Cover

1

Es gab einen Knall, dann ein Zischen, der Motor des Oldtimers fing an zu stottern und plötzlich stieg dunkler Rauch aus dem Motorraum.

„Das ist jetzt nicht wahr. Sag, dass das nicht wahr ist. Das kann doch nicht wahr sein, Max. Ich hab dir doch schon so oft gesagt, dass du die alte Kiste endlich verschrotten lassen sollst. Aber du hörst ja nie auf mich“, keifte Frau mit dem weißen Kleid auf dem Beifahrersitz. Ihr Kopf färbte sich langsam rot und ihre Augen blitzten vor Wut. Der Mann lenkte das Auto augenrollend an den Straßenrand und ließ es auslaufen. Noch bevor sie völlig zum Stehen kamen, riss die Frau die Tür auf und stieg aus.

„Emma, jetzt warte doch!“, rief ihr der Mann hinterher und sprang ebenfalls aus dem Auto.

„Nein, lass es. Du hörst ja nie auf mich. Mir reicht es“, wiederholte sie und tippte genervt auf ihrem Handy rum. Sie warf ihre braunen Locken über ihre Schultern und ging weiter mit wackelnden Hüften die Straße entlang.

„Ach, du hast doch keine Ahnung. Das ist ein Oldtimer. Den verschrottet man nicht so einfach. Das ist nur ein kleines Problemchen. Das lässt sich ganz einfach wieder reparieren“, sagte er liebevoll mehr zum Auto als zu seiner Freundin und drehte sich dann um, um die Motorhaube zu öffnen. Eine dicke Rauchwolke kam ihm entgegen und stieg in den strahlend blauen Himmel. Er hustete und wedelte mit einer Hand vor seinem Gesicht herum, um den Rauch zu vertreiben. Das Problem war auf den ersten Blick doch größer als vermutet. Aber das konnte er Emma nicht sagen, sonst würde sie sich nur noch mehr aufregen.

„Jetzt komm endlich her. Du stehst mitten auf der Straße“, rief er Emma hinterher, aber sie ignorierte ihn sah in die Richtung aus der sie gekommen waren. Sie sagte kein Wort, auch nicht als sie in den weißen Fiat ihrer Freundin stieg, der gerade neben ihr hielt. Der Fiat wendete direkt auf der Straße und die Frau mit dem blonden Kurzhaarschnitt winkte Max mit einem mitleidigen Blick zu, der an sein Auto gelehnt am Straßenrand stand, zu bevor sie davonbrausten.

Zwei Stunden später stand Max immer noch am Straßenrand. Er hatte bereits dreimal beim Abschleppdienst angerufen und die freundliche Frau am Telefon hatte beteuert, dass bereits jemand unterwegs war. Max stieg aus dem Wagen, knallte die Tür hinter sich zu und ging ein Stück die Straße entlang um sich die Füße zu vertreten. Die Sonne knallte immer noch vom Himmel und Max überlegte, ob er sein Auto nicht doch einfach hier in der Pampa stehen lassen sollte. Bis in die Stadt war es ja nicht so weit.

Das Geräusch, das von hinten kam, riss Max aus seinen Gedanken und ließ ihn zusammenzucken. Es hörte sich an wie ein Aufprall, als ob man einen großen Sack Mehl auf den Boden hatte fallen lassen. Seine Augen weiteten sich als er sah, was den Krach verursacht hatte. Vom Dach seines heißgeliebten Autos rutschte gerade ein bärtiger Typ in einem dunklen Shirt und massenhaft Armtattoos runter. Dieser verzog schmerzerfüllt das Gesicht und drückte eine Hand auf seinen Rücken.

„Scheiße, musste das sein, hä? Ah, tut das weh“, rief der Typ in Richtung des Himmels. Er richtete sich kerzengerade auf und strich sich durch seine dunklen Haare. „Wie kann ich dir helfen?“, rief er Max entgegen, der langsam auf ihn zuging. Max wusste nicht was er denken sollte. Wo war dieser Typ hergekommen? Bestimmt hatte er schon einen Hitzschlag von dem ganzen In-der-Sonne-Stehen die letzten zwei Stunden. Der konnte doch nicht vom Himmel gefallen sein. „Wie kann ich dir helfen?“, wiederholte der Typ genervt und verschränkte die Arme vor der Brust.

