Letztens wurde er im Dorf mit allen Ehren zu Grabe getragen. Der Kirchenchor sang. Die Bruderschaft marschierte auf. Ein Trompeter blies „Ich hatt’ einen Kameraden“, das hatte er sich ausdrücklich gewünscht.
Alle Dorfbewohner, soweit sie nicht winzig klein oder nicht mehr gehfähig waren, gaben ihm das letzte Geleit. Er war eines der letzten „Originale“ des Ortes gewesen.
„Et Fükske“, so hieß er, seit er Ende 1945 auf verschlungenen Wegen aus dem verlorenen Krieg nach Hause kam.
Mit Rommel, seinem verehrten General, dem Wüstenfuchs, war er Ende 1942 auf El Alamein zugestürmt, im Panzer, klein und zäh und todesmutig.
Leider geriet er dabei in englische Gefangenschaft, doch gelang ihm nach kurzer Zeit die Flucht aus einem Lager.
Nach Tagen des Umherirrens fanden ihn, halbtot und fast verdurstet, Beduinen die, Gott sei Dank, die Engländer hassten, besonders ihr Anführer. Der bedeutete ihm, dass er große Freude empfinden würde, weil die Briten endlich einmal ihren Meister gefunden hätten. Dass unser Soldat ein Deutscher war, rettete ihm das Leben. Der Beduinenscheich fand so großes Gefallen an ihm, dass er ihn als einen der ihren ausgab und so zog er an die drei Jahre mit ihnen durch die Wüste.
Er lernte ihre Sprache, achtete ihre Sitten aber das Heimweh ließ ihn nicht los.
Als ihm dann eine Tochter des Stammes zur Frau gegeben werden sollte, schlich er sich auf abenteuerlichen Wegen von dannen und kam Ende 1945 wieder in sein kleines Heimatdorf zurück.
Dort hatten ihn seine Eltern schon für tot gehalten und die Wiedersehensfreude war riesig.
Das Dorf war, bis auf einige Flüchtlinge, die es unterzubringen galt und die man nach Kräften schikanierte, durch keine Kriegswirrenverschandelt worden und solche Abenteuer hörte man mit ungläubigem Staunen und wachsender Begeisterung.
Seither hieß er „ Et Fükske“. Er nahm seine alte Arbeit bei einer Kohlenhandlung wieder auf, schleppte Kohlensäcke durch die Gegend und diese Arbeit bescherte ihm im Laufe der Jahre einen großen Buckel.
Er war sehr beliebt im Dorf, spendabel in den beiden Dorfwirtshäusern und konnte sehr schlagfertig der vorwitzigen Jugend den Marsch blasen. So strich ihm einmal ein sehr angeheiterter junger Schützenbruder über den Buckel und wollte laut wissen, was er denn darin habe.
„ Enn Wendeltrepp, da kannste runter sausen und mich am A…..lecken,“ entgegnete er trocken.
Einmal standen wenig zahlungskräftige Jugendliche des Ortes an der Theke und einer tat sich besonders hervor und bestellte eine Runde für alle.„Kannste die überhaupt bezahlen?“ wollte der Wirt wissen. Grinsend sprach das „Füsken“: "Kannste ihm jeben, da steh’ ich jrad für!“
Im Ort gab es wenig Freizeitvergnügen und so trat er flink dem Schützenverein bei und sang mit Vehemenz im Kirchenchor.
Dort wurde er aber nach kurzer Zeit ausgeschlossen, weil er eine Dorfschönheit geschwängert hatte. Legendär blieben seine Worte, mit welcher er dieses Vergehen seinen Schützenmitgliedern nahe brachte: „ de Minn is pa- pa- parat!“ – Meine ist parat = in diesem Fall schwanger –
Solche Fisimatenten ließen die streng gläubigen Chormitglieder nicht gelten. Immerhin war solches Tun 1948 nicht im Sinne der Moral und Sitte.
Das Ereignis hatte ihn so überwältigt, dass er ins Stottern geriet.
Er heiratete, zog mit seiner Frau bei seinen Eltern ein, ein Schlafzimmer war für die beiden,
wenn das Kind etwas größer wäre, sollte man noch ein Zimmer bekommen. Dazu kam es nicht, denn leider starb das Kleine bereits im Säuglingsalter.
Weitere Kinder waren ihnen nicht mehr beschert.
Nach einigen Jahren kaufte er ein Häusileinili.
