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Die erste Liebe

 

Immer wenn ich an das Grab meiner Großmutter trat, erinnerte ich mich an meine erste Liebe.
Schräg gegenüber lag die Grabstätte eines männlichen Familienangehörigen von Paul, so hieß mein erster Freund aus Kindertagen.

Ich habe ihn selber nie auf dem Friedhof gesehen, obwohl ich das Grab meiner Großmutter über 25 Jahre hinweg regelmäßig besuchte und pflegte. Mittlerweile sind beide Gräber eingeebnet worden und so werde ich Paul dort also auch nicht mehr zufällig sehen. Ich wüsste noch nicht einmal, ob ich ihn überhaupt wieder erkennen würde, denn es sind 56 Jahre vergangen, als ich ihn zum letzten Mal sah.
Er besuchte die gleiche Schule wie ich, die damals noch Volksschule hieß und er war in der fünften Klasse, ein Jahrgang vor mir. Er hatte schwarze Haare und dunkle Augen, was mir sehr gefiel. Ich hatte blaue Augen, war blond und trug lange Zöpfe, was wiederum ihm gefiel. Paul hatte ein Fahrrad, ein altersschwaches Modell, aber das war egal.


Allein die Tatsache, zu damaliger Zeit, Anfang der fünfziger Jahre, ein Fahrrad zu besitzen, war ein Grund um bestaunt zu werden. Einmal stand ich nach Schulschluss auf dem Schulhof und schaute mir Pauls Fahrrad an. Da kam er und fragte ganz beiläufig, ob er mich ein Stück auf seinem Fahrrad mitnehmen solle. Ich war selig, denn ich fand ihn so anziehend, dass ich gleich zustimmte.
Nachdem ich auf dem sicher ungemütlichen Gepäckträger Platz genommen hatte, fuhr er los und ich hielt mich an ihm fest, wobei ich ihn mit beiden Armen umschlang. Er fuhr, wohl um mir seine Fahrkünste zu demonstrieren, zügig und in großen Schwüngen los. Je länger die wilde Fahrt dauerte, je schöner fand ich es und ich drückte mich ganz nah an ihn und legte meine Wange an seinen Rücken.

Ich kann mich noch sehr genau an das wohlige Gefühl erinnern, dass diese Berührung in mir auslöste. Natürlich habe ich mit niemandem darüber gesprochen, aber ich kam mir schon erwachsen und kundig in der Liebe vor.
Körperliche, zärtliche Liebkosungen waren in meiner Familie nicht an der Tagesordnung und ich kann mich nicht entsinnen, dass, wie es heute - Gott sei Dank - üblich ist, Kinder und Enkelkinder mit den Eltern und Großeltern
schmusten. Da ich auch keine Brüder hatte, war das Zusammensein mit einem, ein Jahr älteren Jungen, für mich ein beeindruckendes Erlebnis und ich fand es großartig.

Paul nahm mich danach mehrmals am Nachmittag zu seinem "Arbeitsplatz" mit. Er war Balljunge auf einem Tennisplatz in der Nähe und ich durfte, auf einer Bank sitzend, seine Laufkünste und Schnelligkeit bewundern. Von seinem Verdienst hierfür kaufte er uns gelegentlich ein Eis.

So ging der Sommer in dieser Zeit vorüber und es wurde Winter mit Eis und Schnee und das Fahrrad und der Tennisplatz konnten nicht mehr benutzt werden. Ich habe Paul auch in der Schule nur selten gesehen und zusammen gesprochen haben wir auch nicht. Wir waren wohl zu schüchtern, um im Beisein anderer Schüler Kontakt aufzunehmen. In der Schulpause spielten Mädchen und Jungen getrennt miteinander. Briefchen haben wir uns auch nicht geschrieben, geschweige denn, körperliche Nähe zu suchen.

Ich war ein zierliches, dünnes, blasses Kind und nach der letzten starken Erkältung in dieser Winterszeit verordnete mir die Kinderärztin, in ihrer Praxis, Höhensonnenbestrahlung zur Stärkung des Immunsystems zu nehmen.

