Kästner betrachtete liebevoll das vor ihm stehende Möbelstück. Seine raue, durch Lack und Lösungsmittel gegerbte Hand strich zärtlich über das rötlich schimmernde Rosenholzfurnier. Der Blick seiner grauen Augen wanderte bedächtig über schlanke Sparren hin zu den kunstvoll verzierten Schubladen und legten erst am leicht verkratzten Firmenschild aus gebürstetem Messing eine kurze Pause ein. "Kessel & Warncke", flüsterte er ehrfurchtvoll. "So etwas wird heute nicht mehr gebaut." Die Firma existierte schon seit den Zwanzigern nicht mehr. Der Aufwand zur Herstellung eines solchen Möbelstückes war einfach zu groß. Das edle Furnier, über Jahre abgelagertes Holz, die erfahrenen Fachleute ... Zwanzig vielleicht dreißig dieser Sekretäre waren in Handarbeit hergestellt worden und jeder war ein individuelles Einzelstück. Aber dieser hatte noch etwas mehr zu bieten. Was, das wusste Kästner noch nicht genau. Die Zwischenwände aus Birnenholz waren aufwändiger als nötig gestaltet und ergaben für den normalen Gebrauch keinen Sinn. Dieser Sekretär besaß ein Geheimnis, dass sich nur Hersteller und Besitzer teilten. Die junge Frau, die das seltene Stück zur Restaurierung gebracht hatte, war sich dessen sicher nicht bewusst.
"Der Sekretär ist ein Erbstück", meinte sie beiläufig. "Meine Mutter hat ihn in Auftrag gegeben. Sie ist allerdings schon vor langer Zeit gestorben und seitdem hat er kaum noch Beachtung gefunden." Kästner nannte auf ihre Frage, was die Instandsetzung kosten würde, einen lächerlich geringen Preis, der kaum die Materialkosten decken würde. Er hatte es nicht mehr nötig. Nicht dass er ein reicher Mann war, aber mit 72 war seine Tätigkeit für ihn mehr Hobby als Broterwerb. Mit seinen beinahe weißen Haaren, dem altmodischen Backenbart und dem abgetragenen Arbeitskittel gehörte er selbst schon fast zu den Antiquitäten, die er nach mühevoller Arbeit in neuem Glanz wieder erschuf. Aus der Brusttasche seines Kittels zog er eine unmoderne, durch den vielen Gebrauch zerkratzte und fast blinde Lesebrille. Durch sie musterte er Zentimeter um Zentimeter der stumpfen Lackierung. Sein Blick stoppte an einer fast unsichtbaren Fuge. Ein triumphierendes Lächeln zeichnete sich auf Kästners sonst emotionslos wirkendem Gesicht ab. "Du alter Gauner", flüsterte er und zollte damit respektlos dem Künstler Tribut. „Nummer eins ist gefunden." Seine Finger tasteten sich unterhalb der Tischplatte an einer Querverstrebung entlang. An einer unauffälligen Erhebung verharrte er. "Das ist es." Mit dem Zeigefinger schob er unter sanftem Druck die hölzerne Kuppe nach hinten. Ein mechanisches Klicken ertönte, dann der Klang einer sich entspannenden Feder.
Bedächtig schob sich das versteckte Geheimfach aus der sonst ebenen Beplankung. Kästner war nicht wirklich enttäuscht, als er entdeckte, dass sich in der handgroßen Schublade nichts als der Schmutz der Jahrzehnte gesammelt hatte. Er entfernte mit dem Pinsel und einem handlichen Gebläse den Staub und schloss mit sanftem Druck das Fach. Fast hätte er es übersehen. Kurz bevor die Abdeckung wieder eins mit der Oberfläche wurde, fiel ihm die winzige, kalottenartige Auswölbung ins Auge. Kästner löste den Mechanismus erneut aus, fasste halb in die Lade hinein und drückte auf den versteckten Knopf. Wieder ertönte ein leises Klicken. In Kniehöhe zeigte sich erneut eine Öffnung. Mit der linken Hand zog er das Schubfach heraus. Schon am Gewicht spürte er, dass die Lade diesmal etwas enthielt. Sein Blick fiel auf ein mit rotem Band umwickeltes Bündel Briefe. Vorsichtig entnahm er das Paket und entdeckte unter ihm ein weiteres, das mit der Aufschrift „Feldpost" versehen war, sowie einige vergilbte Schwarzweißfotos. Was vor ihm lag, hatte gewiss keinen wirtschaftlichen Wert und nichts lag Kästner ferner, als etwas von diesen Dingen zu entwenden. Dennoch kam er sich wie ein Dieb vor, als er einen der losen Briefe öffnete. Es kam ihm in den Sinn, dass es vermutlich das erste Mal seit Jahrzehnten war, dass jemand diesen Brief las. Hatte er das Recht dazu? Sicher nicht, aber die Neugier nagte an ihm und entließ ihn nicht aus ihrem Bann.
