Cover

Intro

Du fährst meilenweit den Highway entlang, nichts als ein langes Stück Straße vor dir. Gelbe Markierungen auf schwarzem Asphalt. Ohne jegliche Kurven. Einfach nur gerade aus. Irgendwann verlierst du das Gefühl für die Geschwindigkeit, das Gaspedal scheint dein bester Freund zu sein. Du drückst es unbewusst immer weiter durch, um dieser trostlosen Umgebung schnellstmöglich zu entkommen. Irgendwie den Highway to hell hinter dir zu lassen. Die immer gleichen Bäume ziehen an dir vorbei. Ab und an gibt es heruntergekommene Tankstellen am Straßenrand, die wenigstens ein bisschen Abwechslung bieten und so verhindern, dass du irgendwann am Steuer einpennst. Irgendwo in dieser Einöde findet sich dann eine Abzweigung nach rechts. Ein Hinweisschild gibt es nicht. Oder es gibt es nicht mehr. Vermutlich trägt das dazu bei, dass alle mit 70 mph vorbeirauschen und sich kaum jemand in die Kleinstadt verirrt. Wozu auch? Es gibt nichts bemerkenswertes zu sehen. Früher war die Stadt ein Touristenmagnet gewesen. Herausgeputzt und strahlend sauber. Heute ist sie das nicht mehr. Korruption und Fehlinvestitionen hatten Junction zu dem gemacht, was es heute ist: ein kleines, heruntergekommenes Loch irgendwo im Mittleren Westen der USA. Etwa 10.000 Menschen nannten Junction ihr Zuhause. Als es jedoch anfing den Bach runterzugehen, haben vor allem Jüngere das Weite gesucht, um woanders ihr Leben zu führen, ein Leben, das es wert ist, gelebt zu werden. Zurück blieben nur diejenigen, die der Generation angehörten, als alles noch glänzte. Und ... nun ja... irgendwann lernte ich den Begriff Junction-Abschaum kennen. Auch sie blieben aus unerfindlichen Gründen. In eben dieser Stadt wurde mein Daddy geboren und ist dort aufgewachsen.

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1979 - The Smashing Pumpkins

 

„Einen wunderschönen guten Tag, Jenoba County! Ist das Wetter heute nicht herrlich? Strahlender Sonnenschein soweit das Auge reicht. Bis zum Feierabend ist es nicht mehr lange. Was haben Sie für heute noch geplant? Sport treiben? Mit der besten Freundin oder der Liebsten ins Café gehen? Oder einfach nur die Sonne genießen? Egal, was Sie heute unternehmen werden, Channel 25 FM ist Ihr ständiger Begleiter und unterhält Sie wie immer mit guter Musik“, tönte eine gutgelaunte Frauenstimme aus dem alten Radiowecker.

„Aahhhhmmmmm....... Was zurrrr.......“

„Wir sind Sarah Logan und Mick Ferguson und wir wünschen Ihnen einen wundervollen Tag.“

„Das wünsche ich euch auch, Sarah Dorfmatratze Logan und Mick Säufer Ferguson“, nuschelte Joel, während er halbblind nach dem Wecker tastete. „Und jetzt haltet endlich eure Mäuler!“ Er drückte die Aus-Taste, was das Radio zum Schweigen brachte. Joel setzte sich auf die Bettkante und rieb sich die Augen. „Was zur Hölle ist gestern nur passiert?“, fragte er sich und versuchte sich an den gestrigen Abend zu erinnern. Bruchstückhaft kam die Erinnerung zurück. Vor allem viel Alkohol, ein paar Pillen, deren Herkunft eigentlich keiner kannte und Mädchen, die doppelt so alt aussahen, wie sie waren. Es war somit ein typischer Abend gewesen. Genau so wie sie unzählige andere Abende gemeinsam verbracht hatten. Warum also diese Kopfschmerzen, die ihm das Gefühl gaben, sein Schädel könnte jeden Augenblick zerspringen? Noch nie zuvor hatte er sich nach einer solchen Nacht so schlecht gefühlt. Und zugegeben, er hatte sich oft, sehr oft sogar, sehr schlecht gefühlt. Lag es daran, dass er langsam alt wurde? Er hielt sich den tonnenschweren Kopf. Zu alt, um nächtelang zu feiern? Mit jedem Tag, der verging war man einen Tag näher am Tod. Und dann das flaue Gefühl im Magen. Die Ursache dafür könnte sein, dass er etwas zum Verdauen brauchte.

Völlig verschlafen ging er ins Bad. Dort stützte er sich am Waschbecken ab und blickte in den vollkommen verdreckten Spiegel. „Aber hallo, mein Hübscher! Wer bist du denn?“, fragte er sein Spiegelbild mit den verquollenen Augen, dem Dreitagebart, der möglicherweise bereits ein Viertagebart war und den verstrubbelten, braunen Haaren. „Siehst echt gut aus heute Morgen. Weißt du, heute ist mein Geburtstag. 21 Jahre. Oh, danke für die Glückwünsche!“, fuhr er fort und suchte nach der Flasche Jack, die er im Spiegelschrank aufbewahrte. Für Notfälle, wie er sagte. „Ja, heut ist mein Geburtstag, heut ist mein Geburtstag, heut ist mein Geburtstag und ich gratuliere mir! Happy Birthday, Joey! Auf ein weiteres beschissenes Jahr!“, sang er mit rauer Stimme vor sich hin, prostete seinem Spiegelbild zu und knallte den Spiegelschrank wieder zu, nachdem er die leere Flasche Jack Daniels wieder zurück gestellt hatte. Die musste unbedingt erneuert werden. Wer wusste schon, wann es einen Notfall gab.

„Mann, du siehst echt beschissen aus. Könntest ein bisschen frische Luft vertragen“, stellte er dann fest. Er sah an sich herunter. Hm, anzuziehen brauchte er sich nicht mehr, denn er trug noch immer die Sachen von gestern. „Schon wieder Zeit gespart. Sollte ich vielleicht öfter machen. Trotzdem muss ich herausfinden, was genau gestern passiert ist. Scheint ein ziemlicher Absturz gewesen zu sein.“ Das Wort Absturz rief ein ungutes Gefühl hervor, da er wusste, dass er unberechenbar wurde, wenn er richtig abstürzte. Es war fast schon episch. Er würde die üblichen Verdächtigen befragen müssen und er wusste auch ganz genau, wo er sie finden würde.

2

Half the world away - Oasis

 

„Ty?“ Keine Reaktion.

„Ty?“

„Mhm....“

„Tyler, jetzt komm schon!“ Das Mädchen rüttelte an der Schulter des Jungen, der neben ihr lag und keine Reaktion zeigte.

„Tyler, du Arsch!!“, rief sie und boxte ihn dieses Mal.

„Was ist?! Spinnst du, du dumme Kuh“, gab er laut und verärgert zurück. Sichtlich überrascht von dieser Reaktion sagte sie kleinlaut: „Ich muss gehen. Zur Arbeit.“

„Und deshalb weckst du mich?“, antwortete er, als er ihr wieder den Rücken zukehrte.

„Ich wollte doch mich doch von dir verabschieden und dir einen schönen Tag wünschen“, sagte sie mit einem unschuldigen Blick und um diesem noch mehr Nachdruck zu verleihen, schob sie ihre Unterlippe vor. „Bist du jetzt böse? Das wollte ich nicht. Ich bin doch dein Mädchen und will, dass du glücklich bist“, schob sie noch nach. Sie wusste, dass er ihr so nicht böse sein konnte, wenn er das je war. „Ich kann doch meinem Mädchen nicht böse sein. Und jetzt komm her und verabschiede dich richtig von mir.“ Sie lächelte, kletterte umständlich über ihn und küsste ihn. Dass er fürchterlich nach Alkohol stank, kümmerte sie nicht, denn sie tat es auch. „Okay, ich muss jetzt wirklich gehen. Heute Abend bin ich wieder da, wenn du mich sehen willst“, verabschiedete sie sich, nachdem sie sich aus seiner Umarmung gelöst hatte. Sie strich über eine der Narben an seinem Unterarm. „Und ob ich das will“, grinste er. „Ich liebe dich“, gestand sie und erwartete die selbe Aussage von ihm. „Ich liebe dich. Hast du gehört?“, wiederholte sie. „Hmmhh, ja“, murmelte er. „Was ist mit dir?“, fragte sie hoffnungsvoll. „Was soll mit mir sein? Nichts ist mit mir. Musst du jetzt nicht gehen? Wir sehen uns ja heute Abend“, kam die ernüchternde Antwort. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, verließ sie das Zimmer.

„Mann, Mia! Kannst du dir nicht wenigstens etwas anziehen, was die Dellen an deinen Beinen bedeckt?“, hörte er es von draußen. „Fick dich, Joel! Ach ja, und alles Gute zum Geburtstag“, gab Mia nüchtern zurück. „Danke für die Blumen. Bei dir muss man sich ja keine Sorgen machen, dass du niemanden findest, der es dir besorgt. Hattest du wieder so richtig Spaß, hm?“, zog Joel Mia auf. „Besser als meine Hand ficken zu müssen.“ „Besser meine saubere Hand, als so eine läufige Katze wie dich.“ „Mit dir würd ich nie. Und wenn mein Leben davon abhängen würde.“ „Sehr viel hältst du ja nicht von deinem Leben. Außerdem wer sagt, dass ich mit dir in die Kiste steigen würde? Da riskier ich ja, dass mir der Schwanz abfällt.“ „Ach, fick dich!“, rief Mia und ging mit großen Schritten Richtung Straße. „Danke für das Gespräch!“, sagte Joel und winkte ihr fröhlich hinterher.

„Hey, Tyler, beweg deinen fetten Arsch aus dem Bett. Deine Alte ist gerade abgedampft!“, rief Joel noch bevor er die Tür der Hütte öffnete. Gewaltsam, denn meistens klemmte die Tür. Eigentlich wusste keiner wem die Hütte gehörte. Sie stand angeblich schon immer dort am See. Vor einigen Jahren beschlossen die Jungs dann, sie einzunehmen. Erst war es nur der Probenraum der Band sowie Equipmentlager gewesen, da den Krach den sie veranstalteten keiner hören wollte. Später wurde sie aber zweckentfremdet und dient seither als Übernachtungsplatz für Tyler, der immer einen Platz brauchte, wenn er jemanden kennengelernt hatte, wie er es nannte, und seine neue Bekanntschaft nicht mit nach Hause nehmen wollte. Dafür gab es diverse Gründe. Der wichtigste war aber wohl sein ständig besoffener Vater. Deswegen hatte er beschlossen, dass ein Leben als Einsiedler immer noch besser war, als irgendein Heim für „Jugendliche mit schwierigem familiärem Hintergrund“. Ihm gefiel es so. Er hatte nichts. Er wollte nichts. Und keiner wollte irgendetwas von ihm. Er war frei! Frei wie ein Vogel. Es war sein Lebensmotto. Sie wollten es nicht zugeben, aber im Stillen beneideten ihn seine Freunde.

 

 

 

3

Keep on loving you - REO Speedwagon

 

"Mann, das war eine Nacht! Schlicht und ergreifend legendär!“, schwärmte Tyler, während er, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, mit einem glückseligen Lächeln an die Decke starrte. Die fettigen hellblonden Strähnen hingen ihm ins Gesicht. Er versuchte sie wegzublasen. „Genau deswegen bin ich hier. Ich will wissen, was gestern passiert ist“, kam Joel sofort auf den Punkt. „Ähchm, ich glaube nicht, dass du das hören willst. Is nicht ganz jugendfrei.“

„Ich will es wissen!“

„Wenn du darauf bestehst. Also sie ist schon echt eine Granate. Legendär. Mann, wenn du es nicht erlebt hast, wirst du es nicht glauben. Das war, und ich habe schon einige Erfahrung gesammelt, der mit ABSTAND geilste Sex, den ich je hatte. In einem Wort legendär sozusagen. Du musst dir mal vorstellen, wie dieses Luder drauf ist. Es gibt wohl nichts, was die nicht macht. Am Anfang...“, fing Tyler an zu erzählen bevor er jäh unterbrochen wurde: „Woa, jetzt mal langsam! Stopp! Es interessiert mich einen feuchten, wie deine letzte Nacht mit deiner privaten Nutte war!“ „Du hast doch gefragt!“, verteidigte sich Tyler mit einem Grinsen. „Ich meinte, was letzte Nacht passiert ist BEVOR ich gegangen bin“, betonte Joel. „Ach das!“ Tyler stieg aus dem Bett, kramte in einer Schublade nach einer Zigarettenschachtel, blickte betrübt auf den spärlichen Inhalt und zündete sich eine an. Während er das machte, summte er leise vor sich hin: "And I meant, every word I said... And I'm gonna keep on loving you..." Diese Art von musikalischem Ausbruch hatte Tyler immer mal wieder. Wenn es soweit war, unterbrach man ihn am besten einfach nicht. "Auch?“, fragte er Joel schließlich,  ihm die Schachtel vor die Nase haltend. „Immer! Also was war jetzt?“, kam dieser zum Thema zurück. „Wir haben getrunken, 'n bisschen gekifft, 'n paar Pillchen gedrückt. Na ja, wie immer halt. Irgendwann bist du dann mit dieser einen Blonden verschwunden und wir alle wussten, dass es jetzt zur Sache geht. Wie war sie?“

„Wenn ich das nur wüsste. Ich hab einen totalen Blackout.“

„Jetzt komm schon! Zieh dir endlich mal den Stock aus dem Arsch! Nach einer Weile seid ihr dann wieder gekommen, beide vollkommen abgedreht. Du hättest die sehen müssen. Es war... es war legendär! Ehrlich!“, lachte Tyler. „Wirklich witzig! Dann hat diese Schlampe mir was reingedrückt, was ich bisher noch nicht kannte.“ „Irgendwelche Pillen aus dem Krankenhaus. Verschreibungspflichtig. Sollen angeblich beruhigend wirken. Bei dir war aber eher das Gegenteil der Fall“, rekapitulierte Tyler vollkommen selbstverständlich. „Du Idiot weißt also, was das war?“ „Klar, hat sie uns ja erklärt, aber das hast du vermutlich nicht mehr mitbekommen.“ „Danke übrigens, dass du dir solche Sorgen um mich machst. Die hätte mir alles verabreichen können und du hättest nichts dagegen unternommen.“ „Wie gesagt, ich habe dich noch nie so voller Elan erlebt.“

„Hey Joey! Auch wieder unter uns?“, hörte man es plötzlich von hinten. „Ich war nie weg!“ „Nee, nur auf einem kleinen Trip zur Milchstraße“, murmelte der dickere der beiden Typen, die gerade die Hütte betraten. Er trug wieder diesen hässlichen ausgewaschenen Kapuzenpullover, der wohl mal weinrot gewesen war. Das Grinsen auf Tys Gesicht wurde noch breiter. „Milchstraße?“, fragte Joel ungläubig. „Weißt nicht mehr? Das wird bestimmt ein Superhit! Es wird die Hymne der Junkies werden.“

„Ich schwebe

immer weiter Richtung Mond

Ich fliege zur Milchstraße

Sie ist so weiß wie mein Koks

So weit weg

doch ich fliege zu ihr“,

stimmten Tyler und Dino an, wobei sich beide bewusst waren, dass sie kein bisschen singen konnten und brachen dann in Gelächter aus. Joel schüttelte nur den Kopf. In Momenten wie diesen fragte er sich ernsthaft, ob es nicht sinnvoller wäre, sich einen Strick um den Hals zu legen. Nicht mehr Herr über sich selbst zu sein, weil die Weiber einen unter Drogen setzten, war eben nicht das Wahre.

4

"Also, was steht heute an?“, fragte der Junge mit den teilweise abrasierten Haaren. Den Rest hatte er grün gefärbt. Er dachte, das sehe gut aus. Leider führte es immer wieder dazu, dass er zu früh falsch abgestempelt und in eine falsche Schublade gesteckt wurde. Für ihn war es nur eine Art von stiller, total harmloser Rebellion. Und na ja die anderen sahen halt einen Bekloppten ohne Perspektive.

„Das Übliche“, antwortete Tyler abwesend, während er wie ein nasser Sack auf der Couch fläzte und angestrengt seine Finger betrachtete. 

„Was da wäre?“, meinte Jake ohne ihn auch nur anzusehen. Um ehrlich zu sein, hätte er Tyler schon immer gehasst. Er war ignorant, gemein und dachte nie darüber nach, was er sagte oder tat. Und er kam immer damit durch. Obwohl Jake das ärgerte, sagte er nichts. Er wusste, dass das ein Kampf wäre, den er nicht gewinnen könnte. Weder physisch, denn Tyler überragte ihn um einiges, noch verbal, denn Jake gehörte zu den Menschen, die gerne lange darüber nachdachten, bevor sie etwas sagten. Manchmal dachte er auch zu lange nach und sagte dann meistens einfach überhaupt nichts.

