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Chris

Ehrlich gesagt, von dem Namen Christopher Jäger hatte ich noch nie etwas gehört und das Gesicht war mir auf dem Flur noch nie aufgefallen. Nicht, dass dieser Kerl es darauf anlegte. Er war einer der Sorte Mensch, die mit der Masse verschwimmen wollten und es doch Menschen wie mir zum Vorwurf machten, wenn sie übersehen wurden. Natürlich nicht offen, aber in Gedanken. Vermutlich fand dort sowieso ein großer Teil seines Lebens statt. Obwohl, er hatte verschmitzte Augen, vielleicht konnte er sogar lachen, wenn man lang genug versuchte, ihn dazu zu bringen. Ich versuchte es seit fast fünf Wochen, es war mir manchmal fast gelungen.

Jetzt saßen wir seit beinahe eine halbe Stunde an seinem Küchentisch, ich kam mir zwischen den modernen, hellen Möbeln vor wie ein Tintenfleck, und er jonglierte mit Zahlen. Zugegeben, es war beeindruckend, wie leidenschaftlich er gegenüber der Mathematik war und es erschloss sich mir zumindest so viel, dass ich durch die nächste Klausur kommen würde. Hoffentlich. Mama würde uns nur zu unserem ersten Auftritt fahren, wenn ich mindestens eine vier bekam. War zu schaffen, mit dem Nachhilfelehrer.

„Verstanden?“ Christopher rückte seine Brille zurecht und als ich nickte, veränderte sich sein ganzes Verhalten. Während er, umgeben von Zahlen vor Selbstbewusstsein strotze, fiel er jetzt in alte Muster zurück, schüchtern und still. Ich war überrascht, wie schnell das ging, dennoch konnte ich es verstehen. Auf der Bühne fühlte ich mich so, wie er noch gerade eben, nur dass mein Alltags-Ich auffälliger und lauter war als seins.

„Bravo, Kleiner, du hast es wirklich drauf.“, stellte ich fest, erhob mich ein Stück und zog an der Kette, die ich vorne an den Gürtelschlaufen meiner Hose befestigt war und mein Geldbeutel schnellte nach vorne. Ich fing ihn mit einer Hand und zog einen Zehner heraus.

„Ich empfehle dich weiter.“

Er lächelte schüchtern. Wir standen auf, gingen zur Türe. Gerade öffnete ich sie und trat ins Freie, da klingelte das Telefon. Christopher trat zu einem Schränkchen und nahm ab. Ich blieb stehen, weil ich mich noch nicht verabschiedet hatte und nicht unhöflich sein wollte.

„Jäger… Hallo Tante Bella….danke, danke… ich feiere mit Mama und Papa heute Abend, gehen essen. …Sechzehn…. Ja… Hmm… danke. Ciao, Bella…Ciao.“

Er legte auf, schaute mich schüchtern an.

„Du hast Geburtstag?“

Ein Nicken.

„Alles Gute, Dude.“ Ich trat auf ihn zu, schloss ihn in die Arme, klopfte ihm auf die Schulter. Er war größer, als ich gedacht hatte und weniger dürr, als man es vermutete. Er roch nach Rasierwasser. Ich hatte ihn schon viel zu lang im Arm.

„Danke.“ Chris war rot angelaufen, er sah mich verwirrt an. Und dann tat er etwas Unerwartetes.

Schneller als ich reagieren konnte, hatte er sich auf die Zehenspitzen gestellt und mir einen Kuss auf die Lippen gedrückt. Sein Mund war heiß und weich, mehr konnte ich nicht sagen, denn es war wieder vorbei, noch bevor ich meine Augen ganz geschlossen hatte. Und als ich ihn wieder ansehen wollte, war er bereits im Haus verschwunden und hatte die Türe vor meiner Nase zugeschlagen.

Angst vor der eigenen Courage. Dabei war gar nichts gegen weitere Küsse einzuwenden.

Also drückte ich die Klingel.

Chris sah verwirrt aus, als er Sekunden darauf im Türrahmen erschien, doch ich packte ihn, drängte ihn ins Haus und presste meinen Mund auf seinen.

Wer hätte er damals gedacht, dass er jetzt hier vor mir stehen würde. Drei Jahre später. Manchmal s übermannte mich das Gefühl, mein Herz würde vor Liebe zu ihm zerspringen. Er war so viel mehr, als der erste Eindruck und ich begehrte jede Faser von ihm.

Seine Augen haben mich schon zu so vielen Liedern inspiriert. Grau wie der Sturmhimmel, blau wie das Meer, wenn er wütend war. Vielleicht provoziere ich deswegen manchmal Streit, nur um sie leuchten zu sehen. Jetzt, wo er aufgeregt war, ängstlich, wanderten sie aufgeregt hin und her. Seine Hand krallte sich in meine, dass ich befürchtete, er würde mir den kleinen Finger brechen. Aber er brauchte jetzt meinen Halt und ich würde meinen Arm opfern, wenn es ihm half. Mein kleiner Nerd hatte Angst vor seiner eigenen Courage. Sich hier auf den Abschlussball zu outen, als Schwul, als Paar, war schwer, vor all den Eltern, Lehrern und natürlich unseren Mitschülern. Die wussten nicht mal, dass wir uns kannten.

Es hatte genug Möglichkeiten gegeben, sich während der Schulzeit zu offenbaren, im Kleinen, ohne so ein riesiges Publikum. Aber es machte mich stolz und glücklich, dass er zu uns stehen würde. Endlich.