Die frühere Besitzerin war ja schon vor langer Zeit gestorben und außerdem würde die junge Frau den Sekretär fast umsonst in Stand gesetzt bekommen. Sein Gewissen durch den Selbstbetrug narkotisiert, öffnete er vorsichtig den ersten von sechs Briefen.
"Werte Hilde, Ich schreibe Dir hier von dem kleinen Ort Kostocheff in der Nähe der russischen Grenze. Wir sind seit sechs Tagen auf dem Vormarsch und bis jetzt auf nur wenig Widerstand gestoßen. Ganz wie es uns vorausgesagt wurde, sind die polnischen Soldaten nicht in der Lage, mir und meinen Kameraden auch nur im Geringsten Paroli zu bieten. Sie laufen wie die Hasen vor unserer Einheit davon und sind das reinste Kanonenfutter."
Kästner stockte. Er nahm sich den Briefumschlag noch einmal vor und entzifferte das genaue Datum. Wenn er sich richtig erinnerte, war das kurz nach dem Überfall auf Polen. Unwillkürlich fühlte er sich wie durch eine Zeitmaschine zurückversetzt. Die alte, schon fast vergessene Angst stieg langsam seine Wirbelsäule hinauf und setzte sich wie ein Krebsgeschwür in den Nacken. Dann las er weiter. In den folgenden Zeilen berichtete der Schreiber, wie seine Einheit den Vormarsch fortsetzte. Dass einige Partisanen gefasst und aufgehängt wurden. Wie sie an toten Männern, Frauen und Kindern vorbeimarschierten. Kein Wort des Mitgefühls. Keine Zeile des Bedauerns.
Unterschrieben waren die Briefe mit "Dein Frank". Auch als Kästner den Brief ein zweites Mal las, entdeckte er keinerlei persönliches Wort und auch keine Frage nach Hildes Befinden. Kühl, sachlich und frei von jeglicher Emotion hatte der Schreiber seinen Brief verfasst. Kästner nahm sich die anderen fünf Briefe vor, überflog deren Inhalt jedoch nur, als er feststellte, dass sie sich bis auf einige Fakten von dem Ersten nicht unterschieden. "Hilde, was hast du für ein Monstrum geheiratet", dachte er. Verächtlich legte Kästner den Stapel zur Seite und nahm sich den zweiten, mit rotem Samtband eingewickelten Bund vor. Alle Briefe steckten in neutralen Umschlägen, die weder mit einem Absender noch mit einer Anschrift versehen waren. Er nahm den ersten aus seinem Kuvert und betrachtete das Geschriebene. Welch ein Unterschied! Die Buchstaben waren hier nicht in bürokratisch kurzen Lettern aufs Blatt geworfen. In eleganter Sütterlinschrift war hier Buchstabe für Buchstabe gemalt worden. Hier war jemand am Werk gewesen, in dessen Schrift sich Lebensfreude, Gefühl und Sinnlichkeit widerspiegelten.
Schon die ersten Zeilen verrieten, dass sie an einen Menschen gerichtet waren, dem der Verfasser weit mehr als nur Sympathie entgegenbrachte.