„Nicht bestimmtes und nichts was wirklich Sinn macht“, gab Tyler zurück.

„Wow, das klingt ja nach einem wahnsinnig tollen Plan. Dann kann ich ja wieder gehen. Muss ja mein kostbares Leben nicht mit euch verschwenden. Ihr könnt mich alle mal am Arsch lecken. Es ist jedes Mal der selbe Dreck mit euch.“ „Jetzt komm schon, Jake. Du weißt doch, dass du nichts von dem was er sagt, ernst nehmen darfst. Vor allem nicht nach Abenden wie gestern“, sagte Dino zu Jake und fasste ihm an die Schulter. Dieser war gerade dabei, seine Sachen zu packen und wieder abzuhauen. „Denkst du etwa ich höre dem zu? Eigentlich bin ich nur hier, um endlich mal wieder richtig zu proben. Aber der hat mal wieder die ganze Nacht durchgesoffen und ist jetzt wahrscheinlich nicht mehr dazu in der Lage, seinen Bass richtig rum zu halten. Ich verpiss mich also. Ihr könnt ja machen, was ihr wollt. Es hat ja sowieso keinen Sinn.“

Obwohl sie alle die Musik liebten, hatte sie für Jake doch noch die größte Bedeutung. Es war seine Art sich, wenn auch nur für die Dauer eines Songs, von dieser Welt zu entfernen. Vier Minuten lang war er dann nicht mehr Jake aus Junction. Nein, wenn er spielte, hatte er immer das Gefühl, sich in Luft aufzulösen. Irgendwie von der Erde gesaugt zu werden und über allem zu schweben. Dieses Gefühl war besser als jeder Trip, den er je in seinem Leben erlebt hatte. Jeder wusste, dass er das kreative Genie der Band war, denn fast alle Songs, zumindest die guten, stammten von ihm.

„Ihr habt ihn gehört! Wir müssen proben. Und nur damit du's weißt und für's Protokoll: Ich kann meinen Bass richtig rum halten“, sagte Tyler und erhob sich schwerfällig von der Couch. Es fiel ihm schwer, denn irgendwie drehte sich alles ein wenig. Oder drehte er sich? Keine Ahnung. „Vielen Dank für die Kooperation, Ty!“, säuselte Jake.

Man hörte das Knacksen als Jake seine Gitarre an den Verstärker anschloss und dann legte er los. Gekonnt ließ er seine Finger über das Griffbrett gleiten. Erst ganz langsam und dann steigerte er sein Tempo. Es war fast wie ein Rausch.

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Cum on feel the noize - Quiet Riot

 

Es brauchte nicht mehr als ein paar Töne des Eingangsriffs, damit Joel es erkannte. Nichts klang vergleichbar. Kein anderer hätte es so spielen können wie Jake. Manchmal kam es ihm so vor als wäre Jake eins mit seinem Instrument, wenn er spielte. Erinnerungen fingen an sich aus seinem Unterbewusstsein vor sein geistiges Auge zu drängen. Erinnerungen an diese eine magische Nacht im Sommer vor fünf Jahren. Er war kein Mensch der etwas auf große Gefühle hielt oder an etwas wie Schicksal glaubte, dennoch breitete sich immer bei dem Gedanken an diesen einen ganz bestimmten 26. Juli dieses wohlige Gefühl aus, das ihn alles um ihn herum vergessen lässt, wenigstens für einen Augenblick. Es war Samstag und sie waren am See. Sie fühlten sich frei. Sie waren es! Sie hatten so viel Zeit und nichts zu tun. Oder um es anders auszudrücken: Viel Zeit, um nichts zu tun. Sie beschlossen eine Band zu gründen. Eine Band, so großartig, wie es noch nie jemand gehört hatte. Sie malten sich aus, wie es sein würde. Hunderte von Fans und natürlich Groupies, die Aufmerksamkeit der Presse, die ihnen das Blut aussaugen würde und haufenweise Kohle, die letztendlich für Alkohol draufgehen würde. Und am Ende würden sie selbst draufgehen. Erstickt in der eigenen Kotze. Ein kurzes, aber intensives Leben hinter sich habend. In dieser Nacht entstand dieser eine ganz besondere Song.

 

We are the warriors of the night

We don't fear the dark

We fight until dawn

When all the others have already given up

We are the warriors of the night

 

Er wurde zu ihrer Hymne und zu ihrem Kampflied.

Irgendwann ließ Tyler seinen Bass erklingen. Es war nur ein dumpfer Ton. Dieser hatte aber solch eine Macht, Joel vollkommen zu vereinnehmen. Er wusste, gleich würde sein Einsatz kommen. Nur noch das Schlagzeug... Da war es! Erst die Bass-Drum. 1-2-3-4, 1-2-3-4. Jetzt war es so weit! Er war an der Reihe. Wie auf ein Stichwort fingen Jake und Tyler an, in die Saiten zu schlagen, als Joel zum Singen ansetzte. Auch Dino gab am Schlagzeug alles. Da war er wieder dieser magische Moment. Sie alle schienen zu schweben. Für drei Minuten war die Welt perfekt und nichts könnte das ändern.

 

6

„Bist jetzt also endlich 21?“, durchbrach Dino schließlich die Stille. „Ha, ja. Sieht ganz danach aus“, grinste Joel und nickte. „Und keiner hat geglaubt, dass du's wirklich so weit machst“, witzelte Tyler, woraufhin Joel wieder zu grinsen anfing. „Diesen Bastarden hab ich's aber gezeigt.“ „Mann, weißt du was das jetzt bedeutet?“, fragte Jake schwärmerisch. „Nee, was?“, entgegnete Joel. „Na, endlich kannst du Alkohol kaufen.“ „Alkohol kaufen? Wozu? Warum soll er bezahlen, wenn er ihn so mitgehen lassen kann?“, wollte Tyler wissen. „Na ja, vielleicht will er ja jetzt wo er volljährig ist einen neuen Lebensweg einschlagen und nicht ständig mit einem Fuß im Knast stehen“, warf Dino ein. „Genau... Wollte ich auch gerade sagen“, murmelte Jake. „Jetzt hört schon auf so uncool zu sein“, erwiderte Tyler. „Uncool. Das hat wenig mit uncool sein zu tun wohl eher mit Erwachsenwerden“, sagte Dino. „Erwachsenwerden. Hm, ja schon klar“, sagte Tyler und sah Joel, der in seine Gedanken versunken zu sein schien, mit einem durchdringenden Blick an: „Jetzt sag du doch auch mal etwas!“ Joel blickte erst ihn und dann die anderen an und sagte dann: „Irgendwie hat J recht. Ich meine, ich bin jetzt 21 und was habe ich vorzuweisen? Nichts!“ „Na toll, jetzt fängt er auch noch an, uns sein Herz auszuschütten“, murmelte Tyler und verdrehte die Augen. „Dann mach du doch! Was hast du bis jetzt erreicht? Worauf bist du stolz?“, fragte Joel Tyler auffordernd. „Ich? Na ja, ich habe mehr Weiber in die Kiste gekriegt als es so manch anderer in seinem ganzen Leben geschafft hat. Darauf bin ich stolz. Und ich habe noch keine von ihnen geschwängert. Darauf bin ich noch viel mehr stolz. In den letzten Jahren habe ich mir außerdem die Fähigkeit angeeignet, dazu in der Lage zu sein, viel und oft zu trinken. Darauf bin ich am meisten stolz. Es erforderte viel Training und Disziplin.“ „Wir sind auch sehr stolz auf dich, dass du das alles so gemeistert hast. Das verdient schon Respekt“, sprach Dino sarkastisch: „Ich glaube, was Joe eigentlich damit sagen wollte ist, dass er denkt, dass es langsam an der Zeit ist, ein richtiges Leben zu führen.“ „Ich führe ein richtiges Leben. Willst du sagen, dass mein Leben beschissen ist?“, widersprach Tyler entschlossen. „Ich meinte ein richtiges Leben. Mit Job, einem geregelten Tagesablauf, nicht ständig wechselnden Bekanntschaften.“ „Und mit einem Häuschen im Grünen, einer Frau mit Dauerwelle und einem Kind an jeder Hand. Ist es das was du dir vorstellst?“, fragte Tyler. „Wenn du schon fragst: Ja, manchmal denke ich darüber nach, wie mein Leben verlaufen hätte können“, antwortete Dino. „Eben! Wie dein Leben hätte verlaufen können. 'Können' heißt das Zauberwort. Wir können eben nichts daran ändern, dass wir sind wer wir sind. Wir können nicht ändern, dass wir wir sind“, ließ Tyler seiner Meinung Luft. „Ich meine ja auch nicht, dass wir uns ändern müssen, sondern nur, dass es vielleicht gar nicht so schwer ist, ein halbwegs normales Leben zu führen.“ „Warum sollte ich das wollen“, wendete Tyler ein. „Du willst mir doch nicht weiß machen, dass du mit dem hier glücklich bist“, setzte Jake ihm entgegen und sah sich demonstrativ in der Hütte um. „Ich BIN glücklich hier“, entgegnete Tyler und verließ die Hütte ohne ein weiteres Wort zu sagen oder noch irgendjemanden anzusehen. „Und er ist es nicht“, flüsterte Jake. „Wenn ich ehrlich sein soll, bin ich nicht glücklich mit meinem Leben. Wie sollte ich auch? Ich habe nichts vorzuweisen was bemerkenswert oder außergewöhnlich wäre. Und ich habe keine Ahnung wie ich das ändern soll. Außerdem bezweifle ich, dass ich je dazu im Stande sein könnte, irgendetwas zu machen, worauf man stolz sein kann“, gestand Joel schließlich. Dino wusste, dass das aus seinem Innersten gesprochen war und er wusste, dass er es ernst meinte. „Jeder ist in der Lage, irgendetwas Außergewöhnliches zu schaffen. Man muss nur fest an sich glauben.“ „Du weißt aber schon, wie kitschig das gerade geklungen hat?“, grinste Joel. „Ist aber die Wahrheit. Und nichts als die Wahrheit.“

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Bitter sweet symphony - The Verve

 

Manchmal gibt es Tage, die sich wie Kaugummi ziehen. Das Schlimme an Kaugummitagen ist, dass, egal was man macht, die Zeit einfach nicht vergeht. Man versucht sich zu beschäftigen, die Einen machen es mit Hausarbeit, die Anderen versuchen sich die Zeit mit irgendwelchen spaßigen Freizeitaktivitäten zu vertreiben. Hier kann jeder ganz persönlich entscheiden. Wenn man dann allerdings auf die Uhr schaut, stellt man fest, dass scheinbar keine Zeit vergangen ist.

Bei Joel war fast jeder Tag ein solcher Kaugummitag. Das war eigentlich kein Problem für ihn, er war es ja gewohnt, dass die Zeit irgendwie dahinplätscherte. Das tat sie eben manchmal scheinbar langsamer und manchmal schneller. Joel sah keinen Grund, die Zeit antreiben zu wollen. Was für ihn viel schlimmer war, war das Gefühl, dass einem die Decke auf den Kopf fällt. Leider stellte sich dieses Gefühl sehr oft an Kaugummitagen ein. Heute war beides der Fall. Und zwar die volle Ration. Dieses Mal schienen sich sogar die Wände auf ihn zuzubewegen. Ja, ganz offensichtlich wurde das Zimmer immer kleiner. Ihm war natürlich klar, dass das vollkommen unmöglich war. Trotzdem verkleinerte sich der Raum und die Luft wurde immer schwerer. Er war gerade nach Hause gekommen und hatte die Nachricht von seiner Schwester auf dem Anrufbeantworter abgehört: „Hey Joey! Alles, alles Liebe und Gute zum Geburtstag! Auch von Billy und Lucy. Und natürlich von Mom und John. Meld dich doch mal bei uns. Oder komm uns besuchen. Du weißt ja wo wir wohnen.“ Natürlich wusste er, wo sie wohnten. Sie war seine Schwester. Aber auch sie wusste, wo er wohnte. Warum besuchten sie ihn also nicht? Seine Mom wohnte nur zwei Straßen weiter und trotzdem hatte er sie schon seit Wochen nicht mehr gesehen. Er hatte auch nicht das Bedürfnis, sie zu besuchen oder auch nur anzurufen. Darüber war er aber auch froh, denn er wüsste nicht, wie er auf eine plötzliche Konfrontation mit ihr reagieren würde.

Eigentlich war nicht sie das Problem. John war das Problem. Nach der Scheidung war Johnny als „neue Liebe“ plötzlich da und hat dann innerhalb kürzester Zeit die gute Beziehung, die Joel bis dahin zu seiner Mutter gehabt hatte, zerstört. Joel hasste Johnny und Johnny hasste Joel. Dafür gab es keinen bestimmten Auslöser. Joel hasste Johnny einfach, weil er da war und seine Mutter in Besitz nahm und Johnny hasste Joel, weil er da war und versuchte ihn aus seinem neuen Revier zu vertreiben. Um diesem Hahnenkampf endlich ein Ende zu bereiten, musste Joels Mom ein Machtwort sprechen. Sie entschied aber zu Joels Ungunsten, was dieser ihr bis heute übelnimmt. Später zog er aus und war somit Johnny nicht mehr im Weg. Die Beziehung zu seiner Mutter zerstörte das allerdings vollends. Seitdem waren fast zwei Jahre vergangen. Zwei Jahren in denen sie sich höchstens zu Weihnachten gesehen hatten.

Er löschte die Nachricht auf dem Anrufbeantworter und verließ die Wohnung wieder, um zu verhindern, dass er von den näherkommenden Wänden und der Decke erdrückt wurde.

8

Wonderwall - Oasis

 

Er war diesen Weg schon oft gegangen. Er führte nach „draußen“. „Draußen“ da wohnten die „Anderen“. Die „Anderen“ hatten Häuser, die in Reih und Glied standen mit jeweils einem schönen grünen, immer gemähten Stück Rasen vor dem Haus. Es war die Vorstadt von Junction. Joel hasste diese Gegend aus einem unbestimmten Grund. Er hatte noch nie ernsthaft darüber nachgedacht, warum ihm immer ein eiskalter Schauer über den Rücken lief und er das Gefühl hatte es einfach nicht länger aushalten zu können, einfach umdrehen zu müssen.

Doch er kam immer wieder hier her. Und dafür gab es einen bestimmten Grund. Sie war seine Pattie Boyd, seine Marianne Faithfull, seine Anita Pallenberg.

Er hätte alles für sie getan. Alles, was sie von ihm verlangt hätte. Doch sie verlangte nichts von ihm. Verlangte nichts, da sie kaum wusste, dass er existierte. Niemand von denen zu welchen sie gehörte, wusste das. Aber er wusste, dass sie existierte. Oft genug hatte er sie beobachtet. Oft genug hatte er sie gesehen, wenn sie von der Schule nach Hause ging. Sie später das Haus wieder verließ, um sich mit ihren Freundinnen zu treffen. Shoppen zu gehen oder was auch immer sie machten.

Sie war siebzehn und der Traum eines jeden Jungen ihres Alters. Es war ein offenes Geheimnis, dass auch ältere, viel ältere, auf sie standen. Sich an sie ranzumachen traute sich keiner, egal wie alt er war. Sie war unberührt und rein. Das perfekte Kleinstadtmädchen; fast schon wie in diesen Filmen. Joel hatte viele von diesen Filmen mit seiner Schwester gesehen als sie noch kleiner waren. Er hatte sie immer überaus kitschig gefunden. Kitschig und unrealistisch. Das tat er immer noch. Allerdings glaubte er zu verstehen, warum immer alle auf die schüchterne Kleine abfuhren, die in ihrem ganzen Leben noch nie etwas Schlechtes gesehen, gesagt oder getan hatte. Diese Tatsache verlieh ihnen immer diese besondere Aura. Immer wirkte es so als würde sie im Licht erstrahlen während alles um sie herum im Dunklen versank. Neben ihr sah alles alt und heruntergekommen aus während sie glänzte. Es war ihre unbekümmerte, naive Art, die ihn so beeindruckte. Sie war so anders als die Mädchen mit denen er normalerweise Kontakt hatte. Diese Mädchen waren bestenfalls Mädchen für eine Nacht, nicht mehr und nicht weniger. Sie aber war ein Mädchen zum In-die-Vitrine-stellen-und-einfach-nur-anschauen.

Aber er hatte es verpatzt. Nur zu gut erinnerte er sich an den Tag, an dem sie das erste Mal zusammenstießen. Wie fast jeden Tag hatte er Stellung an seinem Beobachtungsposten auf der Wiese bezogen. Von dort aus hatte er einen relativ guten Blick auf ihr Haus ohne direkt aufzufallen. Keiner würde auf die Idee kommen, dass er sie beobachtete. Und falls doch, konnte er immer noch behaupten, dass er sich hier nur sonnte. Dieses Mal verließ sie das Haus später als sonst. Sie trug ein leichtes Sommerkleid. Er fand, dass es ihr gut stand und plötzlich stand sie neben ihm.

