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Bücherwurm



Sobald ich lese konnte, liebte ich Bücher über alles.

Nur gab es Anfang der 50iger Jahre des letzten Jahrhunderts für mich keine Riesenauswahl, die Leute hatten anderes zu tun als zu lesen und Bücher zu kaufen.

Büchereien waren auch noch nicht wieder aufgebaut und gefüllt worden, jedenfalls nicht in meiner näheren Umgebung.

Bei uns zu Hause gab es die Bibel, Gebetbücher, eine Sammlung über das Leben Konrad Adenauers, Bücher über Gartenanbau und das Buch von den ewig singenden Wäldern, das Lieblingsbuch meiner Mutter.
Aus Jungmädchentagen hatte sie noch ein Buch, das ich häufig gelesen habe und das irgendwann nicht mehr da war. Die „Jagd nach dem Glück“.
Das Schicksal einer Adoptivtochter eines Kommerzienrates, die von einem Wanderzirkus als kleines Mädchen aus einem brennenden Haus gerettet und mitgenommen und zu einer Kunstreiterin ausgebildet worden war. Von Frau Kommerzienrat in einer Zirkusvorstellung entdeckt und zum Verwechseln deren verstorbener Tochter ähnlich, kaufte man sie dem Zirkus ab und nun lebte sie das Leben einer höheren Tochter, die immer wissen wollte, wo ihre Wurzeln waren – in der Lüneburger Heide, bei einer Schäferfamilie, so erzählte der Roman.


Mein erstes Buch, das ich zu Weihnachten geschenkt bekam, war eine Märchensammlung der Gebrüder Grimm, schön bebildert und so richtig etwas für ein kleines Mädchen, zum Träumen und nicht in der tristen Gegenwart anwesend zu sein.

Ich wurde häufig von schweren Bronchialkartharren heimgesucht und lag fiebernd und hustend auf dem Sofa in der großen Wohnküche und las und las und es war überhaupt nicht schlimm krank zu sein, die Hauptsache ich konnte ungestört lesen.
Am Abend befestigte Großmutter eine Doppelseite der Tageszeitung mit zwei Wäscheklammern an den Lampenschirm, damit mir das Licht nicht so stark in die Augen fiel.
Das war überhaupt das Schönste: Ich versank in Königspaläste, Drachen und Ritter, Wälder und Feen und der Lärm und das Reden im Raum störten mich nie.

Mit etwa zehn Jahren wurde ich allmählich immer kurzsichtiger und benötigte eine Brille.
„Siehste“, sagten Mutter, Vater und Großmutter „das Kind hat sich mit seinem ganzen Lesen die Augen verdorben!“

Zu anderen Zeiten las ich im Bett unter der Bettdecke mit einer Taschenlampe, denn ich musste mit meinen kleinen Schwestern gemeinsam schlafen gehen und Licht anzumachen, hätte ja gestört.

So sang und erzählte ich den beiden ein wenig und wartete sehnsüchtig, dass sie endlich einschliefen und ich lesen konnte. Meine Mutter wusste, dass ich spät noch lesen würde und so schlich sie leise die Treppe herauf um zu schauen, ob wir alle schliefen.
Zum Glück knarrte die vorletzte Stufe immer und ich konnte noch schnell die Taschenlampe ausknipsen, bevor sie leise die Türe öffnete.

Ende der 50iger Jahre eröffnete eine Pfarrbücherei in unserem Ort ihre Pforten und nun endlich hatte ich die Auswahl und konnte für wenige Pfennige jede Menge Lesestoff erhalten.

Niemand in der Familie hatte solch eine Freude am Lesen und so konnte ich auch meine Begeisterung für Karl May und seine Abenteuer mit niemandem teilen.
Winnetou war mein absoluter Favorit und ein Bekannter meiner Eltern, der sehr gut malen und der meine Schwärmerei für die Indianer ein wenig nachvollziehen konnte, malte mir mit Wasserfarben ein großes Bild von Winnetou auf seinem Pferd Iltschi. Ich hing es an die Wand neben meinem Bett und jeden Abend küsste ich Winnetou voller Inbrunst und versprach ihm, zumindest einen seiner Nachfahren zu heiraten, wenn ich erst groß sei und nach Amerika auswandern würde.

„ Wat, wen“, rief meine Großmutter „ nee, nee, dat kütt von all dem Lesen, hatt’ man dat je jehört, enne Indianer will et heiraten, wer iss dat denn?!"
Von Indianern hatte sie noch nie etwas gehört oder gesehen, wohlgemerkt es war Anfang der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts.

Vater bemerkte, Mutter und Großmutter wären an meinen Fantastereien schuld, weil sie mich nicht genug im Haushalt beschäftigten, denn dann wären mir solche Flausen erst gar nicht in den Sinn gekommen.
„Die wird uns später wieder nach Hause geschickt, weil sie ständig liest und keine Hausarbeit zugeteilt bekommt, damit sie einen Haushalt führen lernt", prophezeite er.

