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Das Geheimnis der Krieger


Morgennebel zog in dem kleinen Dorf in Skandinavien auf, kroch zwischen den Langhäusern hindurch und legte sich kalt auf die Haut des Jungen, der dort in der Morgendämmerung am Wasser saß. Aevarr hielt seinen Speer umklammert und starrte auf das ruhige, vom Nebel umwaberte Wasser. Wenige Meter hinter ihm ragten die Holzpalisaden aus den Schwaden, dunkel, bedrohlich, ihre Zacken den Zähnen eines Drachen gleich. Für den Jungen aber bedeuteten sie Schutz, Geborgenheit. Mit seinen zehn Wintern hatte er beinahe sein ganzes Leben hinter diesem mannshohen Schutzwall aus Holz verbracht. Zwischen den Langhäusern aus Stein hatte er spielerisch das Kämpfen gelernt und in wenigen Jahren würde er ein Krieger sein. Wie ein Weib seiner Hochzeit, so fieberte er diesem Tag entgegen.
Schon so oft hatte er sich das Leben als Held ausgemalt. Die Reisen, die Schlachten. Ja, er würde seinen Vater stolz machen. Er würde eine Frau haben und einen Sohn, dem er all seine Geschichten erzählen konnte. Er war der geborene Krieger, doch er war auch ein Träumer. Wie in den vielen Stunden seiner Wache zuvor waren seine Gedanken in die Zukunft geschweift und er hatte seine Aufgabe vergessen. Hastig schüttelte er den Kopf, wie um die Bilder zu vertreiben und starrte wieder auf das dunkle Wasser hinaus. Man konnte kaum zwei Mannslängen weit sehen, dann verschluckte der Nebel die Landschaft.
Drei Nächte saß er schon hier, tat nichts anderes als zu warten.
Und dann tauchten sie auf. Die Drachenköpfe schoben sich durch die Nebelschwaden, hingen bedrohlich über Aevarr in der Luft als würden sie schweben. Erst nach und nach tauchten ihre langen, dünnen Hälse auf. Es waren drei Riesen, die über das Wasser auf den Jungen zukamen. Dabei machten sie keinen Laut. Auch sonst war alles still, als hätte es auch den Vögeln die Sprache verschlagen.
Aevarr war wie versteinert, konnte den Blick nicht von dieser Szene wenden, die ihm eiskalte Schauer über den Rücken jagte. Die Drachen waren wieder da. Verschmiert vom Blut ihrer Opfer, den Geruch von Tod auf ihrer Haut.
Der Junge sprang so plötzlich auf, dass er selbst überrascht war. Er lief so schnell ihn seine Beine trugen und hatte wenige Momente später das Holztor erreicht. Er schlüpfte hindurch und preschte auf den großen Platz. Dann rief er mit lauter Stimme:
„Sie sind da. Hört ihr alle, sie sind endlich wieder da.“
Mütter, Töchter, Ehefrauen kamen nach und nach aus den Häusern, sie alle mit einem Lachen auf dem Gesicht. Boovarr und seine Männer waren zurück.
Und mit ihnen ihre reiche Beute.