"Geliebte Hilde, die wenigen Wochen, die ich in Deiner Nähe verbringen durfte, gehören trotz der widrigen Umstände zu den bisher schönsten Momenten meines Lebens. Deine Stimme und deine Zärtlichkeit umgibt mich, wie ein Kokon aus gewebter Leidenschaft."
Es folgten Worte, bestehend aus glitzernden Silben, die wie fröhliches Wasser ein Bachbett hinunterperlten. Kästner war wie ein Einbrecher in ein Gewölbe von verbaler Intimität eingedrungen und fühlte sich mehr und mehr unwohl in seiner Haut. Er, der zum Voyeur geworden war, sah sich dennoch nicht in der Lage, seinen Blick von dem vergilbten Blatt zu lösen. Seite für Seite las er Brief um Brief. Nie fand Kästner eine Unterschrift, nie auch nur den geringsten Hinweis auf die Identität des Verfassers. Nachdem er die letzten Zeilen gelesen hatte, legte er die Briefe zusammen und wickelte das rote Band wieder um das Bündel. Sichtlich mitgenommen lehnte Kästner sich in seinem Stuhl zurück, schloss die Augen und ließ den Inhalt der Zeilen in seinem Inneren nachhallen.
Als Letztes entnahm er die Fotos dem Fach. Er zog die Arbeitslampe der Hobelbank zu sich herüber, so dass deren gelber Lichtkegel die verblassten Bilder ausleuchtete. Die erste Fotografie war die Aufnahme eines Hochzeitspaares. In schneidiger Uniform, die Schirmmütze tief ins Gesicht gezogen, zeigte sich der frisch gebackene Ehemann neben seiner jungen, in weiß gekleideten Frau.
Sofort fielen Kästner die stechenden Augen des Mannes auf. Wie Lanzen schienen die winzigen Pupillen den Betrachter förmlich aufzuspießen. Die leicht abstehenden Ohren und das fliehende Kinn taten ihr Übriges bei, so dass Kästner nicht umhin konnte, eine sofortige Abneigung gegen diese Person zu verspüren. Dieser Mann passte zu den unpersönlichen Briefen. Ganz anders seine Frau. Blonde, leicht gelockte Haare umschlossen ein Gesicht, dessen lebhaft blickende Augen den Betrachter geradezu hypnotisierten. Ein sinnlicher Mund und die leicht hervorstehenden Wangenknochen gaben ihr einen kaum beschreibbaren Zauber, dem selbst der flüchtigste Betrachter erliegen musste. Kästner fragte sich, welcher Umstand zwei Personen zueinander führte, die auf den ersten Blick schon unterschiedlicher nicht sein konnten. Vielleicht war es eine jener Vernunftehen, wie sie seinerzeit geschlossen wurden. Er fand keine einleuchtende Erklärung. Das zweite Foto zeigte ein Bild, das allem Anschein nach eine Scheune auf einem Bauerhof darstellte.
Neben der jungen Frau vom Hochzeitfoto stand ein etwa dreißigjähriger Mann in heruntergekommener, viel zu großer Kleidung, der einen anscheinend schweren Eimer in der Hand trug. Seine ungelenke Haltung deutete darauf hin, dass ihm seine Tätigkeit fremd war. Er hatte ein fein geschnittenes, intelligentes Gesicht, einen dünnen Oberlippenbart sowie eine für seinen Kopf etwas zu große Nase.
Kästner mutmaßte, dass es sich bei ihm um einen jener Zwangsarbeiter handelte, die aus Polen, Russland oder anderen Ländern wie Sklaven zum Arbeiten nach Deutschland verschleppt wurden. Als er über das Foto nachdachte, fiel ihm eine Textpassage des Ehemannes ein, die er nur überflogen und der er keine nähere Beachtung geschenkt hatte. Kästner öffnete noch einmal das Bündel Feldpostbriefe und zog eines der letzten Schreiben hervor. Er suchte und fand den Abschnitt, an den er sich vage erinnert hatte.