Wenn er heute daran dachte, lief es ihm wieder kalt den Rücken hinunter. Kein Wort hatte er rausgebracht. Nicht mal rumgestammelt. Einfach nichts.

Er war sich nicht sicher, ob er ihr noch mal begegnen  wollte. 'Aber warum sonst komme ich immer wieder hier her?', fragte er sich, während er seinen neuen Beobachtungsplatz bezog.

 

9

Fast schon feierlich stand der Kuchen auf dem ansonsten vollkommen leeren Tisch.

"Nein, Schätzchen! Jetzt noch nicht! Warte doch noch bis Onkel Joey kommt", rief die junge Frau dem blond-gelockten Mädchen hinterher. "Aber ich will Kuchen und Beth will auch Kuchen", näselte dieses und zeigte dabei auf das Mädchen, das mit dem Plüschtier im Arm im Sessel saß und eifrig nickte. "Bessany will Kuchen haben, bitte", pflichtete es ihm dann höflich aber bestimmt bei.

"Jetzt gib ihnen doch was. Du weißt doch ganz genau, dass sich dein Bruder nicht blicken lassen wird. Wie jedes Jahr. Und das, obwohl sich seine Mutter immer solche Mühe gibt. Jedes Jahr. Jedes Jahr dasselbe", murmelte der Mann in kurzen Hosen, der gerade mit einer Flasche Bier das Wohnzimmer betrat.

"Jetzt kommt her meine Lieben, von Johnny kriegt ihr was Leckeres. Johnny holt jetzt noch Teller und dann bekommen meine Mädchen Kuchen", säuselte er und streichelte der Kleineren im Sessel über den Kopf. "Johnny weiß nämlich ganz genau, dass Onkel Joey nicht kommen wird. Weil es Onkel Joey vollkommen egal ist, ob seine Mami Kuchen für ihn gebacken hat, weil er Geburtstag hat. Weil es Onkel Joey vollkommen egal ist, ob wir hier auf ihn warten oder nicht. Weil Onkel Joey nicht an uns denkt so wie wir das machen", sagte er mit einer harten Stimme zu Stephanie, der jungen Frau, die jetzt mit verschränkten Armen in der Tür stand. Sie spürte langsam dieses Gefühl in ihr hochkommen. Dieses Gefühl bei dem sie ihn dann am liebsten in die Eier treten möchte, ihm endlich mal die Meinung sagen möchte nur ihm dann nochmal in die Eier zu treten, aber sich dann doch beherrscht. 'Nicht vor den Mädchen', beruhigte sie sich innerlich. "Ich habe ihn angerufen", sagte sie schließlich. "Ach angerufen! Ist er auch rangegangen?", fragte Johnny höhnisch: "Nein, ist er natürlich nicht! Warum auch? Er gibt doch einen Scheiß auf all die anderen da draußen. Vor allem auf seine Familie. Er lebt nur in seiner kleinen beschissenen Joey-Welt, wo keiner reinkommt außer vielleicht seine Drogen-Freunde." Mit diesen Worten verließ er das Zimmer.

Sie hatte wirklich schon so viel getan, damit alles wieder gut wurde. Doch aus irgendeinem Grund schien Joel das nicht zu interessieren. Unzählige Male hatte sie versucht ihn zu erreichen, hatte mit ihm reden wollen, ihn zur Einsicht bringen wollen. Er aber blockte alles ab. Klar, auch sie fand, dass Johnny ein Ekelpaket war. Sie selbst mochte ihn auch nicht. Und sie musste nicht mal unter einem Dach mit ihm leben. Je länger sie darüber nachdachte, desto besser verstand sie ihren kleinen Bruder. Verstand warum er damals einfach abgehauen war ohne auch nur 'tschüss' zu sagen. Aber machte er sich das Leben nicht selbst unnötig schwer? Warum musste er sich so verhalten? Warum musste er jeglichen Kontakt zu seiner Familie abbrechen? Das konnte doch nicht nur an Johnny liegen. Sie waren doch immer für ihn dagewesen.

"Mami? Wann bekommen wir Kuchen? Wann kommt Onkel Joey? Kommt er wirklich nicht wie Onkel Johnny gesagt hat? Ich will Kuchen haben jetzt", riss sie die Stimme ihrer Tochter aus ihren Gedanken. "Äh... Jetzt, Maus. Jetzt gibts Kuchen. Wir müssen nicht mehr länger auf Onkel Joey warten."

 

10

Langsam wurde es spät und Joel wusste, dass sie sicherlich stinksauer auf ihn sein werden. Das war doch verrückt! Schließlich war es sein Geburtstag und sogar da waren sie sauer auf ihn. Na ja, er hatte es sich ja selbst zuzuschreiben... irgendwie. Was machte er denn hier draußen, wenn er doch eigentlich bei seiner Familie sein sollte? Okay, es machte keinen Sinn, es noch weiter hinauszuzögern. Kommen würde sie heute sowieso nicht mehr. Es war wohl an der Zeit sich auf den Weg zu machen. Vielleicht war es ja mittlerweile so spät, dass...

Eine knappe Stunde später klingelte es an der Tür. 'Endlich', dachte Stephanie als sie vom Sofa aufstand und in den Flur trat. „Mom! Joel ist da!“, rief sie in die Küche noch bevor sie die Eingangstür öffnete. Sie hoffte so sehr, dass derjenige, der da vor der Tür stand wirklich ihr Bruder war. Sonst wäre das hier wieder alles umsonst gewesen und sie wusste nicht, wie lange sie das Ganze noch mitansehen wollte und konnte. Warum musste er sich so verhalten? Und warum mussten sie sich so verhalten? Sie selbst konnte keinem wirklich die ganze Schuld an der Sache geben. Das wollte sie auch gar nicht, weil das bedeuten würde, dass sie sich gegen einen Teil ihrer Familie stellen musste. Wie hatte es nur so weit kommen können?

„Da bist du ja endlich! Wo warst du denn so lange? Wir warten hier schon die ganze Zeit auf dich!“, flüsterte Stephanie ihrem Bruder zu als sie die Tür hinter ihm schloss.

„Mmmh“, war alles was sie als Antwort bekam. Joel war es unangenehm hier zu sein. Er befürchtete, dass es besser gewesen wäre, es so zu machen wie die letzten Jahre und überhaupt nicht hier aufzutauchen. Und er befürchtete, dass es mittlerweile noch nicht so spät war, dass Johnny mit seinen Kumpels oder Arbeitskollegen oder sonst was unterwegs in die nächste Bar war. Die Befürchtung bestätigte sich, als Johnny aus der Küchentür trat.

„Oh, hallo, Joel, du hier? Mit dir hatte heute ja wirklich keiner gerechnet!“, rief er gespielt freudig und erstaunt.

Stephanie atmete tief durch. 'Bitte, Joel, sag jetzt einfach überhaupt nichts, bitte!', flehte sie ihren Bruder innerlich an. Doch von diesem kam sowieso kein Laut. 'Gut so! Wenigstens scheint er zu begreifen, dass das nichts bringt.' War es also an ihr, dafür zu sorgen, dass das hier dieses eine Mal nicht aus dem Ruder lief. „Okay, dann lass uns mal ins Wohnzimmer gehen. Die Mädchen warten schon auf dich. Sie wollten einfach nicht ins Bett. Nicht bevor Onkel Joey nicht hier ist. Das ist doch süß. Findest du nicht auch?“, plapperte sie drauf los während sie Joel vor sich den Flur entlang schob, an John vorbei, nicht ohne diesen dabei mit zusammengekniffenen Augen anzusehen. Möge er doch wenigstens heute Ruhe geben!

Im Wohnzimmer angekommen, wurden sie sofort stürmisch von zwei kleinen Mädchen begrüßt. „Hey, halt! Ihr sollt uns doch nicht überfallen! Lasst uns doch erst einmal hereinkommen!“, lachte Stephanie und fragte dann: „Und wer will jetzt Kuchen haben?“ Es war ein kläglicher Versuch zu vertuschen, wie seltsam diese Situation wieder war und dass im Grunde jeder wusste, was noch kommen würde. Eine normale Feier, das war das Einzige, das sie sich wünschte. War das denn so furchtbar viel verlangt?

11

In too deep - Sum 41

 

Da waren sie wieder, diese drei Idioten. Hatten nichts besseres zu tun als über Joels neueste Errungenschaft zu staunen. Es war nichts, was er selbst noch nie gesehen hatte. Sein Dad hatte einige davon zu Hause. Natürlich sicher weggeschlossen, im Waffenschrank, im Schlafzimmer. Wie sich das für einen Police Lieutenant gehörte.

„Aber geladen ist die nicht“, hatte Jake gefragt. Das war sie nicht. 'Na immerhin etwas', dachte Dino: 'Jetzt hat er was, womit er spielen, aber niemandem dabei wehtun kann.'

Er hasste diese vollkommene Ignoranz, die die drei an den Tag legten, zwar manchmal. Aber sie war auch beneidenswert. Keiner von ihnen schien sich Gedanken über morgen zu machen. Gut, vielleicht dachten sie darüber nach, wo sie genug Kohle für so viel Alkohol auftreiben sollten, um damit morgen durchzukommen. Aber das war's dann auch schon. Sie kannten sich schon seit sie Kinder gewesen waren. Zusammen in einem verschissenen Loch wie Junction aufzuwachsen, das schweißte zusammen. Trotzdem... Etwas hatte sich in letzter Zeit stark verändert. Es fühlte sich an, als würde er dem Ganzen entwachsen, wenn man das so sagen konnte. Irgendwie war es leid hier zu sein und ihnen dabei zuzusehen wie sie abwechselnd in den Lauf der Pistole starrten. Ganz klar! Jeder von ihnen hatte heute schon einiges in sich aufgenommen. Flüssig oder in gepresster Form, das war vollkommen egal.

„Reich mir mal was Flüssiges“, forderte Dino Tyler schließlich auf. „Und? Wie ist der neue Job so? Schon befördert worden?“, fragte dieser mit einem Grinsen. „Ja, nach einer Woche. Ich sag's dir, die haben nur die ganze Zeit auf mich gewartet!“, witzelte Dino. Der neue Job war eigentlich der erste, den er je hatte, also war es eigentlich seltsam von einem 'neuen' Job zu reden, wenn es keinen alten gab, oder nicht? Dino beschloss, sich dieses Mal nicht an dieser Kleinigkeit aufzuhängen wie er es sonst gemacht hätte. Außerdem wollte er überhaupt nicht über seinen Job reden. Vor allem aus dem Grund, dass er ihn hasste. Aber es musste sein. Es war die einzige Bedingung seines Vaters gewesen. Der hatte ihm damit gedroht, ihn rauszuwerfen, wenn er nicht bald etwas aus seinem Leben machte. 'In hohem Bogen' hatte er gesagt. Und sein Vater war ein Mensch, der zu seinen Drohungen stand.

Jetzt war er also hier mit schmerzendem Rücken und Blasen an den Händen, wollte nur ein Bier und ein paar Songs spielen. „Lassen wir dieses Thema lieber heute. Kommt schon! Lieber mal ein bisschen was spielen und dann noch ein bisschen was rauchen. Ich brauch mal was zum Abschalten jetzt. Warum bin ich sonst hier?“, versuchte er sie zu überzeugen. Zum Glück funktionierte das auch relativ gut. Bereitwillig bezogen sie Stellung auf ihren Plätzen und dann ging es auch schon los. Ja, das fühlte sich definitiv so sehr viel besser an als Kisten schleppen.

12

Summend ging sie den Weg entlang. Sie hatte Greg gebeten, sie heute früher Schluss machen zu lassen. Das hatte er nach einigem Bitten und Betteln auch gemacht. Aber nicht weil er ein so herzensguter Mensch war und er wusste, dass sie sich für ihn den Arsch aufriss, sondern lediglich weil er Angst hatte, dass sie mal für längere Zeit ausfallen würde, wenn er ihr nicht ab und an frei gab. 'Mia ist das beste Pferd im Stall. Unser Zugpferd!', hatte er mal gesagt. Es war fast widerlich, aber solange er gut bezahlte und das tat er, würde sie sich das wohl oder übel noch länger gefallen lassen müssen.

Endlich hörte sie den bekannten Krach. Das bedeutete, dass sie heute Abend wieder nicht alleine sein würden. Sie seufzte. Wie so oft. Wie eigentlich immer. 'Immer schön weiterüben, dann wird das schon', dachte sie traurig grinsend. 'Auf ein Neues...' mit diesem Gedanken stieß sie die Tür der Hütte auf.

„Wo ist der Wodka? Jetzt sagt bloß, dass ihn diese kleine Hure schon wieder gesoffen hat“, bellte Joel und zeigte dabei auf Mia, die sich gerade in den Schneidersitz auf den Boden niederließ.

„Mir wäre es lieber du würdest sie nicht als Hure bezeichnen“, sagte Tyler.

„Sie nicht als Hure bezeichnen? Warum sollte ich sie nicht als das bezeichnen, was sie ist? Sie ist ja nichts als eine kleine, dreckige Hure. Okay, dann mach du mir einen besseren Vorschlag wie ich diese Schlampe nennen soll“, forderte Joel.

„Wie wäre es mit 'Mia'?“, schlug Tyler mit hörbarer Verärgerung in der Stimme.

„Mia“, wiederholte Joel betont und langsam.

„Mia, Mmmiiiiaa. Hm.... Was hast du mit dem Wodka gemacht, Mia? Jetzt sag schon, Mia, du kleine Schlampe“, fragte er während er langsam auf Mia zuging.

„Ich weiß nicht, wovon du sprichst! Ich habe deinen beschissenen Wodka nicht. Frag doch mal Dino anstatt immer mich zu beschuldigen. Ich besorg mir selbst was, wenn ich was will. Ich brauche dein Zeug nicht“, verteidigte sich Mia und versuchte so gut es ging ihr Stimme dabei nicht zittern zu lassen.

So sehr sie sich auch an die Jungs und ihre Launen gewöhnt hatte, hatte sie manchmal doch Angst vor ihnen. Das war vor allem der Fall, wenn einer von ihnen vor ihr stand und sie mit Augen voller Wut anstarrte genau wie Joel es jetzt machte. Diese Situation war keine Seltenheit. Den Auslöser für diese verstand sie in den meisten Fällen selbst nicht so ganz. Vermutlich hatten sie so viel Wut in sich, die manchmal einfach raus musste und sie war eben immer zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort. „Jetzt lass sie endlich in Ruhe. Sie hat dir nichts getan und sie hat deinen beschissenen Wodka nicht angerührt. Hier ist die Flasche! Voll!“, rief Tyler wütend. Er ging auf den Tisch zu und knallte die Flasche darauf, die er zuvor im Schrank gefunden hatte: „Wenn du dir nicht merken kannst, wo du deinen Alk hinräumst, dann kann ich dir auch nicht mehr helfen.“ Peinlich berührt blickte Joel auf die Flasche und wendete sich schließlich von Mia ab nachdem er sie noch einmal böse angeblickt hatte. Das war zu viel. Mit Tränen in den Augen rannte Mia aus der Hütte. Sie hatte sich so sehr auf einen Abend zu zweit gefreut. Stattdessen musste sie sich wieder dumm von der Seite anreden lassen, obwohl sie niemandem etwas getan hatte.

"Ganz toll gemacht, du Arsch! Mia! Bleib stehen!", hörte sie Tyler noch rufen.

13

 Es war kurz vor vier Uhr morgens, das Gras war feucht und Joel erkannte nur noch einen schwachen Lichtschein, der von der Hütte ausging, als er sich an das Ufer des Sees setzte. Weit weg von der Hütte, weil Tyler ihn und die anderen rausgeschmissen hatte, nachdem Joel Mia als Schlampe bezeichnet hatte. Joel fragte sich, was Tyler nur immer hatte. Warum er sich so anstellte, wenn es um Mia ging. Warum er immer gleich überkochte. Er sagte doch selbst immer, dass sie nur für eins gut sei und er nur mit ihr 'zusammen' wäre, weil sie das eben besonders gut könne. Trotzdem verteidigte er sie immer.

Jetzt saß er hier. Alleine, nur mit der Waffe, die er in seinen Händen drehte. Was sollte er jetzt mit diesem Ding machen? Sie wieder zurückbringen? Sie gehörte ihm ja nicht und es fühlte sich schlecht an sie mit sich rumzutragen. Er fühlte sich schlecht. Wegen eigentlich allem. Er fühlte sich alleine und er war ganz alleine daran schuld.

Er war selbst daran schuld, dass er kaum mehr Kontakt zu seiner Familie hatte. Nicht so wie Jake es hatte. Der hatte eine Familie, die na ja, mehr und weniger hinter ihm stand. Er war selbst auch daran schuld, dass er nicht ein halbwegs geregeltes Leben führte so wie Dino es jetzt tat. Der hatte sich nur ein bisschen angestrengt.Und er war auch selbst daran schuld, dass er kein Mädchen hatte, das ihn liebte so wie Tyler es tat. "Und dieser Bastard weiß das nicht einmal zu schätzen", dachte Joel.