Damit es nicht so weit kommen würde, schickte man mich im Anschluss an die Schule für ein Jahr in ein Internat unter Leitung eines katholischen Nonnenklosters, in welchem ich die Führung eines Haushaltes erlernte.

Großmutter las nur die Kirchenzeitung, die Pfarrnachrichten und „Die Stadt Gottes“.
Da erfuhr sie einiges von Missionaren, die in Afrika die Heidenkinder bekehrten.

In jeder Kirche stand an einem Seitenaltar eine kleine sitzende Negerfigur, die mit dem Kopf nickte, wenn man ein Geldstück in einen unten angebrachten Schlitz warf.

Ich erinnere mich noch, dass 1947 vorübergehend amerikanische Offiziere in Villen in unserem Ort einquartiert wurden.

Dabei sah meine Großmutter einen Offizier, der mit seinem schwarzen Untergebenen an das schöne Haus ihrer Schwester klingelte und dort eintrat.
Großmutter lief außer sich nach Hause und verkündete, nun sei das Ende der Welt gekommen und zur Strafe für den Krieg würden wir alle im "Topf" landen.
Aus Missionspredigten hatte sie gehört, dass gelegentlich unliebsame Weiße in Afrika von Schwarzen getötet und aufgegessen wurden.

Sie änderte ihre Meinung aber bald, denn gerade die schwarzen Soldaten beglückten uns Kinder mit Schokolade und Kaugummi und ließen dabei freundlich lachend ihre strahlend weißen Zähne sehen und niemand von der Dorfbevölkerung wurde je vermisst.

In Mönchengladbach gab es in der Bismarckstraße, in einem wunderschönen Haus aus der Gründerzeit eine Stadtbücherei, die ich ebenfalls aufsuchte.

Dort trat man an eine große Theke und mehrere Bibliothekarinnen nahmen die gelesenen Bücher in Empfang und musterten die Kunden. Keiner durfte in den hinten stehenden Regale selber Bücher auszusuchen. Die Damen verschwanden in den Bücherreihen und brachten einen Stapel Bücher zur Auswahl.
Seltsamerweise schienen sie die Leute immer richtig einzuschätzen, denn jeder ging, mit von ihnen ausgesuchtem Büchermaterial, zufrieden von dannen.

Ich las alles, was ich erreichen konnte, vom Schimmelreiter bis zu Tolstoi und auch heute lese ich täglich vom späten Abend bis in die späte Nacht und benutze eifrig die Bücherei und Buchgeschäfte und Amazon.
Allmählich weiß ich nicht mehr, wohin mit allen meinen Lieblingsbüchern, es sind so viele, dass ich fast keinen Platz mehr für alle habe.
Niemals käme ich auf die Idee, ein Buch wegzuwerfen.

Meine Begeisterung für das Lesen hat sich zum Glück auf meinen Sohn und meine Enkelkinder übertragen und so wimmelt es in deren Haus auch von unzähligen Büchern.
Zum Geburtstag und zu Nikolaus bekommen sie von mir unter anderem auch immer Buchgeschenke.

Kommen die Kinder zu mir, ist es ein Highlight des Tages, wenn nach dem Löschen des Lichtes in der Nacht – sie schlafen dann in unserem Schlafzimmer auf dick gepolsterten Matratzen, wie die Prinzessin auf der Erbse – von mir Märchen erzählt werden und zwar so lange, bis sie keine Antwort mehr geben, wenn ich zum Schluss das übliche „Wenn sie nicht gestorben sind“, entgegnen: „Dann leben sie noch heute“.

Das dauert manchmal drei bis vier Märchen, aber das ist unwichtig, da ich selber meine größte Freude daran habe und als die Oma der Märchen in ihrem Gedächtnis bleiben werde und sie ihrerseits diese Lesefreude einmal weitergeben werden.
Denn gerade der Sprachschatz der Gebrüder Grimm ist für die Entwicklung der deutschen Sprache bei Kindern hervorragend geeignet.

Kaum zu glauben, was die Kinder vor einem halben Jahrhundert weder gekannt noch besessen haben.
Abgesehen davon, dass damals, kurz nach dem Krieg niemand Geld gehabt hätte, Kinderzimmer und Kinderwünsche so zu gestalten, wie es heute möglich ist.
Es ist ganz ähnlich wie im Märchen, meinen meine Enkelkinder häufig.
Da konnten Wünsche nur durch märchenhafte Ereignisse erfüllt werden.
Aber da wir damals nichts anderes kannten, haben wir auch nichts vermisst und hatten trotzdem eine schöne Kindheit - nur eben ganz anders.

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Tag der Veröffentlichung: 12.10.2009

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