Die dunkle Stimme des Hampelmanns.
„Bequem mit halbausgestrecktem Arm erreichbar, handtellergroß, natürlich bunt.
Seit seinem zweiten Geburtstag hing er über seinem Bett.
Vier Jahre und an die gegenüberliegende Wand wurde ein weiteres gestellt, darin die Schwester.
Irgendwann (das ihm verwandte Mädchen konnte schon sprechen, auch laufen, ohne sich an den Möbelstücken im Zimmer festhalten zu müssen) spürte er in sich ein Gefühl, für das der das Wort „Neid“ noch nicht kannte; den schmerzhaften Gedanken, dass ihr so von den Eltern und Verwandtschaft mehr Beachtung zukam. Ein Empfinden vergleichbar mit Zahnschmerzen, auftauchend jäh, betäubt mit Schokolade und freundlichen Gesten, vergessen vielleicht, bis es erneut auftritt, unerwartet, heftiger als vorher.
Die Schwester und er führten abends Gespräche, balgten sich, spielten Verstecken, Lampenzielwurf mit dem Hausschuh oder Ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst. Keiner wollte einschlafen.
Also erzählte er, der Ältere, der die Welt kannte. Und sprach mit zwei Stimmen, die tiefere sollte dem Hampelmann gehören.
Zuerst gab es Märchen, Gruselgeschichten, die die Schwester bis in die Träume verfolgten.
Alte Männer bissen kleinen Mädchen ins Genick, um ihnen das Rückenmark auszusaugen.
Fleischermeister lockten Kinder beim Einkauf zu einer Fallgrube, um sie dann im Keller zu schlachten und zu Büchsenfleisch zu verarbeiten.
Aufhören, bat die Schwester manchmal, was ihn nur zu größerem Eifer anspornte.
Der Hampelmann wollte Süßigkeiten. Er bekam sie.
Eine Banane sollte auf den Nachttisch des Bruders gelegt werden. Sie wurde.
Die Mutter merkte etwas, Vater und sie erfuhren von der Sache.“
Doch mit dem Sohn zu sprechen oder ihn gar zur Rede stellen, gelang ihnen nicht. Die Tochter sollte ihnen genau berichten, weshalb sie diese Naschwerke dem Bruder, ohne Wissen der Eltern, gegeben hatte
Die Eltern, beide gingen tagsüber einer einfachen Arbeit nach, gaben ihre Kinder kurz nach deren Geburt, in eine Ganztagseinrichtung.
Am Abend holten sie die Beiden wieder ab.
Zu gemeinsamen Unternehmungen kam es nur selten.
Vater und Mutter waren entweder zu müde von den Arbeiten inner – und außerhalb des Hauses, wohl selber auch von schweigsamer, wenig zugänglicher Wesensart.
Am zweiten Elternsprechtag , der Sohn war mittlerweile eingeschult worden, kamen auf Anforderung der Schule nicht nur die Eltern, sondern auch ein Betreuer der Einrichtung, die den Jungen und seine Schwester bis zum Abend beaufsichtigten.
Der Lehrer und dieser Erzieher erklärten den Eltern, dass der Sohn eine tiefgreifende Entwicklungsstörung beeinträchtige. Seine Unfähigkeit, sich anderen mitzuteilen, wenig bis kein Mitgefühl innerhalb seiner Umwelt zu zeigen, gäben für sie Hinweise, ob er nicht woanders besser aufgehoben wäre, sagten beide übereinstimmend und führten Beispiele an:
Mehrer Kinder hatten von Tierquälereien durch den Jungen berichtet: mit einem Taschenmesser zerteile er Würmer, einem noch nicht flügge, aus dem Nest gefallenen Vogel habe er die Federn ausgerissen, einer kleineren Schülerin wurde von ihm, mit Absicht, ein Finger in eine Tür eingeklemmt.
Auf seine Vergehen angesprochen, habe der Junge keinerlei Reue oder gar Verständnis zu seinem Fehlverhalten gezeigt. Im Gegenteil, eine gewisse Freude war ihm bei seinen Taten anzumerken gewesen.
Am besten sollte ein Psychiater hinzugezogen werden, der eine eventuelle geistig/seelische Behinderung des Jungen genau diagnostizieren könnte.
Seine schulischen Leistungen wurden nur mit wenigen Worten, die sich auf seine geringen Fähigkeiten im Rahmen des zweiten Schuljahres bezogen, erwähnt.