In Gedanken verloren ließ er den Blick über die Wasseroberfläche gleiten auf der sich das Licht spiegelte, spielte mit der Pistole und machte das Patronenlager immer wieder auf und ließ es dann wieder zuschnappen. Es war leer gewesen als er sie gefunden hatte. Auch jetzt war keine Kugel im Lager. Um diese Zeit war es hier draußen eiskalt, aber so ruhig. Joel steckte die Hände in seine Jackentaschen. "Da sind sie ja. Gott sei Dank, ich habe sie nicht verloren", murmelte er und zog die rechte Hand vorsichtig wieder aus der Tasche. Als er sie langsam öffnete, blickte er auf drei glänzende Pistolenkugeln. Natürlich hatte er nicht nur die Waffe mitgehen lassen. Schließlich hatten die Kugeln direkt daneben gelegen.

Joel steckte eine Patrone in das Lager und schloss dieses wieder.

Einige Zeit saß er noch am Ufer, klickte das Lager rein und raus und dachte nach. Doch je länger er das tat, desto beschissener wurde es. Langsam fing er an sie alle zu hassen. Am meisten von allen hasste er sich selbst, weil er nicht so sein wollte wie sie aber auch, weil er nie so sein würde wie sie.

Schließlich hielt er sich die Pistole an den Kopf und legte den Finger auf den Abzug.

 

14

Sie kannte diese Straßen eigentlich nur bei Tage und da sah schon alles so gleich aus. Doch jetzt bei Nacht sah alles noch viel gleicher aus. 'Gottverdammt, wäre ich nicht einfach abgehauen. Oder hätte mich abholen lassen. Dad will ohnehin nicht, dass ich mich hier rumtreibe. Und jetzt habe ich mich auch noch verlaufen', dachte sie. Langsam kroch die Verzweiflung in ihr hoch. Sie würde nie wieder hier wegkommen. Vermutlich war sie überhaupt nicht mehr in Junction sondern irgendwo. Dieses heruntergekommene Industrieviertel konnte schließlich überall sein. Links von ihr befand sich eine Mauer aus Klinkersteinen, rechts von ihr ebenfalls. Und vor sich konnte sie noch eine Mauer im Dunkeln erahnen. Also war sie in eine Sackgasse gelaufen. Jetzt reichte es. Sie wollte einfach nur noch nach Hause und endlich in etwas bequemeres schlüpfen als diese dämlichen High Heels. In ihrer Handtasche suchte sie nach ihrem Handy und da hörte sie eine tiefe, raue Stimme hinter sich: „Na Püppchen, was machst du denn so spät noch hier draußen.“ Sie versuchte es so aussehen zu lassen als hätte sie nichts gehört. In Wirklichkeit hatte sie eine Höllenangst. Im fahlen Schein einer Straßenlaterne konnte sie einen Mann erkennen. Er war groß, hing auf eine Seite und wankte beim Gehen. „Süße, wie heißt du denn?“, fragte Typ lispelnd während er sich langsam auf sie zubewegte. Jetzt erst bemerkte sie den Gegenstand den er in der Hand hielt. Es war ein Messer. Nicht groß, aber es würde reichen, um sie ernsthaft zu verletzten. Der Drang wegzurennen, war riesig, aber stattdessen blieb sie wie angewurzelt stehen. Sie hatte keine Kontrolle über ihre Beine. Der Mann stand jetzt vor ihr und sie glaubte, genau riechen zu können, was er heute alles gesoffen hatte. „Du bist aber eine Hübsche. Was machst du denn hier?“, flüsterte er. Jetzt fingen die Tränen an zu laufen. „Bitte tun Sie mir nichts. Ich will doch bloß nach Hause“, stotterte sie unter Tränen. „Na na, aber! Du musst doch jetzt nicht weinen. Ich tu dir doch nichts. Heute Nacht kannst du doch auch bei mir bleiben.“ „Bitte lassen Sie mich gehen“, flehte sie.

„Hey Arschloch! Hast du sie nicht gehört“, kam es plötzlich von hinten: „Ja, dich meine ich! Lass sie los!“ Der Mann drehte sich gemächlich um und drängte sie dabei noch etwas näher an die Wand hinter sich.

„Und wenn nicht? Was willst du dann machen? Willst du mich verhauen?“, äffte der Mann.

„Na ja, dann werde ich dir den Schädel wegpusten und zwar hiermit.“ Mit diesen Worten holte er, sie konnte es nur schwach erkennen, eine Pistole hervor.

„Oh, nettes Spielzeug hast du da. Ich wette, die ist nicht einmal geladen.“

„Diese Wette hättest du verloren.“ Und er feuerte einen Schuss ab. Das Fenster über ihr zerbarst.

„Netter Versuch. Aber zu weit nach oben gezielt“, sprach der Mann.

Der Typ mit der Waffe kam ein paar Schritte näher. „Weißt du, mein Dad hat mir beigebracht immer erst einen Warnschuss abzulassen. Das war er. Der nächste geht glatt durch dein Hirn.“ Genau so seelenruhig wie er redete, wanderte auch der Lauf ein paar Inches weiter nach unten. Es war relativ ruhig, deswegen konnte man sehr gut hören wie er die Waffe erneut schussbereit machte.

Das war der Moment in dem er einen stehenden Schmerz in seinem Unterarm spürte.

„Aua, du Schlampe! Was ist das? Hast du mich gebissen?“ Er tastete mit seiner rechten Hand nach dem Ding das in seinem Arm steckte und zog es heraus. Er konnte nicht erkennen, was es war.

„O-Okay, hier du kannst sie haben. Mach mit ihr was du willst.“ Der Griff des Mannes, der sie am Handgelenk gepackt hatte, lockerte sich etwas, als er sie ein Stück in die Richtung des Schützen schob.

„Und jetzt verpiss dich besser ganz schnell bevor ich noch besser ziele“, riet ihm der Typ mit der Pistole laut.

 

15

Zitternd stand sie am Ende der Sackgasse. Sie wusste, dass sie Blut an den Fingern hatte. Es fühlte sich eklig an. Sie wusste nicht was sie machen sollte. Sie konnte nicht anders als hier weiter wie angewurzelt stehen zu beliben.

"Alles okay mit dir?", hörte sie die Stimme des Jungen, der langsam näher kam. Sie schluckte und schüttelte den Kopf. "Ja", flüstere sie kaum hörbar. Ihre Stimme war heiser.

"Na, das sieht mir aber gar nicht danach aus. Du heulst doch", murmelte der Junge. "Du kommst nicht von hier stimmt's? Blöde Frage. Warum solltest du auch sonst hier rumlaufen, um diese Zeit. Also, warum bist du um diese Zeit noch hier draußen?", fragte er sie, während er die Pistole in seinen Hosenbund steckte.

"Party... Freundin... Allein nach Hause...", schluchzte sie.

"Aha. Verstehe. Na dann, guten Heimweg", sagte er und drehte sich zum Gehen um.

"Nein, warte!", rief sie. "Ich hab mich verlaufen und weiß nicht mal wo ich hier genau bin."

"Hmm..." Er war kurz davor einen blöden Spruch abzulassen, riss sich aber im letzten Moment zusammen. Sie wirkte tatsächlich sehr verloren und der Kleidung, die er im schwachen Licht erahnnen konnte, nach zu urteilen, war sie wirklich nicht von hier.

"Wo musst du also hin?", fragte er sie schließlich.

"Beauville", kam es von ihr leise.

"Hm, knappe halbe Stunde laufen. Mit den Schuhen wahrscheinlich mehr. Der nächste Zug fährt in zwei Stunden. Ich würde vorschlagen, du suchst dir ein nettes Plätzchen und haust dich erst einmal aufs Ohr", meinte er.

Sie war wieder den Tränen nahe, als er sich zum Gehen umdrehte: "Aber ich kenne doch hier keinen und weiß auch nicht wo ich bin."

'Tja, Süße, das nennt man dann wohl Pech', dachte er. "Tja, ich könnte dir anbieten, dass du zu mir mitkommen kannst und bleiben kannst bis der Zug fährt", murmelte er so leise, dass sie es kaum hören konnte.

"Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. Ich kenne dich ja nicht", sagte sie.

"Wie du meinst. Wenn du lieber hier bleibst", sagte er laut und ging.

"Nein, so war das nicht gemeint. Aber gibt es hier in der Nähe nicht ein Hotel oder so", warf sie ein.

"Ne, tut mir Leid aber das Hilton ist heute leider schon ausgebucht", rief er über seine Schulter und schüttelte den Kopf. Die Hände in die Hosentaschen gesteckt ging er die Gasse entlang.

Er wollte gerade um die Ecke biegen, als er das Klackern von Absätzen hörte. "Warte!", rief sie: "Warte, ich komme mit."

"Ach, jetzt doch?", entgegnete er ihr.

"Ja, ich...", sie brach den Satz ab, weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Die Angst, dass der stinkende Alte wiederkam, war einfach zu groß. Er hatte sie gerettet, oder? Er würde ihr nichts tun, oder?

Schweigend gingen sie die Straße entlang und dann die nächste nach links. Es roch hier sehr komsich, fand sie. Irgendwie nach Benzin, Gas und noch einige Dinge, die sie nicht zuordnen konnte. Und es sah auch sehr komisch aus hier. Viel konnte sie nicht erkennen, weil die meisten der Straßenlaternen flackerten oder überhaupt nicht leuchteten. Alte, heruntergekommene Häuser konnte sie ausmachen.

"Da wären wir. Bist du dir sicher, dass du mit mir kommen willst?", fragte er schließlich, als er vor der Eingangstür eines Hauses stehen blieb.

"Ich hab ja keine andere Wahl, oder?", lächelte sie schwach.

"Sieht wohl so aus." Er öffnete die Tür und machte das Licht an.

Als sie in den Flur trat und sich zu ihm umdrehte, erkannte er sie. Nein, das konnte nicht wahr sein. Es war sie.

 

16

"Scheinbar gibt es nur noch Verrückte in dieser Stadt. Marla, wo bist du?", rief der hinkende Mann, während er sich die braunen, abgewetzten Stiefel auszog.

"Ich bin hier, in der Küche!", hörte man eine Frauenstimme.

"Du wirst mir nicht glauben, was Dick mir heute erzählt hat", rief der Mann, als er den Flur entlang ging. Rechts und links an den Wänden hingen Fotos einer schlanken, lächelnden Frau und eines blonden Jungen.

"Du kennst doch sicher Big Joe", sagte er als er die Küche betrat.

"Den stinkenden Säufer Big Joe?", hakte die Frau mit hochgezogener Augenbraue nach. Eigentlich hasste sie diese Ausdrucksweise, aber sie versuchte sich ihrem Mann anzupassen.

"Ja, genau den mein ich! Gestern Nacht soll ihm so eine kleine Irre eine Nagelfeile in den Unterarm gerammt haben. Jetzt sucht die Polizei nach dieser Irren", erzählte der Mann aufgeregt.

"Aber Schatz, glaub doch nicht immer alles was dir Dick erzählt", sagte die Frau während sie weiter im Kochtopf rührte.

"Das Beste kommt doch erst noch, Marla. Big Joe soll dann im Krankenhaus ausgesagt haben, dass ihn auch noch einer mit einer Pistole bedroht hat. Gewalt, Marla, Gewalt auf offener Straße!", schrie er Mann jetzt schon fast. "Aber jetzt beruhig dich doch erstmal. Wir reden hier von Big Joe. Kein Mensch weiß, was man diesem Mann noch glauben kann und was er sich nur in seinem Suff zusammengesponnen hat", versuchte die Frau ihn zu beruhigen.

"Und außerdem: Hat man irgendwelche Beweise? Oder kann es sein, dass sich Big Joe einfach nur selbst verletzt hat? So wie letztes Mal, als er behauptet hat, die Jungs und ich hätten sein Geld geklaut und ihn dann... ähm wie hieß es damals? Krankenhausreif geschlagen", schaltete sich Jake ein, der die ganze Zeit ruhig am Tisch gesessen hatte.

"Die Wunde an Joes Arm scheint mir doch Beweis genug zu sein, junger Mann. Das was damals passiert ist, das hätte euch die ganze Stadt zugetraut. Am allermeisten ich. Wahrscheinlich wart ihr sogar enttäuscht darüber, dass euch jemand zuvor gekommen war. Ihr habt doch nie an etwas anderes einen Gedanken verschwendet, als daran, Ärger zu machen. Diese Typen mit denen du dich immer umgibst. Diese erbärmlichen... Sieh dich an! Was soll noch aus dir werden? Es sah mal so aus als könntest du es wirklich zu etwas bringen. Aber jetzt. Nein, aus dir wird nichts mehr", sprach der Mann ruhig ohne sich zu Jake umzudrehen.

"Und weißt du auch warum nichts aus mir wird? Weil ich mir diese Aussagen von dir, meinem Vater anhören muss. Du hast doch nie daran geglaubt, dass ich es wirklich zu etwas bringen könnte", Jake fing an sich in Rage zu reden und sein Vater drehte sich langsam zu ihm um. So hatte er ihn noch nie erlebt. Wo war der stille Jake? "Nie hast du gesagt: 'Das hast du toll gemacht, Jake. Ich bin stolz auf dich, Jake. Weiter so, Jake.'" Er machte eine kurze Pause um Luft zu holen. Ruhig sprach er weiter: "Aber weißt du was, Dad. Ich habe das auch nicht gebraucht. Ich habe es auch allein geschafft." Mit diesem Worten zog der die Mappe aus dem braunen Umschlag. "Es gibt nämlich Menschen, die an mich glauben. Menschen, die glauben, dass ich Talent habe. Und es gibt Menschen, die es mir möglich machen, dieses Talent zu fördern."

"Was ist das?", fragte Jakes Vater mit verzognenem Gesicht. "Mein Stipendium. Im Herbst bin ich weg." Jake nahm den Zettel und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum.

Es war totenstill. "Können wir jetzt essen, Marla? Ich habe einen Mordshunger."

 

17

Letzte Nacht hatten sie kaum mehr ein Wort miteinander gesprochen. Joel wollte nur zu gerne wissen, ob sie ihn auch erkannt hatte. Wahrscheinlich nicht im Flur, bei dem spärlichen Licht. Aber vielleicht in seiner Wohnung. Jedenfalls hatte sie nicht mehr viel gesagt. Wie selbstverständlich hatte sie sich in sein Bett gelegt und war kurz danach eingeschlafen. Er selbst hatte noch lange wach gelegen.

Er betrachtete sie von der Couch aus. Ihr Make up war verschmiert und ihre Haare irgendwie durcheinander. Als hätte ein Vogel darin sein Nest gebaut. Sie schlief noch immer.

'Kurz nach Mittag', dachte er als er auf den Wecker schaute. Langsam wäre es mal an der Zeit, dass sie aufwachte, oder?

Er stand von der Couch auf. Ohne ein Geräusch zu machen, ging er ins Bad. Aber die Badezimmertür machte ihm schließlich einen Strich durch die Rechnung. Sie quietschte laut als er sie zumachte.

"Scheiße", fluchte er leise.

So langsam wie möglich machte er sich fertig. Als erstes klatschte er sich einen Schwall kaltes Wasser ins Gesicht. Das konnte doch unmöglich wahr sein. Was sollte er nur machen, was sagen?

Als er schließlich nach einer halben Ewigkeit wieder aus dem Bad kam, war sie weg. Insgeheim war er ja erleichtert. Trotzdem war er enttäuscht. Plötzlich war sie wieder unerreichbar.

Seufzend verließ er die Wohnung. Er wusste nicht, was er heute machen sollte. Tyler war sicher noch sauer auf sie, Dino musste heute arbeiten und Jake hatte irgendwas vor. Was das war, hatte er niemandem gesagt.

Die Hännde tief in die Taschen gesteckt, lief er die Treppe runter. Auf der letzten Treppenstufe sah er jemanden sitzen. Sie hatte lange blonde Haare und eine komische Pelzjacke an. Gerade wollte er Kehrt machen, aber dann drehte sie sich um.

"Ähm, hey...", stammelte er.

"Hey", kam es leise von ihr.

Er war sich nicht sicher, ob er jetzt an der Reihe war etwas zu sagen. Aber sie kam ihm zuvor: "Hör mal, wegen gestern... Ich wollte mich noch bedanken... oder so... Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn du nicht gekommen wärst", sagte sie und sah ihn dabei an.

"Na ja, ist schon in Ordnung. Kein großes Ding", murmelte Joel. Er hatte sich gegen das Geländer gelehnt und blickte starr auf die Stufe vor ihm.

Es wurde wieder still.

"Du bist ja nicht so gesprächig oder?", fragte sie schließlich.

"Hmm."

"Wahrscheinlich hast du jetzt was vor, oder?", mutmaßte sie: "Dann lass ich dich mal gehen und mach mich mal auf den Weg. Jetzt fährt ja wieder ein Zug, oder?"