Anders kann man es nicht bezeichnen. Es war ein Teil eines angebauten Hauses. Dieser bestand aus einem winzig kleinen Hausflur, in welchem am Ende ein Tisch stand, darauf eine zweiflammige Kochplatte, daneben ein Spülbecken mit einem Wasserhahn darüber. Ansonsten fand an einer Seite noch ein kleiner Küchenschrank Platz und ihm gegenüber betrat man durch eine schmale Tür das Wohnzimmer. Auch hier konnten nur wenige Wohnzimmermöbel aufgestellt werden, zudem ging mitten im Raum noch eine steile Holztreppe nach oben. Hier gelangte man ins Schlafzimmer, dass durch seine schrägen Dachwände nur spärliches Mobilar gestattete. Nirgendwo war eine Möglichkeit für ein noch so kleines Klo oder Bad.
So erwarb das schlaue „Füksken“ einen ehemaligen Hühnerstall, den er zu einem Bad ausbaute.
Dieser kleine Stall lag genau gegenüber der Haustüre und, um das Bad zu erreichen, musste man die etwa 5m breite Hauptstraße, die als einzige durch das Dorf führte, überqueren.
Für dringende oder nächtliche „Geschäfte“ hielt man einen Kloeimer mit Deckel „parat“.
Trotzdem warteten alle gespannt, ob nicht irgendwann einmal einer von den Beiden beim Toilettengang umgefahren würde, denn auf dieser Straße wurde sehr flott der Ort durchquert. Die Dorfbewohner drückten das deutlich drastischer aus, aber geschrieben ist es doch sehr derb
Außerdem wurde dieser „ Toilettenbau“ zur Gewohnheit und niemand störte sich daran. Man war sich einig, dass gerade in diesem Haus die meiste Freude beim Feiern aufgekommen war.
Das blieb so, bis zum Tode des „Fükske“, der nach kurzer schwerer Krankheit plötzlich starb. Seine gebrechliche Frau bezog danach ein Zimmer in einem Altenheim.
Das Häuschen samt Bad wurde abgerissen, denn noch solche bedürfnislosen und bescheidenen Bewohner wie das „Fükske“ und seine Frau gibt es nicht mehr.
Das nicht einmal fünfundzwanzig Quadratmeter große Grundstück ist nun eine kleine Rasenfläche vor dem größeren Haus und wer es nicht weiß, glaubt niemals, dass dort ein Häuschen gestanden hat, in welchem zwei Leute viele Jahre gelebt hatten.
Sonntags war für Herrn Balduin immer der Tag, der ihn deprimierte und den er am liebsten gänzlich gestrichen hätte.
Besonders in der dunklen Jahreszeit hatte er mit dem Verlauf dieses Tages Schwierigkeiten.
Seine kleine Einzimmer-Wohnung lag in einer trostlosen Vorstadtgegend, gekennzeichnet durch triste, schmutzig- graue Häuserblocks, beschmiert mit hässlichen Graffitis. Die Eingänge und Treppenhäuser voller Schmutz und Unrat, herausgerissenen Klingel- und Briefkästenanlagen, bewohnt von Menschen, die am Rande der Gesellschaft lebten.
Es ekelte ihn vor den Gerüchen, die ihm entgegenschlugen, wenn er aus seiner Wohnung trat und noch entsetzlicher empfand er die unentwegten Geräuschkulissen, bestehend aus dem Gebrüll volltrunkener Männer, keifender Frauen, streitender Kindern, dröhnender Musikboxen und aufheulenden Motoren von verschiedenen Fahrzeugen, die in den Hinterhöfen der Häuser abgestellt waren. Es schien ihm, als würde zu keiner Tages- und Nachtzeit Ruhe einkehren.
Nie hätte er sich vor einigen Jahren vorstellen können, dass er hier seinen Lebensabend verbringen würde. Sein Untergang, eine Kette von unseligen Anhäufungen menschlicher
Schicksalsschläge,kam in schneller Reihenfolge.
Krankheit, Arbeitslosigkeit, Tod seiner Frau, alles ereignete sich innerhalb zweier Jahre und
hinterließen einen orientierungslosen Menschen, der immer in totaler Abhängigkeit von seiner Frau existiert hatte.
Die Ehe war kinderlos geblieben, Verwandte gab es auch nicht mehr und da Herr Balduin mit seiner Frau stets sehr zurückgezogen gelebt hatte, sah er sich plötzlich allein und überflüssig.
