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Mit der Suche nach Tim rückten Ereignisse in mein Bewusstsein zurück, die ich schon wie vergessene Akten in einer alten Schublade wähnte. Nach einem lautstarken Streit mit Ellen war er, ohne dass wir es gemerkt hatten, davongelaufen. Da ich in der Nähe geboren und aufgewachsen war, kannte ich mich gut in der Umgebung aus und wir hatten schnell alle möglichen Verstecke und Winkel abgesucht, ohne auch den geringsten Hinweis auf den Verbleib unseres Sohnes zu entdecken. Seltsamerweise fielen erst jetzt meine Gedanken auf den Ort, an den mich zu erinnern mir fast physische Schmerzen bereitete. „Wir müssen zum Dunkenweiher." Meine Stimme klang so bestimmt, dass Ellen, die ohnehin schon ganz blass vor Sorge war, zu zittern begann. „Was zum Teufel ist der Dunkenweiher?" Ich sammelte mich einen Moment um zu überlegen, wie ich es ihr erklären sollte, ohne dass sie in Panik geriet. „Der Dunkenweiher ist ein alter Dorfteich, der eigentlich schon verlandet sein müsste. Das Dorf selbst ist im letzten Jahr vom Tagebau geschluckt worden, aber vielleicht ist der Teich, der etwas außerhalb lag, noch vorhanden.“ Bevor ich Weiteres sagen konnte, war Ellen schon im Korridor und streifte ihre Regenjacke über. “Mach schon! Worauf wartest du noch?“, rief sie aufgeregt. „Keine Angst, Ellen, es geht keine Gefahr mehr von ihm aus; im letzten Herbst war er nur noch knapp einen halben Meter tief."


Ellen kam zurück, stemmte ihre Arme in die Hüften und sah mir tief in die Augen. „Was hat es mit diesem verfluchten Weiher auf sich und woher kommt dieser merkwürdige Name?“, bohrte sie weiter. Während wir den Feldweg hinunter zur Braunkohlegrube nahmen, durchforstete ich mein Gedächtnis und sammelte die Bruchstücke dessen auf, was ich über den Weiher zusammenbekam. „Den Dunkenweiher hat man zwischen dem 16. und 17. Jahrhundert als Gerichtsweiher genutzt. Ich glaube, dort stand früher die Richtereiche, an der man die zum Tod Verurteilten aufgehängt hat. In dem Weiher, so erzählte man, wurden Wasserproben an vermeintlichen Hexen durchgeführt." Ellens Gesichtausdruck verriet mir, dass sie keine Vorstellung von dem hatte, wovon ich sprach. „Die Wasserprobe bedeutete, dass die Opfer, meist Frauen, mit Daumen und Zehen aneinander gefesselt und an ein Seil gebunden wurden. So ließ man sie ins Wasser hinab. Wenn die Körper untergingen, so galten die Angeklagten als unschuldig und wurden wieder herausgezogen. Es kam jedoch gelegentlich vor, dass die Frauen dabei ertranken. „Wie kam man denn auf diesen Quatsch?", warf Ellen erbost ein. „Ganz einfach, man hat geglaubt, dass der Teufel mit der Hexe im Wasser wäre und ihr Untersinken verhindern würde oder dass Hexen sehr leicht sein müssten, um fliegen zu können, und daher nicht untergehen könnten.“ „Aber warum denkst du, dass Tim ausgerechnet zum Teich gelaufen ist?“ Ich rang mit mir, wie und ob ich Ellen diese alte Geschichte erzählen sollte.

