag der Veröffentlichung: 22.07.2010

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