Mir war egal, was sie von mir dachten, wir hatten die Unterstützung unserer Familie, also war es mir egal. Diese Spießer konnten denken, was sie wollten, sagen, was sie dachten. Chris war nicht so selbstbewusst. Dabei hatte er so viel zu bieten. 1,0 Abi, Stipendium so gut wie sicher, Mathe konnte er besser erklären als all meine früheren Lehrer zusammen. Er war ein grandioser Koch, liebevoll, ehrlich, der einzige der mich bei GTA schlagen konnte. Er unterstützte mich bei allem, kam zu so vielen Konzerten im ganzen Land mit, verzieh mir das bisschen Selbstverliebtheit, dass ich ehrlich gesagt besaß. Das musste wohl als Rockstar so sein.

Wir hatten fünf Minuten von der Halle entfernt geparkt, noch war uns keiner aus unserer Schule begegnet, doch für Chris schien es der Marsch zum Henker zu sein. Ich löste meine Hand aus seiner, blieb vor ihm stehen. Er hatte sein Haar nach hinten gekämmt, sah streng und super sexy aus. Statt der Cordhosen und dem hässlichen Hemd, trug er eine dunkle Jeans, ein Jackett und ein graues Hemd, das wunderbar zu seinen Augen passte. Meinetwegen konnten wir den Abiball auch weglassen und gleich zur Aftershowparty übergehen. Gut, dass er so nie in der Schule aufgetaucht war, sonst hätte ich sehr schnell Konkurrenz bekommen. Tut mir leid, Ladys, aber mit diesem Hottie bin ich hier. Keine Chance. Es würde seinem Selbstbewusst bestimmt gut tun.

„Wir müssen da nicht zusammen rein, Baby. Ist okay für mich.“

Ich strich ihm über das Gesicht, er sah wirklich panisch aus. Seine Lippen waren heiß, weil er die ganze Zeit darauf herum gebissen hatte. Ich küsste ihn lange und tief. Was ich alles damit sagen wollte? Hey, ich liebe dich so wie du bist, was zählt sind ich und du, dass geht keinen dieser Idioten was an. Du entscheidest, wann du soweit bist. Und wenn es noch drei Jahre dauert. Oder fünfzig.

Als wir uns voneinander lösten, lächelte er und mir wurden die Knie weich. Wow, der konnte Lächeln, das mindestens ein Shakespeare-Drama wert war, nicht nur einen Rocksong.

„Ich…“, setzte Chris an, seine Augen wie Sturmwolken. Er wurde von einem schrillen Gekreische unterbrochen. Mia stand gegenüber auf dem Gehweg, war gerade im babyblauen Kleid aus dem Auto ihres Vaters gestiegen.

„Oh mein Gott, Jamie, was machst du denn da?“ Ich hasste es, wenn sie mich so nannte, als wären wir Freunde. Warum war es gerade sie, die uns ertappte? Bei jedem anderen wäre es mir egal, doch sie konnte ich weniger leiden als eine Durchfallerkrankung. Zudem war sie eine furchtbare Klatschtante.

Ich blickte auf Chris, er war erstarrt. Doch als ich ihn anblickte, nickte er.

„Ich küsse mein Abiballdate.“, erwiderte ich, ohne von Chris Gesicht aufzusehen. Meine Finger lagen wieder auf seinem Gesicht. Jetzt war es zu spät für einen Rückzieher. Was Mia wusste, wusste die Schule. Und wir konnten nichts mehr leugnen.

Sie schaffte es, ihren Unterkiefer wieder ein paar Zentimeter nach oben zu heben, stellte sich auffällig lässig hin.

„Ich wusste ja nicht…“

Ich zuckte mit den Schultern. „Jetzt weist dus.“

Wir verflochten unsere Finger wieder und gingen weiter. Hinter uns, in geringem Abstand, konnte ich die Absätze von Mias Schuhen hören. Sie tuschelte mit ihrem Vater.

„Da müssen wir jetzt durch, Babe.“, flüsterte ich.

„Hatte ja lang genug Zeit, mich vorzubereiten.“ Der Griff seiner Hand wurde fester, dieses Mal aus Entschlossenheit. An der Halle angekommen, war niemand zu sehen. Wir waren spät dran, der Einlass hatte bereits begonnen, die meisten waren schon im Saal.

Klack. Klack. Mias Schuhe.

Wir gingen an den Türstehern vorbei in die Vorhalle, dann in den weiß dekorierten Saal, in dem sich Tisch an Tisch reihte, und an dessen Ende sich eine Bühne befand, auf der wir unsere Zeugnisse überreicht bekommen würden.

Noch immer hielt Chris meine Hand, mir wurde warm ums Herz, weil er sie nicht los lies. Wir taten das wirklich. Oh, wie gut sich das anfühlte.

Erst, als ich mir die Zehen beinahe an der Stufe ansties, begriff ich, dass wir direkt auf die Bühne zugesteuert waren. Gerade erschien Mia im Eingang, bereit, jedem zu sagen, was sie gesehen hatte.

Sie sollte nicht dazu kommen, denn Chris hatte mich auf die Bühne gezogen, mein Gesicht in beide Hände und küsste mich. Und nach einem kurzen Moment der Stille vermischten sich die zwei wundervollsten Gefühle der Welt. Der Kuss meiner wahren Liebe und der Applaus einer tosenden Menge.

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 24.06.2015

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