Sie sah mich mit einem Blick an, der mir keine weitere Wahl ließ. „Also gut, eine Geschichte, mit der wir Kinder vom Weiher ferngehalten wurden, besagte, dass zwei allein stehende Frauen der Hexerei bezichtigt wurden und mit ihnen eine Wasserprobe im Dunkenweiher durchgeführt wurde", erklärte ich. „Warum sind sie der Hexerei bezichtigt worden?", warf Ellen ein. „Als Kind wusste ich es nicht, weißt du, ich war noch keine zehn und vieles, was nicht für jugendliche Ohren bestimmt war, wurde nur unter vorgehaltener Hand getuschelt. Aber ich habe dir doch erzählt, dass ich vor einigen Monaten den alten Küster Paul Struder im Altenheim besucht habe. Wir kamen auf die Zeit zu sprechen, als wir noch Tür an Tür gewohnt haben. Struder hat sich als selbst ernannter Dorfchronist betätigt und hat alles, was noch an Wissen über das Dorf zu finden war, aufgeschrieben. Außerdem hatte er Zugang zu den alten Kirchenbüchern. Ich habe einiges kopiert und zu Hause durchgesehen. Also, er glaubt, dass die beiden Frauen ein, sagen wir einmal, außerordentlich inniges Verhältnis miteinander gepflegt haben. Da sie zudem wohl besondere Schönheiten gewesen sein sollen, sind sie vermutlich von Männern, die bei ihnen nicht landen konnten, denunziert worden." Ellens betroffener Gesichtsausdruck erzeugte in mir, ohne dass sie einen Vorwurf aussprach, so etwas wie männliche Mitverantwortung ohne eigenes Zutun. „Was wurde aus den Frauen? Sind sie ertrunken? Oder wurden Sie als Hexen verbrannt?", fragte sie.
„Das ist ja gerade das Merkwürdige. Als man sie an Händen und Füßen gefesselt in den Teich hinab ließ, gingen sie wohl sofort zum Missfallen einiger Dorfbewohner unter. Als man jedoch die Stricke herauszog, waren sie leer. Der ganze Teich wurde mit Stangen nach den beiden Frauen abgesucht, aber Sie wurden nie aufgefunden." „Und nur der Verdacht, dass die beiden Frauen lesbisch waren, hat genügt sie zu denunzieren?" „Sicherlich, aber es gab da noch etwas, das erschwerend dazu beigetragen hat." „Und was war das? Waren sie die Hebammen des Dorfes? Oder waren Sie heilkundig und besaßen irgend welche Mittelchen gegen Impotenz, die dann irgendwann auch nicht mehr geholfen heben?", meinte Ellen spöttisch. „Nein, nichts dergleichen. Es war, weil die beiden einen Sohn hatten!" In Ellens Gesicht spiegelte sich Verblüffung. „Keinen leiblichen", erklärte ich, „es muss wohl ein Findelkind gewesen sein, jedenfalls haben sie den Jungen ohne Vater aufgezogen." „Irgendwie verstehe ich die Sache nicht. Was hat das Kind mit Hexerei zu tun?", fragte Ellen weiter. „Der Junge war eine Zeitlang das einzige Kind im Dorf. Es gab nur wenige Familien, die ihre Kinder groß bekamen. Epidemien, herumlungernde Söldnergruppen, die Kinder als menschlichen Nachschub stahlen, Hunger und Ähnliches rafften die Kinder hin. Keiner gönnte diesen Frauen das Glück, ein gesundes Kind groß zu ziehen. Kurzum, später wurde immer wieder behauptet, dass merkwürdige Dinge in der Nähe des Weihers gesehen wurden."

„Und mit diesem Ammenmärchen hat man euch Kinder vom Weiher ferngehalten? Und was meinst du mit merkwürdigen Dingen?" Ellen war an einem Holunderstrauch stehen geblieben und sah mir fragend in die Augen. „Einige Dorfbewohner behaupteten, die beiden Frauen in der Nähe des Weihers noch Jahre nach ihrem Tod gesehen zu haben." „Geistergeschichten, um kleine Kinder zu erschrecken", entgegnete Ellen geringschätzig. Wir schwiegen gedankenverloren, während wir eine Lichtung überquerten. „Was wurde aus dem Jungen?", fragte Ellen weiter. „Er wurde von der Familie großgezogen, aus der die Denunzianten kamen, aber er hat wahrscheinlich seine Ziehmütter nie vergessen." „Jetzt ergehst du dich aber in Mutmaßungen." Ellen schüttelte unwillig den Kopf. „Wie kommst Du überhaupt darauf, dass Tim den weiten Weg bis hin zum Weiher gelaufen ist? Ich denke, wir sollten umkehren und uns in der Nähe des Hauses umsehen. Vielleicht sitzt er jetzt längst schon in seinen geliebten Gameboy vertieft vor dem Schuppen." „Sie haben ihn gerufen ", entgegnete ich. Ellens Blick ließ völliges Unverständnis erkennen. „Die beiden Frauen haben ihn gerufen und er ist ihren Stimmen gefolgt." „Hör auf, solchen Schwachsinn zu reden, du machst mir Angst." „Glaub mir, ich weiß es, ich kenne ihre Stimmen. Mach dir um Tim keine Gedanken, es geht ihm gut." „Wo ist er, wo ist dieser verdammte Teich?" Ellens Fingernägel hatten sich tief in meinen Arm gegraben.