So lag ich eines Tages nackt, bis auf mein Unterhöschen und einer dunklen Schutzbrille, auf einer grünen Liege unter der Höhensonne. Da kam zu meinem Schrecken die Ärztin mit Paul herein und ich musste zur Seite rücken, damit er, ebenfalls nur mit Unterhose und Schutzbrille bekleidet, neben mir Platz nehmen konnte. "Ihr zwei seid so dünn, dass ihr beide zusammen hier liegen könnt", war ihre kurze Begründung für diese Maßnahmen.

Ich wäre am liebsten vor Scham unsichtbar geworden, aber ich habe kein Wort gesagt und Paul auch nicht. Wir schauten stumm in die Höhensonne. Trotz unserer dünnen Körper berührten sich unsere nackten Arme und von wohlig den anderen zu empfinden, konnte keine Rede sein; es war nur peinlich. Als die Höhensonne endlich ausschaltete, sausten wir beide zu den Stühlen mit unseren Kleidungsstücken, die wenigstens in getrennten Kabinen standen und zogen uns an. 


Ich wartete bis ich hörte, dass Paul hinausging und lief erst nach einer Weile traurig und bedrückt nach Hause.
Wir haben uns sozusagen nicht wieder gesehen, denn jeder vermied es in der folgenden Zeit den anderen anzusehen. Zu Ostern kam ich in eine weiterführende Schule und ich habe nie wieder etwas von Paul gehört.

 


Eveline Hopp

 
Nach den Osterferien begann zu meiner Kindheit das neue Schuljahr. Im Alter von zehn Jahren wechselte ich, nach vierjährigem Besuch der damaligen Volkschule, in eine weiterführende Schule. Die Schulen waren 1952 noch längst nicht alle wieder aufgebaut und so fand der Unterricht für zwei verschiedene Schulformen in wöchentlich wechselndem Vor- und Nachmittagsunterricht in einem Schulgebäude statt.

Mit der Straßenbahn und einem anstrengenden Anstieg auf den Spatzenberg erreichte ich das Stift.-Hum.-Gymnasium am Abteiberg. Wenn ich an die ersten Jahre dieser Schulzeit denke, so ist mir eine Mitschülerin besonders im Gedächtnis geblieben.

Eveline Hopp


Eveline wurde als Einzelkind von ihrer Mutter gepflegt wie eine Blume. Meist trug sie Faltenröcke in Schottenmuster mit weißer Bluse und großem Kragen. Sie war sehr schüchtern und errötete stets, wenn sie angesprochen wurde. Sie hatte auffallend dicke Pausbacken. Ihre langen Zöpfe endeten in zwei großen, roten oder weißen Schleifen und auf dem Kopf trug sie auch noch eine entsprechende, propellerähnliche Schleife.

Irgendwie erinnerte sie mich immer an einen Adventskranz, so leuchtete sie, besonders wenn sie verlegen wurde.

Nun hatte Eveline kaum Freundinnen und im ersten Schuljahr lud sie mich und noch zwei Mitschülerinnen zu ihrem Geburtstag ein.

Das war zu damaliger Zeit ungewöhnlich. Im katholischen Mönchengladbach feierte kaum einer Geburtstag und erst recht kannte man keinerlei Einladungen zu privaten Kinderfesten. Keiner hatte in dieser Nachkriegszeit zu solchem Trubel Geld und den nötigen Wohnraum. Die Erwachsenen feierten den Namenstag und Kinder wurden nur zum Weihnachtsfest und zur Kinderkommunion besonders bedacht.

Meine Mutter schüttelte den Kopf über diese Einladung aber ich durfte hin. Gleichzeitig ermahnte sie mich, dass solche Feste bei uns nicht erwidert werden könnten, da in unserer großen Familie genug Leute im Hause wären und keine Zeit sei, um für eine Reihe fremder Kinder Belustigungen zu veranstalten.

So fuhr ich also im besten Sonntagskleid zu Eveline Hopp. Sie wohnte in der Nähe des Spatzenbergs in Stadtmitte, im ersten Stock eines großen Hauses aus der Jahrhundertwende. Links und rechts ragten zerbombte Häuser mit leeren Fensternischen in den Himmel.