Max blinzelte und stammelte: „Wieso mir helfen? Sie sind gerade vom Himmel gefallen? Geht es Ihnen gut. Ich… meine… Sie sind gerade vom Himmel gefallen?“ Er war sich ganz sicher, dass er halluzinierte.

Der Typ holte einen Notizblock aus der hinteren Tasche seiner zerschossenen Jeans und blätterte wild darin herum. Er schüttelte den Kopf und legte seinen  Zeigefinger an seine gespitzte Lippen. „Du bist doch Max. Und deine Freundin hat dich gerade verlassen“, meinte er schließlich mit gerunzelter Stirn.

Max nickte wild: „Ja, ich bin Max. Aber meine Freundin hat mich nicht verlassen. Und Sie sind gerade vom Himmel gefallen.“

„Nicht verlassen?“, er blätterte wieder in seinem Notizblock. „Alles muss man selber machen. Lieber Herr im Himmel“, seufzte er den Blick zum Himmel gerichtet und schnipste mit den Fingern. Max‘ Handy fing an zu läuten. „Jetzt lies schon. Sie hat dich soeben verlassen“, forderte er Max auf, welcher sein Handy aus seiner Hosentasche fingerte ohne den Typen auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. „Sie… hat Schluss... gemacht“, entfuhr es ihm stimmlos.

Der Typ grinste und hielt ihm die Hand hin. „Sag ich doch. Ich hab mich noch überhaupt nicht vorgestellt. Boris, ab jetzt dein persönlicher Engel.“

2

 

Max sah den Typen, der ganz lässig an sein Auto gelehnt vor ihm stand, mit geöffnetem Mund an. Der Typ sah aus wie eine Mischung aus Türsteher, alterndem Rockstar und Penner. Seine muskelbepackten Arme, die er wieder vor der Brust verschränkt hatte, waren vom Handgelenk bis zum Ärmel seines Shirts mit schwarz-grauen Tattoos zugepflastert. Er trug eine löchrige Jeans mit dunklen Flecken, auf seinem schwarzen Shirt setzten sich die Flecken in Weiß fort. Max mochte sich nicht vorstellen, wo die herkamen. Gerade strich der Typ sich wieder eine Strähne seines welligen, dunkelbraunen Haares aus dem porigen Gesicht mit dem dichten Kinnbart. Max‘ Blick blieb schließlich an den dunklen Augenringen unter den dunklen, müden Augen des Typen hängen und er fing an zu lachen: „Mann, jetzt habt ihr mich aber rangekriegt. Wo ist die Kamera? Dass Emma da mitgemacht hat. Unglaublich.“ Er ging zu seinem Auto und begutachtete die tiefe Delle auf dem Dach. „Die Reparatur wird nicht billig sein. Ich hoffe, das ist euch klar. Ausbeulen und das was ihr da vorne angerichtet habt.“ Er deutete auf die offen stehende Motorhaube. „Eigentlich würde ich dich jetzt gerne umbringen… Weißt du was das Auto wert ist, äh war? Aber ihr kriegt das bestimmt wieder hin. Neue Lackierung ist sowieso fällig.“

„Ey Mann, ich hab echt nicht die leiseste Ahnung, wovon du redest. Hier gibt’s keine verdammte Kamera. Und das mit dem Auto war ungünstig, gut. Sorry“, meinte Boris schulterzuckend und richtete ebenfalls einem ernsten Blick auf die Delle, die er bei seiner Landung hinterlassen hatte. Als er sie befühlte, schmerzte sein Rücken wieder etwas.

„Ach, verarsch mich doch nicht noch länger.“ Max sah sich um. Hier gab es wirklich nicht viel, hinter dem man eine Kamera hätte verstecken können. Er redete weiter ohne Luft zu holen: „Wie habt ihr es geschafft, dass der genau auf dem Auto gelandet ist? Respekt an denjenigen, der den Hubschrauber geflogen hat. Respekt auch an dich, Mann. Stuntman wäre ja überhaupt nichts für mich.“ Er sah sich wieder um. Da hinter der Hecke wäre ein perfekter Platz für die Kamera. „Übrigens, der Engel wäre offensichtlicher gewesen, wenn ihr ihm noch so plüschige Flügel verpasst hättet. Das wäre lustig gewesen. Oder so ein Engelsgewand. Du weißt, was ich meine.“ Er deutete an seinem Körper etwas Kleidähnliches an.

