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Meine Mutter wurde am 4.11.1914 in Mönchengladbach geboren, gleich zu Beginn des ersten Weltkrieges, der ihrem Vater das Leben kostete. Sie wurde auf den Namen Hubertine nach ihrem Vater Hubert getauft, aber zeitlebens Tinni genannt.
So hat sie zwar eine vaterlose Kindheit, aber im Kreise der Großfamilie eine behütete Jugend erlebt, denn ihre Mutter kehrte als Witwe mit ihr in das Elternhaus zurück.

Meine Mutter war zwanzig Jahre das einzige Enkelkind in der Familie und wurde unglaublich verwöhnt. Ihre Tanten- Trude, Klara und Else – die Schwestern ihrer Mutter, die alle noch nicht verheiratet waren und somit ebenfalls zuhause wohnten, waren ihr sehr zugetan. Die Tante Klara nähte ihr die schönsten Kleider, die Tante Trude trug mit feinsten Stickereien und die Tante Else mit großen Schleifen, die sie ihr kunstvoll ins Haar band, zum Aussehen einer Prinzessin bei.

Meine Mutter besuchte die Handelsschule und wurde Buchhalterin in der Firma Knops & Co. in Mönchengladbach auf der Lüpertzender Straße.
Das war zur damaligen Zeit durchaus keine übliche Ausbildung für Mädchen aber ihre Familie legte größten Wert darauf, dass Tinni es einmal besser haben sollte.
Ihre schöne Handschrift, die sehr gleichmäßig und mit geschwungenen Anfangsbuchstaben begann, behielt sie ihr Leben lang und wurde von allen bewundert.
Meine Mutter wuchs zu einer dominierenden Frau heran, die alle im Griff hatte.
Die Rolle der verwöhnten Tochter, die sie glaubte für immer zu besitzen, verflog im zweiten Weltkrieg.

In der Firma, in der sie arbeitete, lernte sie meinen Vater kennen. Er war ein sehr gut aussehender Mann, der sie nun auch noch verwöhnte. Er las ihr jeden Wunsch von den Augen ab und ich habe nie erlebt, dass er etwas gegen Mutters Willen entschieden hätte.
Meine Mutter war ein Kopf kleiner als mein Vater, sie hatte ein rundliches Gesicht, mit großen, strahlend blauen Augen. Ihr braunen Haare trug sie der Mode entsprechend in Hochsteck- oder Einschlagfrisuren. Sie konnte unwahrscheinlich charmant sein und damit erreichte sie immer, was sie wollte.

Ganz gesund war sie nie, aber immer voller Energie. Mit 18 Jahren musste eine Niere entfernt werden und sie betonte immer, dass sie trotzdem noch die Geburt von drei Kinder und eine Fehlgeburt überstanden hatte.
Als einzige in der Familie bekam sie 1950 Typhus und eine Krankheit, die sich Bläschenkrankheit nannte und ihr Gesicht auf doppelte Größe anschwellen ließ. Dann wurden viele Gallensteine entfernt , zwei kleine Zehen mussten wegen einer völligen Fehlstellung abgenommen werden. Immer wieder lag sie mit Venenentzündungen und Thrombosen danieder. Dazu kamen im Alter massive Herzprobleme.
Ließ sie sich gelegentlich gern bedauern aber niemals unterkriegen.

Zu Beginn des zweiten Weltkrieges, am 30.3.1940, heirateten sie und da Vater sofort als Soldat eingezogen und später an die Front nach Dnjeperpetrowsk in Russland abkommandiert wurde, blieb Mutter mit ihrer Aussteuer und den schon gekauften Möbeln für Küche, Wohn- und Schlafzimmer vorerst im Haus ihrer Familie wohnen.
Die Möbel standen auf- und nebeneinander gestapelt in einem Raum, denn man wollte gleich nach Kriegsende in ein neu zu bauendes Haus im Stadtteil Mönchengladbach – Hardterbroich ziehen. Hier besaß Vater ein größeres Grundstück.
Mutter träumte also von einem neuen Haus, in dem sie mit ihrem Mann alleine wohnen würde, ihrer geliebten Arbeit weiter nachgehen könnte und das Leben genießen wollte.
Reisen und ein gepflegtes, ruhiges Haus das waren ihre Wünsche.