Durch ein finsteres, hölzernes Treppenhaus mit spärlicher Beleuchtung, gelangte man in die Wohnung, die im ersten Stockwerk lag und aus zwei Zimmern und einem Gemeinschaftsklo auf dem ersten Treppenabsatz bestand. Heute könnte ich noch den Bohnerwachsgeruch beschreiben, womit die dunkelrote Treppe eingerieben war.

Die erste Tür führte in eine große Wohnküche mit hoher Stuckdecke. Am Esstisch nahmen wir drei Gäste, Eveline, ihre Mutter und eine Großmutter Platz und es gab Kakao und selbstgebackenen Kuchen. Danach wurden wir in das zweite Zimmer geführt, in welchem sich das Schlafzimmer befand.

An der rechten Seite standen zwei große Ehebetten mit dem Fußteil zur Zimmermitte hin. Hier schliefen Evelines Mutter und die Großmutter. Der Vater war im Krieg gefallen. Vor den Betten stand eine schmale Liege, die Evelines Schlafplatz war. Der Tür gegenüber, an der Fensterseite, sah man zwischen zwei großen zweiflügeligen Fenstern, eine Kommode mit einer Marmorplatte und darauf war- ich konnte nicht glauben, was ich sah - ein Altar in Miniaturausgabe aufgebaut.

Eine mit religiösen Motiven bestickte schmale Tischdecke bedeckte die Oberfläche der Kommode. Alle zu einer katholischen Messe benötigten sakralen Gegenstände, in verkleinerter Ausgabe, prangten hier in dekorativer Anordnung: ein Kruzifix, zwei Kerzenleuchter mit weißen Kerzen, ein Messkelch, ein Gefäß zur Aufbewahrung von Hostien, ein Weihrauchgefäß, ein kleines Marmorbecken mit Weihwasser und einem Palmzweig, ein Messbuch auf einem Buchständer, ein Glaskännchen mit Wasser und eines mit Wein.

Während wir Besucher mit offenem Mund diese Gegenstände bewunderten, holte die Mutter aus dem großen Kleiderschrank, der an der linken Seite des Zimmers stand, ein Messgewand heraus, das genau auf Evelines Körpermaße geschneidert war und half ihr beim Anlegen dieses priesterlichen Kleidungsstückes. Eveline nahm eine feierliche Haltung ein und erklärte mit großer Ernsthaftigkeit, dass wir jetzt an einer Messe teilnehmen würden.

Die Mutter zog die roten Samtvorhänge vor die Fenster und entzündete Kerzen. Die Großmutter läutete mit einem Glöckchen und Eveline schritt langsam und andächtig durch den Raum. Die Mutter und die Großmutter stimmten ein Kirchenlied an, wir fielen in das, uns bekannte Lied ein und alle nahmen kniend vor dem Altar Platz. Eveline las die Messe in lateinischer Sprache mit allen dazugehörigen Zeremonien und ihre Mutter übernahm die Rolle des Messdieners.

Nichts ließ Eveline aus, sogar eine kleine Predigt hatte sie anzubieten. Diese sonst so zurückhaltende Mitschülerin strahlte uns an und sprach ohne jede Hemmung von Gott und seinen Heiligen. Zum Schluss wurde noch das Weihrauchgefäß angezündet und Eveline erteilte uns unter Weihrauchduft den Segen. Sie breitete die Arme aus und rief: „ Dominus vobiscum!“ Wir antworteten im Chor: „ Et cum spiritu tuo!“

Der Geburtstag war zu Ende und wir Kinder verabschiedeten uns von Eveline, ihrer Mutter und der Großmutter.

Es war nicht in Erfahrung zu bringen, woher Eveline diese außergewöhnlichen sakralen Gegenstände hatte. Hierzu schwieg sie und schmunzelte nur über unsere Fragen. Eine weitere Einladung von Eveline erhielt auch keiner mehr.
Sie blieb während der gesamten Schulzeit eine zurückhaltende, stille Mitschülerin, zu der niemand eine freundschaftliche, innige Beziehung pflegte und ich habe sie später nicht mehr wieder gesehen.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 24.01.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
gewidmet: Der Nostalgie

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