Boris nickte und sagte wieder in ernstem Ton: „Es steht uns frei, das zu tragen. Die Wenigsten machen es. Und die, die es machen, sind alte Säcke, die ihre Dinger gerne frei schaukeln lassen. Ich sag dir, das ist echt kein Spaß, das mit ansehen zu müssen. Eigentlich müsste denen verboten werden, dass sich die überhaupt ein Gemächt aussuchen dürfen. Sind ja eh nur alte Säcke.“ Er verzog angeekelt das Gesicht.

„Du bist wohl immer noch in deiner Rolle. Jetzt reicht’s aber mal, oder? Können wir das hier mal auflösen? Ich will, dass ihr mein Auto endlich hier wegschafft“, fragte Max grinsend.

„Auflösen? Hier gibt’s nichts zum Auflösen. Ich bin dein persönlicher Engel und von dem da oben geschickt worden, um dir zu helfen“, antwortete Boris gereizt und deutete Richtung Himmel.

„Der Engel Boris wird von dem da oben geschickt, um mir zu helfen. Sehr witzig. Der Name ist ja nicht besonders engelhaft“, meinte Max mit gerunzelter Stirn. Er nickte grinsend und schüttelte dann den Kopf.

Boris seufzte: „Tja, Raphael, Michael und Gabriel waren leider schon vergeben.“

Max fiel es schwer, sein Grinsen zu unterdrücken. „Okay,“ er verzog das Gesicht und kniff die Augen zusammen, als er kurz nachdachte: „du bist also ein Engel. Aber Engel haben doch immer Flügel oder?“ Boris nickte. „Wo sind dann deine? Warum fällst du vom Himmel und krachst auf mein Auto, wenn du doch einfach wegflattern könntest?“, fragte Michael und deutete ein Flattern mit seinen Händen an.

„Glaubst du, es ist so einfach? Einfach nur die Finger schnippen und die klappen sich dann so einfach aus?“, sprach Boris schnell und Max hörte auf zu grinsen. Der Typ machte ihm plötzlich Angst wie er da stand und wild mit den Händen fuchtelnd seinen Monolog hielt. „Sag, glaubst du, es ist so einfach, diese Dinger im freien Fall auszufahren. Wenn du gerade aus dem Himmel geschmissen wurdest ohne dass man dich vorwarnt?“ Er schnippte mit den Fingern und Max konnte nicht glauben, was er dann sah. Hinter dem Typen baute sich langsam etwas auf. Max‘ Augen wurden immer größer und als sich die Ungetüme schließlich in ihrer vollen dreckig-weißen Pracht zeigten, fiel ihm die Kinnlade runter.

Boris drehte sich zur Seite und schüttelte raschelnd seine ausgefransten Flügel. Ein paar Federn segelten zu Boden. Mit einem ernsten Blick fragte er schließlich: „Und was sagst du jetzt?“

„Ach du Scheiße“, kam es leise von Max während er den Blick nicht mehr von den Flügeln nehmen konnte.

Boris nickte bestätigend: „Ja, das sagen viele, wenn sie das zum ersten Mal sehen. Und jetzt lass uns gehen.“ Er schnippte wieder mit dem Finger und schon waren sie weg.

3

„Whoa, was war das?“, stieß Max atemlos hervor als er wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Gerade war er unsanft auf dem dreckigen Betonboden aufgeschlagen. Staub wirbelte auf als kurze Zeit später auch Boris mit ausgebreiteten Flügeln fast schon grazil neben ihm zu Boden flatterte. Er schüttelte die Flügel noch einmal und ließ sie dann verschwinden.

„Ihr würdet es wohl beamen nennen, ich nenn’s Engelexpress. Die angenehmste, schnellste und vor allem unauffälligste Art zu reisen“, murmelte er und half Max hoch, der immer noch auf dem Boden kniete.