Im Bombenhagel des zweiten Weltkrieges zerplatzten alle ihre Träume.

Ihr Schicksal waren die Umstände der Kriegs- und Nachkriegszeit, die sie für den Rest ihres Lebens in ihrer Großfamilie fest hielten.

Zum Ende des Krieges lebten im Haus meine Urgroßmutter, Großmutter, Großtante Trude, Großonkel Willi, meine Eltern und ich.

„Hurra, das Sonntagskind ist da!“ So schrieb meine Mutter ihrem Mann an die Front. Ich wurde am 14.6.1942 mitten in den Kriegswirren geboren und auf den Namen Annelie Maria getauft. Mein Vater sah mich erstmals viele Wochen später, als er einen Heimaturlaub antreten durfte.

Die Urgroßmutter bekam eine Witwenrente, die Großmutter eine Kriegerwitwenrente und die Großtante Trude arbeitete in einem Geschäft für Gobelinstickereien. Gleich zu Beginn des Krieges wurde dieses Geschäft, das der jüdischen Familie Bellerstein gehörte, verwüstet und somit hatte die Tante erst einmal keine Arbeitsstelle mehr.

Der Großonkel Willi, der leicht geistigbehindert war, erhielt keinerlei Geld. Er blieb in der Familie, sowie es damals selbstverständlich war und wurde zeitlebens versorgt. Dieser, vor dem Krieg bestehende Frauenhaushalt, wäre durchaus in der Lage gewesen, sich zu ernähren, da drei Einkommen vorhanden waren.

Nun geschah es jedoch, dass die jüngste Tante Else, die mittlerweile geheiratet und einen Sohn hatte, im Alter von neununddreißig Jahren völlig unerwartet verstarb und die Tante Trude in diesen Haushalt übersiedelte, da ihr elfjähriger Neffe Paul alleine war.

Sie hatte ihrer sterbenden Schwester versprochen, so lange zu bleiben, bis der als vermisst gemeldete Vater des Jungen zurück sei. Jahrelang hoffte die Familie auf ein Lebenszeichen von ihm, das nie kam und so war er wohl in das Heer der vielen namenlosen Soldaten einzureihen, die im Krieg ihr Leben ließen.
Die Tante Trude wohnte und betreute ihren Neffen bis zu ihrem Tode. Sie wurde bei einem Einkauf von einem Auto erfasst, als sie eine Straße überqueren wollte und starb wenig später im Krankenhaus im Alter von 72 Jahren.

Meiner Mutter blieb, nach dem Tode der Tante Else im Jahre 1946, daher keine andere Wahl, als mit ihrer Mutter, der Großmutter und dem Onkel Willi zusammenzubleiben.
Die vorerst noch sehr kleinen Witwenrenten der beiden älteren Frauen hätten nicht ausgereicht, drei Personen zu ernähren und das Haus zu erhalten.

Als mein Vater nach kurzer Gefangenschaft bei den Amerikanern im Juli 1946 leicht verletzt aus dem Krieg zurückkam, verkaufte er sein Grundstück, kaufte ein, an unseren Garten grenzendes Stück Land, ließ ein Badezimmer im Haus einbauen und war nun der Haupternährer der Familie.

Die Firma Knops & Co., in der meine Eltern gearbeitet hatten, war total ausgebombt und nicht wieder aufgebaut worden.

Vater wurde Geschäftsleiter bei der Firma Nacken in Rheydt, die Hosen herstellten.
Mutter ging keiner weiteren Berufstätigkeit nach, zumal im Oktober 1946 meine Schwester Else und im Juni 1949 meine jüngste Schwester Hiltrud geboren wurden.
Mutter war nun ganz ans Haus gefesselt und ihre größte Freude wäre es immer gewesen, einmal die Haustüre hinter sich abschließen zu können, ohne dass noch jemand im Hause gewesen wäre. Das ging nicht, denn sie war nie alleine da.