Empörung kam auf: Man könne sich nicht entsinnen, so antworteten die Eltern, je in den beiden Familien von geistigen oder seelischen Erkrankungen gehört zu haben. Sie seien einfache Leute aber alle normal im Kopf und im Handeln.
Verärgert, jedoch zu schwerfällig um eine Entscheidung zu treffen, ließen sie die Dinge erst einmal auf sich beruhen.
Seit Jahren war der Junge den Eltern immer fremder erschienen. Er sprach kaum, starrte sie nur an, wenn sie mit ihm sprachen.
Die Augen zusammengekniffen, der seltsam verstohlene, lauernde Blick und der störrische Ausdruck seiner Miene erschreckte sie beinahe.
Erst mit über zwei Jahren hatte der Sohn zu laufen begonnen, mit drei Jahren die ersten undeutlichen Worte gesprochen.
Vergnüglich krähend, in ausgebreitet Arme, von ihm liebevoll zugewandten Menschen, zu rennen? Nein, solche Nähe hatte er nie erlebt.
Ein bunter, immer gleich freundlich lächelnder Hampelmann, ein Geschenk seiner Großmutter zum zweiten Geburtstag , hing über seinem Bett. Das Licht in diesem Schlafzimmer durfte in der Dunkelheit nicht völlig gelöscht werden, dann schrie er pausenlos, erschreckend laut und schrill.
Nicht, dass er Angst vor der Schwärze der Nacht empfunden hätte, er wollte nur seinen Hampelmann sehen können, wenn er mit ihm kommunizierte.
Dieser war der Einzige der wirklich mit ihm sprach. Sie verstanden sich und führten stundenlange Reden. Der Hampelmann gab ihm Antworten auf seine Fragen und der Junge lauschte ihm.
Die dunkle Stimme des Hampelmanns stand in merkwürdigem Kontrast zu seinen hellen Lauten. Die Gespräche drehten sich ausschließlich um die Grausamkeiten in der Welt.
Der Junge lauschte tagsüber den Nachrichten und Gesprächen der Erwachsenen, wenn abartige, entsetzliche Verbrechen bekannt wurden, mit besonderem Interesse und übergroßer Neugier. Nichts anderes erreichte seine Aufmerksamkeit oder erweckte seine Wissbegierde.
Als das zweite Bett mit der kleinen Schwester an die gegenüberliegende Wand seines Zimmers aufgestellt wurde, nahm er dies kaum wahr, es störte ihn nicht.
Seine Gespräche mit dem Hampelmann nahm er nun immer erst auf, wenn sie schlief. Sie war ein ruhiges Kind,schrie selten und schlief viel.
Später als die Schwester größer wurde, wollte sie, dass er seine Reden mit dem Hampelmann lauter führte.
Die Schwester verstand den Hampelmann nicht und so übernahm der Bruder dessen dunkle Stimme bei den entsetzlichen Grausamkeiten. Da er viel von der Welt gehört hatte, erzählte er ihr die schlimmsten Gräueltaten mit besonderem Vergnügen.
Die Tochter gab nach längerem Zögern und Befragungen durch die Eltern zu, dass der Bruder sie am Abend mit grausamsten Geschichten in fürchterliche Angst und panischem Erschrecken versetzte.
Jetzt kamen sie schnell zu der Ansicht, dass der Junge mit wachsenden Kräften vielleicht ähnliche Vergehen ausüben könnte, von denen er seiner Schwester so begeistert erzählte.
Offensichtlich erregte sonst nichts sein stumpfes Gemüt. Die Erpressungen des Jungen, die seine Schwester veranlassten ihm Süßigkeiten und seltenes Obst zu bringen, sahen sie nun als erste Anzeichen zu einer verbrecherischen Laufbahn des Sohnes.
Dem Rat der Schule folgend, die auch entsprechende Untersuchungen und eine Einweisung des Sohnes in eine Psychiatrie vermittelte, gaben sie erleichtert ihr Einverständnis. Wie lange er dort bleiben würde, war ungewiss.
Seine Reaktion auf diese Maßnahme war völliges Desinteresse. Weder Traurigkeit noch sonstige Gefühlregungen waren ihm anzumerken.
Er bestand lediglich auf die Mitnahme des Hampelmanns.
Der hing nun über seinem Bett im Schlafsaal der Anstalt.
Einzig seine nun stumm geführte, nächtliche Unterhaltung zwischen ihm und dem Hampelmann, wäre für ihn eine Veränderung gewesen, wenn man ihn gefragt und er geantwortet hätte.
Tag der Veröffentlichung: 11.04.2010
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