Dieser wischte sich die staubigen Hände an seiner Hose ab und meinte fassungslos: „Angenehm nennst du das? Das nächste Mal breitest du deine Flügelchen aus und nimmst mich Huckepack oder wir nehmen ein Taxi.“

Boris sah sich um. Das hier sah nicht unbedingt aus wie ein Ort, wo ein Mensch wohnen würde. Er hatte zwar schon viele Behausungen von Menschen gesehen, auch viele, die nicht unbedingt wohnlich gewesen waren, aber das hier war ganz und gar nicht schön. Und hier sollte Max laut seiner Information wohnen. Der arme Kerl!

„Ey, glaub mir, das war angenehm. Wenn du wüsstest, was ich schon alles mitgemacht habe. Das letzte Mal als ich meine Flügel ausgebreitet habe, wurde ich abgeschossen. Haben mich für einen russischen Spion gehalten. Ist schon Jahre her. Aber ich bezweifle, dass ihr Menschen inzwischen intelligenter geworden seid“, erzählte Boris aufgeregt und schaute sich wieder zweifelnd um.

Auch Max sah sich jetzt um und schaute Boris dann an. „Wo sind wir hier? Und was wollen wir hier?“ fragte er schließlich stirnrunzelnd. Durch die dreckigen Fenster fiel Sonnenlicht. Die Halle war groß, wurde aber wohl nicht mehr genutzt. Bis auf ein paar marode Regale an der Wand war sie leer.

Boris holte seinen Notizblock hervor und blätterte wieder nervös darin herum. Er legte seinen Zeigefinger an seine gespitzten Lippen. „Du wohnst hier“, stellte er vollkommen überzeugt fest.

„Ähm, das hier ist eine Lagerhalle. Menschen wohnen nicht in Lagerhallen“, erklärte Max langsam.

„Dachte ich mir, dass hier was nicht stimmt“, murmelte Boris. Max riss ihm den Block aus der Hand. „Jetzt zeig schon, was da steht!“, seufzte er.

„Gib sofort wieder her! Das ist meins! Gib es mir wieder!“, schrie Boris mit quiekender Stimme. Max sah ihn erschrocken an, schüttelte den Kopf und ging einen großen Schritt zurück. Er versuchte die krakelige Schrift zu entziffern.  

„Hier steht Hausnummer drei. Ich hab aber 33. Wir sind hier falsch. Offensichtlich“, meinte er und drückte Boris den Block wieder in die Hand. Dieser blickte schmollend auf das Papier.

„Wenn du meinst…“, maulte er und steckte den Block wieder weg.

„Dann lass uns abhauen. Aber nicht per Engelexpress“, sagte Max und rüttelte laut am abgeschlossenen Eingangstor.

Hinter ihnen hallte plötzlich ein Knurren. Und das Knurren wurde immer lauter. Ein weißer Terrier kam mit gefletschten Zähnen auf sie zu.

„Braves Hundi. Alles ist gut. Wir sind gleich weg“, sprach Max beruhigend auf den Hund ein, der ihn jetzt laut anknurrte. „Boris, verdammte Scheiße, mach was!“, fluchte Max als er bemerkte, dass das Hündchen nicht auf ihn hörte. Doch Boris war weg. Die kurzen Beinchen des Hündchens berührten kaum den Boden als er auf Max zu galoppierte. Weißer Schaum tropfte aus seinem Maul. Er setzte zum Sprung in Max‘ Gesicht an.

„Scheiß Köter. Ich hasse euch so sehr! Jetzt hatte ich dich doch glatt vergessen, Mann. Sorry“, meinte Boris als er Max flatternd an der Schulter packte und per Engelsexpress in dessen Wohnung reiste.

„Hier wohnst du also. Stimmt doch, oder?“, fragte Boris unsicher während sein Blick durch den Raum mit den dunklen Möbeln und den beigen Wänden streifte.