"Ja", antwortete er nur. Er hatte nicht einmal richtig zugehört. Das Einzige, was er mitbekommen hatte, war, dass sie kurz davor war, zu gehen. Wirklich zu gehen. Das heißt, wieder aus seinem Leben zu verschwinden. "Warte", nuschelte er: "Ich kann dich ja zur Station bringen, wenn du willst. Nicht, dass du dich wieder verläuftst und wieder überfallen wirst oder so." Das hatte er gut gemacht und er war stolz auf sich.

"Nein, das musst du nicht machen. Ich finde schon alleine dahin", winkte sie ab.

"Kein Problem. Ich ähm... muss sowieso in die Richtung", log er. Auf keinen Fall wollte er sie einfach so gehen lassen. Er wusste ja immer noch nicht, ob sie ihn erkannt hatte.

 

 

18

Time-Bomb ticking away - Billy Talent

 

Mia hatte sich den ganzen Tag noch nicht bei Tyler gemeldet. Langsam machte er sich sowas wie Sorgen. Dabei machte er sich sehr selten Sorgen um irgendwas. Aber bei Mia war das anders. Er dachte oft an sie.

Vor allem heute hatte er die ganze Zeit an sie gedacht. Gestern Abend, als sie abgehauen war, hatte er sie nicht mehr erwischt. Er hatte ihr hinterhergerufen, aber sie war weg gewesen.

Warum mussten sie sie immer nur so blöd anmachen, fragte er sich. Klar, früher war Mia anders gewesen. Sie hätte es nicht so ernst genommen, hätte vielleicht sogar gelacht. Trotzdem war Joel zu weit gegangen und das war nicht das erste Mal gewesen.

Tyler wusste nicht, wie er das, was in ihm vorging, nennen sollte. Andere hätten es vielleicht Liebe genannt, aber er hatte noch nie jemanden geliebt und würde es auch nie tun.

Es war wohl der beste Streich des Universums gewesen, dass er und Mia sich kennengelernt hatten. Sie stieg nackt aus dem See, während er es sich gerade zusammen mit einem Bier auf dem Steg bequem machte. Sie waren sich noch nie zuvor begegenet, aber dieser eine Zusammenstoß war für Tyler das Zeichen, dass Gott seine Gebete endlich erhört hatte. Gott schickte ihm seine Eva in sein persönliches Paradies auf dem Steg. Von diesem Tag an kam sie fast jeden Tag an den See. Ihr schien es nicht peinlich zu sein, dass er sie beobachtete, ja direkt daneben saß, wenn sie sich auszog. Das war das Zeichen für Tyler, dass dies die Frau für ihn ist. Ihr war nichts peinlich und sie machte alles mit. Darauf hatte er die ganze Zeit gewartet.

Bei den beiden war es sozusagen Liebe auf den ersten Fick. Sie fingen an eine verkorkste Beziehung zu führen, die nur daraus bestand sich jeden Tag gemeinsam zu betrinken, nackt in den See zu springen und danach miteinander zu schlafen. So ließe es sich leben, dachte Tyler.

Jetzt stand er vor der Bar, in der Mia am Wochenende un dreimal während der Woche arbeitete. Er hasste diese Tage, denn er wusste, dass sie dann bei Greg war.

Greg war ein alter, notgeiler Sack, der die meiste Zeit, wenn die Bar geöffnet hatte, bei seinen Gästen hockte und mehr trank als der ganze Rest zusammen. War Greg erst einmal betrunken, dann wurde er erst richtig unerträglich. Mia sagte immer, er würde so schon alles besteigen, was nicht bei drei auf dem Baum ist, ist er aber erst betrunken, dann klettert er auch noch hinterher. Es war kein Wunder, dass er meistens junge, hübsche Mädchen einstellte. Davon hatte auch er etwas.

Tyler stieß die Tür auf. In der Bar war es halbdunkel. Die Stühle standen auf den Tischen und der Boden war frisch gewischt. Hinter dem Tresen drehte sich Greg zu ihm um.

"Wo ist sie?", fragte Tyler ohne ein Wort der Begrüßung.

"Wo ist wer?", entgegnete ihm Greg.

"Mia natürlich. Wer sonst?", antwortete Tyler genervt.

"Was willst du von ihr?"

"Das geht dich nichts an. Wo ist sie?"

"Tja, Jungchen, das werde ich dir leider nicht sagen. Und am besten lässt du die Finger von meiner Mia." Gregs Stimme wurde mit jedem Wort, das er sagte, lauter.

"Deine Mia?", brüllte Tyler.

"Was ist hier los?!", kam es von hinten. "Tyler? Was machst du hier?" Es war Mia.

"Du kennst diesen Clown?", fragte Greg verärgert.

"Natürlich kennt sie mich", sagte Tyler. "Mia, ich muss mit dir reden. Jetzt."

"Jetzt wird nicht geredet und später auch nicht. Und ich schlage vor, du verpisst dich jetzt ganz schnell und wehe ich sehe dich auch nur noch einmal in der Nähe von meiner Mia, dann setzt sichs aber was", schrie Greg. Er bekam einen roten Kopf und sah aus als ob er jeden Moment platzen würde.

Tyler ballte eine Faust und schlug ihm mitten ins Gesicht.

"Mia, wir gehen jetzt", sagte er und nahm ihre Hand.

 

19

Schweigend waren sie den Weg bis zur Station nebeneinander her gelaufen. Viel zu oft hatte Joel während dieser zehn Minuten daran gedacht umzudrehen. Die ganze Zeit hatte er gehofft, sie würde doch endlich etwas sagen. Das tat sie aber nicht. Noch ein paar Meter, dann wären sie da.

"Ach weißt du, es ist ja nicht weit. Ich denke, ich werde nach Hause laufen", sagte sie schließlich und blieb mitten auf dem Gehweg stehen.

"Ähm, okay, wenn du meinst", stotterte Joel ohne sie anzusehen.

"Wolltest du nicht wo hin?", fragte sie ihn.

"Nein... Ja, ist gleich da hinten", entgegnete er ihr und zeigte auf einen unbestimmten Punkt vor ihnen. Er wollte sie nicht gehen lassen. Er wollte sie noch weiter begleiten.

Sie gingen weiter schweigend nebeneinander her.

"Wie heißt du überhaupt?", fragte sie plötzlich. So plötzlich, dass er innerlich zusammenzuckte. Warum war er nicht auf sowas gekommen? 'Dumm, dumm, dumm, Joel, dumm', dachte er. "Hm, willst es mir nicht verraten?", hakte sie nach.

"Joel."

"Kurz für?", wollte sie wissen und sah ihn an.

"Kurz für nichts. Einfach nur Joel."

"Lola", sagte sie und gab ihm die Hand als wollte sie ihn begrüßen.

"Ist ja auch viel länger", meinte er mit einem sarkastischen Unterton. Ihre Hand beachtete er nicht. "Na ja, Dolores Isabel ist ja jetzt nicht so der Hit, oder?", sagte sie.

"Immer noch besser als der Transenname", murmelte Joel. Er wusste nicht, ob sie die Anspielung verstanden hatte. Wahrscheinlich nicht.

"Das sagt mein Dad auch immer", kam es von ihr: "Gott wenn ich nur daran denke, dass ich ihm gleich erklären muss, wo ich die ganze Nacht war. Er findet es ja nicht so toll, dass ich ständig mit meinen Freunden unterwegs bin. Das bin ich nicht mal immer. Er sagt, ich solle mich doch mehr auf die Schule konzentrieren. Er will mich bald in diese komische Schule stecken wo er war. Danach soll ich auf irgendeine Eliteuni gehen und das studieren, was er studiert hat. Dabei kann ich das nicht einmal und interessieren tut es mich auch nicht. Jeder sagt immer: 'Uii, das ist aber toll. Jetzt sei doch mal dankbar, dass er dir das ermöglicht und so.' Blah, ich kann es nicht mehr hören. Nie hat jemand mal mich gefragt, was ich eigentlich will", erzählte sie. Joel nickte nur. Ihm war es eigentlich egal, was sie sagte. Ihre Probleme interessierten ihn nicht wirklich.

"Was willst du denn?", fragte er und war überrascht, dass das tatsächlich von ihm kam.

"Wenn ich das nur wüsste", seufzte sie.

Mittlerweile hatten sie den Stadtrand erreicht und gingen einen Waldweg entlang. Joel war noch nie hier gewesen. Die Kiesel knirschten leise unter ihren Schuhen.

"Gleich sind wir da. Dann bist du mich los. Ich hoffe, du kommst noch rechtzeitig zu deiner Verabredung", meinte sie und lächelte.

"Welche Verab...", fing er an, als ihm einfiel, dass er ja gesagt hatte er habe noch was vor: "Ach die. Ja, das schaff ich schon noch."

"Du bist ein schlechter Lügner, weißt du das?" Sie bleib stehen und sah ihn an: "Den Rest schaffe ich schon alleine. Freut mich dich endlich mal ein bisschen kennengelernt zu haben, Joel. An deiner Gesprächigkeit müssen wir noch arbeiten. Aber es ist schon viel besser als das letzte Mal, als wir uns getroffen haben. Irgendwann wird das schon", sprach sie. "Und vielen Dank für gestern." Sie umarmte ihn und küsste ihn auf die Wange. Dann lächelte sie ihn noch einmal an und ging.

Joel blieb nur verduzt stehen.

20

"Warum hast du das gemacht", schrie Mia Tyler an als sie auf der anderen Seite der Straße standen. Er hatte sie an der Hand genommen und sie aus der Bar gezogen.
"Er hat nicht das Recht, so über dich zu reden", antwortete Tyler und ließ ihre Hand los. Erst jetzt merkte er, wie fest er sie gepackt hatte.
"So über mich zu reden? Tyler! Du hast ihm die Nase gebrochen!", rief Mia aufgebracht. Sie fasste sich in die Haare und seufzte tief.
"Ach was. Ihm die Nase gebrochen",  winkte Tyler ab: "Unsinn. Das ist doch nichts."
"Was soll ich denn jetzt machen? Ich kann mich doch nie wieder bei ihm blicken lassen. Er wird dich anzeigen, Tyler! Verstehst du das?", sagte Mia verzweifelt. Dieses Mal dämpfte sie ihre Stimme, denn obwohl kaum Menschen auf der Straße waren, hatten sie doch die Aufmerksamkeit von zwei älteren Damen.
"Mit dem werd ich schon fertig. Mach dir da mal keine Sorgen. Du musst dich ja auch nicht wieder hier sehen lassen. Du bist doch nicht auf ihn oder das hier angewiesen", versuchte Tyler sie zu beruhigen.
Sie hatte wieder angefangen vor ihm hin und her zu laufen. Vor Aufregung hatte sie den linken Ärmel ihres Karohemdes nach oben geschoben. Gerade kämpfte sie mit dem rechten.
"Mia! Mia, jetzt beruhig dich doch endlich." Er versuchte sie zu umarmen, was ihm aber nicht gelang. "Jetzt bleib stehen und hör mir mal genau zu, bitte. Nur zwei Minuten, ja?", bat er sie. Da er um einiges größer war als sie, musste er sich etwas nach vorne beugen, um ihr in die Augen zu schauen. Sie aber drehte ihren Kopf zur Seite.
"Hör mal, ich finde du bist ein tolles Mädchen. Du bist intelligent. Du bist witzig. Du hast was besseres verdient als das hier." Dabei zeigte er auf die bröckelige Fassade der Bar.
Erst jetzt wandte sie ihr Gesicht ihm zu, schaute ihn aber nicht direkt an. Sie war verwirrt. Hatte er tatsächlich gesagt, was er von ihr dachte? Und das war noch nicht einmal negativ gewesen. Sie musste sich verhört haben. Noch nie hatte er, darüber gesprochen, was er von ihr hielt. Überhaupt redete er selten über seine Gedanken. Wie oft hatte sie schon versucht, etwas in der Art aus ihm herauszubekommen. Immer war sie kläglich gescheitert. Und ausgerechnet hier und jetzt musste er damit anfangen?
Ohne ein weiteres Wort schüttelte sie seine Hände ab und ging.
"Können wir jetzt bitte gehen? Ich will nicht mehr hier sein", rief sie ihm über die Schulter zu. Eigentlich wollte sie gar nicht, dass er mit ihr kam. Sollte er doch machen, was er will. Sie wusste einfach nicht, was sie von ihm denken sollte. Diese ständigen Wutausbrüche. Warum hatte  er sich nur nicht unter Kontrolle? Sie wusste doch, dass er auch ganz anders sein konnte. 

21

Crazy little thing called love - Queen

 

Joel hatte sich schon lange nicht mehr so gut gefühlt. In diesem Moment hätte er die ganze Welt umarmen können. Und das nur, weil sie ihn geküsst hatte. Gut, geküsst war wahrscheinlich etwas übertrieben. Und das allerwichtigste war, dass sie ihn wiedersehen wollte. Ihm war es vollkommen egal, ob Tyler ihn hasste, wegen dem, was er zu Mia gesagt hatte. Daran dachte er nicht einmal mehr, als er mit einem breiten Grinsen zum See lief.

Schon von Weitem erkannte er die zwei Gestalten, die auf dem Steg saßen. Die eine etwas dickliche mit den braunen Locken und die andere mit dem grünen Irokesetwas auf dem Kopf. Als er näher kam, hörte er das unregelmäßige Platschen von Wasser als ob jemand Steine ins Wasser warf. Darunter mischten sich die schrille Stimme einer Frau und ab und an die tiefe Stimme eines Mannes. Er konnte nicht verstehen, was die beiden schrien.

"Und? Was läuft hier so?", fragte Joel, als er sich neben Dino auf dem Steg nieder ließ.

Dieser holte gerade zum nächsten Wurf aus. "Ach Mist", fluchte er leise als der Stein nur wenige Zentimeter vor ihm ins Wasser fiel. Anscheinend hatte er sein unsichtbares Ziel verfehlt.

"Zickenkrieg und Ehekrise", murmelte Dino und schon landete der nächste Stein im Wasser.

"Warum bist du immer so? So, so kalt und einfach ein kaltes Arschloch?", hörten sie die gedämpfte Frauenstimme aus der Hütte.

"Ein kaltes Arschloch?", fragte Joel.

"Das geht schon eine Weile so. Der war schon ein Macho, eiskalt, ein gewalttätiges Schwein, total gemein und wie sein Vater", zählte Jake ruhig auf. Er hatte die Hosenbeine seiner Jeans nach oben gekrempelt und die Füße ins Wasser gesteckt.

"Und, was glaubst du wer gewinnt?", fragte Dino jetzt: "Ich bin ja für Mia. Sie hat da teilweise ein echt tolles Vokabular gebraucht. Er da sagt ja", dabei zeigt er auf Jake, "dass sie früher oder später heulend den Schwanz einziehen wird." Jake nickte.

"Ja, so ist sie. Im ersten Augenblick wirkt sie so als würde sie dich umbringen können mit ihren Worten. Aber sie ist verletzlich. Total. Nur ein falsches Wort und sie kippt um", sprach Jake.

"Weise Worte Herr Psychologe", grinste Dino und nickte anerkennend.

"Ihr sitzt wohl schon länger hier, was?", fragte Joel und sah erst Jake und dann Dino an.

"Och nö", antwortete Dino.

"Nur eine gefühlte Ewigkeit", fügte Jake hinzu.

"Sollen wir die zwei Streithähne vielleicht mal unterbrechen? Sonst bringen die sich noch um", fragte Joel.

"Versuch ist leider fehlgeschlagen. Die Tür ist abgeschlossen", murmelte Dino. Mit einem Platscher landete der nächste Stein im Wasser. "Voll ins Schwarze", freute er sich.

"Das Ding lässt sich abschließen?", fragte Joel erstaunt mehr sich als die anderen.

"Offensichtlich."

"Hm."

"Hm."

Sie lauschten noch einer Weile dem Gestreite von Mia und Tyler. Arschloch, Drecksack und Bastard waren die Wörter, die am meisten fielen. Sie hatten mitgezählt. Plötzlich wurde es still.

"Jetzt hat er sie erschlgen", meinte Jake und drehte seinen Oberkörper in Richtung der Hütte.

"Oder sie ihn", warf Dino ein.

"Nein, dafür ist sie zu schmächtig", entgegnete ihm Jake.

"Glaubst du? Ich denke mit der richtigen Technik und Waffe würde sie das schon hinbekommen", erklärte Dino.

"Nicht euer Ernst, oder?", meinte Joel und verzog sein Gesicht als er sie ansah.

"Wäre denkbar", meinte Dino vollkommen überzeugt.

In diesem Moment wurde die Tür der Hütte aufgerissen und Mia kam heraus. Sie hatte kein Blut an ihren Händen. Sie sah sich aber auch nicht um, sondern ging schnurstracks auf dem schmalen Feldweg in Richtung Stadt.