"Habe unter den polnischen Gefangenen einen ehemaligen Deutschlehrer gefunden, der vielleicht für einfache Arbeiten auf Eurer Landwirtschaft in Frage kommt. Ich habe schon mit dem Bataillonskommandeur gesprochen. Wladek Prezin, so heißt der Mann, wird in den nächsten Tagen bei Euch eintreffen. Lasse Dich nicht von seinem seichten Gefasel täuschen. Behandle ihn hart und lass ihm nichts durchgehen.
Sollte er sich nicht für Eure Arbeit eignen, wende Dich an den Ortsgruppenleiter der Verwaltung."
Mehr Worte war ihm die Person nicht wert gewesen. Der Rest des Schreibens bestand aus den üblichen Siegesmeldungen. Nebenher schilderte er, dass er im nächsten Monat für ein bis zwei Wochen auf Heimaturlaub nach Hause kommen würde.
Kästner war vor Zorn das Blut in den Kopf gestiegen. Entsetzt oder vielmehr enttäuscht war er, als er das letzte Foto betrachtete. Diesmal waren es drei Personen, die der Fotograf abgelichtet hatte. Der Vater, der ernst und selbstbewusst ins Objektiv blickte, und die Mutter, deren Augen liebevoll auf ein schlafendes Kind gerichtet waren. Konnte die Frau eines solchen Mannes soviel Glück und Verliebtheit ausstrahlen? Kästner fühlte sich betrogen. Seine Sympathien für die Mutter des Kindes verflogen zusehends. Ernüchterung hatte sich in ihm ausgebreitet. Angewidert legte er die Briefe und Fotos zurück in das geheime Fach und verschloss es. In den nächsten Tagen versuchte Kästner sich nur auf seine Arbeit zu konzentrieren. Er entfernte die alte Firnis vom Sekretär, schliff einige Kratzer und Dellen bei, anschließend lackierte er zum Abschluss das ganze Möbelstück mit Speziallack und polierte es. Aber die Arbeit machte ihm dieses Mal keine rechte Freude. Er fühlte sich wie ein Sargschreiner, der seine Arbeiten durchführte, obgleich der Tote schon in seiner letzten Behausung lag.
Eine Woche später erschien die junge Frau in seiner Werkstatt. Kästner hatte sich bei Restaurierungsarbeiten an einer Anrichte die rechte Hand verletzt. "Würden Sie mir bitte behilflich sein?", fragte er und hielt ihr Kugelschreiber sowie Quittungsblock hin. "Sicherlich, aber was soll ich denn schreiben?", fragte sie unsicher und nahm beides entgegen. "Ach, viel muss es nicht sein!", meinte Kästner mit einer wegwerfenden Handbewegung. "Ein Sekretär überholt und lackiert." Die junge Frau legte den Quittungsblock auf die Werkbank. Nachdenklich betrachtete sie das Möbelstück. Dann lächelte sie und schrieb. Zusammen mit dem Geldbetrag reichte sie Kästner den Quittungsblock zurück. Er wollte ihn schon weglegen, als die junge Frau einwandte. "Vielleicht sollten Sie es noch einmal durchlesen. Könnte ja sein, dass ich mich verschrieben habe." Kästner schlug die letzte Seite des Blocks auf und las. "Ein Sekretär perfekt von einem liebenswerten Fachmann weit unter Preis in einen wunderbaren Zustand versetzt." Der alte Handwerker konnte sich eines Schmunzelns nicht erwehren. "Wissen Sie, an einem solch seltenen Stück Hand anlegen zu dürfen, ist für mich Lohn genug."
Er schaute nicht sofort von dem Quittungsblock auf, da er seine leichte Verlegenheit nicht zeigen wollte. Seine Augen überflogen noch einmal den kurzen Text, als er plötzlich innehielt. Er vergewisserte sich, indem er die Art und Weise, wie die Buchstaben auf das Blatt Papier gemalt waren, genauer betrachtete.
Dann sah er die junge Frau intensiv an. Er musterte die hohen Wangen, die fein geschnittenen Gesichtszüge, das lockige, blonde Haar, die ein wenig zu groß geratene Nase und war sicher, dass ein gewisser Wladek Prezin der Nachwelt viel mehr hinterlassen hatte, als einige wenige Liebesbriefe.
Tag der Veröffentlichung: 08.10.2008
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