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In geistiger Frische erreichte er ein Alter von 104 Jahren.




Liebe Marie Luise,

Obwohl wir lange Zeit nichts voneinander gehört haben, möchte ich dir nun ausführlich schreiben, denn du bist immer noch meine Freundin aus Kindertagen, der ich über viele Jahre hinweg meine Gedanken und Sorgen anvertrauen konnte.

Ja, Konrad ist 104 Jahre alt geworden und nun schon drei Monate tot.

Nahezu vierzig Jahre waren wir verheiratet und ich glaubte, er würde mich noch überleben.

Es waren nicht immer gute Jahre, denn der Altersunterschied hat sich schon beträchtlich ausgewirkt. So habe ich immer mehr einer verlorenen, unbeschwerten Jugend nachgetrauert, die ich nie erlebte!

Ich weiß, was du sagen wirst und alle mir damals gesagt haben: 40 Jahre jünger zu sein als der Ehemann, das kann nicht gut gehen. Einige sagten mir unverblümt, ich sei berechnend und hoffe auf ein baldiges Ende dieser Verbindung und ein großen Erbe.

Mein Leben vergleiche ich oft mit einer Wassermühle, die stets von einem Fluss angetrieben wird, alle Räder sind miteinander verzahnt und laufen ständig in eine Richtung, immer weiter ohne anzuhalten oder ausweichen zu können.

Als ich damals in das Haus und Geschäft meines späteren Ehemannes kam, war ich fünfzehn Jahre alt. Der schreckliche Krieg hatte mir Eltern und Geschwister geraubt.
Wo sollte ich hin?
Die Freundin meiner Mutter, die mit unserer Familie sehr engen Kontakt pflegte, nahm mich liebevoll auf und ich konnte im Geschäft ihres Mannes eine Lehre als Verkäuferin beginnen.

Sie hatte fünf Kinder, der älteste Sohn war älter als ich und ich fühlte mich wie ein weiteres Kind in dieser Familie und wurde auch so behandelt.

Dann erkrankte meine „ zweite Mutter“, so habe ich sie immer bei mir genannt, an Krebs.
Ein mehrere Jahre dauerndes Krankenbett ließ sie dahinsiechen und ich übernahm wie selbstverständlich die Pflege und die Führung des Haushaltes.

Mit neunundvierzig Jahren starb sie und der Witwer, fünfundsechzig Jahre alt, stand mit den Kindern und den Geschäften alleine da.
Sicher, die beiden Ältesten waren schon erwachsen und selbstständig. Aber die drei anderen Kinder und er selber sahen in mir eine immer anwesende Hilfe, eine Rolle, die ich nach elf
Jahren in diesem Haus nicht so einfach hinschmeißen konnte.

Du kennst ja Konrad, er war sehr konservativ und sah sich dem Gerede der vielen Leute, die ihn kannten, ausgesetzt. Die Leitung seiner mittlerweile drei großen Konfektionsgeschäfte hatte er teilweise den ältesten Söhnen übergeben, behielt aber noch weiterhin das Heft in der Hand.
Er war sehr agil und geistig auf der Höhe.
Ein ehrenwerter, angesehener und nicht unvermögender Herr mit tadellosen Manieren und sehr gutem Aussehen.
Schlank, groß und dichtes weißes Haar, wie ein schneidiger, adeliger Offizier aus dem preußischen Heer vom Alten Fritz, so kam er mir immer vor.

Als er mir nach Ablauf des Trauerjahres einen Heiratsantrag machte, habe ich mir dies sehr gut überlegt.

Ich war nicht ganz sechsundzwanzig Jahre und ich hatte bis dahin noch nie eine nähere Bekanntschaft mit einem Mann erlebt
Vielleicht lag es auch am Krieg, der so viele junge Männer verschluckt hatte oder meiner strengen Erziehung von zu Hause, ich weiß es nicht, warum ich niemanden kennen lernte, der mir begehrenswert erschien.

Ja, ich fühlte mich auch durch diesen Antrag sehr empor gehoben und ein klein wenig habe ich auch gedacht, dass diese Ehe, früher oder ein wenig später, ein natürliches Ende nehmen müsse.

Dass er dann so alt wurde, hätte ich nie gedacht und noch weniger, dass ich vier Söhne zur Welt bringen würde.
Die Zwillinge, die zuletzt kamen, sind nun fünfundzwanzig Jahre alt.

Die sehr anstrengenden Jahre mit den vielen Kindern und dem großen Haus sind nicht spurlos an mir vorüber gegangen. Ich fühle mich alt und verbraucht.

Auch Konrads körperlicher Verfall bedurfte in den letzten zehn Jahren seines Lebens ständiger Pflege. Er wurde blind, nach einem Schlaganfall gehunfähig, inkontinent, beinahe taub und saß im Rollstuhl oder lag im Bett.

Aber geistig war er absolut auf der Höhe und leicht reizbar. Am besten war es, ihm nicht zu widersprechen und seinen Anordnungen zu folgen.
So hatte er mich am liebsten stets an seiner Seite und ich musste ihm stundenlang vorlesen. Trotz bester Hörgeräte konnte er nur verstehen, wenn ich sehr laut sprach, fast musste ich schreien.
Daher ist meine Stimme noch immer heiser.

