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Schlafenszeit

Das Dachgeschoss in unserem Haus war, um Platz für die vielen Bewohner zu schaffen, bis in den letzten Winkel ausgebaut worden.
Zu meiner Großfamilie zählten Urgroßmutter, Großmutter, Großonkel Willi, Vater, Mutter und drei Töchter.

Die schmale Treppe zum 2. Stock mündete auf einen Schlafplatz für den Onkel Willi, dem leicht geistig behinderten Bruder meiner Großmutter, der bis zu seinem Tode in der Familie verblieb.
Er war ein sehr lieber Mensch, der aber ständige Fürsorge benötigte, wie ein kleines Kind und wir Geschwister reden heute noch viel über ihn.
Er starb 1984 im Alter von 81 Jahren.

Sein Bett stand in einer Dachschräge. Neben dem Kopfteil befand sich ein kleiner Nachtschrank mit einer Nachttischlampe, gegenüber, am Fußende des Bettes stand ein kleiner Schrank für seine Sachen und vor dem Bett lag ein Bettvorleger.

Luft und Licht kamen durch das Treppenhaus.

Gleich rechts neben der Treppe gelangte man durch eine Schiebetür in das Schlafzimmer für uns drei Mädchen.
Hier war eine Dachgaube mit einem zweiflügeligem Fenster und Holzläden eingebaut worden.
Unter der Dachschräge, links daneben stand mein Bett.
Getrennt durch ein Nachtschränkchen mit einer kleinen Nachttischlampe schliefen meine beiden jüngeren Schwestern in einem Bett zusammen.

Dem Fußende gegenüber, nur durch einen schmalen Gang getrennt, gab es einen zweiflügeligen Kleiderschrank. An der Wand, über dem Bett meiner Schwestern, hing das Bild einer Schutzmantelmadonna.

Im Sommer war es hier, gleich unter dem Dach, brütend heiß; im Winter so kalt, dass Eisblumen an den Fensterscheiben blühten und die Holzläden der Fenster nicht geöffnet werden konnten, da sie festgefroren waren.

Rechts neben dem Eingang zum Kinderzimmer kam man durch eine schmale Türöffnung, die mit einem roten Samtvorhang versehen war, in das Schlafzimmerchen meiner Großmutter.
Hier war in die Dachschräge nur ein kleines Dachlukenfenster eingelassen worden, welches durch eine angeschweißten Eisenstange, in drei verschiedene Positionen, nach oben hin geöffnet werden konnte.
In diesem Raum standen ein Bett, ein zweitüriger Kleiderschrank, eine Waschkommode mit dreiflügeligem Spiegelaufsatz und ein Stuhl, alles in weißem Schleiflack. Ein kleiner Teppich vor dem Bett, eine Wandleuchte über dem Bett und daneben ein Kruzifix mit einem gläsernen Weihwasserbehälter, vervollständigten das kleine Zimmer.

Am Abend um acht Uhr bewegte sich stets eine Prozession, bestehend aus meiner Mutter, dem Onkel Willi und uns drei Mädchen durch das Treppenhaus in die Schlafgemächer hinauf.
Wir Kinder und der Onkel bereits in Schlafanzügen und Morgenmäntel. Im Winter wurden zwei Wärmflaschen für uns Kinder mit nach oben genommen.

In den Betten legten wir uns auf eine Seite und Mutter kam und deckte uns gut zu. Dabei legte sie das Betttuch so um uns, dass stets das freiliegende Ohr bedeckt wurde.
Dann schlug sie des Onkels und der Großmutter Bett auf; die Paradekissen kamen auf die Stühle.

Während sie so geschäftig hin und her lief, wurde erst der Onkel befragt, ob er auch „gut das Werk von unten“ gewaschen habe und ermahnt, die Hände auf der Decke zu lassen und gut zu beten.
Er beantwortete diese stets drei gleichen Fragen bezw. Anweisungen mit „jo-jo-jo“.
Zum Zeitpunkt dieser Erzählung war er etwa fünfundvierzig Jahre alt und sicher noch nicht ohne sexuelle Gefühle, die aber wohl nicht zum Ausbruch kommen sollten, immerhin war die Zeit noch nicht so frank und frei wie heute.
Im Winter tat uns der Onkel sehr Leid, weil er nicht die Arme unter der Decke wärmen sollte!