Max nickte geistesabwesend. Sein Herz klopfte wie wild und er konnte den Atem des Hundes immer noch riechen. Etwas Weiches, Pelziges strich um seine Beine und riss ihn aus seinen Gedanken. „Hey Carlo! Hast du schon auf mich gewartet? Wie geht’s dir denn Dickerchen?“, begrüßte er den dicken, grauen Kater, der ihm um die Beine strich und hungrig miaute. Er nahm den Kater auf den Arm und sah Boris dann an. „Du kannst die Couch haben.“ Mit dem Kopf deutete er auf das graue Sofa, das hinter Boris stand und murmelte dann müde: „Ich geh jetzt ins Bett. Das war heute echt zu viel für einen Tag.“

„Kein Problem. Wir Engel schlafen nicht. Ich muss doch aufpassen, dass dir nichts zustößt. Immer. Auch wenn du schläfst“, sagte Boris ernst und ließ sich auf einem der Barhocker nieder. Er faltete die Hände vor sich auf der Arbeitsplatte und setzte einen strengen Blick auf. „Dir passiert nichts, solange ich hier sitze. Jeder der dir was anhaben will, bekommt es mit mir zu tun.“ Er versuchte noch etwas finsterer dreinzublicken und spannte dabei seine Muskeln an.  

Max stieß ein unterdrücktes, gequältes Lachen aus. ‚Vielleicht hättest du mit dem Aufpassen anfangen sollen als ein tollwütiger Hund kurz davor war mich zu zerfleischen‘, dachte er, sagte aber nichts mehr. Stattdessen ging er mit dem dicken Kater auf dem Arm ins Schlafzimmer und schloss die Tür hinter sich ab.

4

Carlo kratzte aufgeregt an der Tür und sprang dann laut und erbärmlich mauzend auf das Bett. Er rieb seinen Kopf an Max Rücken. Dieser brauchte morgens schon lange keinen Wecker mehr, denn das graue Fellknäuel war pünktlicher als jede Uhr, wenn er sein Frühstück einforderte. Der Kater tapste grazil über Max hinweg und legte dann eine Pfote auf dessen Nase. Max öffnete die Augen und sah ihn böse an, woraufhin der Kater zur Tür lief und wieder einen herzzerreißenden Laut von sich gab. Max seufzte laut als er aus dem Bett stieg.

„Wie kann man nur so früh schon Hunger haben?“, fragte er Carlo vorwurfsvoll, der ihn erwartungsvoll ansah. Kaum war die Tür auch nur einen kleinen Spalt geöffnet, stürmte Carlo aus dem Zimmer in die Küche, wo er es sich auf der Anrichte bequem machte wie jeden Morgen. Max war immer wieder erstaunt wie flink und athletisch der fette Kater doch war, wenn dieser mit nur einem Satz auf die hohe Anrichte sprang.

Max holte das sündhaft teure Katzenfutter aus einem der obersten Hängeschränke. Emma bestand darauf, dass er Carlo dieses Zeug fütterte. Dadurch würde sein Fell schön glänzend werden, hatte sie behauptet. Gerade als Max eine halbe Dose des 20-Euro-Hirschragouts in die Metallschüssel kippte, regte sich etwas auf der Couch. Von wegen Engel schlafen nicht. Auf der Couch lag ein halbnackter Boris, der jetzt langsam zu sich kam.

„Wie war das nochmal mit aufpassen, dass mir nichts passiert? Und Engel schlafen nicht?“, fragte Max sarkastisch während er Carlo neben die halbvolle Schüssel auf den Parkettboden setzte.

Boris rieb sich verschlafen die Augen. „Ich hab aufgepasst. Dir ist ja nichts passiert, oder?“, gähnte er und versuchte sich verzweifelt am Rücken zu kratzen.

Max schüttelte kaum merklich den Kopf. Nicht als eine Reaktion auf Boris Frage, sondern weil dieser ihn mittlerweile furchtbar auf die Nerven ging.

„Ich geh jetzt zur Arbeit“, verabschiedete er sich schließlich von Carlo, welcher ihn nur ignorierte und laut weiterschmatzte.

„Gut, dann los“, meinte Boris, der noch immer halbnackt war, aber bereits fast durch die Wohnungstür getreten war.

„Halt!“, rief Max: „Du bleibst natürlich hier!“ Das Letzte, was er wollte war, dass ein tätowierter Halbnackter aus seiner Wohnung im ganzen Haus herumstolzierte. Und noch weniger wollte er, dass dieser ihn zur Arbeit begleitete.

Boris sah ihn schief an und überlegte kurz. „Aber…“, setzte er an. Doch Max unterbrach ihn, bevor er seinen Einwand vorbringen konnte.