„Dort vorn, hörst du ihn?" Tims durch dichtes Buschwerk gedämpftes Lachen drang zu uns herüber. Ellen riss sich von mir los und lief in Richtung der Stimme. Ich folgte ihr und fand sie am ehemaligen Ufer des Weihers. Sie hielt sich zitternd am Ast einer Weide fest und beobachtete das eigenartige Schauspiel, das sich uns wenige Meter entfernt bot. Tim stand inmitten von frischem, grünem Gras, das sich am ausgetrockneten Boden des ehemaligen Teiches gebildet hatte. Ihm gegenüber sahen wir eine strohblonde Frau von vielleicht dreißig Jahren, die in ein einfaches Gewand gekleidet war. Eine zweite Frau mit langen, dunklen Haaren lehnte an einem Baum und pfiff. Unser Junge, der die Augen mit einem Tuch verbunden hatte, versuchte dem Pfiff zu folgen und stolperte unsicher auf seinen dürren Beinen auf sie zu. „Tim!" Ellen schrie seinen Namen voller Erregung und ihre Stimme überschlug sich fast, als sie ihn aufforderte, sofort zu ihr zu kommen. Beide Frauen sahen augenblicklich in unsere Richtung. Ihre eben noch deutlich sichtbaren Umrisse verschleierten sich, und innerhalb weniger Augenblicke schien lediglich ein unsteter Nebel über dem nur noch pfützengroßen Weiher zu liegen. „Nein!" Ich hielt Ellen an beiden Oberarmen und schüttelte sie, bis ich den Eindruck hatte, dass sie wieder ansprechbar wurde. „Keine Sorge, sie spielen nur." Meine Worte schienen an Einfluss zu gewinnen. „Woher weißt Du das alles? Woher wusstest du, dass Tim hier war?


Woher weißt du, dass ihm nichts passiert?", fragte sie, ohne den Blick von unserem Sohn abzuwenden. „Tim wird in drei Tagen acht und das Kind, das die beiden großgezogen haben, war ebenfalls kurz vor seinem achten Geburtstag, als sie verschwanden. Über all die Jahre habe ich es verdrängt und später für Fantastereien gehalten. Ich habe mich hier früher oft herumgetrieben und eines Tages kamen diese beiden Frauen. Ich habe hier stundenlang mit ihnen gespielt und hier die tollste Zeit meiner Kindheit verbracht. Aber als ich acht Jahre alt wurde, verschwanden sie und mit ihnen ein wichtiger Teil meiner Kindheit. Ich suchte wochenlang verzweifelt nach ihnen, doch ich habe sie nie wieder gesehen. Mit Paul Struder habe ich das erste Mal überhaupt über meine Erlebnisse sprechen können und er hat mir erzählt, dass auch mein Vater als Kind immer wieder von Zuhause verschwand und keiner wusste, wo er in dieser Zeit geblieben war. Ich fragte ihn, ob er sich an den Namen der Frauen erinnern könne, aber er meinte, diese seien aufgrund dessen, dass beide unverheiratet waren, nicht in den Kirchenbüchern festgehalten worden. An den Namen des Jungen jedoch konnte er sich sehr gut erinnern. Die Familie, die ihn aufgenommen hatte, hieß Hinmann und das Kind hat auch diesen Namen bekommen. Verstehst du, aus Hinmann wurde im Laufe der Jahre Hindermann, unser Familienname. Und Tim wird der letzte sein, der diese Bekanntschaft machen darf.

Der Weiher wird noch in diesem Jahr weggebaggert." Unser Sohn hatte sich das Tuch von den Augen gezogen und winkte uns freudig zu. „Lass ihnen ein letztes Mal die Freude." Ellens Augen spiegelten ihre innere Zerrissenheit wieder. "Setz dich und mach dir keine Sorgen! Er ist in besten Händen." Wir setzten uns ins Gras und warteten. Tim stapfte unterdessen am Ufer herum und rief nach seinen Freundinnen. Dann, als wenn sich ein Puzzle aus tausend Schmetterlingen zusammenfügt, waren sie wieder da. Sie wagten einen scheuen Blick in unsere Richtung und wendeten sich dann wieder Tim zu, der hocherfreut über ihre Anwesenheit auf sie zulief. Ellen sah nicht die versteckte Handbewegung, mit der ich einen stillen Gruß in Richtung der Frauen schickte, und sie sah auch nicht das kurze Nicken des Erkennens, das von der Dunkelhaarigen kam und bei mir ein wohliges Frösteln in der Nackengegend auslöste.

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Tag der Veröffentlichung: 28.10.2008

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