22

Stay with me - You me at six

 

Tyler stand mit der Stirn an die Wand gelehnt, als Joel, Dino und Jake nacheinander die Hütte betraten. Er hatte ihnen den Rücken zugedreht. Joel sah Dino fragend an. Er war sich nicht sicher, ob Tyler bemerkt hatte, dass sie da waren. Jedenfalls zeigte er keine Reaktion.

"Ähm, Tyler? Ist bei dir alles okay?", fragte Joel schließlich.

Dieser zuckte leicht zusammen. Bevor er sich umdrehte, rieb er sich die Augen und atmete tief ein.

"Alles bestens", sagte er leise, "nur ein bisschen Stress mit Mia."

"Also nichts neues", meinte Joel. Tyler schüttelte den Kopf. Er schluckte seine Tränen hinunter und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass es dieses Mal etwas total anderes war.

"Darf man erfahren was der Grund für eure ähm... Unterhaltung war", wollte Jake wissen nachdem er sich auf das ungemachte Bett gesetzt hatte. Sie sahen Tyler fragend an.

"Ich hab mich etwas mit Greg unterhalten", seufzte Tyler. Für ihn war die Unterhaltung damit beendet. Er fühlte sich in die Ecke gedrängt. Ein Gefühl, das er überhaupt nicht mochte. Sie erwarteten etwas von ihm.

"Und?" wollte Jake wissen.

"Ihr wisst, was ich von ihm halte", meinte Tyler nüchtern.

"Und das hast du ihm gesagt", mutmaßte Dino.

"Könnte man wohl so sagen. Sehr anschaulich gesagt. Ich glaube, er hat es verstanden", erwiderte Tyler zögernd.

"Was hast du gemacht?", fragte Dino. Er wusste, dass jetzt nichts gutes kommen würde.

"Seine Nase hat geblutet, okay?", gab Tyler genervt zurück. Er wollte im Moment nur seine Ruhe haben. Er war genervt, dass sie hier waren und Mia nicht. Er ärgerte sich darüber, dass sie ihn angeschrien hatte. Er wollte, dass sie zurück kam und sich bei ihm entschuldigte. Vielleicht würde er sich ja auch entschuldigen.

"Bist du noch da?", fragte Joel und wedelte mit seiner Hand vor Tylers Gesicht hin und her. Dieser war in seine Gedanken versunken.

Dieses Mal würde er sich entschuldigen müssen, das wusste er. Er war zu weit gegangen. Schließlich war es ihr Leben und sie musste selbst wissen, was sie daraus machte. Warum glaubte er, dass er ihr sagen musste, was sie zu tun hatte? Und warum machte er das? Sonst hätte er sich nie in ihr Leben eingemischt, weil es ihn einfach nicht interessierte. Aber dieser Greg war einfach zu viel für ihn. Tyler wollte nicht, dass Mia Kontakt mit solchen Menschen hatte.

"Tyler?!", holte ihn Dino aus seinen Gedanken.

"Hm? Ja?" Tyler bemerkte, dass die drei ihn zweifelnd ansahen.

"Und deswegen ist sie jetzt sauer auf dich?", fragte Joel. "Jetzt versteh mal einer dieses Mädchen. Der Typ ist doch ein Arschloch. Das muss doch sogar sie mittlerweile bemerkt haben. So blöd kann sie doch gar nicht sein."

Tyler ging einen Schritt auf Joel zu: "Sie ist nicht blöd. Ist das klar? Sie ist NICHT blöd", rief er. Dabei hob er drohend den Finger.

"Ich find schon", erwiderte Joel. Tyler fing an, laut zu atmen. Er versuchte sich zu beruhigen. Sein Herz raste. Vor seinem geistigen Auge sah er wie er Joel eins auf die Nase geben würde genauso wie er es bei Greg gemacht hatte. Seine Finger fingen an zu kribbeln.

"Raus", sagte er ganz ruhig.

"Aber Tyler...", fing Dino an.

"Raus hier. Alle drei. Jetzt sofort", schrie Tyler.

"Gehen wir", sagte Joel kopfschüttelnd und wendete sich von Tyler ab.

23

 „Hört mal, das kann doch alles nicht so weiter gehen“, seufzte Jake und blieb mitten auf dem Weg stehen. Sie gingen gerade den Feldweg entlang. Links und rechts am Wegrand standen Büsche mit dunkelgrünem Laub.

„Was meinst du?“, fragte Dino, der jetzt gezwungenermaßen auch stehen blieb und ihn ansah.

„Na ja, wenn du schon fragst: Das alles“, antwortete Jake und fügte leiser hinzu: „Tyler vor allem.“ Er blickte auf den Boden.

„Wo bleibt ihr denn?“ hörten sie Joel einige Meter vor ihnen rufen. Die ganze Zeit war er wortlos mit eingestecktem Kopf vor ihnen gelaufen und hatte nicht bemerkt, dass sie ihm nicht mehr folgten. Jake und Dino setzten sich wieder langsam in Bewegung.

„Sei ehrlich: Kannst du dich an das letzte Mal erinnern, dass er die Hütte verlassen hat?“, fragte Jake Dino.

„Wer verlässt seine Hütte?“, entgegnete Joel wenig interessiert. Er hatte nur diesen Satzfetzen von der Unterhaltung mitbekommen.

„Tyler. Ist euch noch nicht aufgefallen, wie scheiße er aussieht?“, fragte Jake und sah erst nach links zu Joel und dann nach rechts zu Dino. Keiner der beiden sagte etwas.

„Er hat ziemlich abgenommen. Außerdem glaube ich, dass ihm diese Beziehung mit Mia nicht gut tut. Und anders rum wahrscheinlich auch nicht.“

„Warum sagst du ihm das nicht?“, murmelte Joel.

„Ach, ihm das sagen. Davon redet ja keiner. Er hört ja sowieso nicht zu“, erwiderte Jake und verzog das Gesicht.

„Kann es sein, dass du dir irgendwie Sorgen um ihn machst?“, fragte Dino.

Jake nickte: „Möglicherweise. Ich finde es seltsam, dass ihr das nicht tut.“

Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander her. Nach einiger Zeit waren sie wieder in der Stadt. Die Straßen waren leer. In diesem Teil der Stadt war das wirklich nichts ungewöhnliches.

„Wo gehen wir eigentlich hin?“, wollte Dino schließlich wissen. Sie waren die ganze Zeit geradeaus gelaufen. Keiner hatte eine Richtung vorgegeben. Sie liefen nur um nicht stehen zu bleiben.

„Keine Ahnung“, kam es von Joel, der seinen Blick starr nach vorne gerichtet hatte.

„Ich hätte da eine Idee“, sagte Jake zögernd. „Kommt einfach mit.“

Als sie drei Straßen gegangen waren, zeigte Jake auf eines der heruntergekommen Häuser auf der anderen Straßenseite. „Da wären wir“, sagte er feierlich und machte eine einladende Geste mit seiner Hand.

„Giovannis Ice Cream Parlor“, freute sich Dino, als er die verwitterten rosa Buchstaben über dem Eingang sah. Teilweise fehlten auch welche. 

„Nein, Giovnni Cream Par“, korrigierte Joel ihn und grinste.

„Ich dachte, wir kommen noch einmal her, bevor es nächste Woche abgerissen wird“, meinte Jake.

„Die können doch Giovnni Cream Par doch nicht platt machen. Das gehört doch zu unserer schönen Stadt. Außerdem haben wir hier unseren Bandvertrag unterschrieben. Und das ist der Ort, wo Dino immer seine Chickas zum Essen ausgeführt hat. Wohin soll er denn jetzt gehen?“, entrüstete sich Joel theatralisch. Er hob die Hand, legte sich den Handrücken auf die Stirn und seufzte laut.

„Giovanni ist doch seit hundert Jahren tot. Genauso wie der Laden“, sagte Dino den Blick auf das zerbrochene Glas in der Eingangstür gerichtet.

„Ich dachte einfach, das hier wäre der passende Ort, um euch was wichtiges zu sagen“, meinte Jake.

 

 

24

"Nett hier", meinte Joel, nachdem er die Tür zur Eisdiele aufgestoßen hatte. Am Türschloss hatte sich jemand ziemlich unprofessionell zu schaffen gemacht.

Joel trat als erstes durch die Tür und sah sich um: "Fast wie damals. Man muss sich nur den Dreck wegdenken. Und die eingeschlagenen Scheiben. Und vielleicht die Schwanzgraffiti."

Bis auf die besagten Dinge sah alles noch so aus wie damals, als sie das letzte Mal hier gewesen waren. Das knallig pinke Kunstleder der Stühle hatte zwar im Laufe der Zeit etwas an Farbe verloren, aber es hingen noch immer die gleichen Plakate von Filmen aus den 50-ern und 60-ern an den Wänden. Sie setzten sich an einen der Tische an der Wand.

"Und was nehmt ihr?", fragte Dino und richtete seinen Blick wieder auf die Eiskarte, die er auf dem Tresen neben dem Eingang gefunden hatte. Als er bemerkte, dass er ignoriert wurde, legte er die Karte weg.

Joel starrte mit offenem Mund auf das Poster an der Wand. Darauf war eine Frau mit kräftigen Oberschenkeln im Badeanzug zu sehen. Sie stemmte eine Hand an ihre Hüfte, die andere lag auf ihren Lippen. "Ssssccchh. Sexy...", mumelte er abwesend.

"Also, was ist jetzt diese superwichtige Sache, die du uns nur hier sagen kannst", fragte Joel und lehnte sich nach vorne mit den Unterarmen auf den staubigen Tisch.

Jake wirkte die ganze Zeit über irgendwie nervös. "Ja, hm, also", fing er an. Die anderen beiden sahen ihn gespannt an. "Ihr wisst es noch nicht, aber na ja... ab Herbst bin ich nicht mehr da", sagte er schließlich zögernd. Joel und Dino sahen ihn fragend an. "Ich werde studieren gehen", erklärte er. "Oh, das ist doch cool, oder?", fragte Dino.

"Schon irgendwie", flüstere Jake. Er hatte angefangen, die Karte in dünne Streifen zu reißen, die er anschließend in kleine quadratische Schnipsel zerlegte.

"Das ist doch cool, oder Joel?", wiederholte Dino und sah Joel dabei an. Dieser starrte vor sich auf den Tisch und begann mit dem Stuhl zu schaukeln.

"Hm. Vermutlich ist es das", murmelte Joel.

"Wo geht's denn hin?", fragte Dino.

"R...hode... Island", stotterte Jake und faltete den Rest der Karte.

Joel fing an zu lachen und legte dabe den Kopf nach hinten."Rhode Island? Willst du uns verarschen?", grinste er.

"Nein, ist so", sagte Jake leise.

"Das liegt doch am Arsch der Welt", sagte Joel ohne zu lachen.

"DAS hier ist der Arsch der Welt", entgegnete Dino und sah ihn verständnislos an.

"Der andere Arsch ist meilenweit entfernt. Warte mal..." Joel sah aus als würde er nachdenken. Einige Sekunden später hatte er wohl einen Geistesblitz. "Der andere Arsch ist meilenweit entfernt! Du lässt uns hier allein!" rief er.

"Ach was... Ich komm schon wieder. Auch zwischendurch mal", flüsterte Jake.

"Zwischendurch... Pff... Bestimmt... Ein Mal im Jahr... Oder so...", maulte Joel.

"Jetzt hör doch auf, dich wie ein kleines Mädchen aufzuführen und freu dich doch für ihn. Oder tu wenigstens so", ermahnte ihn Dino und sah ihn kopfschüttelnd an.

"Ich freu mich für dich, Jake. Begeistert bin ich nicht davon, dass du uns hier allein lässt und dich sicherlich nicht mehr blicken lässt, aber ich freu mich", sprach Joel und klopfte Jake dann auf die Schulter.

25

Am nächsten Morgen wurde Dino dadurch geweckt, dass sein Vater gegen die Tür seines Zimmers hämmerte. "Daniel? In zehn Minuten in der Küche", ordnete er in schärfstem Drill-Sergeant-Ton an. Dino wusste nicht so richtig, was der Grund für diese morgendliche Aufregung war. Er hatte doch nichts angestellt.

"Morgen Ma", gähnte er, als er genau zehn Minuten später die Küche betrat. Verschlafen rieb er sich die Augen. Die Haare standen ihm wirr vom Kopf. Sie waren aber auch schwer zu bändigen.

"Guten Morgen, Schatz", flötete seine Mutter und versuchte ihn zu umarmen.

'Schatz. Seit wann denn das?', dachte er, sagte aber nichts. Stattdessen sah er seine Mutter nur verwirrt an. Gerade in diesem Moment kam sein Vater in die Küche.

"Fertig? Komm jetzt, wir müssen los. Keine Zeit für ein Kaffeekränzchen. Los jetzt", trieb er seinen Sohn mit dem Blick auf die Uhr an. Er hatte bereits sein dunkelblaues Polizistenhemd an. Dino erinnerte sich schwach, dass er gesagt hatte, dass er heute arbeiten müsse.

"Aber Richie, ihr müsst doch erst etwas essen. So eilig habt ihr es doch überhaupt nicht", seufzte seine Mutter.

"Keine Zeit, Genia. Wir holen uns auf dem Weg was. So wie früher. Daniel wir müssen." Richie drehte sich um und verließ das Zimmer. Dino sah seine Mutter noch einmal verwundert an und hastete dann seinem Vater hinterher. Er hatte immer noch keine Ahnung, was das Ganze sollte.

Sein Vater stieg in sein Auto und startete den Motor. Dino war sich nicht so sicher, was er machen sollte, also stieg er auch ein. Wortlos wendete sein Vater den Wagen und fuhr die breite, gepflasterte Einfahrt bis zur Straße entlang. Am Ende bog er nach rechts ab. Das Auto schaukelte heftig, obwohl die Straßenrinne eigentlich nicht so tief war.

Dino kamen die zehn Minuten, die vergingen, bis sein Vater das erste Wort sagte, wie eine Ewigkeit vor.

"Willst du was essen", fragte dieser schließlich. Er hatte seinen Ellbogen lässig aus dem heruntergekurbelten Fenster gehängt.

Ohne zu überlegen, schüttelte Dino den Kopf.

"Okay", murmelte sein Vater. "Kaffee gibt's dann auf dem Revier."

"Egal was irgendwer gesagt hat, ich hab nichts damit zu tun. Ich hab nichts gemacht, okay", brach es aus Dino hervor.

"Hm? Wer sagt denn sowas?", fragte sein Vater verwundert und richtete seinen Blick kurz auf den Beifahrersitz.

"Ja, was weiß ich. Was soll das hier sonst? Ich hab nichts gemacht", wiederholte er verzweifelt.

"Das weiß ich. Ich dachte nur... Weil wir in der letzten Zeit ziemlich wenig Zeit miteinander verbracht haben... Und damals warst du ja gerne dabei... Ich dachte, ich nehme dich einfach mal wieder mit zur Arbeit", erklärte sein Vater langsam.

Dino war immer noch verwirrt und sah seinen Vater mit großen Augen an.

"Jetzt schau nicht so. Ist es denn so unverständlich, dass ich mal wieder etwas mehr Zeit mit dir verbringen möchte? Du hast dich stark verändert. Im positiven Sinne meine ich. Das freut mich", brummte sein Vater. "Wir könnten natürlich auch angeln gehen, wenn dir das lieber ist. Dafür hab ich aber im Moment zu wenig Zeit", erklärte er weiter.

"Nein, das... ist schon okay", stammelte Dino. "Dad? Kannst du da vorne kurz halten? Können wir Jake auch mitnehmen? Er war doch früher auch immer dabei."

"Kein Problem. Einer mehr macht wohl auch nichts mehr."

26

"Na, Jakey neuer Haarschnitt? Hm, immer noch so schmächtig wie damals wie ich sehe. Aber in die Höhe geschossen bist du... Da stehen die Mädchen doch nicht drauf. Du musst mal ein bisschen zulegen", sagte Dinos Vater als Jake hinten ins Auto stieg. "Du solltest dir mal ein Scheibchen von Danny hier abschneiden. Vielleicht auch zwei. Der hat ja genug." Dabei kniff er Dino in den Oberschenkel.

"Das liegt wohl bei mir in der Familie, Sir", antwortete Jake grinsend. Er ließ sich in den braunen Ledersitz sinken und verschränkte die Arme vor der Brust.

"Eins gleich vorabe Jake: Hör auf mit dem Sir-Scheiß. Du bist keine fünf Jahre mehr alt und ich bin nicht mehr bei den Marines, klar. Nenn mich einfach Dick. Das macht jeder."

"Alles klar, S-... Dick."

Keine zehn Minuten parkte Richard den Wagen vor einem Gebäude aus rotem Ziegel, der Police Station von Junction. Vor der Tür standen zwei Streifenwagen.

"Ah, der gute Phil ist auch schon da", murmelte Richard als er aus dem Auto stieg. Er knallte die Tür hinter sich zu und ging grüßend auf den dicken Mann mit der Halbglatze, der rauchend neben der Eingangstür stand, zu.