„Ich schaff das ganz alleine. Du musst nicht aufpassen. Du bleibst schön hier und passt schön auf Carlo auf“, sprach er und deutete mit dem Kopf auf die fressende Fellkartoffel in der Ecke.

„Aber… Was ist… wenn dir was passiert?“, setzte Boris halbherzig zum Protest an.

„Keine Sorge. Mir passiert schon nichts“, versicherte ihm Max.

„Und was soll ich die ganze Zeit machen?“, seufzte Boris schließlich. Wenn Max seine Hilfe nicht annehmen wollte, konnte er sich ja unmöglich aufdrängen.

Max sah sich um. Er hatte keine Ahnung mit was Engel sich für gewöhnlich die Zeit vertrieben. Sein Blick fiel auf seine DVD-Sammlung, die sich in einem Karton unter dem Fenster stapelte.

„Wie wärs mit ein paar hübschen Engeln, hm?“, sagte er und kramte seine „Drei Engel für Charlie“-Reihe aus dem Karton. Boris blickte auf das Cover und verzog das Gesicht.

„Das sind keine echten Engel“, meinte er schließlich mit gerümpfter Nase.

„Ach was. Du weißt doch überhaupt nicht wovon du redest. Gib ihnen erstmal eine Chance“, murmelte Max als er die DVD in den Player legte.

„Wenn du meinst“, seufzte Boris und ließ sich auf das Sofa fallen.

Knappe zwei Stunden später war Boris immer noch davon überzeugt, dass das keine echten Engel waren. Er saß breitbeinig auf der Couch und Carlo lag schnurrend neben ihm. Boris fing an sich zu langweilen.

„Hey Katze, wie wärs, wenn wir mal etwas frische Luft schnappen?“, fragte er Carlo, der ihn etwas entgeistert ansah. Trotzdem erhob er sich und steuerte auf die Wohnungstür zu. Boris nahm den hellblauen Frotteemantel, den er auf einem der Barhocker an der Theke erspäht hatte und schlüpfte rein. Dann verließ er zusammen mit dem dicken Carlo die Wohnung.

Bei der Treppe tat Carlo sich schwer, schließlich hatte er noch nie in seinem Leben Treppen steigen müssen. Boris lachte, als der Kater vor der ersten Stufe stehen blieb und mauzte. Boris nahm das Fellknäuel unsanft unter den Arm, was es laut fauchen ließ.

Draußen angekommen setzte Boris den Kater auf den Gehweg. Carlo sah sich um. Hier war viel los, Fußgänger, Kinder, Erwachsene, schreiende Babys, Radfahrer. Wieder protestierte er fauchend und mit aufgestellten Rückenhaaren. Carlo mochte die Ruhe seiner Wohnung. Hier war zu viel für ihn los. Er setzte zur Flucht an und stürmte in Carlohöchstgeschwindigkeit geradewegs auf die stark befahrene Straße zu.

„Mama, schau mal das arme Kätzchen“, kam es von einem Kind. Es zeigte auf Carlos, der jetzt blutend mitten auf der Straße lag.

 

5

„Schon gut Carlo. Wir sind gleich da“, murmelte Boris, als er in den gläsernen Aufzug stieg. Vorsichtig streichelte er dem Kater über das strubbelige Fell. Als ein leises „ding“ meldete, dass sie im ersten Stock angekommen waren, wurden sie auch schon von einer blonden Frau empfangen. Boris musste zugeben, dass sie etwas an sich hatte, was ihm gefiel. Und jetzt trat sie hinter ihrem Tresen hervor und Boris konnte sie in ihrer vollen Pracht betrachten. Boris hatte in den hunderten von Jahren, die er schon auf der Erde verbracht hatte, viele hübsche Frauen gesehen, aber die hier war etwas Besonderes.

„Wer sind Sie? Und was machen Sie hier?“, fragte die Frau mit lauter fester Stimme. Trotzdem wirkte sie aufgeregt und soweit Boris das beurteilen konnte, schwankte ihr Gesichtsausdruck zwischen Entsetzen, Fassungslosigkeit und vielleicht auch etwas Angst. Erst jetzt schien ihr die Katze auf seinem Arm aufzufallen. Sie schlug die Hände vor den Mund und rief: „Bringen Sie dieses Vieh sofort raus!“ Zitternd zeigte sie auf die Tür hinter ihm.