Die wenigen Ersparnisse waren längst aufgebraucht und so geriet er in eine ausweglose Situation, die ihn schlussendlich hierher geführt hatte, abhängig von einem Zuschuss des Sozialamtes zu seiner kleinen Rente.
Seine Mitbewohner mied er, sowie er zeitlebens den Alkohol gemieden hatte. Hier, so schien es ihm, gab es auch keinerlei Gespräche in nüchternem Zustand.Teilweise verstand er weder ihren ordinären Dialekt oder überhaupt die verschiedenen Sprachen, die ihm wie ein babylonisches Sprachgewirr entgegenschlug.
Gut war jetzt nur, dass er in einer größeren Stadt lebte, die ihm die Möglichkeit bot, auch mit sehr bescheidenen Geldmitteln seinen wenigen Interessen nachzugehen.
Die große Stadtbücherei besuchte er einige Male in der Woche. Hier konnte er ungestört lesen und da seine Frau ihn langsam, im Laufe der Jahre, an gute Literatur herangeführt hatte, machte es ihm nun große Freude, Bücher auszuleihen und sich am Abend in seiner Wohnung durch diese Lektüre, in eine andere Welt versetzen zu lassen.
Was er vermisste, waren die Unterhaltungen und das Zusammensein mit Menschen, die er, wenn auch in kleinem Rahmen, stets genossen hatte.
Sonntags floh Herr Balduin bereits frühmorgens aus seiner freudlosen Umgebung und kehrte erst in der Dunkelheit zurück.
Die Bahnhofsvorhalle war an diesem Tag immer sein erster Anlaufspunkt. Andere Geschäfte und öffentliche Einrichtungen hatten am Sonntag geschlossen und schränkten seine ruhelosen Gänge ein. Hier streifte er umher, setzte sich auf verschiedene Bänke, aß seine mitgebrachten Brote und spülte sie mit einem Becher heißen Kaffees hinunter. Er beobachtete eilige Reisende. Manchmal empfand er so etwas wie eine Zugehörigkeit zur besseren Gesellschaft, die in Urlaub fuhr und er träumte sich in Ziele, die er nie erreichen würde.
Sein Mittagessen nahm er in der billigen Suppenküche einer wohltätigen Organisation ein.
Am frühen Nachmittag ging er in die Stadtmitte und von hier aus erreichte er Nebenstraßen, die mäßig ruhig waren. Große Häuserreihen mit Hinterhöfen und Garagen waren sein Ziel.
Mit geübtem Blick wandte er sich den Papiermüllcontainern zu.
Um diese Zeit hatten die Leute ihre Tageszeit ungen vom Vortag entsorgt und die benötigte er.
Drei verschiedene große Tageszeitungen nahm er mit, setzte sich bei erträglichen Temperaturen in den Stadtpark und studierte genau die Seiten mit den Todesanzeigen, diese waren in den Wochenendausgaben besonders zahlreich.
Er schnitt mit einer kleinen Schere die Anzeigen heraus, die er für seine Zwecke benötigte.
Die großen Traueranzeigen deuteten stets auf betuchte Angehörige, die eine große Anteilnahme vieler Menschen zur Beerdigung ihrer Lieben erwarteten. In einer Großstadt, dies wusste er auch zu schätzen, wurde er immer fündig.
Drei bis vier Todesanzeigen suchte er für eine Woche heraus und war sich sicher, dass er an diesen Tagen einige Stunden in einer Gesellschaft zubringen konnte,die ihm sehr angenehm sein würde.
Am Abend nahm er in seiner Wohnung den dunklen Anzug aus dem Schrank, bürstete ihn sorgfältig, legte sein weißes Hemd, eine silbergraue Krawatte und schwarze Socken zurecht, putzte sein einziges Paar schwarzer Schuhe glänzend sauber und schnitt seinen weißen Bart in Form.
Frühmorgens duschte er, wusch seine Haare, die weiß, wellig und noch sehr dicht sein schmales Gesicht mit den dunklen Augen hervorhoben und ihm, in Verbindung mit seinem gepflegten Bart, ein leicht künstlerisches Aussehen verlieh. Er zog sich langsam an und machte sich auf den Weg.
In der heißen Jahreszeit bevorzugte er katholische Kirchen, weil sie größer und kühler waren, im Winter waren ihm die kleineren evangelischen Kirchen, die offensichtlich besser geheizt wurden, lieber.