"Guten Morgen, Phil. Vielleicht erinnerst du dich noch an Daniel und Jake. Ist schon einige Zeit her, dass sie das letzte Mal hier waren. Ich wollte ihnen nur zeigen, dass sich seitdem nichts verändert hat", erklärte Richard übermäßig fröhlich. Er deutete auf Dino, der direkt neben ihm stand.

"Morgen Rich, morgen Jungs. Wird ein langer Tag. Nichts neues wegen Big Joe. Der will immer noch nicht nach Hause gehen", murmelte Phil und schüttelte den Kopf. Dann zog er die Zigarettenschachtel aus seiner Jackentasche und zündete sich noch eine an. Der alte Phil war ständig nervös, meistens vollkommen ohne Grund. Auch jetzt konnte er nicht still stehen.

"Habt ihr schon davon gehört? Big Joe, das arme Schwein wurde abgestochen", sagte Phil an Dino und Jake gewandt. Dabei gestikulierte er wild mit seiner Zigarette.

"Ich hab davon gehört. Und geschossen haben sie auch", meinte Jake und sah Phil an.

"Woher weißt du das", fragte Richard erstaunt.

"Mein Vater hat es erzählt", antwortete Jake verunsichert wegen dem Ton von Richards Stimme. Er sah auf die zerkratzte Marmorstufe auf der er stand.

"Diese verdammte Tratschtante. Hätte wissen müssen, dass er seine verdammte Klappe nicht halten kann", fluchte Richard und fasste sich ans Kinn.

"Ach, Rich. Das ist doch egal. Irgendwann weiß es sowieso die ganze Stadt", lachte Phil.

"Eben. Dann lasst uns mal loslegen. Phil, Zigarette weg. Das schlägt nur auf die Lunge. Und die machts bei dir sowieso nicht mehr lange", sagte Richard bevor er einen Flügel der Glastür aufdrückte und in den kühlen Flur der Polizestation trat.

 

 

 

 

 

 

27

Sie gingen den langen, gefliesten Flur entlang und betraten dann den Raum am Ende. Es war eiskalt und roch nach Kaffee und Rauch.

Sie wurden von einem gequietschten "Richie!" empfangen.

"Janey!", grinste Richard als er die junge Frau erblickte, die sich gerade eine Tasse Kaffee eingoss. Er musterte sie von oben bis unten. "Sag mal, erinnerst du dich noch daran, was wir über Dienstkleidung gesagt hatten, hm?", fragte er. Sie trug einen kurzen Jeansrock und hatte die Bluse vor dem Bauch geknotet, was den Blick auf ihr Bauchnabelpiercing freigab. "Ich kann hier auch nicht oben ohne aufkreuzen. Und meine Assistenten machen das auch nicht. Auch du nicht."

"Aber Richie... Es ist doch so furchtbar heiß hier drinnen und es ist ja noch keiner da. Das kann doch unter uns bleiben, oder?" Sie zwinkerte ihm zu. "Wen hast du da überhaupt mitgebracht heute?", fragte sie ohne jemanden anzusehen, entknotete die Bluse und strich sie notdürftig glatt.

"Danny und Jake. Du hältst dich von ihnen fern. Das Gleiche gilt übrigens auch für euch, Jungs. Nicht eure Liga. Damit das klar ist", mahnte Richard und setzte sich an seinen Schreibtisch.

"Danny, dein Daddy hat mir schon einiges über dich erzählt", lachte Jane dreckig und lehnte sich über den Tisch.

"Wie war die Nacht?", fragte Richard sie schließlich.

"Soweit alles ruhig. Wisst ihr, seit irgend so ein Arschloch den fetten Joe abgestochen hat, geht der nicht mehr nach Hause, sondern pennt jetzt hier. Und ich bin die Blöde, die den Babysitter spielen darf die ganze Nacht", beklagte sie sich. Erst sah sie Dino an und dann Jake, aber keiner der beiden verzog auch nur das Gesicht.

"Da ja jetzt jeder weiß wie übel dir hier mitgespielt wird, wärst du bitte so freundlich mir zu sagen, ob man gestern noch etwas rausfinden konnte?", fragte Richard und faltete die Hände vor dem Mund. Er war stinksauer auf Jane, das konnte Dino an seinem Ton hören. Wahrscheinlich weil sie sich beschwerte. Oder weil sie sich bei zwei Fremden beschwerte.

"Na ja, sie haben wirklich die Patronen gefunden. Eine um genau zu sein", fing Jane an. Sie sagte es so, als ob sie es nur nebenbei bemerken würde.

"Und weiter?", forderte Richard sie ungeduldig auf. Das Ganze dauerte ihm zu lange.

"9 Millimeter Revolverpatronen. Wenn man davon ausgeht, dass der Überfall nicht geplant war, dann gibt es drei Leute, die in der näheren Umgebung des Tatortes wohnen und eine derartige Waffe besitzen", erklärte Jane immer noch in einem gelangweilten Ton. Sie hielt sich mit beiden Händen an der Tischplatte fest, stieß sich vom Tisch ab und zog sich wieder ran.

"Na endlich. Das wollte ich hören. Also Punkt eins: Würdest du bitte aufhören so rumzuhampeln? Punkt zwei: Dann gibst du mir bitte die Aufzeichnungen. Punkt drei: Ihr beide", damit wandte er sich an Dino und Jake: "ihr beide macht jetzt einen schönen Rundgang. Aber fasst ja nichts an. Und Punkt vier: Um Himmels Willen, dreh endlich die verdammte Klimaananlage ab. Ich komm mir schon vor wie in Alaska."

28

Es war mittlerweile eine ganze Woche vergangen, dass Joel nach "draußen" gegangen war. Es wäre ja auch irgendwie blöd, jetzt wieder so weiter zu machen wie zuvor. Wie vor dem nächtlichen Vorfall und dem, was danach gefolgte hatte. Andererseits vermisste er sie. Er vermisste sie auf eine andere Art und Weise als zuvor. Fast schon wie eine gute Freundin. Klar, er kannte sie nicht wirklich, wusste kaum etwas über sie und sie überhaupt nichts über ihn... Plötzlich hatte er das Gefühl, dass er all das sofort nachholen musste. Er musste alles über sie wissen und wollte, dass sie vielleicht ein bisschen was über ihn wusste. Nicht zu viel, dafür war er nicht der Typ.

Es machte sich langsam auf den Weg. Dieses Mal nahm er nicht den Weg, den er sonst gegangen war, sondern den, den er mit ihr gegangen war. Den Waldweg entlang. Schon das fühlte sich an, als ob er ihr sehr nahe war.

Nach nur einer halben Stunde erreichte er die Stelle, an der sie sich verabschiedet hatte. Ihm kam diese Zeit wie eine Ewigkeit vor. Doch jetzt wusste Joel nicht, was er machen sollte. Entweder er würde sich wieder verkriechen wie sonst und darauf hoffen, dass sie ihn nicht bemerkte. Oder er würde es endlich wagen.

Er holte tief Luft und ging entschlossen los. Als er an dem weißen Gartenzaun entlang ging, verlangsamte er seinen Schritt. Nur noch ein paar Meter dann wäre er da. Dann müsste er klingeln... oder eben weitergehen. Dafür war es aber jetzt zu spät. Er hörte nur wie jemand seinen Namen rief.

Sie kam direkt auf ihn zugelaufen. Dabei grinste sie über das ganze Gesicht und ihr blonder Pferdeschwanz fiel von links nach rechts und umgekehrt.

"Komm mit", sagte sie und nahm seine Hand.

"Wohin?"

"Weg von hier", meinte sie und sah ihn an. Ihn fiel auf, dass sie nicht mehr lächelte. Viel mehr wirkte sie nervös und angespannt. Sie sah zum Haus.

"Stimmt irgendwas nicht?", fragte er. Er bewegte sich nicht von der Stelle. Auch nicht, als sie anfing an seiner Hand zu ziehen.

"Na ja, mein Dad... war ziemlich sauer als er mitbekommen hat, dass ich mich in deiner Gegend bei jemandem wie dir war", murmelte sie und ließ seine Hand los.

"Wie meinst du das? "Bei jemandem wie mir"?", fragte Joel. Er betonte es so, dass sie die Anführungszeichen hören musste.

"Du weißt schon", nuschelte sie und blickte zu Boden.

"Ach, du meinst so jemanden wie mich, der sonntags nicht Golf spielt? So Menschen wie mich, die sich nicht im Country Club zum Brunchen treffen?" Joel war verärgert. Er ärgerte sich, dass er nicht daran gedacht hatte wie diese Leute waren.

"Du darfst das jetzt wirklich nicht persönlich nehmen, bitte, okay? So denkt er eben." Zum Ende des Satzes wurde ihre Stimme immer leiser.

'So denkt er eben. Tzz', dachte Joel und schüttelte den Kopf..

Er wollte gerade gehen als er eine Männerstimme rufen hörte: "Dolores, du kommst jetzt sofort ins Haus." Joel sah sie kurz an, nahm ihre Hand und zog das halboffene Gartentor zu.

 

29

Sie waren schon ein ganzes Stück den Waldweg entlang gegangen und er hatte die ganze Zeit noch kein einziges Wort gesagt.

"Wohin gehen wir jetzt?", fragte sie schließlich und sah ihn von der Seite an.

"Du wolltest weg und jetzt sind wir weg. Passt doch, oder? Ist doch das, was du wolltest", gab Joel patzig zurück. Er sah sie nicht an, sondern starrte vor sich auf den Weg. Ihre Aussage von vorhin ging ihm nicht aus dem Kopf und sie kränkte ihn mehr als er es zugeben wollte.

"Aber du zerrst mich hier durch die Gegend. Gegen meinen Willen. Jetzt komm schon, Joely", seufzte sie: "Ich glaube nicht, dass du immer alles so ernst nimmst wie das, was ich da vorhin gesagt habe. Das ist doch der Grund, warum du so mürrisch bist und schon seit zehn Minuten nichts mehr gesagt hast." Sie stellte sich ihm in den Weg.

"Du hast es erfasst", murmelte er als er an ihr vorbei ging.

"Und dich interessiert überhaupt nicht was ich über dich denke", grinste sie.

"Doch. Brennend interessiert mich das." Langsam fing sie an ihn zu nerven und er bereute, dass er sie mitgenommen hatte.

"Ich finde es so unglaublich süß, dass du so schlecht drauf bist. Jetzt komm schon. Versuch doch wenigstens mal zu lächeln", entgegnete sie. Sie hängte sich an seinen Arm und versuchte, ihn zum anhalten zu zwingen.

"Kann ich nicht."

"Also, wo gehen wir jetzt hin du Miesepeter?", fragte sie wieder.

"Ich stell dir jetzt mal ein paar Leute vor."

"Noch mehr so Menschen wie dich?", grinste sie und auch er könnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

Einige Minuten später standen Joel und Lola vor der Hütte. Sie sah sich zweifelnd um. Das Gras ging ihr bis zu den Knien und vor ihr stand diese seltsame Hütte. Sie sah Joel an: "Was wollen wir hier?"

Er öffnete wortlos die Tür.

"Tür zu! Es zieht! Außerdem Schuhe aus. Ich hab sauber gemacht", rief Tyler, der breitbeinig auf der Couch saß und ein zerfleddertes Buch in der Hand hielt.

Es war wirklich einigermaßen sauber. Keine Flaschen, die iregendwo rumlagen. Kein Haufen Kleidung auf dem Stuhl vor dem Fenster. Kein dreckiges Geschirr in der Spüle. Sogar der Boden sah sauber aus.

"Was ist das?", fragte Tyler sofort als er seinen Blick zur Tür richtete.

"Was das?", entgegnete Joel verwirrt.

"Na das da. Hinter dir." Tyler deutete mit der Buch in der Hand hinter Joel, woraufhin dieser sich umdrehte.

"Man nennt es Mensch. Mädchen um genau zu sein", erklärte Joel. "Lola, das ist Tyler. Tyler..."

"Spar dir den Rest", wurde Joel von Tyler unterbrochen. "Und was macht dieses Mädchen hier?"

"Sie ist mit mir hier. Hast du ein Problem damit?" Joel verschränkte die Arme vor der Brust.

"Nun ja... Sie ist ein Mädchen und die bringen immer Unglück." Tyler legte das Buch neben sich auf die Couch und stand auf.

"Woher willst du das wissen? Du bist doch immer derjenige, der sich meilenweit von ihnen entfernt hält."

"Und das aus gutem Grund. Sie wird dich zugrunde richten. Dich langsam umbringen. Ungefähr so." Tyler legte sich seinen Zeigefinger an den Hals und strich langsam von links nach rechts.

"Wie soll sie mich noch zugrunde richten? Ich bin doch längst ganz unten angekommen. Und außerdem will ich überhaupt nichts von ihr."

"Was macht sie dann hier?"

"Sie hat Stress mit ihren Eltern."

"Ja und? Ich hab schon seit drei Jahren Stress mit meinen."

"Und du pennst ja auch hier."

"Das tue ich nur vereinzelt."

"Wenn du nicht bei Mia bist."

"Genau richtig.Und mal unter uns: Mia hat im Gegensatz zu der da etwas zu bieten. Sie hat Ecken und Kanten und ist nichts so ein gehirnamputiertes Modepüppchen wie die da. Die einzigen Ecken, die die hat, sind ihre spitzen Brüste."

 

30

Die ganze Zeit hatte Dino das Gespräch zwischen Tyler und Joel aufmerksam verfolgt und versucht, sein Lachen zu unterdrücken. Es gelang ihm ziemlich gut, aber die letzte Aussage von Tyler gab ihm den Rest. Das Lachen musste raus, er konnte es einfach nicht mehr zurückhalten. Er liebte es einfach, wenn die beiden sich zankten wie kleine Mädchen und wie so oft war es wieder Tyler, der das Wortgefecht für sich entschied.

„Was gibt es da zu lachen?“, fragte Joel. Er drehte sich um.

„Tut mir wirklich leid, aber ihr seid einfach zu komisch. Ihr müsstet euch mal hören.“ Dino schob sich an dem Mädchen, das vor ihm stand und das er zuvor noch nie gesehen hatte, vorbei in den Raum und sah sich mit nach oben gezogenener Augenbraue um. "Na Ty, endlich mal zum Aufräumen gekommen. Erwartest du Besuch? Oder konntest du deinen eigenen Dreck nicht mehr sehen?"

"Ach, halt doch dein Maul", meinte Tyler. Er hing mittlerweile wieder schief mit einem Bein auf dem Tisch vor sich auf der Couch und kratzte an einer der Narben an seinem linken Arm rum. Dabei sah er Lola an. Joel besaß doch wirklich die Dreistigkeit dieses Ding hierher zu bringen...

"Hm... Maul halten. Wisst ihr wer sein Maul nicht hält?" Dino lehnte sich ans Fensterbrett und sah Joel eindringlich an. "Big Joe. Seltsamer Zufall", Dino machte eine Pause: "dass er ausgerechnet in der Nacht mit einer Waffe bedroht wird, in der du mit einer rumläufst. Findest du nicht, Joel?"

"Sehr komischer Zufall, ja", sagte Joel und sah zu Boden.

"Joey, nein, hast du dem Fettsack wehgetan?" Tyler war wieder aus seiner Starre erwacht, denn seine Lippen verzogen sich zu einem dreckigen Grinsen. Er richtete sich auf: "Hast du? Jetzt sag schon."

"Es war Notwehr, klar? Er hat versucht ihr was anzutun", verteidigte Joel sich und zog Lola zu sich. Während er das sagte, veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Er sah etwas verzweifelt aus.

"Tja, sieht so aus als hättest du dich dieses Mal ganz tief in die Scheiße katapultiert, Joel", sagte Dino ruhig. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er gehofft, dass es nicht Joel gewesen war, der Big Joe bedroht hatte. Diese Hoffnung hatte sich jetzt in Luft aufgelöst. "Warum seid ihr beiden Idioten nicht gleich zur Polizei gegangen? Ich will es überhaupt nicht wissen." Er ob die Hand und winkte ab. "Schau mal, wie du da wieder rauskommst."

"Das geht schon", murmelte Joel leise und mehr zu sich selbst.

"Sicher tut es das. Ich wünsch dir dabei einfach mal ganz viel Glück. Ach und Tyler, denkst du nicht, du solltest mit dem Arm nicht mal zum Arzt gehen und dann versuchen den Rest von deinem Leben auf die Reihe zu kriegen. Nur ein kleiner Tipp am Rande. Was läuft nur falsch mit euch?" Stinksauer verließ Dino die Hütte. Er hatte die beiden so satt.

Tyler sah Joel an: "Ich wäre euch sehr dankbar, wenn ihr beide jetzt auch gehen würdet."