Erst als sie siebzig Jahre alt war und der letzte der ihr anvertrauten alten Familienangehörigen, der Onkel Willi im Alter von 81 Jahren verstarb, konnte sie in Ruhe ausgehen.

Meine Mutter überstand schwere Krankheiten und Operationen, da sie ihrerseits durch ihre Mutter und meinen Vater große Fürsorge und Hilfe erfuhr.

Meine Großmutter wurde ständig von der Vorstellung geplagt, dass ihrer einzigen Tochter in dieser großen Familie zu viel aufgebürdet worden war.

Meine Mutter und meine Großmutter hätten vieles leichter gehabt, wenn sie nicht stets ihr Leben danach ausgerichtet hätten, was wohl „ die Leute sagen würden“. Ein Gedanke, den sie immer wieder verinnerlichten.

So wurde z. B. am Ostersonntag die neue Sommergarderobe und am ersten November, dem Allerheiligentag, die Winterkleidung zum Kirchgang angezogen. Dabei spielte das Wetter keine Rolle.

Geiz war ihnen völlig fremd und sie zeigten sich beide stets unglaublich großzügig.

Um dem ganzen Trubel der Familie gelegentlich zu entkommen, war Mutter im Frauen- und Mütterverein der Pfarre „St. Michael“ in Holt emsig tätig. Dieser Verein hatte mehr als 700 Mitglieder und sie war hier über 40 Jahre Kassiererin und leitete die Müttererholungsmaßnahmen. Dafür war sie im Jahr einige Tage unterwegs und sie empfand diese Auszeit auch sehr erholsam.

Sie war unbestritten der Mittelpunkt in der Familie, die alles organisierte und kooperierte. Ihr Pflichtgefühl für die ihr anvertrauten Menschen war beispielhaft.
Manchmal fiel es ihr schwer, über ihren Schatten zu springen. So konnte sie tagelang nicht mehr mit demjenigen sprechen, der sie geärgert hatte und das war wirklich eine schlimme Situation für den Verursacher. Unvermeidliche Anordnungen ließ sie über eine zweite Person an ihn ausrichten, selbst wenn der Angesprochene neben ihr stand.

Am Morgen, wenn alle das Haus verlassen hatten, las sie mit ihrer Mutter beim Frühstück die Zeitung und danach begannen die täglich gleichen Hausarbeiten.

Die Großmutter ging einkaufen und bereitete das Mittagessen vor. Mutter begab sich nach oben in die Schlafzimmer und machte stundenlang die vielen Betten und wischte Staub. Die Betten hatten unglaublich viele Betttücher und Kissen. Alles wurde an den geöffneten Fenstern ausgeklopft und peinlich exakt in Form gezogen. Dabei hielt sie laute Selbstgespräche und man hätte glauben können, es sei jemand anwesend, mit dem sie sich unterhielt.

Im Winter kam sie mit steif gefrorenen Händen herunter und musste sich erst einmal aufwärmen, bevor sie weiter arbeiten konnte. Sie war ständig in Bewegung und erst am späten Abend konnte sie ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgehen.

Ihre kunstvollen schönen Stickereien hätten im Laufe ihres Lebens ein Handarbeitgeschäft gefüllt.
Kissen, Tischdecken, Bilder, ja ganze Sesselbezüge und Wandbehänge schmückten die Zimmer. Als Kinder schätzten wir diese Arbeiten erst, als wir älter waren und zum Glück haben wir heute ihre Handarbeiten noch in Besitz.

Mutter hatte viele Freundinnen und es wurde stets ein gastfreundliches Haus gepflegt. Die große Familie kam zu zahlreichen Namenstagen zusammen. Damals feierte man als Katholik nicht den Geburtstag. Die hohen Festtage im Jahreskreis wurden ebenfalls im großen Kreis der Familie gefeiert.