Nicht, dass er ein ungläubiger Mensch gewesen wäre aber er war durch seine Mutter nur in Kindertagen aufgefordert worden, mehr oder weniger regelmäßig an der sonntäglichen Messfeier in der heimatlichen Pfarrkirche teilzunehmen.
Da er jetzt häufig eine der vielen Kirchen zu Trauergottesdiensten aufsuchte, empfand er die Ruhe des großen Raumes, die immer gleichen feierlichen Rituale, die alten Gesänge, das mächtige Orgelspiel und der Duft des Weihrauchs, mit dem die katholischen Kirchen immer durchzogen waren, wie Balsam für seinen inneren Zustand.
In einer der letzten Bänke fand er Platz, schaute die wachsende Zahl der Trauernden genau an, nahm am Gottesdienst in ernster Haltung teil und betete und sang gedämpft mit.
Die Fürbitten und die Predigt, die auf den Verstorbenen zugeschnitten waren, ließen ihn Einblick in das Leben des Verblichenen nehmen.
Mit würdiger Anteilnahme schloss er sich dem Zug der Menschen zum Grabe an.
Am Sarg verneigte er sich und legte stets eine Trauerkarte in einem Briefumschlag mit einem Geldschein in den Korb, der am Grabrand bereit stand. Hier hatte er die Verwendung des Geldes, im Sinne des Verstorbenen und einen letzten Gruß von „deinem Freund aus Jugendzeiten“ hineingeschrieben. Dem Körbchen entnahm er gleichzeitig einen kleinen Trauerzettel, der dem Toten gewidmet und manchmal mit seinem Bild versehen war. Stets aber mit Daten und einer Anrufung Gottes und der Aufforderung eines Gebetes für den Entschlafenen.
Ab da hatte er die unbedingte Vorstellung, den Toten gekannt zu haben und niemand sprach ihn jemals an, in welcher Beziehung er zu ihm gestanden hatte.
Ganz selbstverständlich schritt er langsam, am liebsten mit einer allein stehenden älteren Dame, vom Grabe zu dem anschließenden Beerdigungskaffee.
Hier achtete er darauf, nicht in der Nähe der Angehörigen zu sitzen oder an einem Tisch Platz zu nehmen, wo sich offensichtlich mehrere Bekannte der Trauergesellschaft, in angeregtem Gespräch befanden.
Durch seine zurückhaltende, bescheidene Art wurde er, von ebenfalls allein Anwesenden, auf einen freien Platz aufmerksam gemacht.
Die gepflegte Umgebung, die reich gedeckte Kaffeetafel, der Duft des Kaffees, die aufmerksame Bedienung, die nachfüllte sobald etwas fehlte, genoss er von Herzen.
Gespräche, die sich bald entspannen, nachdem der erste Schluck getrunken und der erste Bissen gegessen waren, verfolgte er mit Interesse, warf hier und da eine passende Bemerkung ein und half gehbehinderten Damen oder Herrn beim Verlassen des Tisches.
Ein Höhepunkt war für ihn, wenn auch noch Zigarren und ein Kognak angeboten wurden. Dann fühlte er, dass er noch dazu gehörte und konnte für mehrere Stunden sein tägliches Elend vergessen.
Herr Balduin verließ die Gesellschaft immer so spät als nur möglich und er versäumte es nie, sich bei den Angehörigen zu bedanken, die ihrerseits für seine Anteilnahme lobende Worte fanden.
So vergingen mehrere Jahre, in welchen er seine Gepflogenheiten beibehielt und weder aus seiner tristen Umgebung noch Einsamkeit herausfand.
Nach kurzer schwerer Krankheit verstarb er in einem Krankenhaus.
Seine sterblichen Überreste, Asche in einer Urne, wurde von niemandem begleitet, als ein Friedhofangestellter diese in einem anonymen Grab herabließ.
Der amtlich bestellte Nachlassverwalter fand nichts in seiner Wohnung, welches auf Angehörige oder Freunde hingewiesen hätte.
Wertgegenstände gab es keine und nur zwei Schuhkartons voll mit kleinen Totenzetteln, die er bei jeder Teilnahme an einer Beerdigung mitgenommen hatte, ließ den Verwalter für kurze Zeit ein wenig erstaunt aussehen, dann wurde auch dieser Rest seines Lebens entsorgt.
Tag der Veröffentlichung: 05.01.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Arthur - dem Freund vom " Kleinen Wüstenfuchs"