 

Fortsetzung

Help - Papa Roach

 

„Du bist ein Loser! Ein Versager allererster Güte!“ Es war wieder einmal zu viel gewesen. Er wusste, welche Auswirkungen der billige Fusel auf ihn hatte, trotzdem hatte er die ganze Flasche hinuntergeschüttet. „Ich schäme mich dafür, dass du meinen Namen trägst. Du bist ein erbärmlicher Loser!“ Ein Loser. Loser. Es waren die letzten Worte seines Vaters gewesen, bevor Tyler abgehauen war. Damals hatte er keine Ahnung, wo er hin sollte. Für ihn stand nur fest, dass er endgültig weg musste. Einfach weg. Auf Nimmerwiedersehen.

Er setzte sich an den Tisch und öffnete sein Tagebuch. Er schrieb und schrieb sich alles von der Seele. Für ihn war es besser als jede Therapie. Es war der 26. Juni gewesen, Sie hatten sich so frei gefühlt. Warum hatte keiner bemerkt, dass sie geradewegs auf den Abgrund zuliefen? Oder hatten sie es bemerkt und es hat einfach nur keinen gekümmert? Sie liefen mit voller Geschwindigkeit auf den Abgrund zu und allen voran er, Tyler. Er hatte sein Leben weggeworfen bevor es überhaupt richtig begonnen hatte. Er wusste, dass es dumm von ihm gewesen war. Sie alle waren unheimlich dumm gewesen. Der Einzige, der nicht dumm gewesen war, war Dino. Anfangs war auch er dumm gewesen. Doch er hatte es erkannt. Erkannt, dass sich ein riesiger Abgrund vor ihnen auftat. Für einen kurzen Moment fand Tyler es sehr egoistisch von Dino, dass er seine Freunde nicht gewarnt hatte. Als er jedoch länger darüber nachdachte, fiel ihm ein, dass dieser oft genug versucht hatte, die Aufmerksamkeit auf das sich langsam öffnende Loch zu lenken. Da das aber vergeblich war, gab er irgendwann auf. Hätte Tyler gebremst, wenn er noch ein bisschen länger gekämpft hätte? Er bezweifelte es. Und so winkte Dino jetzt fröhlich vom Rande des Abgrunds zu seinen Freunden hinunter. Er könnte doch ein Seil herunterwerfen. Nein! „Kein Seil der Welt ist lang genug, um uns da wieder rauszuholen“, dachte Tyler und schloss sein Tagebuch. Dieses legte er dann behutsam, fast wie ein kleines Baby, auf sein Bett. Er sah sich in der Hütte um. Bett, Tisch, etwas, was einmal ein Schrank gewesen war, Teile einer Einbauküche, Mikrowelle. In einer Ecke stand die Couch. Sie war schon ein furchtbar hässliches Teil. „Wen kümmert das schon?“ Neben dem Fenster standen das Schlagzeug und die Gitarren. Sehr ungeeignet, da es im Winter zog und im Sommer die Sonne ständig durch das Fenster knallte und die Instrumente so ständig dem Wetter ausgesetzt waren. „Wen kümmert das schon?“ Es kümmerte wirklich niemanden, da die Instrumente ohnehin ständig verstimmt waren. Tyler seufzte und öffnete die Küchenschublade. Diesen Moment hatte er so oft in seinem Kopf rauf- und runtergespielt. Immer vor und zurück wie bei einer alten Videokassette. Sein Entschluss stand fest. Heute würde es passieren. Es musste heute sein. Heute würde er keinen Rückzieher machen, da war er sich sicher. Er nahm das Tütchen aus der Lade. Es war schwerer als er es in Erinnerung hatte. Ihm stiegen Tränen in die Augen. Wollte er das wirklich? „Jetzt komm schon. Stell dich nicht so an!“, hörte er seine innere Stimme, die ihn fatal an seinen Vater erinnerte. Plötzlich stand er vor ihm in seiner gewohnten Art, stockbesoffen. „Tu es endlich du Loser! Oder bist du sogar für das zu blöd?“, keifte er. „Halts Maul, halts Maul, halts Maul, halt endlich dein gottverdammtes Maul“, wiederholte Tyler immer wieder. Das Einzige, was er wollte, war, dass die Fata Morgana von seinem Vater verschwand und er sein Vorhaben in Ruhe umsetzen konnte. Mit zitternder Hand zündete den Gasbrenner an. „Okay, ganz ruhig. Alles wird gut. Das ist schließlich nicht das erste Mal, dass du das machst“, versuchte er sich zu beruhigen während er das Glasröhrchen über die heiße Flamme hielt. Das Glas lief schwarz an und der weiße Inhalt wurde langsam flüssig. „Jetzt ist es perfekt.“ Schließlich drehte er den Gasbrenner wieder ab. Behutsam zog er die Spritze auf, was nicht einfach war, da seine Hände anfingen immer stärker zu zittern. Er suchte eine Vene an seinem linken Arm... und stach zu. Es dauerte nicht lange bis die Wirkung der Drogen einsetzte. Dieses Mal war es definitiv viel intensiver als je zuvor. „Wenigstens war es das wert“, dachte Tyler bevor er auf den Boden sank.

usw.

The end of all things - Panic at the disco

 

Schon bevor sie am See ankamen, sahen sie das zuckende Blaulicht. Polizei, Krankenwagen, Leute, die sie kaum kannten. Alle waren sie da, um dabei zu sein. Zu sehen, wie man Tylers leblosen Körper in den Leichensack steckte, um diesen dann auf die Bahre zu legen. Sie waren wie Motten. So wie diese vom Licht angezogen wurden, wurden sie von der Neuigkeit angezogen, dass in Junction endlich mal was passiert war. Es kümmerte keinen, wer er war. Er war nur ein Junkie. Ein hoffnungsloser Fall. Jemand, der nichts erreicht hatte oder jemand, der nie etwas erreichen wollte. Warum sonst hätte er sein Leben so weggeworfen? „Hier gibt’s doch echt nichts zu sehen, oder? Verschwindet endlich ihr Aasgeier!“, rief Joel wutentbrannt. Fast wäre seine Stimme gekippt und er versuchte so gut es ging, die Tränen zurück zu halten. Er sah in ihre verdutzten Gesichter, die geradezu riefen: „Was hat der denn für ein Problem? Was will der denn jetzt?“ Letztendlich befanden sie das, was sich vor ihnen abspielte aber dann doch als interessanter als den scheinbar verwirrten Jungen hinter ihnen und drehten diesem den Rücken zu. Nach einiger Zeit hatte das Schauspiel allerdings ein Ende und sie alle schoben ab genauso wie sie gekommen waren. Zurück blieben Jake, Dino, Joel und die Hütte. Die ganze Szene wirkte auf sie äußerst befremdlich und teilweise richtig surreal. Sie hatten mehrmals das Gefühl, dass es bald an der Zeit wäre aus diesem Alptraum aufzuwachen. Doch so sehr sie sich auch bemühten, wieder zu sich zu kommen, es geschah nichts. Das hier war real. Live und in Farbe. Schweigend betraten sie die Hütte. Auf den ersten Blick schien alles wie immer zu sein. Es hing auch der gleiche modrige Geruch in der abgestandenen Luft. Zu diesem mischte sich allerdings noch der Geruch von Gas und Erbrochenem. Im Raum war es gespenstisch ruhig. Auf dem Bett saß, mit tränennassem Gesicht und etwas Quadratisches in den Händen haltend, Mia. Joel, Jake und Dino sahen sich an. Wer sollte zuerst das Wort an sie richten? Jake schüttelte mit großen Augen den Kopf. Sein Blick sagte: „Jetzt macht schon. Sagt doch etwas!“ Doch Mia selbst kam ihnen zuvor: „Er hat mich immer geliebt.“ „Wie war das?“, fragte Dino. „Tyler..., er... hat mich immer... ge...liebt“, wiederholte Mia stockend. „Wie kommst du denn darauf?“, fragte Jake ungläubig. „Steht hier“, antwortete Mia und deutete auf das quadratische Etwas. Es war ein Buch. Offensichtlich ein Tagebuch. Mia schlug es auf und fing an vorzulesen: „15.Mai. Ich sitze jetzt auf dem Trockenem. Ich habe gerade den letzten Rest Schnaps in mich hineingeschüttet. Vielleicht war das keine brilliante Idee aber schlecht war sie garantiert nicht. Es ist ja ohnehin alles scheißegal. Es hat alles einfach keinen Sinn mehr. Ich bin schlicht und einfach überflüssig. Warum bin ich also noch hier? Es wäre besser vermutlich, wenn ich nicht mehr hier wäre. Damit hatte er schon recht. Wenn ich genauer darüber nachdenke, hatte er mit allem Recht, was er über mich gesagt hat. Ich bin nichts weiter als reine Verschwendung. Ein Loser in jeder Beziehung. Wenn er sich vor 22 Jahren aber ein Kondom geleistet hätte, wäre ihm, mir und allen anderen vieles erspart geblieben. Keiner hätte sich Gedanken darüber machen müssen, was ich wieder verbockt habe. Dies wird mein letzter Eintrag sein und es gibt da noch etwas, was ich unbedingt loswerden will, bevor es zu Ende ist. Mia, mein Mädchen, ich bin war und werde immer ein Arsch sein. Das weiß ich und ich glaube du hast es auch immer gewusst. Es tut mir leid, dass du deine Zeit mit mir verschwendet hast, obwohl du eigentlich etwas Besseres verdient hättest. Jemanden, der dir zeigt, dass du etwas Besonderes bist. Ich hingegen habe nur eine große Klappe, aber wenn es darum ging, dir zu zeigen, zu sagen, was ich für dich empfinde, habe ich immer den Schwanz eingezogen. Insgeheim hoffe ich, dass du das hier irgendwann mal liest, damit du weißt, dass es nicht an dir gelegen hat, dass wir nie eine normale Beziehung zueinander aufbauen konnten. Es lag einzig und allein an mir. Daran, dass ich ein gefühlskaltes Arschloch bin. Es tut mir so leid! Ich hoffe, du kannst mir verzeihen, Mia-Maus!

und so fort

The funeral - Band of horses

 

Diesen Tag vor gut einem Monat hätte Tyler wahrscheinlich zusammen mit einer Flasche Bier auf dem Steg am See verbracht. Er hatte es immer als sein persönliches Paradies bezeichnet. Er hatte es geliebt davon zu schwärmen, allerdings war nie jemand dabei gewesen, wenn er sich dort auf dem Holzsteg die Sonne auf die Haut hatte scheinen lassen. Es war warm. Traumhaftes Sommerwetter. Eben perfektes Sonne-auf-den-Pelz-knallen-lassen-Wetter. Das alles war aber vollkommen unwichtig, daran dachte keiner, als sie zusammen am Grab standen. Joel kam es so vor als würde er neben sich stehen und sich selbst betrachten. Trotzdem war es ihm später nicht möglich den gesamten Ablauf in seinem Kopf abzuspielen. Die Erinnerungen waren nur wie verschwommene Fotos. Eines war ihm aber im Gedächtnis geblieben und das war die Tatsache, dass niemand heulte. Er hatte immer gedacht, dass das auf Beerdigungen so üblich war, jedenfalls hatte er das früher immer so gesehen. Aber irgendwie konnte er es auch verstehen. Es hätte ja ohnehin nichts geändert. Es hätte sie nicht glücklicher gemacht und es hätte Tyler auch nicht wieder lebendig gemacht. Welchen Sinn hatte das ganze Geheule also immer?

Er hatte sehr lange über diese Sache nachgedacht und jetzt endlich seine Entscheidung gefällt. Ihm war klar, dass es alles verändern würde. Aber dafür war es jetzt auch langsam an der Zeit. Mit einem seltsamen Gefühl im Bauch machte er sich auf den Weg.

20 Jahre später

„Ich muss jetzt los. Mein Dad wartet bestimmt schon und du weißt ja wie er es HASST zu warten.“ „Oh ja, er HASST es! Hat er eigentlich ein Nervositätsproblem?“ „Du bist ja so witzig. Er hat halt einfach viel zu tun.“

Ich verließ das Gebäude und sah meinen Vater schon von Weitem. Es war ja auch nicht leicht seinen heißgeliebten Mustang zu übersehen. Er kam mir bereits entgegen und ich wusste ganz genau was jetzt kommen würde. „Hey Mäuschen! Da bist du ja endlich. Ich habe mir schon Sorgen gemacht!“, rief er als er mich überschwänglich umarmte und mich dann in die Wange kniff. Er wusste wie sehr ich es hasste. Das war wohl seine Art von Rache dafür, dass ich ihn hatte warten lassen. „Jetzt bin ich ja da! Und es geht mir gut, okay?“ „Cady, warte mal! Ich habe etwas für dich. Das hast du vorhin liegen gelassen“, hörte ich meine Englischlehrerin plötzlich. „Oh, danke. Ähm, Dad das ist Ms. Millner, meine Englischlehrerin. Ms. Millner, mein Dad“, stellte ich die beiden vor. „Maria Millner, freut mich.“ „ Bennett, freut mich auch.“ „Du hast dich wirklich kaum verändert!“, lachte Ms. Millner. „Wie bitte?“, fragte mein Vater verdutzt. „Du erkennst mich also nicht wieder?“ „Nein. Woher auch?“ „Na ja, das ist ja auch schon eine Weile her. Junction. Sommer am See.“ „Mar.., Mia?“, kam es meinem Vater plötzlich. „Genau richtig. Die kleine Mia.“ „Wie lange ist das jetzt her? 20 Jahre?“, fragte mein Dad. „Ziemlich genau 20 Jahre.“ „Und jetzt treffen wir uns wieder. Wer hätte das gedacht? Was ist eigentlich aus den anderen geworden?“, fragte mein Vater.

Outro

Drive - Incubus

 

„Was ist eigentlich aus den anderen geworden?“

 

Ja, was war aus den anderen geworden?

Mia war die Erste gewesen, die Junction verließ. Sie sagt immer, es war vermutlich die einzige richtige Entscheidung, die sie in ihrer Jugend getroffen hatte. Sie packte ihre Sachen sofort nachdem sie Tyler tot gefunden hatten. Er war der einzige Grund für sie gewesen in Junction zu bleiben. Als er tot war, gab es für sie nichts mehr was sie dort hielt. Es klingt hart, aber sein Tod war in gewisser Weise ihre Rettung gewesen. Sie wäre weiterhin in dieser vergifteten und lähmenden Beziehung mit ihm geblieben. Es dauerte eine Weile bis sie einsah, dass ihr im Grunde nichts Besseres hätte passieren können. Trotzdem schaffte sie es schnell sich ein eigenes Leben aufzubauen. Keiner hatte ihr je abgekauft, dass sie den Job in der Bar nicht nur erfunden hatte. Im Nachhinein scheint es aber doch plausibel. Sie war immer diejenige gewesen, die immer ein Dach über dem Kopf gehabt hat ohne Stress mit irgendwelchen Leute zu haben, die Geld von ihr wollten. Und warum sollte sie damit rumprahlen, dass sie sich für einen Arsch wie Greg es war, den Arsch aufriss? Das wäre seltsam, selbst für Mia. Sie hat es aber geschafft immer Geld zur Seite zu legen auch wenn es nie viel war. Irgendwann reichte es aber für das Studium. Sie hatte es geschafft etwas aus ihrem Leben zu machen und sie war glücklich.

 

Auch Dino verließ Junction irgendwann, tat es aber aus einem anderen Grund. Sein neuer Job war sein Freilos für den Beginn eines neuen Lebens. Komplettiert wurde das Ganze dann durch Natalie. Für die beiden musste ein neuer Begriff eingeführt werden. „Das perfekte Paar“ war immer eine Untertreibung. Sie führen das White-Picket-Fence-Leben, das Dino für sich nie in Reichweite gesehen hatte, es aus diesem Grund verteufelte und zutiefst verabscheute und zugleich ersehnte und darum kämpfte.

 

Joel war jahrelang auf der Suche. Auf der Suche nach Antworten auf das Warum. Warum ist alles so verlaufen, wie es verlaufen ist? Warum bin ich ich? Ob er diese Antworten je gefunden hat, ist und bleibt sein Geheimnis, denn darüber schweigt und lächelt er nur. Was er aber gefunden hat, ist Chloe. Für sie unterbrach er seine Suche, die doch unendlich gewesen wäre.

 

 

Und zu guter Letzt wäre da noch Jake. Sein Weg führte ihn auch weg aus Junction. Schließlich ist er in Maine gelandet. Neu-England hat für ihn irgendwas Beruhigendes an sich. Trotzdem hängt sein Herz immer noch an Junction. Wer kann es ihm verdenken? Immerhin hat er die beste Zeit seines Lebens dort verbracht, wie er selbst sagt. Vermutlich zieht es ihn aus diesem Grund jeden Sommer in die Kleinstadt. Heute noch wie vor 20 Jahren ist der schönste Ort in der Stadt der See. Tja, und hier sind wir jetzt! Ich und mein Daddy Jakey in diesem heruntergekommenen, wunderschönen Kaff irgendwo am Ende der Welt.

Impressum

Texte: Copyright Keep on loving you Kevin Cronin/ REO Speedwagon
Tag der Veröffentlichung: 19.11.2016

Alle Rechte vorbehalten

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