Nun lebe ich in diesem großen Haus alleine, wohl sehr gut versorgt aber wenig unternehmungslustig und fühle mich am Ende meiner Kräfte.
Ich hoffe, dass es mit der Zeit besser wird. Ich brauche nur etwas Erholung und Ruhe nach all diesen Jahren der ununterbrochenen Arbeit.
Meine ausgezeichnete Garderobe, mein kostbarer Schmuck und einige wunderschöne Reisen sowie ein von finanziellen Sorgen befreites Leben, habe ich Konrad zu verdanken.
Hoffentlich kann ich alles noch lange Zeit genießen.

Liebe Marie Luise, jetzt habe ich Dir so viel geschrieben! Trotz der weiten Entfernung wünschte ich mir so sehr, dass wir uns einmal wieder sehen! Es wäre so schön, wenn wir nach vielen Jahren endlich ungestört miteinander plaudern könnten. Sollen wir beide nicht eine Kreuzfahrt an Schweden und Norwegen vorbei bis zum Nordkap in Angriff nehmen? Da wäre ich immer so gerne hingekommen! Vielleicht im nächsten Jahr zur Mittsommerzeit?

Ich umarme dich und sende dir viele liebe Grüße

Deine

Henriette


Nachruf:
Heute verstarb plötzlich und unerwartet im Alter von sechsundsechzig Jahren, nur ein Jahr nach dem Tode ihres geliebten Mannes, unsere treusorgende Mutter Henriette.
Ihr Leben war unermüdliche Arbeit und Aufopferung für ihre vielköpfige Familie, die ihr große Dankbarkeit schuldet und ihr ein ehrendes Andenken bewahren wird.


Das Fräulein Wilma.



Ich kenne vier „Fräulein Wilma“, die Namen wären austauschbar, da sich alle Vier unglaublich ähnlich sind.

Untereinander kennen sie sich nur flüchtig, allenfalls von einer Geburtstagseinladung bei mir.

Alle vier sind zwischen 55 Jahre und 62 Jahre alt.

Alle sind unverheiratet und auch sonst nicht mit irgendjemandem verbandelt.

Drei besitzen eine Eigentumswohnung, eine ein Haus, von den Eltern ererbt.

Sie leben allein und scheinen nichts zu vermissen oder ändern zu wollen. Kontakte, die sie einmal geschlossen haben, werden im Laufe der Jahre aber nur sehr mühsam aufrechterhalten.

Es wird peinlich genau gegengerechnet: Wann hat man mich angerufen? Danach rufe ich auch an.
Hat man mich eingeladen, dann lade ich auch ein.

Ansonsten ziehen sie sich zurück und bleiben für sich.

Letztens fiel eine ein Stück die Treppe hinunter. Sie berichtete Tage später telefonisch darüber. Der Fuß war angeschwollen und musste hochgelegt und gekühlt werden.
Hilfe in irgendeiner Form wollte sie nicht. Auf die Frage, ob sie sich denn nicht langweilen würde, wenn sie nicht hinausgehen könne, antwortete sie, sie hätte sich noch nie in ihrem Leben gelangweilt.

Keine sind Literaturfreunde und mit Büchern ist ihnen keine Freude zu machen.

Ich schreibe dies hier unbekümmert, weil keine einen PC hat, geschweige denn im Internet unterwegs ist.

Ihr Leben bleibt mir ein Rätsel, weil es so gar nichts gibt, womit sie sich erkennbar beschäftigen und was ihre Zeit beanspruchen würde. Ich könnte von keiner sagen, dass sie einen unglücklichen Eindruck machen oder gerne ein anderes Leben bevorzugt hätte.

Alle pflegen mit Hingabe die Gräber ihrer Eltern.

Nicht dass sie Männer nicht leiden könnten, aber aus einer Anspruchhaltung heraus haben sie irgendwann den Anschluss verpasst und plötzlich war niemand mehr da, den sie vielleicht gewollt hätten.

Ein wenig langweilig sehen und sahen sie immer schon aus, keineswegs hässlich; stets bieder aber teuer gekleidet, mit der unvermeidlichen Perlenkette und einem kostbaren Pelzmantel.

Freundschaften mit Geschlechtsgenossinnen sind alle recht lose und möglichst unverbindlich.

Sie sind alle Tanten von Neffen und Nichten, die sich freuen, eine spendable Tante zu haben.
Andererseits höre ich nie von emotionalen Zuwendungen der jungen Leute ihrer Tante gegenüber.

Zwei von ihnen fahren in Urlaub, auch alleine, die anderen bleiben zu Hause.

Keine ist in einem Verein oder in einer sich immer wiederholenden Freizeitbetätigung, die einen bindenden Charakter für sie hätte.

Sie nehmen gerne meine Einladung zum Wandern und danach zum Essen gehen an; schlagen aber ihrerseits kein Ziel vor.

Alle sind freundlich, höflich, gesprächsbereit aber trotzdem nicht offen.
Irgendwie entsteht der Eindruck, dass sie nur Unwichtiges von sich preisgeben.

Sollte eine von ihnen einmal nicht mehr Herr ihrer Sinne sein, durch Unfall oder Krankheit, wüsste wahrscheinlich niemand, was sie für solche Fälle angeordnet oder bevorzugt hätten.

Gespräche über das Alter und seine etwaigen Lebensumstellungen werden abgeblockt oder mit dem Hinweis, noch sei es ja lange nicht so weit, in den Hintergrund geschoben.

Ich bemühe mich, den Kontakt aufrecht zu erhalten, aber ich habe das Gefühl, auch ohne freundschaftliche Bindungen würden sie nichts vermissen.


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 11.01.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Meiner Mutter, der Freundin von Henriette.

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