Sonntags gab es sechs Messen in der Pfarrkirche – um sechs Uhr die Frühmesse, um sieben Uhr die Frauenmesse, um acht und um neun Uhr die Kindermessen, um zehn Uhr das Hochamt und um elf Uhr die Messe für die Langschläfer. Die dort anzutreffen waren, setzten sich aber des stillen Vorwurfs der Faulheit aus. Es war nicht schicklich, so spät erst zur Kirche zu gehen. Alle Gottesdienste füllten die Kirche und ein Pastor sowie drei Kapläne waren in der Pfarre „St. Michael“ tätig.

So kannten wir auch am Sonntag kein gemeinsames Frühstück in der Familie. Die Großmutter und Mutter gingen um sieben Uhr, wir Kinder um neun Uhr, der Vater um zehn Uhr und der Onkel Willi um elf Uhr in die Messe. Damals musste man noch nüchtern sein, wenn man zur Kommunion gehen wollte. In unserer Familie ging jeder zur Kommunion und so trafen wir uns erst zum Mittagessen zu einer gemeinsamen Mahlzeit.
Um vierzehn Uhr fand die sonntägliche Kinderandacht, die Christenlehre statt, zu der wir Kinder selbstverständlich auch gingen. Mutter achtete peinlich genau, dass wir stets wie aus dem Ei gepellt das Haus verließen und unsere langen Haare wurden gebürstet und geflochten und mit Schleifen versehen. Die ganze Nachbarschaft auf unserer Straße war der Meinung, dass wir drei Mädchen die schönsten Kinder des Ortes seien, gepflegt wie Blumen.
Ihre nicht erfüllten Lebensträume kompensierte Mutter durch die Achtung, die ihr entgegen gebracht wurde, weil sie Haus und Familie makellos in Ordnung hielt. Darauf war sie stolz. Ich habe sie später gefragt, ob sie etwas anderes gemacht haben würde, wenn sie es denn gekonnt hätte.

„Oh ja, aber es war nicht möglich!“ erwiderte sie.
Sie legte großen Wert darauf, dass ihre Töchter eine gute Bildung erhielten. Wir sollten es einmal besser haben als sie, genau wie ihre Mutter es für sie einmal gedacht hatte.

Ihre Fähigkeit, sich von materiellen Werten gut trennen zu können, kam ihr im Alter zugute.
Als ihr und meinem Vater das Haus und der große Garten zuviel wurde, entschied sie kurzerhand, alles zu verkaufen. Dabei wurde die Regelung getroffen, dass der Erlös in fünf Teile aufgeteilt werden sollte. Die zweite Tochter Else, die gerade ein Haus baute und für die Eltern eine Einliegerwohnung anbot, erhielt zwei Teile, die beiden anderen Töchter und die Eltern je ein Anteil am Verkauf des alten Hauses und Gartens.

So zogen meine Eltern mit über siebzig Jahren noch in ein neues Haus, dreißig Kilometer entfernt von ihrem Heimatort. Mutter fand es herrlich und da Vater noch Auto fuhr, konnten sie alte Freunde und Bekannte jederzeit besuchen. Sie wurde von allen wohl auch beneidet, weil für sie nun auch im Alter bestens gesorgt war.
Ihre Goldhochzeit feierten die beiden in großer Runde am 30.3.1990.

Mit fast dreiundachtzig Jahren überlebte Mutter ihren Mann um sechs Jahre und starb nach längerem Krankenhausaufenthalt an Herzversagen. Ich hatte kurz vorher noch mit ihr telefoniert und mich mit ihr unterhalten. Sie verstarb im Schlaf am 18.10.1997.

Zu ihrer Beerdigung in ihrem Heimatort in Mönchengladbach-Holt, füllte sich die große Kirche bis auf den letzten Platz und ich glaube, sie hat es von oben genossen, dass so ganz in ihrem Sinne ihrer gedacht wurde.


Nachwort: Das Cover habe ich gewählt, weil es die Lieblingsblume meiner Mutter war und ihr Brautstrauß aus weißem Flieder gearbeitet war!


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 07.05.2010

Alle Rechte vorbehalten

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