Gott ist ein Hellseher
Nur etwas spazieren gehen, mehr wollte ich nicht. So ging ich auf einem Weg, der mich mitten durch blühende Wiesen führte. Ich bin Schriftsteller, deshalb hatte ich, zum Glück, mein kleines Diktiergerät dabei. Zwei Meter vor mir liefen nämlich ein Mann und ein etwa fünf Jahre alter Junge.
Die Sonne wärmte die Natur, der erste Mai war wunderschönster Frühling. Mein Herz war weit offen, mein Denken stand auf Input.
Vögel zwitscherten, Schmetterlinge eilten von Blüte zu Blüte.
Ein hervorragender Tag. Und der letzte in meinem alten Leben.
Denn ich wurde Zeuge eines tief berührenden Gesprächs der beiden Wanderer vor mir, Vater und Sohn, Freund und Freund, Lehrer und Schüler.
Du, Papa, wohnt Gott da oben, in den Wolken?
Nein, er wohnt in deinem Herzen.
In meinem Herzen, ehrlich?
Ja, noch wohnt er da.
Aber was tut er da? Und wohnt er auch bei dir?
Er ist die Liebe in dir. Er passt auf dich auf. Ich bin sicher, er zeigt dir deinen Weg.
Meinen Weg? Den gehe ich doch mit dir?
Er führt auch mich.
Also weißt du gar nicht, wo wir hingehen?
Doch, natürlich, aber ich weiß noch nicht, was morgen sein wird, Gott jedoch weiß es schon.
Also ist er ein Hellseher, so wie Mama.
Wie Mama? Wie kommst du darauf?
Ja! Mama hat gestern gesagt, wenn du morgen mit Papa wandern gehst, habt ihr schönes Wetter.
Sohn, Mama hat den Wetterbericht gesehen. Die können das Wetter drei Tage voraus sagen.
Und das wissen sie von Gott?
Das wissen die durch ihre Computer und Satelliten.
Was ist ein Satellit?
Ein technisches Gerät, welches im Weltraum die Erde umkreist. Es beobachtet die Wolken und sendet Daten an die Computer der Wetterdienste.
Aha.
Schweigen.
Macht denn nicht Gott das Wetter? Dann könnten die doch einfach Gott danach fragen.
Gott hat all das erschaffen, aber ich denke nicht, dass er das Wetter bestimmt.
Was bestimmt er denn?
Er bestimmt nichts, er lässt uns selber bestimmen.
Aber bei uns bestimmst immer du. Und manchmal Mama. Und Heike aus dem Kindergarten.
Nadine will auch immer bestimmen, aber Klaus zieht sie oft an den Haaren. Ich mag Klaus nicht.
Vielleicht könntet ihr Freunde sein wenn ihr euch näher kennenlernen würdet?
Erbost sah der Junge seinen Vater an.
Mit Klaus? Papa, der ist voll doof! Der will immer jeden verhauen. Wenn Heike nicht aufpasst, spuckt er, und zieht die anderen Mädchen an den Haaren. Klaus ist blöd!
Gott liebt auch Klaus.
Dann hat Gott einen Vogel. Den kann man doch nicht lieben!
Gott liebt alle Menschen. Auch Klaus, denke ich.
Liebt er auch mich?
Dich ganz besonders.
Also liebt er mich, und Klaus?
Bestimmt.
Das verstehe ich nicht.
Warum?
Na, ich bin doch ein Guter. Oder? Und Klaus ist ein Böser.
Klaus muss kein Böser sein. Er ist noch sehr jung und kann sich noch ändern. Das ist ja gerade die Chance jedes Menschen, dass er sich ändern kann.
Ich will mich nicht ändern, und Mama und du, auch nicht. Klaus soll sich ändern, sonst hau ich dem vielleicht mal eine runter!
Das wirst du nicht tun. Dann wärst du ja genauso wie er.
Schweigen.
Aber wenn er mich ärgert…
Dann sag ihm: Du kannst mich nicht ärgern, ich habe es dir nicht erlaubt.
Hä?
Such zuerst mal das Gute in den Menschen. Hat Klaus denn nur schlechte Seiten?
Er kann schön singen, und manchmal hilft er das Obst auszuteilen.
Siehst du?
Aber oft ist er böse, und Heike schimpft.
Ich schimpfe auch manchmal mit dir, bist du deswegen böse?
Nein!
Niemand ist von Geburt an böse. aber es kommt vor, dass manchen das Leben übel mitspielt. Dann kann man schon böse werden. Aber bedenke: Alle Menschen waren mal unschuldige, putzige Babies.
Und alle kommen von Gott?
Ja.
Gott macht die Menschen?
Ja.
Und er liebt sie alle, auch Klaus?
Ja.
Obwohl er weiß, dass auch Böse dabei sind?
Er mag es, wenn Menschen vom Bösen zum Guten kommen.
Ach Papa, das geht doch gar nicht.
Der Junge rempelte seinen Vater an.
Gott hat jeden Menschen Liebe ins Herz gegeben. Was wir daraus machen bleibt uns überlassen.
Denke nach, erkenne die Liebe in dir, und schon hat das Böse keine Chance mehr.
Ja, Papa.
Das Kind kickte einen Stein ins Gras.
Papa, das hat Gott aber gut gemacht.
Sehr gut sogar, sehr gut.
Du liebst mich, Mama liebt mich auch. Gott liebt mich auch, also kann ich vielleicht auch Klaus lieben.
Ich sehe, du hast es begriffen.
Aber warum reden du und Mama dann oft so komisch über andere Leute, habt ihr es denn nicht begriffen?
Wenn man älter wird vergisst man manchmal die Liebe.
Aber das dürft ihr nicht. Ihr wärt dann ja wie Klaus.
Klaus hat die Liebe nicht vergessen. Er muss sie erstmal finden.
Habe ich sie schon gefunden?
Ja, mein Sohn, ich denke schon.
Juhuuu!
Er hüpfte an seinem Papa hoch, der ihn dann hochhob und in den Arm nahm.
Du Papa, wenn Gott das alles so toll gemacht hat, dann muss er doch ein Hellseher sein.
Warum?
Weil er gesehen hat, dass wir alle Liebe brauchen. Und er hat gesehen, dass Böse gut werden können, wenn sie die Liebe entdecken.
Ja. Und wehe, einer kapiert das nicht.
Was dann?
Dann hat er das Schönste im Leben verpasst.
Was?
Die Liebe.
Oje, der Arme, das wäre schlimm, nicht wahr?
Die Beiden bogen in einen anderen Weg ein. Ich dachte nach. Die Liebe. Hatte ich sie? Klar, ich liebte meine Freundin, meine Eltern und Geschwister. Aber liebte ich meinen Nächsten wie mich selbst?
Schlagartig wurde ich mir dessen bewusst, dass dies nicht so war.
Oh Gott, verzeih mir. Seit diesem Tag hat mein Leben sich verändert.
Die Beiden sind ständig in meinen Gedanken. Und ich zog für mich meine Lehre daraus. Mache du das auch. Dein Leben wird schöner.
Texte: Alle Rechte beim Autor
Tag der Veröffentlichung: 17.11.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für alle, die es lesen