Ripley Storm wunderte sich über die Anpassungsfähigkeit seiner Sinne. Er registrierte Dinge, an deren Existens er in seinem bisherigen Leben keinen noch so kleinen Gedanken verschwendet hatte. Da war zum Beispiel das Kratzen von winzigen Krallen über Betonboden, irgendwo in einem der anderen Kellerräume oder ein schwache Schimmer von Licht, der sich durch einen Schlitz unterhalb der verriegelten Stahltür hindurchquetschte. Hinzu kam, dass Storm etwas geschenkt bekommen hatte, an das er sich erst langsam gewöhnte und das war Zeit.
Alles das er mit diesem Begriff verband, war die Erkenntnis, dass er nie welche gehabt hatte und nun mit ihrem vorhandenen Übermaß nichts anzufangen wusste.
Er hatte nie zu den Menschen gehört, die endlos vor wichtigen Entscheidungen nachdachten und hatte meist schon gehandelt, als die Konkurrenz noch das Für und Wieder in ihren edelholzgetäfelten Chefetagen abwog.
In dem dunklen Kellerraum, der ihm seit einer Woche als Obdach diente, gab es außer einem Bett nur noch eine übel riechende Kloschüssel, einen wackeligen Tisch und ein Waschbecken. Für einige Stunden schaltete sich eine schwache Glühbirne ein, die ihm eine Illusion von Tag und Nacht vorgaukelte. Eine Plastikschüssel unter dem Tisch enthielt Brot, Käse und etwas Hartwurst, so dass er nicht hungern musste.
Das unerwartete Geräusch von Schritten erregte seine Aufmerksamkeit. Er zählte sieben bis zu einer Treppe, acht auf deren Stufen und sechzehn bis die Tür zu seiner Zelle aufgeschlossen wurde. Die Glühbirne erwachte und schwaches Licht breitete sich träge in dem engen Raum aus.
Der Mann war etwa einmeterneunzig groß, leicht korpulent und mit einem schwarzen Trainingsanzug bekleidet. Nie hatte Storm ihn ohne die graue Skimaske gesehen, durch deren Augenschlitze er ihn abschätzend anzusehen schien.
“Und, haben sie das Geld bekommen?“, fragte Storm ungeduldig. Sein Gegenüber schüttelte den Kopf.
„Sie scheinen nicht unbedingt beliebt in ihrer Firma zu sein“.
Akzentfrei und bar jeder Emotion, hatte diese Stimme kaum Wiedererkennungswert.
Storm sank einen Augenblick in sich zusammen, bevor die heiße Flamme lodernder Wut von ihm Besitz ergriff. Er sah sie beinahe bildlich vor sich sitzen, diese Bande konturloser Pfeifen, die sich im Konferenzsaal der Firma versammelt hatten und andächtig lauschten, während sein Stellvertreter Miller den Brief mit der Forderung von einer Millionen Dollar Lösegeld vorlas.
„Was haben diese Schleimer denn geantwortet?“ Einen Augenblick herrschte schweigen.
„Sie brauchen mehr Zeit um die Summe zusammenzubringen“, kam die tonlose Antwort.
„Sie brauchen mehr Zeit?“, Storm schrie die Frage seinem Gegenüber ins Gesicht.
„Eine Million gebe ich Jahr für Jahr allein für ihre Spesenabrechnungen und Prämien aus!“
Sekunden flossen zähflüssig dahin, bevor der Mann etwas erwiderte.
„Sehen sie Mr. Storm, ich habe persönlich nichts gegen sie, aber das Geschäft das ich betreibe verlangt hin und wieder Konsequenzen, ohne die ich auf Dauer unglaubwürdig werde“. Storms Körper versteifte sich, als er erkannte, dass die Hand seines Gegenübers in die Tasche seiner Jacke glitt und eine Pistole zum Vorschein brachte.
„Sehen sie, ich bin ein durchaus korrekter Geschäftsmann und halte Vereinbahrung mit meinen Partnern hundertprozentig ein. Aber auch meine Geduld hat Grenzen und jeder weitere Tag der verstreicht, birgt eine größer werdende Gefahr für mich entdeckt zu werden“. Storms Gehirn arbeitete auf Hochtouren.
„Es gibt noch eine Möglichkeit, auf die diese Feiglinge reagieren müssen!“, seine Iris hatte sich trotz der Dunkelheit eng zusammengezogen.
„Und die wäre?“
„Wir sind uns vielleicht ähnlicher als sie denken“, antwortete er und versuchte seiner Stimme einen verschwörerischen Beiklang zu geben.
„Jede einzelne dieser Marionetten, habe ich selbst eingestellt und das nicht obwohl, sondern weil sie alle ein wohlbehütetes Geheimnis besitzen, das ich bis aufs I-Tüpfelchen kenne. Dieser Umstand macht es sehr einfach Entscheidungen in meiner Firma widerstandslos durchzusetzen.
Der nächste Schritt ist wirklich unkompliziert, sie teilen diesen Zauderern mit, dass es im Falle meines weiteren Verschwindens verschiedene Schreiben an Staatsanwälte, Presse oder auch Ehefrauen geben wird, die einige durchaus interessante Dinge enthüllen werden. Geben sie mir ein Blatt Papier, etwas zu Schreiben, einige Minuten Zeit und ich garantiere ihnen, dass sie die Millionen innerhalb der nächsten drei Tage in Händen halten“.
Zwei Tage vergingen, ohne dass er Besuch in seiner Zelle bekam, zwei Tage an denen Storm sich fragte, ob er seine Untergebenen nicht doch unterschätzt hatte.
Als sich am Morgen des dritten Tages die Tür öffnete, blieb sein Blick an dem silbernen Metallkoffer kleben, den der Mann mit der rechten Hand trug.
„Sie haben den Schwanz eingekniffen, ist es so?“
Storm schlug sich lachend auf den Oberschenkel.
Selbst die Düsternis die dieses lausige Loch vermittelte, minderte nicht diesen wunderbare Moment von Macht und Überlegenheit.
Schweigend öffnete der Mann mit der Strumpfmaske den Koffer. Akkurat, in großen Dollarnoten gebündelt, füllte das Geld den Innenraum.
„So sehen also eine Millionen Dollar auf einen Haufen aus!“, meinte Storm beeindruckt.
„Nicht direkt“, entgegnete sein Gegenüber.
„Nicht direkt, haben die Geizhälse etwa noch einen Rabatt rausgeschlagen?“
„Ganz im Gegenteil, ihr Vorstand hat noch eine halbe Millionen obendrauf gelegt“. Einen Augenblick war Storm irritiert, dann lehnte er sich grinsend auf der Liege zurück.
„Eine Millionen für meine Befreiung und noch eine halbe für sie als Schweigegeld obendrauf".
Übergangslos zogen sich seine Augenlider zusammen
und seine Stimme bekam einen verächtlichen Tonfall.
"Diese Schlappschwänze würden doch ihren letzten Cent hergeben, nur damit Niemand von den jämmerlichen Verfehlungen ihrer Vergangenheit erfährt“.
„Sie wissen gar nicht wie recht sie haben“, antwortete der Mann mit der Gesichtsmaske emotionslos, zog seinen Revolver aus der Tasche und schoss Storm, ohne den Anflug von Bedauern, eine Kugel in die Brust.
Tag der Veröffentlichung: 27.05.2009
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