Fünf Jahre Später

Die tagelange Arbeit hatte ein Ende. Die Drachenschiffe waren beladen, die Männer bewaffnet. Wie schon tausende Male zuvor stachen Boovarr und seine Krieger in See. Doch dieses Mal war es für Aevarr etwas Besonderes. Er würde an der Seite seines Vaters sein.
Während die meisten Männer schon auf den Schiffen waren, sich um die Boote kümmerten, stand Aevarr in seinem Haus und schloss fest die Augen. Von draußen konnte man das geschäftige Treiben hören, die weinenden Kinder, die ihre Väter verabschiedeten. Ein Hund bellte und eine Frau schrie in den Wehen.
Dies war die Musik, die ihn auf seiner ersten Reise begleiten würde. Sein letzter Moment in dem Haus seiner Kindheit. Heute wurde er ein Mann.
Seine Schwester Kaolin hatte ihm ein Amulett um den Hals gelegt, das ihm als Talisman dienen sollte. Seine Mutter Eona reichte ihm sein Schwert. Ja, er würde sie vermissen, doch die See würde zu seiner neuen Mutter, der Sturm zu seiner Schwester werden und der Tod zu seinem Weib. Dort draußen gab es nur die Männer und wenn sie auf ihrem Raubzug starben, dann taten sie es als Krieger.
Kaolin umarmte ihren Bruder und Aevarr vergrub für einen kurzen Moment sein Gesicht in ihrem langen, blonden Haar, sog ihren Geruch ein und schwor sich, in für immer in Erinnerung zu behalten.
Seine Mutter zeigte keine dieser Zärtlichkeiten, sie beschwor ihn nur, Ehre für die Familie zu bringen. Eona hatte schon zu viele Söhne verabschiedet, die nie wieder heimgekehrt waren. Und auch um ihren Mann, den tapferen Boovarr musste sie jede Nacht bangen. Dies hatte sie zu einer Frau gemacht, die beinahe kaltherzig schien. Doch Aevarr wusste, dass sie nur sich selbst vor dem Verlust schützte.
Der junge Mann trat in die Sonne hinaus. Der Tag war erstaunlich warm und er war froh, dass seine Pelzmäntel bereits auf dem größten der Drachenboote verstaut waren. Aevarr trug eine Tunika, deren Rock bis zu seinen Knien reichte, und einen Mantel im selben blau, der Farbe Odins. Man hatte ihm diese Kleidung bei den Feierlichkeiten der letzten Nacht überreicht und er trug sie voller Stolz. Schließlich war er der Sohn des Boovarr und irgendwann würde er diese Männer führen.
Der Abschied dauerte nicht lange und bald darauf betrat er das Boot seines Vaters. Der Drachenkopf schien bei Tageslicht nicht weniger friedlich als bei Nacht, doch jetzt konnte man sich wenigstens sicher sein, dass er aus Holz gemacht war. Aevarr trat an das Bug, legte seine Hände auf das Holz der Rehling und starrte auf das Dorf zurück, das mit den Stunden immer kleiner wurde. Bald war das Ufer kaum noch zu sehen. Es glich dem Blatt eines Baumes, das flach auf den Wellen lag. Der junge Krieger spürte das Schaukeln des Drachen kaum, die Befehle seines Vaters an die Männer drangen nur gedämpft zu ihm. Allein das gleichmäßige Klatschen der Ruder, wenn diese auf das Wasser trafen, füllte seinen Kopf, sein Herz. So fühlte sich Freiheit an. Das Meer kannte keine Grenzen und er würde bald sie auch nicht mehr kennen. Er war ein Mann und er war frei zu tun, was er wollte. Er war ein Krieger und somit das, was er immer hatte sein wollen. Ein echter Wikinger.