Nun stimmte Mutter unsere Nachtgebete an, in die wir mit lauten Stimmen einfielen.
Mir wurde manchmal ganz mulmig, wenn sie mit klagender Stimme betete:

„ Hilf, Maria, es ist Zeit, hilf Mutter der Barmherzigkeit. Du kannst helfen uns aus Nöten und Gefahren zu erretten. Zeige, dass du Mutter bist, wo die Not am größten ist!
Hilf, Maria, es ist Zeit! Hilf Mutter der Barmherzigkeit!“

Ich stellte mir immer vor, dass in der Nacht eine Katastrophe hereinbrechen würde, wenn so inbrünstig von Mutter jeden Abend um Hilfe gebetet wurde.

Es folgten noch ein Schutzengel- und ein Nachtgebet. Dann schloss Mutter uns mit dem Lied „ Maria breit den Mantel aus“ in den nächtlichen Schutz Gottes und seiner Heiligen ein, betrachtete uns noch einmal voller Stolz und löschte seufzend das Licht.

Kaum hörten wir sie die Treppe heruntergehen, warfen wir die beengenden Laken beiseite und kicherten und erzählten uns noch etwas. Manchmal gerieten die Schwestern in Streitereien über den ihnen zustehenden Teil der Decke und des Platzes im gemeinsamen Bett.

Derweil murmelte nebenan der Onkel seine ihm befohlenen Gebete. Da er auch stark sprachbehindert war, konnte nur der ihn verstehen, der häufig mit ihm zusammen war.

Seine Gebete bestanden aus zusammengesetzten Bruchstücken. So betete er mit folgenden Worten: „ Va unser – jrüßt sei Maia. Aaamen“
Das waren die ersten Worte der Gebete des "Vater unser" und des "Gegrüßet seist du, Maria"
Dann fing er wieder von vorne an.

Er hatte stets ein Stück Paketkordel in der Hand und machte, bis er einschlief, Knoten an Knoten in diese Schnur.

Die gab mein Vater ihm, damit er bis zum Einschlafen etwas zu tun hatte!

Manchmal hatte der Onkel mitten in der Nacht Alpträume und er schrie laut um Hilfe: „ Hööölp, isser enne!“
(Hilfe, hier ist einer)
Dabei richtete er sich im Bett auf und stieß mit lautem Knall an die über seinem Kopf befindliche Dachschräge.

Das ganze Haus geriet in Aufruhr: die Großmutter nebenan fuhr aus dem Bett, um ihn zu beruhigen und um zu vermeiden, dass er in seiner Panik bis zur Treppe lief und womöglich hinunterfiel.
Vater und Mutter, die im Stockwerk darunter schliefen, rannten in den Flur und riefen dem Onkel energische Anweisungen zu.
Mutter drohte, gleich selbst heraufzukommen, dann hätte er wirklich jemanden da.
Meine kleinen Schwestern fingen an zu weinen und sich zu fürchten.

Am schlimmsten für meine Mutter war aber die Vorstellung, dass auch die Nachbarn rechts und links von dem Krach geweckt würden. Und tatsächlich bekundete am nächsten Tag mindestens eine Nachbarin ihr angebliches Mitgefühl zu dem „schweren Kreuz, dass man mit dem Onkel zu tragen habe.“

Ich selber habe schon als Kind die Komik der Situation empfunden und fand das alles eher erheiternd und keinesfalls bedrückend.

Es dauerte immer etwa eine Stunde, bis alle sich beruhigt hatten und wieder in den wohlverdienten Schlaf fielen.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 17.08.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Meinen Eltern, die dem Wunsch der Urgroßmutter entsprechend, den geistigbehinderten Onkel bis zu seinem Tode pfegten. Da waren sie selber schon 70 und 71 Jahre alt.

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