„Hören Sie, ich muss…“, fing Boris ruhig an und versuchte der Frau eine Hand auf die Schulter zu legen, um sie zu beruhigen. Ihre Augen wanderten zwischen der Katze und Boris‘ Gesicht hin und her. „Fassen Sie mich nicht an“, schrie sie schrill und schlug seine Hand weg. „Verschwinden Sie sofort von hier! Oder ich rufe den Sicherheitsdienst!“

„Mensch, was ist denn hier los?“ Max‘ Kaffeetasse fiel ihm aus der Hand und zu Boden.  Dort hinterließ der schwarze Kaffee einen dunklen Fleck auf dem blauen Teppich. Max kam gerade aus der Küche um die Ecke gebogen, als er Melanie keifen hörte. Sie blieb sonst immer professionell, egal wie nervig die Vertreter waren. Doch der, der da im blauen Frotteemantel vor Melanie stand, war kein Vertreter.

„Bo..ris? Was machst du hier?“, entfuhr es Max. Seine Stimme war so leise und krächzend, dass er sich selbst nicht wirklich hören konnte.

Boris sah der Frau noch einmal tief in die braunen Augen. ‚Schade, wir hatten einen sehr schlechten Start‘, dachte er und ging dann einen Schritt auf Max zu. Weiter kam er nicht.

„Carlo??“, rief Max sofort als er den grauen Pelz in Boris‘ Arm entdeckte. „Was hast du mit ihm gemacht?“, rief Max entsetzt weiter.

„Er hatte einen kleinen Unfall“, murmelte Boris und zeigte mit Daumen und Zeigefinger seiner freien Hand an wie klein der Unfall gewesen war.

Max‘ Augen weiteten sich: „Kleiner Unfall? Spinnst du?“ Mit diesen Worten entriss er dem Engel den Kater und legte ihn zitternd auf den Granittresen. Er bereute sofort, dass er das Tier so unsanft behandelt hatte. „Carlo, komm schon! Du bist nicht tot!“, flüsterte Max dem zerzausten Fellball zu, der sich aber kein Stück rührte. Auch nicht als Max die abstehenden Haare des Katers mit einer Hand glatt zu bügeln versuchte.

Melanie schlug die Hände vor das Gesicht und suchte dann schwer atmend das Weite.

„Du bist doch ein scheiß Engel. Mach ihn wieder lebendig!“, zischte Max Boris böse zu und blitzte ihn dabei kurz finster an.

Boris verzog das Gesicht und zog laut Luft durch die Zähne ein. „Ähm…Wie soll ich das jetzt sagen? Weißt du, es gibt verschiedene Arten von Engeln…“ Max zuckte mit den Schultern und runzelte die Stirn. „Es gibt schon Engel, die heilen können…“

„Gut, dann mach“, forderte Max ihn wieder ungeduldig auf und deutete auf Carlo.

Boris biss sich auf die Unterlippe: „Und es gibt Engel, die können das nicht.“ Er blickte angespannt auf den Tresen vor ihnen.

„Und du gehörst zur zweiten Sorte, oder?“ Max wartete die Antwort nicht einmal mehr ab. Er nahm Carlo ganz vorsichtig vom Tresen und verließ dann das Büro.

„Wo willst du jetzt hin?“, fragte Boris, der atemlos neben Max auf dem Bürgersteig herhastete. Doch dieser ignorierte ihn. „Wo willst du jetzt hin? Sag! Per Engelexpress wären wir schnell“, meinte Boris dann und lächelte Max an. Sein Mantel stand weit offen und wehte bei jedem seiner Schritte.

Abrupt blieb Max stehen und sah Boris schwer atmend an. „Verschwinde einfach. Hörst du! Verschwinde!“, rief er verärgert und ging dann weiter.

Boris blinzelte zweimal. So etwas hatte noch nie jemand zu ihm gesagt. In all den Jahren hatte diese Worte noch von keinem Menschen hören müssen. Aber er wusste, was das für ihn bedeutete. Es war Max‘ Wunsch. Dem konnte er sich nicht widersetzen. „Okay, auf Wiedersehen Max.“ Max hörte ein paar Flügelschläge und schon war der Engel verschwunden.

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Tag der Veröffentlichung: 13.07.2017

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