Das Meer wurde unruhiger, der Wind riss immer stärker an den Segeln. Der Sturm traf sie gleich einer Wand, die dunklen Wolkenberge am Horizont kamen rasend schnell näher, drohten die Drachenboote zu verschlingen. Doch die Männer blieben ruhig und Aevarr wurde von ihrem Wesen angesteckt und seine Angst versiegte, noch bevor sie aufkeimend konnte. Er hatte solche Stürme schon an Land erlebt, sie fegten an den Palisadenwänden entlang, zerstörten Hausdächer, rissen die Bäume samt ihrer Wurzeln aus. Auf dem Wasser musste solch ein Wind noch viel gefährlicher sein.
Der junge Wikinger blickte nach hinten. Mehrere Schiffslängen entfernt konnte er die beiden anderen Schiffe sehen, sie schwankten im Wellengang auf und ab, sahen wie Rindenstückchen aus, die von einem Gebirgsbach fortgerissen wurden. Und während der Sturm immer lauter tobte, wurde es auf dem Schiff immer stiller. Niemand rief mehr Befehle, die Männer hatten sie Ruder eingezogen und standen nun an der Rehling. Mussten sie nicht irgendetwas tun? Aevarr blickte zu Dyri, seinem Freund aus Kindertagen hinunter. Der Krieger war schon vor zwei Sommern zum ersten Mal auf See gefahren und schien schon genau zu wissen, was auf ihn zukam. Sein Freund nickte Aevarr mit einem Lächeln zu, sein roter Bart wurde ihm immer wieder vom Wind ins Gesicht gepeitscht. Dyri trug das Haar des Thor, rot wie das Feuer, während Aevarr blond und noch bartlos war. Nur seine Haut des Mannes verriet, dass er noch jünger war als alle anderen, sie war noch nicht windgegerbt. Aevarr starrte auf Dyris Helm, der mit Runen geschmückt war.
Bei seiner Rückkehr würde er selbst auch einen gehörnten Helm bekommen, dann war seine Aufnahmeprüfung bestanden. Doch bis da hin galt es zu überleben.
Ein großer, breitschultriger Mann mit dem zottigen Fell eines Bären auf der Haut und sturmgrauen Haar trat neben ihn. Der große Boovarr stützte sich neben seinem Sohn auf die Rehling, nicht eine einzige Sorgenfalte lag auf seinem Gesicht. Kannten diese Männer den keine Angst? Verlernte man auf dem Meer das Fürchten? Oder überschätzte Aevarr den Sturm?
„Vater, warum tun die Männer nichts?“, fragte er, brüllte es gegen den Wind.
Boovarr hob nur einen riesigen Finger vor den Mund und bedeutete seinem Sohn zu schweigen.
„Schließ deine Augen, mein Junge.“, donnerte er, das Licht eines Blitzes begleitete seine Stimme. Inzwischen war es Nacht geworden, nur das zuckende Licht des Himmels ermöglichte wenige Blicke auf das tobende Wasser.
Aevarr folgte den Worten seines Vaters und schloss die Augen. Er spürte den Wind auf seiner Haut und in seinem Haar. Der Donner Odins dröhnte in seinen Ohren, er schmeckte das Salz des Meeres auf seinen Lippen. Seine Kleidung war vom Regen vollkommen durchnässt und ihn fröstelte. Unter seinen Händen lag das kalte, raue Holz der Rehling.
Wenige Momente stand der junge Krieger so da, fuhr über die Faserung.
Doch was war das? Von dem toten Holz schien plötzlich Wärme auszugehen. Es war, als hätte sich die Rehling wie für einen Atemzug gehoben und gesenkt und dann spürte er Schuppen unter seinen Fingern. Noch bevor er die Augen geöffnet hatte, schoss ihm ein unglaublicher Gedanke durch den Kopf: „Der Drache erwacht.“
Das vom Meer hin und her gerissene Boot machte auf einmal einen Ruck, der Aevarr beinahe von den Füßen gehoben hätte, wenn er sich nicht in das Schuppenkleid gekrallt hätte. Noch immer wagte er es nicht, die Augen zu öffnen. Er musste träumen.
Die Hand seines Vaters legte sich gleich einer Pranke auf seine Schulter. „Schau sie dir an.“
Vorsichtig, als befürchtete er vom Licht der Erscheinung geblendet zu werden, öffnete der junge Krieger die Augen.
Er stand nicht länger auf einem Boot. Ja, ihr Gefährt hatte noch etwa dieselbe Form, doch jetzt schien es aus Haut und Knochen zu bestehen. Rote Schuppen zierten den riesigen Drachenkopf, die säbelartigen Zähne blitzen im Licht des Himmels auf. Das Tier schwenkte seinen Kopf hin und her und kämpfte gegen den Sturm an. Doch selbst wenn das Wesen mit seinen Pranken und dem riesenhaften Schweif bedrohlich wirkte, wusste Aevarr instinktiv, dass es für die Mannschaft keine Gefahr war. Dies war ihr Schiff, ihre Heimat während vieler Monate. Und es war zugleich ein Drache, groß, lebendig und so beeindruckend. Aevarr wusste nicht was er sagen oder glauben sollte, dieser Anblick raubte ihm den Atem.
Er fühlte weder den Wind, der langsam nachließ, noch sah er, dass sich das Meer beruhigte. Es gab nur den warmen Drachenkörper unter seinen Fingern und den Anblick der tellergroßen Augen, die ihn so weise musterten.
Die Stimme seines Vaters war noch immer ein Donnern, selbst wenn er nicht mehr gegen den Sturm anbrüllte.
„Ist sie nicht wunderschön? Sie ist ein Sturmdrachen. Ihr Name ist Eoan, nach deiner Mutter.“
Das war also das Geheimnis, das nur die Boovarr und seine Männer kannten. Diese Drachen machten sie zu gefürchteten Kriegern. Aevarr strich vorsichtig über die harten, roten Schuppen und Eoan drehte ihren gehörnten Kopf zu ihm. Die Haut an ihrer Schnauze war weich, als Aevarr sie berührte.
„Eoan.“, flüsterte er leise und ihm war, als würde sie ihm antworten. Ihre Stimme klang aus dem weit entfernten Donnern.
„Aevarr, Sohn des Boovarr, Krieger des Nordens.“

Impressum

Bildmaterialien: Cover by Google
Tag der Veröffentlichung: 14.04.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Meiner lieben Bekka. Einfach so.

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